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Artikel „Jordanis“ von Felix Dahn in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 14 (1881), S. 522–526, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Jordanis&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 06:41 Uhr UTC)
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Band 14 (1881), S. 522–526 (Quelle).
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Jordanis*), Geschichtschreiber der Gothen: geboren ca. 500; er selbst zählt sich zu den Gothen, war aber, streng genommen, Alane: sein Großvater Paria war Kanzler (notarius) des Alanenfürsten Kandak in Mösien (sein Vater hieß Alanowamuth); und verschwägert war sein Geschlecht mit dem ostgothischen Königshaus der Amaler: diese Verbindung, welcher J. allerhöchsten Werth beimißt, hat im Zusammenhang mit seiner völligen Abhängigkeit von Cassiodor’s Werk (s. unten) die eigenartige Färbung seiner Gothengeschichte bewirkt und ihn völlig unfähig gemacht, den großartigen Heldenkampf der Gothen für ihre Nationalität, den er erlebte, richtig zu würdigen. – Er selbst war „Notarius“ gewesen, wir wissen nicht, an welchem Königshof, bis er später vom Arianismus [523] zum Katholicismus und (vielleicht gleichzeitig) in den geistlichen Stand *) eintrat. Vielleicht stieg er bis zur Bischofswürde empor (s. unten). Er selbst nennt sich „agrammatus“ (l. c.): jedoch mag er im Alter wie lateinisch auch griechisch lesen gelernt haben: die meisten Citate in seinem Buch sind aber ohne Zweifel aus Cassiodor entlehnt: und cassiodorisch ist das Schwülstige und Gespreizte des Stils: wo J. selbst schreibt, ist die Sprache unbeholfen: er hat so wenig Selbständigkeit des Geistes, daß er sogar die Vorrede zu seinem Werk mit wenigen Aenderungen fast wörtlich der Vorrede eines Anderen **) entlehnt hat. Als Katholik, als Geistlicher, als Verschwägerter des stark romanisirten Hauses der Amaler hatte J. höchste Verehrung, ungetheilte Sympathie für das römische Kaiserreich, den Staat des Christenthums und der Kultur, der nach dem Erlöschen des Weltreiches in Byzanz allein fortlebte, so daß, nach der römischen Legitimitätstheorie, Ostrom nun auch in den ehemals Westrom zugehörigen Ländern, zumal Italien, allein die rechtmäßige Staatsgewalt zustand. So hatte es Byzanz gemeint, als es Theoderich gegen Odovakar ausgesendet hatte: blieb der Gothe Sieger, so sollte er lediglich als Beamter des Kaisers über Italien herrschen, ob zwar sein Volk in diesem Land auf den bis dahin von den rebellischen Söldnern Odovakars occupirten Grundstücken angesiedelt werden sollte. Die Natur der Dinge und Theoderichs großartige Herrschernatur waren nun zwar stärker gewesen, als jener allzu feine byzantinische Plan: kraft eigenen Rechts, als Eroberer, als König herrschte Theoderich auch über Italien und ward, ganz gegen seinen Willen, sogar vorübergehend zum offenen Krieg gegen Byzanz gedrängt. Aber schon Theoderich hatte größtes Gewicht darauf gelegt, seinen römischen Unterthanen gegenüber die Zustimmung des Kaisers zu seiner Herrschaft über Italien als Rechtstitel überall geltend zu machen und seine schwachen amalischen Nachfolger, noch viel mehr romanisirt als er, deßhalb schon und auch wegen ihrer viel geringeren persönlichen Kraft ohne Stütze im gothischen Volksgefühl, geriethen bald in so äußerste Abhängigkeit von Byzanz, daß sie das Gothenreich wiederholt geradezu an Justinian verkauften und verriethen. Die durch Volkswahl gekorenen Könige von Vitichis ab bis Totila (und Teja) führten nun freilich schon seit Jahrzehnten einen grimmigen Kampf gegen Byzanz für Behauptung Italiens und ihrer nationalen Existenz: