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Artikel „Hutter, Leonhard“ von Adolf Brecher in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 13 (1881), S. 476–479, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hutter,_Leonhard&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 19:23 Uhr UTC)
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Hutter: Leonhard H. (Hütter, Hutterus), lutherischer Theolog, geb. im Januar 1563 zu Nellingen im Gebiete von Ulm, † am 23. October 1616 zu Wittenberg. Sein Vater gleichen Namens, Pfarrer zu Nellingen und seit 1565 zu Ulm, schickte ihn auf die Schule zu Ulm und 1581 auf die Universität Straßburg. Zehn Jahre verweilte er hier, zuerst mit dem Studium der Philologie und Philosophie, sodann mit dem der Theologie beschäftigt. Dann ging er nach Leipzig, Heidelberg und Jena und begann hier, nachdem er durch eine Disputation „de praedestinatione“ die theologische Doctorwürde erlangt hatte, 1594 theologische Vorlesungen zu halten. In Folge des günstigen Rufes, dessen sich diese Vorlesungen erfreuten, wurde er schon nach zwei Jahren nach Wittenberg als Professor ord. an Stelle Huber’s berufen. Er verdankte diese Vocation besonders den Empfehlungen Pol. Leyser’s, der nach den jüngsten Erfahrungen, die man mit den Kryptocalvinisten in Sachsen gemacht hatte, die Universität mit möglichst ungefärbten Lutheranern besetzt zu sehen wünschte. Sein akademisches Amt und die damit verbundenen zahlreichen Nebenämter hinderten ihn nicht, eine ausgedehnte litterarische Wirksamkeit zu entwickeln, die auf die Vertheidigung und Befestigung der lutherischen Orthodoxie abzweckte. Der historische Verlauf, welchen die Ausbildung derselben bisher genommen hatte, bewies deutlich, daß der anfängliche reformatorische Charakter der evangelischen Dogmatik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine entschiedene Wandlung erfahren hatte. Diese hatte ihren concreten Ausdruck in der Concordienformel erhalten, durch welche alle in die lutherische Kirchenlehre eingedrungenen calvinischen Elemente aus derselben ausgeschieden und ein festes, wohlgeordnetes Lehrgebäude für alle lutherischen Kirchen hergestellt werden sollte. H. stellte sich mit seiner Thätigkeit in den Dienst dieser Bestrebung, indem er dogmatisch wie polemisch den Unterschied zwischen Lutherthum und Calvinismus als eine abgeschlossene Thatsache zur Anerkennung zu bringen beflissen war. – Seine dogmatischen Hauptwerke sind: das „Compendium locorum theologicorum ex scripturis sacris et libro Concordiae collectum“, Vitebergae 1610, und öfter im 17. und 18. Jahrhundert edirt, und die nach seinem Tode von der theologischen Facultät zu Wittenberg herausgegebenen „Loci communes theologici ex sacris literis diligenter eruti, veterum Patrum testimoniis passim roborati, et conformati ad methodum locorum Melanchtonis“, Viteb. 1610 fol.; als bedeutendste polemische Arbeit ist zu nennen seine „Concordia concors de origine et progressu Formulae Concordiae“ etc., Viteb. 1614. – Das Compendium war auf Befehl des Kurfürsten Christian II. von Sachsen („Das fromme Herz“) verfaßt und von den theologischen Facultäten zu Wittenberg und Leipzig approbirt worden in [477] usum trium scholarum illustrium (Meißen, Grimma, Pforta) tum reliquarum trivialium in his regionibus. Sein Zweck war, der Jugend einen Leitfaden zu geben, dessen Inhalt sie cum lacte quasi materno als prima elementa purioris doctrinae Christianae imbiberit. Diesen Lehrinhalt zu bilden, sei die Concordienformel geeignet erschienen, und darum habe sich auch der Verfasser möglichst genau an dieselbe angeschlossen, ut sic juventus scholastica a teneris, quam ajunt, unguiculis formae sanorum verborum assuefieret. Das Compendium mußte auswendig gelernt werden posthabitis aliis libellis methodicis, und kein Schüler sollte zur Akademie entlassen werden, der es nicht fest inne hätte.

