ADB:Odovakar
[WS 1], aber der Sieg blieb den Gothen, deren König nun Walamer’s Bruder, Theodemer (s. den Artikel) wurde, der Vater Theoderich’s des Großen (s. den Artikel). Da nun die über O. am besten unterrichtete Quelle, der sogenannte Anonymus des Valesius, jenen mit der Völkerschaft der Skiren nach Italien kommen läßt, [155] ja ihn geradezu einen Sohn des Aediko nennt, so wird O. eben der Sohn jenes skirischen Edelings, vielleicht des gleichen „Skythen“ Edeko, der am Hof Attila’s vor andern Vornehmen (λογάδες) sich durch Treue auszeichnet (Priscus, de legationibus ed. Dindorf. Bonn. 1834. p. 146 seq. bis 175), gewesen sein: die Zeitangaben würden sich dazu fügen. Es war dies hervorzuheben, da sich daraus eine alte, vererbte Feindschaft zwischen O. und den Skiren einerseits, den Ostgothen und dem Hause der Amaler im Besonderen andrerseits ergiebt. Auch abgesehen hievon aber hat O. – wir wissen nichts Näheres darüber – Gesippen Theoderich’s des Großen getödtet (s. unten). Wenn andere Quellen O. einen Rugier oder einen König der Turkilingen, der Heruler nennen, so erklärt sich dies sehr einfach daraus, daß diese Völkerschaften einander nahe verwandt und nahe benachbart, daß die Söldner Odovakar’s wie aus Skiren (so Procopii, Bellum Gothicum ed. Dindorf. Bonn. 1833. I. 1.) so aus Angehörigen dieser anderen Völkerschaften bestanden; und wenn ihn ein paar Chroniken (Chron. Br. ed. Roncallius p. 261; Marcellinus comes p. 298) als einen „König der Gothen“ bezeichnen, so ist auch dies insofern richtig, als alle diese Völkerschaften, wie bemerkt, zur gothischen Gruppe zählen. Die Vorgeschichte Odovakar’s, seine Stellung in der Heimath und in Italien bis 476 wird außer Zweifel gestellt durch eine andere höchst werthvolle Quelle, die Lebensbeschreibung des heiligen Severinus, († 482), welche dessen Schüler Eugippius wenige Jahre nach Odovakar’s Tod (c. 511) verfaßt hat (ed. Sauppe, Berol. 1877. Monum. Germ. histor. Auctores antiquissimi I. 2.). Hienach war O. keineswegs, wie schlecht unterrichtete Gewährsmänner angeben und auch heute noch manchmal wiederholt wird, König (oder auch nur Königssohn) einer jener Völkerschaften, die erobernd in Italien eingedrungen wäre. Vielmehr trat er, wie so viele Tausende von Germanen, einfach als Söldner in den Dienst des Kaisers: in dem Einsiedlerhause des Heiligen, der in jenen Donaulanden lediglich durch seine großartige Persönlichkeit eine bedeutende Stellung einnahm, erschienen eines Tages mehrere Barbaren, seinen Segen vor dem Abschied, dem Aufbruch nach Italien zu erbitten: „unter denen war auch O., der später in Italien als König herrschte, ein stattlicher Jüngling in sehr unscheinbarem Gewand“, l. c. c. 12: das ist offenbar nicht ein König. Wie sich der hochgewachsene Germane bei dem Eintritt in die niedrige Hütte des Heiligen neiget, erfährt er von diesem, daß ihm hoher Ruhm bevorstehe, vielleicht unter Anwendung des bekannten Bibelwortes von der Erhöhung derer, die sich selbst erniedrigen. Und beim Abschied erhält er die zweite Weissagung: „gehe hin nach Italien! Jetzt mit schlichten Fellen bedeckt, wirst du bald an vieles Volk reiche Gaben vertheilen.