aber dieser heldenhafte Kampf ist dem frommen, durchaus romanisirten und halb amalischen Geistlichen, der zu Byzanz lebt, in tiefster Seele zuwider: er verschweigt ihn nach Kräften: – Totila’s erwähnt er hier gar nicht: und wo er ihn erwähnen muß, geschieht es mit unverhüllter Abneigung gegen diesen König, der J. nicht anders als Prokop, dem Rechtsrath Belisars, ein „Tyrann“, d. h. ein Anmaßer und Rebell gegen den rechtmäßigen Herrscher Italiens, Kaiser Justinianus, ist: sagt er doch am Schluß ausdrücklich, daß er nicht zum Ruhme der Gothen, sondern um den Ruhm des Siegers zu erhöhen geschrieben habe. Sehr bezeichnend für diese seltsame, aber doch aus den geschilderten Voraussetzungen voll erklärbare Art von gothischem Patriotismus ist das Ideal der gothischen Zukunft, welches J. vorschwebt. Matasvintha, Theoderichs Enkelin, der Regentin Amalasvintha’s Tochter, hatte, von Ravenna nach Byzanz gebracht, dort nach dem Tode des Vitichis (der sie zur Ehe gezwungen), den Prinzen Germanus geheirathet und diesem, der wenige Monate darauf starb, ein gleichnamiges Söhnlein geboren: dieses Kind, welches das Blut der Amaler mit dem kaiserlichen der „Anicier“ [524] in sich vereinte, galt nun J. gewissermaßen als ein lebendiges Symbol der Verschmelzung ostgothischen und römischen Wesens; ganz wie zu Anfang des vorhergehenden Jahrhunderts der Knabe, welchen Placidia, des Kaisers Honorius Schwester, dem König Athaulf geboren, das – kurzlebige! – Symbol der Verschmelzung von Westgothen und Römern gewesen war. Nur in Einfügung, in Unterordnung der Ostgothen in das römische Reich, unter den Kaiser fand J. gedeihliche Zukunft seines Volkes: er dachte vielleicht, unter der Regentschaft Matasvintha’s bis zur Reife ihres Knaben, dann unter dessen Statthalterschaft könnten die Gothen in Italien fortleben, freilich in völliger Unterthänigkeit –: er wußte nicht, was sein Zeitgenosse Prokop klar durchschaut hatte: „Justinian haßte den Namen der Gothen und wollte ihn hinweg getilgt wissen aus dem Gebiet des Reiches“. In solcher Stimmung und politischen Anschauung schrieb er an einer kurzen Darstellung der „Weltreiche in ihrer Reihenfolge“, wobei ihm der Gedanke völlig fern blieb, auch das jüngste dieser Weltreiche, eben das römische, könne einmal untergehen (so vortrefflich Wattenbach a. a. O.): denn die Erledigung des weströmischen Thrones machte dem Zeitgenossen durchaus nicht den gleichen Eindruck wie uns: wir wissen, daß kein weströmischer Kaiser mehr von Byzanz eingesetzt, daß Italien und die übrigen ehemals weströmischen Länder auch nicht von Ostrom unmittelbar behauptet oder auf die Dauer wieder gewonnen wurden: aber die Zeitgenossen in Byzanz konnten damals recht wohl glauben, wie die Germanenreiche in Afrika und Italien bereits zerstört, in Spanien wenigstens erfolgreich angegriffen waren, so werde Justinian oder ein in dem wiedererkämpften Rom von ihm eingesetzter Mit-Kaiser durch Belisar und Narses auch Gallien den Franken wieder entreißen. J. unterbrach die Arbeit jener Chronik, um auf Wunsch seines Freundes Castalius (oder Castulus) einen Auszug zu fertigen aus der großen, 12 volumina umfassenden „Gothengeschichte“ Cassiodors. Magnus Aurelius Cassiodorus, (Senator: vgl. Wattenbach, I. § 5, Ebert, S. 473, Dahn, Urgeschichte I. S. 320) einer der großen Polyhistoren der sinkenden Römerwelt, hatte unter Theoderichs und dessen amalischen Nachfolgern (– das Manifest des Vitichis hat er noch verfaßt, dann aber bald den Staatsdienst in dem gegen den Kaiser kämpfenden Reich aufgegeben –) die wichtigsten Aemter bekleidet und sich auch eifrig bemüht, das amalische Ideal der Versöhnung und gegenseitigen