Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Lemnius, Simon“ von Ferdinand Vetter in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 18 (1883), S. 236–239, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lemnius,_Simon&oldid=- (Version vom 18. April 2024, 08:44 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Lemlin, Lorenz
Nächster>>>
Lemp, Jakob
Band 18 (1883), S. 236–239 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Simon Lemnius in der Wikipedia
Simon Lemnius in Wikidata
GND-Nummer 11857146X
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|18|236|239|Lemnius, Simon|Ferdinand Vetter|ADB:Lemnius, Simon}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=11857146X}}    

Lemnius: Simon L., eigentlich Simon Margadant und daher antikisirend zubenannt Emporicus oder auch Mercatorius, Mercator, gehört, obwol geborener Romane, als hervorragender Vertreter des deutschen Humanismus, als erster namhafter Uebersetzer der Odyssee, als frühester vaterländischer Epiker der deutschen Schweiz, sowie endlich vermöge vielfacher persönlicher Beziehungen, der Geschichte der deutschen Wissenschaft in vorzüglicher Weise an. Er ist gebürtig aus dem graubündnerischen Münsterthal, dem alten Gotteshauslande des Fürstbischofs von Chur, wo sein Vater, aus dem Prättigau eingewandert, den Hof Guat (Wald) am Bache Pisch oberhalb Santa Maria, ein Lehen des Hochstifts Chur, bewirthschaftete. Nach dem heimischen Thal und Gewässer nannte er sich später in seinen Schriften auch Monasteriensis und (zugleich mit Anlehnung an die heilige Quelle bei Olympia) Pisaeus, nach der Herkunft seiner Mutter, einer Engadinerin, hin und wieder Oengadinus, nach seiner weiteren Heimath öfter Rhetus Canus (Graubündner) und Rheticanus (nach dem Gebirge Rätikon, Rhetico). Auf die mütterliche Abstammung (von einer heute noch blühenden Familie Lemm) scheint auch sein Gelehrtenname Lemnius zurückzugehen, mit dem er sich wol dem in Graubünden noch mancherorten bestehenden Gebrauch anschloß, dem eigentlichen Familiennamen den Geschlechtsnamen des mütterlichen Großvaters vorzusetzen; auch wollte er dadurch an den gleichlautenden Zunamen des Vulkan erinnern, welcher, wie der Dichter später fabulirte, seinem [237] Vater einen Schild geschmiedet und einen berühmten Sohn prophezeit hatte. In Wittenberg scheint diese stolze Antikisirung zu dem Kose- oder Spitznamen Lemchen, Lemichen verdreht worden zu sein. – Der früh verwaiste Knabe, zu Anfang des 16. Jahrhunderts geboren, wurde wol durch geistliche Gönner, vielleicht durch seinen kunstsinnigen Bischof Paul Ziegler, zum Studiren bestimmt. In den Jahren 1532 und 1533 taucht er zu München und Ingolstadt auf. Am ersteren Orte erscheinen in dem Buche eines Studiengenossen lateinische Distichen von ihm, nebst Versen eines Freundes, in welchen L. als „die Zierde des Volks von der Etsch“ verherrlicht ist; in Ingolstadt führt ihn die Matrikel offiziell als Simon Lemnius auf. Noch 1533 oder Anfang 1534 wanderte er nach Wittenberg, wo er als Schüler Melanchthon’s fünf Jahre verweilte, in seiner Aufführung wol nicht besser und nicht schlechter als die meisten Studirenden der Humanistenzeit. Für seine Strebsamkeit spricht es, daß ihm auf Empfehlung seines berühmten Lehrers die Ehre der unentgeltlichen Verleihung des Magistergrades zu Theil ward, und daß er mit dem fleißigen Georg Sabinus, dem späteren Eidam Melanchthon’s, eifrig verkehrte und arbeitete. Er hatte es aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine Professur an der sächsischen Hochschule abgesehen und gedachte sich durch eine Reihe von Epigrammen zu empfehlen, worin er in rein