“ (l. c.) Beide ziemlich unbestimmte Vorhersagungen deutete O. später nach seiner Erhebung zum König als Vorverkündungen der Krone und dankbar und obwohl Arianer, ehrfurchtsvoll gesinnt auch gegenüber dem katholischen Einsiedler, ließ er diesen auffordern, sich eine Gnade auszubitten, worauf Severin Verzeihung für einen Verbannten fordert (l. c. 1.) – In Italien trat nun O. in die Leibwache des Kaisers, Prokop theilt ihm nicht einmal Officiersrang zu, welchen wir aber doch wegen der führenden Stellung, die O. bei dem Söldneraufstand von 476 einnimmt, voraussetzen müssen. Um die Bedeutung der Forderungen richtig zu würdigen, welche die im kaiserlichen Dienst in Italien stehenden germanischen Garden (δορυφόροι nach Prokop, protectores, Haustruppen, vgl. Manso, Geschichte des ostgothischen Reiches in Italien, Breslau 1824, S. 32) stellen, ist kurz daran zu erinnern, daß diese jetzt erhobenen Ansprüche nur der folgerichtige Abschluß der von Jahrhundert zu Jahrhundert gesteigerten Forderungen dieser wie der übrigen barbarischen Soldtruppen gegenüber dem sinkenden Kaiserreich waren. Seit sehr alter Zeit waren römische Krieger – keineswegs nur Barbaren – in den Provinzen, [156] zu deren Schutz sie entsendet worden, bei den Grundeignern (possessores) in der Weise, wie wir uns modern ausdrücken würden, „einquartirt“ worden, daß sie, ohne oder mit Aufnahme in die Häuser, einen Theil – meist ein Drittel – des Rohertrags der Früchte je eines possessor erhielten; hospitalitas hieß dies Verhältniß, Wirth und Soldat des andern hospes; gleiches geschah natürlich auch mit germanischen und andern barbarischen Söldnern. Allmählich erhöhten nun aber diese ihre Ansprüche: die „Grenzer“ (s. Dahn in v. Wietersheim, Völkerwanderung I, Leipzig 1880) zumal, welche dauernd zum Schutz einer bedrohten Außenprovinz angesiedelt wurden, begnügten sich nicht mehr mit dem Anspruch auf einen Theil der Früchte, sie verlangten und erhielten Eigenthum an dem entsprechenden Theil, also ein Drittel – daher „tertia“ sc. pars von Grund und Boden, dieser Theil hieß sors, im Latein jener Zeit = pars, ohne daß eine Verlosung dabei stattfand. Alsbald waren aber diese hospites nicht mehr abzufinden mit einem Stück von Dacien oder Mösien, mit rauhem, armem Boden, in stets von Feinden bedrohten Außenlanden –, sie begehrten Vertheilung des besseren fruchtbareren Landes der Provinzen milderer Sonnen: so der agri decumates am Rhein oder in Gallien. Andrerseits ergab sich diese Vertheilung ganz von selbst: denn die östlichen Außenprovinzen waren bereits verloren gegangen, es handelte sich bereits um die Deckung von Gallien, Spanien, ja von Italien. So war es durchaus nicht ein unvermittelt und plötzlich auftauchender Anspruch, sondern die folgenothwendige Steigerung der bisherigen, daß damals die germanischen Söldner in Italien eben die Ueberlassung des dritten Theiles aller italischen fundi verlangten, an Stelle der annonae, der Früchte, der tertiae fructuum. Orestes, der Vater und Minister des jugendlichen Kaisers Romulus Augustulus[WS 2] meinte diese Forderung abschlagen zu sollen – und abschlagen zu können. In letzterem Punkte irrte er verhängnißvoll: er hatte nicht mehr die Macht, den Söldnern mit Gewalt diesen Wunsch auszutreiben: die Weigerung war vielleicht aus schönem Römergefühl erwachsen, aber ein Anachronismus. Recht scharfsinnig hat Prokop die Gefährlichkeit des Systems erkannt, durch Jahrgelder, Sold, Geschenke, Früchte- und Landanweisung die Barbaren zu vielen Zehntausenden in das Reich