Ergänzung von Römern und Gothen zu verwirklichen (vgl. Dahn, Könige, III. S. 261). Dem gleichen Zwecke diente seine Gothengeschichte; er stellte (offenbar in gutem Glauben, nicht mit bewußter Lüge) die Gothen als identisch dar mit dem alten Kulturvolk der Geten, mit welchem Rom seit Jahrhunderten verkehrt hatte, welche zuletzt als römische Unterthanen in Thrakien waren angesiedelt worden: zugleich schildert er die Gothen, zumal das amalische Haus, als alte Bundesgenossen des Reiches – was sie ja auch wirklich häufig gewesen waren, – hebt ihre Verdienste zumal im Kampf für rechtmäßige Kaiser gegen Usurpatoren, aber auch gegen andere Barbaren, zumal die Hunnen Attila’s, hervor und drängt nach Kräften die Kriege zwischen Rom und den Gothen zurück in den Hintergrund. Er hatte das Werk vielleicht schon unter Theoderich begonnen und vermuthlich mit dessen Tod und der Thronbesteigung Athalarichs unter Regentschaft Amalaswinthas abgeschlossen: so bot sich die beste Gelegenheit, in der im Namen und Auftrag des Kaisers vollzogenen Befreiung Italiens von dem „Tyrannen“ Odovakar, der Wiedergewinnung Roms, der milden Behandlung der Römer, der Erhaltung der gesammten Staats- und Städteverfassung, der ehrerbietigen Sprache zumal der Regentin gegen Byzanz – er selbst hatte die Briefe verfaßt, welche dem Kaiser den Regierungswechsel meldeten – sein Ideal, die innigste Freundschaft zwischen den „Geten“, zumal dem Haus der Amaler, und den Römern als verwirklicht zu preisen. Das waren nun völlig [525] die Anschauungen und Wünsche, welche auch J. hegte und abgesehen von seiner Unfähigkeit, selbständig eine Umgestaltung des Werkes vorzunehmen, hatte er offenbar gar keinen Grund, keine Neigung, die Auffassung und politische Tendenz des wegen seiner Gelehrsamkeit und Frömmigkeit gleich hoch verehrten Verfassers zu modificiren: an dem Inhalt, dem Detail der Geschichtserzählung Kritik zu üben, war aber J. gar nicht in der Lage. So bestätigen diese psychologischen Erwägungen das Ergebniß anderer Untersuchungen, daß wir nämlich in der Arbeit des Jordanis in allem Wesentlichen lediglich einen sehr knappen Auszug aus Cassiodors Werk besitzen, so weit dies reichte, mit unerheblichen Aenderungen. Nur den Schluß, vom Tode Theoderichs an, Cap. 59, hat J. angehängt –: aber wieder nicht selbständig, sondern aus Marcellinus Comes das Meiste entlehnend – (auch in diesem 59. Capitel sind aber die ersten Sätze bis auf Amalasvintha’s Ermordung wol noch von cassiodorischen Wendungen durchzogen –) mit sichtbarer Abgunst gegen Vitichis und die gothische Nationalpartei. Er schließt mit dem Söhnlein Matasvintha’s, „in welchem das Geschlecht der Anicier mit dem amalischen Hause vereint als die Zukunftshoffnung beider Völker lebt“; den darauf folgenden Satz aber: „soweit über den Ursprung der Geten und das Edelgeschlecht der Amaler und die Thaten der Helden und das ruhmwürdige Geschlecht“ hat J. vielleicht doch wieder Cassiodor entlehnt, der recht wohl mit diesen Worten bei der Thronbesteigung Athalarichs schließen konnte. – J. entschuldigt die Mängel seiner Arbeit damit, daß er das umfangreiche Werk Cassiodors nicht zur Hand habe: nur früher habe er es einmal auf drei Tage zum Lesen geliehen erhalten: doch glaube er sich des wesentlichen Inhalts noch völlig zu erinnern. Jedesfalls muß er sich aber, was er freilich verschweigt, damals sehr viele Stellen abgeschrieben haben: denn der cassiodorische Stil ist Jedem unverkennbar, der Cassiodors Varien gründlich kennt: wörtlich hat J. sehr viele Sätze Cassiodors aufgenommen, obwol er sagt, des „Wortausdrucks“ erinnere er sich nicht mehr: das gilt dann aber von dem natürlich viel größeren