akademischer, völlig parteiloser Weise die lateinischen Satiriker nachzuahmen suchte. Dabei war er jedoch so unvorsichtig, die beiden Bücher „Sinngedichte“, welche durch Sabinus im J. 1538 zum Druck befördert wurden, dem Erzbischof und Kurfürsten Albrecht von Mainz, dem Metropolitan seines Bischofs, mit einer schmeichelhaften Vorrede zu widmen. Der Mainzer Kirchenfürst, der vor zwanzig Jahren den Tetzel mit seinem Ablaßkasten ausgesandt, hatte aber einen unversöhnlichen Gegner in Luther, der die Universität Wittenberg und ihren damaligen Rector Melanchthon völlig beherrschte. Dieser wurde durch den heftigen Freund bewogen, den Dichter vor den Senat zu citiren, und da L., wol zum Nachtheil seiner Sache, vor dem Ungestüm des Pfarrers von Wittenberg die Flucht ergriff, eiferte Luther in einem von der Kanzel verlesenen und an den Kirchthüren angeschlagenen Pamphlet gegen den „ehrlosen Buben“ und „Schand-Poetaster“ als gegen einen todeswürdigen Verbrecher und wußte dem ängstlichen Rector in den Epigrammen eine Menge angeblicher Lästerungen gegen hohe Herren in Wittenberg, gegen den Landesfürsten, ja gegen ihn, Melanchthon, selbst, mit solcher Bestimmtheit nachzuweisen, daß dieser sich bei dem Kurfürsten Johann Friedrich schriftlich damit entschuldigen zu müssen glaubte, die Gedichte seien – was wahrscheinlich nicht richtig ist – ohne sein Wissen zum Druck befördert worden. Es folgte die Relegation des Epigrammatisten, bei welcher allerdings nicht, wie Lessing und andere Vertheidiger des L. annehmen, ganz ausnahmsweise und tumultuarisch verfahren, vielmehr die Form der zweimaligen Vorladung und die übliche Frist von drei Wochen eingehalten wurde, die aber den Poeten empfindlich genug traf und ihn in einen ganz anderen Wirkungskreis verschlug. Nachdem er sich kurze Zeit in Halle bei seinem Mäcenas, dem Kurfürsten von Mainz, aufgehalten und gegen seine Feinde das berüchtigte dritte Buch seiner Epigramme, sowie eine prosaische Apologie und den schmutzigen „Mönchmetzenkrieg“ hatte ausgehen lassen, bot die Heimath dem unstät Wandernden ein freundlichess Asyl. An der unter den Auspizien Bullinger’s gegründeten Nikolaischule zu Chur erhielt L., obgleich der bisherige einzige Lehrer Pontisella die Berufung des „homo impurus“ zu hintertreiben suchte, eine Lehrstelle mit 50 Goldgulden Gehalt und erklärte hier unter Anderem den Cäsar. Daneben aber entfaltete er nunmehr eine lebhafte litterarische Thätigkeit als Dichter und Uebersetzer. Während einer nur zehnjährigen Lehrerwirksamkeit folgten da rasch aufeinander seine „Bucolica“ und seine „Amores“, seine lateinische Uebertragung der Periegese des Dionysius [238] in Hexametern, sowie die der Odyssee nebst der Batrachomyomachie, ferner ein seither verlorenes Lehrgedicht über die Tugenden, – endlich die „Neun Bücher vom Schwäbischen Kriege der Helvetier und Rätier gegen Kaiser Maximilian 1499, in Versen“, neuerdings meist „Räteis“ genannt, das letzte und bedeutendste der selbständigen Werke des Dichters, das, obgleich vollendet, nicht mehr durch ihn selbst zum Drucke befördert werden konnte und nur in Abschriften und Uebersetzungen auf unsere Zeit gekommen ist. Als guter Lehrer scheint L. in Chur „seine Scharte ausgewetzt“ zu haben (a Porta); als Poet wurde er durch den Dichterlorbeer der zu Bologna von Achilles Bochi gestifteten Akademie ausgezeichnet. Im J. 1550 erlag der Dichter der Pest, nachdem er früher derselben durch seine Flucht nach Basel glücklich entgangen war und Seuche und Reise poetisch beschrieben hatte (Bucol. 2. 3). Er verfaßte sich noch selbst ein Epitaphium, worin er sich als „praeclarus carmine vates“ verherrlichen konnte.