aufzunehmen: was zu Zeiten der Julier eine Kräftigung, zu Zeiten der Flavier bereits eine Bedrohung, in den Tagen der Antonine bereits eine Schädigung, in den Generationen der Constantier eine Unterwühlung, das war seit dem V. Jahrhundert geradezu eine Preisgebung des Reiches an die Barbaren geworden. Als Orestes die Forderung abwies, meuterten die Söldner und erschlugen ihn. „Einer aus ihrer Mitte aber, O., verhieß, ihr Verlangen zu erfüllen, wenn sie ihn zur Herrschaft erheben wollten und so die Herrschaft gewinnend, ließ er den entthronten jungen Kaiser Romulus Augustulus auf der Villa des Lucullus mit einem Jahrgehalt von 6000 solidi als Privatmann fortleben, den Barbaren aber gab er ein Drittel des italischen Bodens und hiedurch in ihrer Gunst auf das Stärkste befestigt, übte er zehn Jahre lang seine Herrschaft“. (Prokop a. a. O.) Man pflegt von diesem Ereigniß von 476 eine neue Epoche der Weltgeschichte zu datiren: das Erlöschen des weströmischen Kaiserthums, insofern nicht unrichtig, als in der That ein besonderer Kaiser des Westreichs von da ab bis zur Kaiserkrönung Karl’s des Großen (800) nicht mehr herrschte. Allein die Zeitgenossen, die handelnden und nächst betheiligten Personen, zumal O. selbst, sahen den Vorgang nicht in solchem Lichte. O. war so zu sagen in Verlegenheit, nachdem der Streich gelungen, was er nun weiter beginnen, was er mit der erlangten Macht anfangen solle. Sich selbst als Kaiser des Westreichs ausrufen zu lassen, das fiel ihm damals nicht und auch später nicht ein: so tiefe Kluft trennte in der Anschauung der Menschen, auch der siegreichen Germanen, selbst [157] das römische Imperatorenthum von jeder Art germanischer Gewalt der Könige oder Herzöge oder Gefolgsherrn: in der That, es ist auffallend, aber aus dem Bewußtsein dieser Verschiedenheit zu erklären, daß in zwei Jahrhunderten fast keiner der zahlreichen Germanen, welche als Feldherrn, als Staatsmänner das Weltreich thatsächlich beherrschten, von Arbogast bis auf Stilicho, Alarich, Aëtius, Rikimer, O. und Theoderich, sich selbst zum römischen Kaiser ausrufen ließ, obwohl nichts und Niemand sie daran hätte hindern mögen: so durchaus unrichtig ist jene Theorie, welche alles germanische Königthum erst erwachsen läßt aus „Dienstverträgen“ von Söldnerführern mit dem Kaiser! Sie setzten Römer oder Gallier als Kaiser ein und wieder ab, beherrschten durch diese Puppen das römische Reich wie später die Hausmeier durch die Merovingischen Scheinkönige das Frankenreich: aber auf den Kaiserthron stieg keiner dieser Könige oder Feldherrn. – O. trachtete vor Allem nach „Sanierung“ seiner revolutionären Erhebung, nach Anerkennung seiner angemaßten Gewalt von Seite der rechtmäßigen Regierung. Nach römischer Staatsrechtslehre war der Kaiser des einen der beiden Halbreiche von Rechts wegen zugleich Kaiser des andern, falls der Sonderthron desselben erledigt war. In diesem Sinne wandte sich O. an Kaiser Zeno in Byzanz, welcher sich selbst soeben erst wieder des Thrones bemächtigt, den Anmaßer Basiliskus von demselben verdrängt hatte: O. ließ den entthronten Kaiser Romulus Augustulus und den Senat von Rom Gesandte nach Byzanz schicken und gab diesen eigene Gesandte mit: diese vereinigte Gesandtschaft erklärte nun schriftlich und mündlich, indem sie zugleich die ornamenta palatii, die Abzeichen der Würde