Theil, den er nicht excerpirt hatte. Uebrigens fehlt es J. nicht an gothischem Nationalgefühl, soweit es ihm seine katholische, römische, amalische Gesinnung verstattet: mit Stolz rühmt er die Heldenthaten des Volkes und des Königshauses, zumal eben in der Vorzeit und die Siege über andere Barbaren. Mehrere frühere Untersuchungen (deren Verfasser freilich im Einzelnen von einander abweichen) haben sehr wahrscheinlich gemacht, daß J. Bischof von Kroton in Unteritalien war (in der Nähe lagen Cassiodors Besitzungen: er konnte also leicht in Kroton dessen Werk geliehen erhalten); daß er dann den Papst Vigilius in seine Verbannung 547–55 begleitete und sich 550–552 in Byzanz befand: Jakob Grimm hat in dem Vigilius, welchem J. seine zweite Arbeit widmet, eben diesen Papst erkannt: so erklärt sich (ich folge hier ganz Wattenbach, S. 650), „daß er Castalius (in Italien) den Nachbar“ der Gothen nennt, daß er zwar die Chronik des Marcellinus Comes, nicht aber Cassiodors Werk sich verschaffen kann, daß er sehr ängstlich vermeidet, Sympathien für den gothischen Heldenkampf gegen Byzanz auszudrücken, von dem Krieg in Italien wenig, dagegen von allen in Byzanz getroffenen Maßregeln, sogar von erst begonnenen Unternehmungen genau unterrichtet ist“. – Im J. 552 überschickte er Vigilius die Chronik „De regnorum successione“, richtiger „De breviatione chronicarum“ (Wattenbach): eine Compilation zumal aus Florus, ohne alle Selbständigkeit, aber charakteristisch für die Gesammtanschauung des Verfassers: „die Weltgeschichte ist ihm eben nur eine römische, angeknüpft an die aus … Hieronymus entlehnten Generationen des alten Testaments und die Regentenreihen der früheren Weltreiche: er beruft sich ausdrücklich auf die Prophezeiung des David, daß diesem [526] (d. h. dem römischen) Reich die Herrschaft bis ans Ende der Welt beschieden sei“.

Ausgaben: Princeps von Peutinger, Aug. Vindelic.. 1515. – De Getarum origine et rebus gestis ed. Cloß, Stuttgart 1861 (gegen diese A. v. Gutschmid im Litterar. Centralblatt, 1861, Spalte 612). – Die ersten drei Capitel mit Commentar ed. Stahlberg. Programm der h. Bürgerschule zu Hagen, 1859. Die Ausgabe in den Monum. Germ. histor. etc. auctores antiquissimi, wird vorbereitet. Reiche Litteraturangaben bei Potthast, Bibliotheca historica medii aevi, Berlin 1862, S. 402 f. Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, 4. Aufl., Berlin 1878, §§ 4 bis 5. Ebert, Gesch. der christl. latein. Litteratur im Mittelalter, I. Leipzig 1874, S. 531. Vgl. Dahn, Könige. II. Anhang.

[522] *) So die besten Handschriften; Jakob Grimm hat freilich die durch die erste Ausgabe (Peutinger, Augsburg 1515) verbreitete Form: „Jornandes“ in seinen ehrwürdigen Schutz genommen, und unmöglich ist es nicht, daß in der entscheidenden Stelle (c. 50) ursprünglich gestanden hat: Jordanis sive Jornandes. Dann wäre nach J. Grimm’s Vermuthung der kriegerischer lautende gothische Name: „Jornandes“ d. h. Eber-Kühn, „beim Eintritt in den geistlichen Stand mit dem römischen Namen ‚Jordanis‘ vertauscht worden. Wie dem nun sein möge, – sicher gestellt ist allein der letztere, durch das ganze Mittelalter gebräuchliche Name. Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. 4. Aufl. Berlin 1879, 1. Bd., § 5.

[523] *) Ante conversionem meam: c. 50 de rebus Geticis, was durchaus nicht Eintritt in den Mönchsstand, Bähr, Gesch. d. röm. Litt. S. 252 bedeuten muß; richtig Ebert, Gesch. d. christl.-lat. Litt., I. Leipzig 1874 S. 531.

[523] **) Nämlich Rufius’ Vorrede zum Commentar des Origenes über den paulinischen Römerbrief, nachgewiesen von H. v. Sybel, Schmidt’s Zeitschr. f. Geschichte VII, S. 288.