L. scheint, nach seinen Schriften und nach den Zeugnissen der Mitlebenden, mehr Talent als Charakter gewesen zu sein. Den Mangel an Verständniß für die reformatorische Bewegung, deren Zeuge er war, theilt er allerdings mit vielen seiner Standesgenossen, denen das antike Menschenideal das deutsch-christliche verdeckte, und die Lascivität seiner apologetischen Schriften ist ebenfalls ein gemeinsames Humanistenerbtheil; als lediglich „händelsucherisch“ (Ranke) darf vollends sein für ihn verhängnißvolles erstes Auftreten als Schriftsteller nicht verurtheilt werden, so sehr auch dieses und seine Folgen geeignet sind, die Schwächen der blos schöngeistigen Richtung der Reformationszeit gegenüber der ethischen ins Licht zu setzen, welche dann ihrerseits auch die ganze pathetische Intoleranz jeder ernst erkämpften Ueberzeugung in unerfreulicher Weise zeigt. Aber die persönliche Gehässigkeit, womit L. nebst seinen Gegnern auch deren Familien- und Eheleben in den Koth zu ziehen suchte; die krankhafte Eitelkeit, womit er, besonders in seinem letzten Werke, sich unermüdlich selbst verherrlicht; die eigensüchtige Tendenziosität, mit der er in Dichtungen und Dedicationen das Lob heimischer und fremder Gönner singt, erwecken keine hohe Meinung von seinen Charaktereigenschaften. – Sein Talent besteht hauptsächlich in einer außerordentlichen Leichtigkeit und Formgewandtheit, welche den vielbeschäftigten Schulmann mehrere Myriaden tadelloser lateinischer Verse verfertigen, die verschiedensten antiken Dichtungsarten spielend nachahmen und sogar einen Periegeten Dionysius in poetisches Gewand kleiden ließ. Daß Gehalt und Composition namentlich der größeren selbständigen Dichtungen selten dieser äußerlichen Vollendung entsprechen, beruht auf einem gewissen Mangel an ordnendem Kunstverstand, an festem Plan und Maß, oft auch auf einfacher Gedankenlosigkeit und Confusität der Vorstellung. So ist L., bei seinem großen Formtalent, mit seiner virtuosen Nachahmung und Ausschreibung klassischer Vorbilder mehr poetischer Antiquar als Dichter. Lessing, der ihn nur aus seinen Jugendschriften kannte, hält ihn „nicht einmal für einen guten Epigrammatisten“; dem Epiker thun die erwähnten Mängel Eintrag; am besten sagten seinem rhetorischen Pathos die elegischen Dichtungsarten zu. Die nachhaltigste Wirkung scheint er übrigens gleichwohl durch sein Epos, speciell bei seinen engeren Landsleuten, ausgeübt zu haben; die poetischen Fictionen des ungedruckten Werkes wurden von den aus der Nikolaischule hervorgehenden bündnerischen Geschichtschreibern historisirt und insbesondere ist der von ihm geschaffene Held der Kalverschlacht, Benedict Fontana, dessen angebliche That die Späteren noch vielfach ausgeschmückt und stilisirt haben, zum gefeierten Localheros von Graubünden geworden. – Die Schriften des L., von denen einige äußerst selten und uns nur durch die Auszüge Strobel’s und Lessing’s bekannt sind, tragen folgende Titel: 1) „Simonis Lemnii Epigrammaton Libri duo,“ Vitebergae 1538. 2) „M. Simonis Lemnii Epigrammaton Libri III. Adiecta est quoque [239] eiusdem Querela ad Principem.“ Anno Domini 1538 (Datum ex itinere). 3) „Apologia Simonis Lemnii Poetae Vitebergensis, contra decretum, quod imperio et tyrannide M. Lutheri et Justi Jonae Viteberg. Vniversitas coacta iniquissime et mendacissime euulgauit.