des westlichen Kaiserthums, Zeno übergaben, das Abendland bedürfe eines eignen Kaisers nicht, ein Kaiser, eben der byzantinische, Zeno, genüge für beide: der Senat habe O. erkoren, der, als Staatsmann wie als Krieger tüchtig, das Abendland schützen könne: ihm möge Kaiser Zeno die Würde des Patriciats und die Verwaltung Italiens übertragen. Allein noch lebte, vertrieben, in Dalmatien Julius Nepos[WS 3], 24. Juli 474 – welchen Byzanz früher vor der Erhebung des Romulus Augustulus durch Orestes (24. August 475), ähnlich wie schon vordem Anthemius (467–472), zum Kaiser des Westreichs bestellt hatte. Gleichzeitig mit Odovakar’s trafen Gesandte dieses Julius Nepos in Byzanz ein, welche Zeno aufforderten, wie er selbst den Anmaßer Basiliskus gezwungen und die rechtmäßige Herrschaft hergestellt habe, so möge er nun auch Julius Nepos wieder zu seinem Recht und auf seinen Thron verhelfen. Die Antwort des Kaisers fiel echt byzantinisch aus: er wahrte vor allem formell die strenge Legitimitätstheorie, dem Rechte des Nepos volle Rechnung tragend, enthielt sich jedoch der Uebernahme irgendwelcher Verpflichtung zu thatsächlicher Hilfeleistung durch Geld oder Mannschaften und sicherte sich zugleich für alle Fälle ein glimpfliches Vernehmen mit dem rex de facto, dem Innehaber der Gewalt in Italien. Zeno erwiderte der römischen Gesandtschaft: zwei Kaiser hätten die Römer aus Byzanz erhalten, den einen (Anthemius) getödtet, den zweiten (Nepos) vertrieben. Der weströmische Thron sei keineswegs leer, so daß Zeno auch im Abendland zu herrschen habe: vielmehr gezieme, so lang der rechtmäßige Kaiser (d. h. Nepos) noch lebe, nur Eines, nämlich ihn auf den Thron zurückkehren zu lassen. – Den Boten Odovakar’s insbesondere antwortete der Kaiser, O. möge sich den Patriciat von Nepos geben lassen, doch wolle auch er, Zeno, ihm denselben verleihen, „falls ihm Nepos hierin nicht zuvorkomme!“ Er lobe O., daß er hiermit, d. h. mit dem Ansuchen um das Patriciat und der Unterordnung unter das Kaiserthum, einen Anfang gemacht habe, in der den Römern zukömmlichen Weise zu handeln. Zeno erwarte, O. werde, wenn er in Wahrheit dem Rechte gemäß zu handeln beschlossen habe, Nepos, sobald er ihm jene Würde werde verliehen haben, in Balde als Kaiser aufnehmen. (Malchus, ed. Bonnensis [158] p. 735. Candidus ebenda p. 476.) Auch redete Zeno in dem an O. gerichteten Schreiben dieses Inhalts ihn bereits als „Patricius“ an: das war ein echt byzantinisches Auskunftsmittelchen: eine zweideutige zweifelige Anerkennung aller Rechte unter Wahrung der Möglichkeit, günstigen Falles Alles anzufechten. Zwar nur Nepos ist rechtmäßiger Herr des Abendlandes, weder O. noch Romulus Augustulus, noch Zeno selbst: aber einstweilen wird doch der Wunsch Odovakar’s halb erfüllt, wird ihm zwar nicht die Würde des Patriciats selbst mit den Insignien ertheilt, allein doch der Titel Patricius amtlich gegeben. So hatte man freie Hand, den Barbaren je nach den Umständen zu dulden oder zu stürzen. Man konnte diese Erklärung ebenso gut als Abweisung wie als Anerkennung deuten. Freilich manchmal verfehlte diese allzuschlaue Politik jedes Zieles, weil sie zu viele Ziele zugleich erreichen wollte: so ging es demselben Kaiser Zeno später, als er Theoderich den Großen auf O. hetzte, oder doch los ließ, so ging es jetzt mit O. Sich einen in Ravenna oder