“ Coloniae ap. Io. Gymnicum. Auch in Hausen’s Pragmatischer Geschichte der Protestanten in Deutschland, Urkunden S. 1–72. 4) „Lutii Pisaei Iuuenalis Monachopornomachia.“ Datum ex Achaia Olympiade nona. 5) „M. Simonis Lemnii Elegia in commendationem Homeri de bello Troiano.“ A. D. 1539. 6) „Simonis Lemnii Poetae Amorum Libri IIII.“ Anno 1542. 7) „Bucolicorum Aeglogae quinque Simonis Lemnii Emporici Rheti Cani.“ Basileae, per Ioannem Oporinum. 8) „Odysseae Homeri Libri XXIIII nuper a Simone Lemnio … heroico latino carmine facti … Accessit Batrachomyomachia Homeri …“ (Am Ende: Basileae, ex off. Io. Oporini, 1549, m. Sept. Am Anfang: Widmungen an Heinrich II. von Frankreich, an den französischen Gesandten in Graubünden und an den Connetable von Montmorency. 2. Aufl. Paris 1581.) 9) „Libri IX de bello Sueuico ab Heluetiis et Rhaetiis adversus Maximilianum Caesarem 1499 gesto rhythmis“ oder „Raeteis“. Vgl. Haller, Bibliothek der Schweizergeschichte V, Nr. 315). Handschriften, welche alle auf die Abschrift Guler’s (um 1600) zurückzugehen scheinen, in der Kantonsschulbibliothek und in Privatbesitz zu Chur, theilweise mit italienischer Uebersetzung. (Vgl. Anzeiger für schweizer. Geschichte 1860, 127; 1862, 14.) Eine „poetische Uebersetzung“ oder vielmehr Verballhornung von Thiele, Zizers 1792 und 1797 (Buch 1–7). Ausgabe, auf Veranstaltung der historisch-antiquarischen Gesellschaft Graubündens, von Placidus Plattner: Die Räteis von Simon Lemnius. Schweizerisch-deutscher Krieg von 1499. Epos in neun Gesängen. Chur 1874. – Uebersetzung von demselben: Räteis. Heldengedicht in acht Gesängen von Simon Lemnius. Im Versmaß der Urschrift ins Deutsche übertragen. Chur 1882. Eine neue Ausgabe des lateinischen Textes sammt dem italienischen wird von Hermann Hagen vorbereitet. – Als weitere Werke des L. werden uns, meist durch Josias Simler (Epitome Bibliothecae Conr. Gesneri, Tigur. 1555), namhaft gemacht: ein Gedicht auf den Markgrafen und die Markgräfin von Brandenburg (dieses wahrscheinlich nicht von ihm), eines auf einen Joannes Frisius, eine Schrift „Academia Gallica“, eine „Ethica, siue de virtutibus moralibus libri IV“, „Pythagorae carmina aurea“, und „Dionysius de situ orbis, versibus heroicis, liber excusus Venetiis a. 1543.“ – Das sogenannte Iter Helveticum des L. (Anzeiger für schweizerische Geschichte 1862, 14; Biogr. univers. générale XXX, 615), das auch in Jerem. Reusner’s Hodoeporicorum siue itinerum totius fere orbis libri VII einzeln aufgenommen erscheint, ist ein Stück der Bucolica.

Ueber Lemnius, theilweise speciell über seine „Räteis“, handeln die Geschichtschreiber der bündnerischen Reformation, insbesondere Campell und a Porta; Pantaleon’s Prosopographie (Heldenbuch Teutscher Nation) III gibt der kurzen Biographie ein ganz schematisches und öfter wiederkehrendes Porträt bei. Von Neueren: Lessing, Kritische Briefe von 1753; sehr eingehend G. Th. Strobel, Neue Beiträge zur Litteratur, III, 1 (1792); ferner Plattner a. a. O.; Biogr. univ. gén. XXX, wo, vermuthlich nach Strobel S. 5, als Geburtsort des Dichters „Margadant“ (sein Familienname) angegeben ist (ebenso noch die neueste Lessing-Ausgabe von Hempel 1878, VIII, 149); Anzeiger f. schw. Gesch. 1862, 68; 1863, 6; „Sonntagsblatt des ‚Bund‘“, Bern 1882, Nr. 29–33; Jahrbuch für schweizer. Geschichte VIII. (1883), 228 ff., 245 ff.