Rom selbst residirenden Herrn auf den Nacken zu setzen, einen Mann als Kaiser des Abendlandes statt jenes Kaiserknaben, einen Herrscher, der dann die Landtheilung, die Grundlage von Odovakar’s Macht, anfechten, O. lediglich als einen Diener behandeln und nach befestigter Macht mit Hilfe des Senats, der rechtgläubigen Kirche – O. war Arianer – der den Barbaren feindlichen Partei, ähnlich wie weiland Stilicho auch wohl beseitigen mochte – dazu hatte der tapfere Germane keine Neigung. Nachdem von Byzanz volle Anerkennung nicht zu erwarten war, brach er die Verbindung mit dem Kaiser ab, gab die Hoffnung, seine revolutionäre Macht durch den letzteren anerkannt zu sehen, auf und ließ sich von seinen Söldnern ausrufen – auch jetzt nicht zum Kaiser des Abendlandes, auch nicht zum König eines germanischen Volkes – denn seine Schaaren gehören nicht Einem Volk an – sondern zum „König von Italien“ – ein seltsamer Titel, der damals zuerst an das Ohr der Menschen schlug, um nach dreizehnjährigem Bestand wieder zu verstummen auf dreizehn Jahrhunderte. Herr Italiens war er, Kaiser wollte er nicht werden, König Eines Germanenvolkes war er nicht: so ließ er sich zu der thatsächlichen Herrschaft den Königstitel geben. – Uebrigens verdarb er es doch nicht ganz mit Byzanz: als Nepos zu Dalmatien von einem comes Ovida ermordet ward, griff er den Mörder an und tödtete ihn (Chronicon Cassiodorii ed. Mommsen). Andererseits versagte Byzanz den Galliern, welche sich gegen O. wenden wollten jede Hilfe. Die Stellung Odovakar’s im Innern war, gerade weil er nicht, wie etwa Eurich der Westgothe in Gallien, wie Theoderich der Ostgothe in Italien auf echtes germanisches Volkskönigthum sich stützen konnte, so unsicher, daß er nach Außen wider mächtige Gegner nichts unternahm. Die Abtretungen südgallischen Gebiets durch Nepos an die Westgothen wurden bestätigt, vielleicht erweitert (Procop. b. g. I. 12), den Vandalen kaufte er die hergebrachte Heimsuchung Siciliens durch Jahrgelder ab, wofür er freilich einen Theil der Insel von König Genserich abgetreten erhielt (Victor Vitensis ed. der Monum. Germ. hist. I. 4). Nur gegen die schwachen nordöstlichen Nachbarn, die Rugier, trat O. kräftig auf. Eine Blutthat in der Königsfamilie – des Königs Fava Bruder Friedrich, ward von des Königs Fava Sohn Friedrich ermordet – gab, wie es scheint, den Vorwand zur Einmischung Odovakar’s: er bekriegte König Fava, führte ihn und seine Königin Gisa gefangen nach Italien, vertrieb den Königsohn Friedrich und nach dessen Rückkehr ein zweites Mal aus dem Lande. Odovakar’s Bruder Aonulf verrichtete dies und führte dann auf Odovakar’s Befehl die letzten Römer, d. h. die römischen Besatzungen aus den Burgen und festen Städten jener Donaulande (Noricum, Rätien) nach Italien ab: alle römischen Einwohner, welche sich den abziehenden Soldaten anschließen wollten, ward dieser Auszug verstattet, was sie nun als die von Sanct Severin oft geweissagte [159] Befreiung von dem Joche und den Gewaltthaten der Barbaren begrüßten (vita S. Severini XI. XII.) Jener Friedrich floh nun zu dem Ostgothenkönig Theoderich, mit welchem er gegen O. in Italien eindrang, um übrigens auch von diesem abzufallen. Von den Einrichtungen, welche O. in dem Innern seines Reiches traf, sind wir nur sehr dürftig unterrichtet. Eine Landtheilung mag die wichtigste grundbauende Maßregel gewesen sein: doch wurde sie schwerlich in dem Sinne durchgeführt, daß nun wirklich jeder Söldner auf ein Drittel einer italischen possessio vom Brenner bis nach Sicilien, von den Seealpen bis nach Venetien wäre angesiedelt worden. Spätere Vorgänge lassen vermuthen, daß O. einen großen Theil seiner Krieger in Ravenna und im Nordosten der Halbinsel versammelt hielt (s. Theoderich der Große): vielleicht ward diesen nur der Fruchtbezug von dem ihnen dem Rechte nach gehörigen Eigen zugewiesen. Im Uebrigen bestanden alle römischen Einrichtungen, die Geltung des römischen Rechts für die Römer (nach welchem Recht die Söldner lebten, wissen wir nicht: nach dem Princip des angebornen Stammesrechts?), die sämmtlichen römischen Aemter, die Stadtverfassung fort. O. ernannte diese Beamten, zumal seit 480 auch den Jahresconsul, prägte Münzen; er griff, obwohl Arianer, kraftvoll in die Papstwahl ein: er suchte sich zwar möglichst gut mit der Kirche zu stellen: mit Severin hielt er auch S. Epiphanius von Pavia in hohen Ehren, aber er erließ eine Verordnung, daß der Nachfolger des Pabstes Simplicius (467–482) nicht ohne des Königs Zustimmung solle gewählt werden: es wurde denn auch Pabst Felix III. (482–492) demgemäß unter Odovakar’s Zustimmung gewählt: als Felix starb (25. Febr. 492), war O. schon nicht mehr in der Lage, Zustimmung oder Verweigerung auszusprechen: er war in Ravenna eingeschlossen von den Ostgothen. Eine Hauptpflicht und Hauptklugheit germanischer Könige jener Zeit (wie noch im späten Mittelalter) war die Vergabung reicher Geschenke von Land und Leuten, von Gerechtsamen jeder Art, von Gold und Silber in Münzen, Geräthe, Schmuck und von Waffen an seine Getreuen: der Königshort war ein wichtigstes Regierungs- und Machtmittel, Treue zu belohnen und in der Treue zu befestigen; solche Milde ist des Königs Ruhm wie Sicherheit. Der Söldnerkönig mag ganz besonders hierauf angewiesen gewesen sein: Stimmen aus der Folgezeit machen ihm das zum Vorwurf, er konnte wohl nicht anders. Der Zufall ließ uns die Urkunde über eine dieser Schenkungen erhalten: Marini, papiri diplomatici N. 82, 83. Der comes domesticorum (und wahrscheinlich magister militum) Pierius erhielt am 18. März 489 vom König 690 solidi (= 6515 M.) angewiesen, auf den Ertrag von Landgütern; diese Schenkung wenigstens ward einem Würdigen zu Theil; der Beschenkte ließ sein Leben für den Schenker siebzehn Monate später in der heißen Schlacht an der Adda (11. August 490). – Beliebt konnte die Herrschaft des Anmaßers, des Barbaren, des Ketzers bei den Italiern nicht werden; doch muß man sich hüten, seine Regierung zu beurtheilen nach den Anklagen, welche die Lobredner seines großen Ueberwinders Theoderich wider sie erheben. Ohne Finanzdruck ging es wohl nicht ab; aber auch Theoderich, der drei Jahrzehnte getrachtet hatte, Italien zu beglücken durch väterlich mildes Regiment, ward bald nach seinem Tode von dem Danke der Italier, zumal der Geistlichen, in den Höllenpfuhl unter den liparischen Inseln verwünscht. Die Geschichte des fast sechsjährigen, zähen, heldenmüthigen Kampfes Odovakar’s wider den Ostgothen Theoderich wird besser in dem diesem gewidmeten Artikel dargestellt (s. denselben). Hier mögen nur einige Odovakar’s Person und Familie betreffende Angaben beigefügt werden, welche wir den von Theodor Mommsen im Hermes 1872 S. 1472 herausgegebenen neu gefundenen Bruchstücken von Johannes Antiochenus verdanken (s. Dahn, Bausteine II S. 120). Nach den verlorenen Schlachten am Isonzo, der damaligen Grenze Italiens (August 489), und an der Etsch bei [160] Verona (30. Septbr. 489) sperrte ihm Rom schon 489 die Thore; jedoch ging O., nachdem sein zu Theoderich übergetretener Feldherr Tufa wieder zu O. zurückgekehrt war und ihm die Heerführer Theoderichs bei Faënza gefangen ausgeliefert hatte, mit solchem Erfolg zum Wiederangriff über, daß er Cremona und Mailand wiedergewann, die Ostgothen auf Pavia zurückwarf, hier einschloß und in äußerste Bedrängniß brachte, aus welcher sie nur durch den Zuzug westgothischer Vettern aus Gallien unter einem andern Amaler befreit wurden. Jetzt aber, also verstärkt, gewann Theoderich eine dritte Schlacht um eine Flußlinie, die der Adda, am 11. August 490. O. warf sich in das feste Ravenna, das von der damaligen Belagerungskunst durch den Gewaltangriff nicht zu bezwingen war. Heldenmüthig wie der Bär im Bau wehrte sich O. noch drei Jahre, in zahlreichen Ausfällen die Linien der Belagerer bedrohend: ein nächtlicher Ueberfall der festen Stellung Pineta wäre nahezu gelungen. Allein seit Theoderich Ariminum (Rimini) genommen und daselbst eine Flotte erbeutet hatte, sperrte er Ravenna die Zufuhr vom Meere her (vom Hafen Classis) und nun ward O. durch Aushungerung zur Uebergabe genöthigt. Bischof Johannes von Ravenna vermittelte den Vertrag (27. Februar 493); am 5. März 493 zog Theoderich in Ravenna ein. So erstaunlich es ist – zumal in Erwägung der hoffnungslosen Lage der Ausgehungerten – es scheint in der That eine Art gemeinschaftlicher oder getheilter Herrschaft Odovakar’s und Theoderich’s in dem Vertrag vorgesehen worden zu sein, wenn nicht etwa doch nur „gleiche königliche Ehren“ d. h. äußere Ehrenzeichen in Ravenna dem Besiegten zugesichert wurden. Aber wenige Tage darauf ward die unmögliche Uebereinkunft blutig zerrissen: Theoderich lud O. zum Mahle in seinen Palast (in Laureto) ein, und stieß den Patricius hier mit eigner Hand nieder, nachdem zwei Männer unter dem Schein dringender Bitten beide Hände Odovakar’s erfaßt hatten, und festhielten. Das Schwert fuhr beim Halse hinein und bei der Hüfte heraus, (nicht einmal einen Knochen hatte das Scheusal im Leibe, sagte Theoderich später), er rief dabei: „so hast du weiland meinen Gesippen gethan“, was damit gemeint ist, bleibt unklar (ob. S. 155); die Pflicht der Blutrache mindert einigermaßen die Schwere von Theoderich’s Schuld; er glaubte sich aber offenbar erst sicher, wenn sein Gegner, der großartigen Widerstand hatte leisten können, unter der Erde lag. Später ward von dem Sieger vorgegeben, – und vielleicht auch geglaubt – man habe so einem Mordplan Odovakar’s zuvorkommen müssen. Odovakar’s Wittwe Skunigildis ward in den Kerker geworfen, wo sie Hungers starb, sein Sohn Thela *) [WS 4], den O. früher zum „Cäsar“ d. h. wol Mitregenten, aber nicht zum Kaiser ernannt, dann als Geisel gegeben hatte, nach Gallien verbannt und als er, unter Bruch dieses Bannes, wieder in Italien erschien, hingerichtet. Eine Art von sicilianischer Vesper beseitigte an dem für die Ermordung Odovakar’s vorbestimmten Tage auch alle dessen, über ganz Italien verstreuten ehemaligen Waffengenossen und Anhänger. – Dieser byzantinische Bericht, den Gothen allerdings sehr feindselig, wird gleichwohl im Wesentlichen aufrecht zu halten sein, gegenüber den von den gothischen Staatsrednern und Staatsmännern ausgehenden oder beeinflußten.
Odovakar, König von Italien 476–493. O. war vermuthlich der der gothischen Völkergruppe angehörigen Völkerschaft der Skiren entstammt, welche mit den Rugiern, neben welchen sie gewöhnlich genannt werden, von der Ostsee an die Donau gewandert, hier wie alle Nachbarvölker den Hunnen dienstbar geworden waren, in Attilas Heeren mitgefochten und nach dem Zerfall seines Reiches sich in Unter-Mösien niedergelassen hatten. In diesen Gegenden wurden nun die Ostgothen übermächtig unter ihren Königen aus dem Geschlecht der Amaler. Vergeblich versuchten auch die Skiren, gleich ihren Verbündeten und Nachbarn, den Rugiern, Gepiden und andern germanischen wie nichtgermanischen Völkerschaften, dies Uebergewicht zu brechen: in zwei Feldzügen erlagen die Skiren, in dem zweiten unter Führung ihrer Edelinge Edika und Wulfo; zwar fiel in diesem letzten Kampfe der amalische Oberkönig Walamer (s. den Artikel)- Quellen und Litteratur (außer den bereits Angegebenen): Jordanis, Romana et Getica ed. Mommsen. Monum. Germ. hist. Auctor. antiquiss, V. 1. Berolini 1852. – Anonymus Valesii ed. Wagner 1808. – Cassiodorii libri variarum XII ed. Lugdun. 1595, III. 12, IV. 38, V. 14, 41, VIII. 17. – [161] Paulus Diaconus, hist. Langobard. ed. Waitz, Monum. Germ. hist. Auctor. antiquiss. Hannoverae 1878. – Mansi, collectio Conciliorum, Florentiae 1764, VIII, p. 265. – Usener, Anecdoton Holderi, ein Beitrag zur Geschichte Roms im ostgothischen Zeitalter, Leipzig 1877. – Eutropius, ed. Droysen, Monum. Germ. histor. Auctor. antiquiss. II. Berol. 1879. – Gibbon, history of the decline and fall of the Roman empire, VI, Leipsic 1829. – Tillmont, histoire des empereurs etc. Paris 1739. VI. p. 435. – Manso, Geschichte des ostgothischen Reichs in Italien, Hamburg 1824. – Gaupp, germanische Ansiedlungen und Landtheilungen, Breslau 1844. – Köpke, deutsche Forschungen, Berlin 1859. – du Roure, Théoderic le Grand, Paris 1846. – Olivieri, il senato Romano, I, Roma 1840. – Pallmann, Geschichte der Völkerwanderung I, Gotha 1863, II, Weimar 1864. – Garollo, Teoderico re dei Goti e degl’ Italiani, Firenze 1879. – v. Sybel, Entstehung des deutschen Königthums, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1881. – v. Ranke, Weltgeschichte, IV, Leipzig 1883. – Hodgkins, Italy and her Invaders III, Oxford 1885. – Dahn, die Könige der Germanen II, München 1862. – v. Wietersheim-Dahn, Geschichte der Völkerwanderung, 2. Auflage II, Leipzig 1881. (16. Capitel).
[160] *) Nicht „Thelanes“, die Lateiner bilden die gothischen Namen auf a mit Vorliebe nicht nach der ersten, sondern nach der dritten lateinischen Beugung, indem sie den zweiten Fall auf –anis bilden, wodurch man sich nicht verleiten lassen darf, den ersten Fall statt auf a auf anes zu bilden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Der Verweis geht ins Leere: Es gibt keinen Artikel über Walamar/Valamir in der ADB; vergleiche den Artikel in der Wikipedia.
- ↑ Romulus Augustulus (ca. 460–476), letzter angemaßter (Usurpator) weströmischer Kaiser
- ↑ Julius Nepos (430–480), letzter legitimer weströmischer Kaiser
- ↑ Fußnotenzeichen fehlt im Original.