Mit diesem vom 23. November 1609 datirten Erlaß war die Concordienformel gewissermaßen als Staatsbekenntniß in Sachsen eingeführt, waren die Loci communes Melanchthons beseitigt, war endlich die Reformation in ihrem Grundcharakter aufgehoben und die lutherische Orthodoxie fixirt. Freilich hatte sich doch die Erinnerung an Melanchthon nicht ganz verwischen lassen. H. hatte in der That nichts besseres gewußt, als Melanchthon’s „Lokalmethode“ in sein Compendium mit herüber zu nehmen und in den Auditorien der Universitäten war von selbständigen dogmatischen Vorlesungen vor der Hand so wenig die Rede, daß man ihnen noch immer die Loci communes Melanchthons zu Grunde legte, um an ihnen und trotz derselben die neue Dogmatik zu entwickeln. Auch H. verfuhr so in seinen Loci communes theologici. Besonders lehrreich sind die Prolegomena derselben, in denen er sein Verhältniß zu Melanchthon darlegt. Wol erkennt er ihn an als magnum illum Phil. M., Germaniae nostrae phoenicem, aber er vergißt nicht, später erklärend hinzuzusetzen, daß er a doctrina Lutheri jam inde ab anno 35 supra sesquimillesimum initio quidem clanculum, postmodum vero paulo apertius secessionem fecisse. Es ist nur ein schwacher Trost, wenn er glaubt, daß er sub finem vitae seria acta poenitentia hujus etiam peccati veniam a Christo servatore et petierit et impetrarit. Unter den sieben Punkten, die beweisen sollen, daß er von der „Reinheit der himmlischen Lehre“ abgefallen sei, nehmen natürlich die Lehren vom Synergismos, der communicatio idiomatum und dem Abendmahl die vorzüglichste Stelle ein. – Nach dem Vorgange Melanchthon’s hat H. die Einrichtung in seinen Loci getroffen, daß jeder Locus oder jede quaestio ihrem Inhalte nach sich in Propositionen, ἐκθέσεις, membra gliedere. Es wird kürzlich auf die Beweisführung Melanchthons in den einzelnen Abschnitten hingewiesen und eine Correctur derselben rücksichtlich ihres unorthodoxen Charakters vorgenommen. Werthvoll und wissenschaftlich wol brauchbar sind die Controversexcurse, welche H. hieran gemeiniglich knüpft. Sie sind meistens aus der Dogmengeschichte entnommen und beweisen die reichen Kenntnisse, über welche H. verfügte. Die Loci enthalten das gesammte gelehrte Material, auf dem das „Compendium“ auferbaut worden war.

In seiner Polemik wendet sich H. gegen die Katholiken und natürlich auch gegen die Calvinisten. Er kämpft hier in einer Reihe mit Pol. Leyser, Aeg. Hunnius, Hoë u. dgl. Nicht mit Unrecht hat man ihn den malleus Calvinistarum genannt. Sein Eifer war durch das stetige Wachsthum des Calvinismus in Ost- und Westdeutschland entzündet worden. Jedem neuen Aufschwunge desselben begegnete er mit einer energischen Schrift. 1610 schrieb er seinen „Calvinista Aulico-Politicus, eigentliche Entdeckung und Widerlegung etlicher calvinischen, politischen Rathschläge, welche Johann von Münster fortzupflanzen und die verdammte Calvinisterey in das Herzogthum Holstein einzuschieben sich bemühet“, Viteb. Diesem Erguß eines kräftig erregten und ebenso derb sich äußernden lutherischen Gewissens folgte eine der heftigsten Streitschriften, die H. verfaßte: „Calvinista Aulico-Politicus (alter), oder christlicher nothwendiger Bericht von den fürnehmsten politischen Haupt-Gründen, durch welche man die verdammte Calvinisterey in die [478] Chur- und Marck-Brandenburg einzuschieben sich stark bemühet, samt einem Anhang wider Salomon Fincken, Apostatam zu Berlin, Viteb. 1614. Sie hatte den Uebertritt des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg zur reformirten Kirche (1613) zur Veranlassung und geißelte mit Recht den immer mehr überhand nehmenden Einfluß der Hoftheologen, die ihre fürstlichen Beichtkinder nicht nach den Forderungen des Gewissens und Glaubens, sondern nach politischer Zweckmäßigkeit leiteten. Die daran sich knüpfende Streitlitteratur bietet kein weiteres Interesse. (Vgl. über dieselbe J. G. Walch, Historische und theologische Einleitung in die Religionsstreitigkeiten, Thl. III. S. 496 ff.) Die wichtigste Folge des Hutter’schen Angriffes war, daß der Kurfürst von Brandenburg die Concordienformel im Kurfürstenthum verbot und der studirenden Jugend den Besuch der Universität Wittenberg untersagte. – In derselben Zeit entstand auch die umfassendste polemische Schrift Hutter’s: die „Concordia concors sive de origine et progressu Formulae Concordiae ecclesiarum Conf. Aug. liber unus“, Viteb. 1614. Sie war gegen Hospinian gerichtet, welcher in seiner Concordia discors 1607 eine sehr scharfe und zum Theil nicht unberechtigte Kritik an der Geschichte der Entstehung der Concordienformel, wie an ihrem Lehrgehalt geübt hatte. Mit Geschick und Verständniß unter stetiger Bezugnahme auf das historische Actenmaterial, welches theils ergänzt, theils berichtigt wird, versucht H. dem Gegner folgend die Widerlegung. Hospinian hatte sich nicht unbedeutende Uebertreibungen erlaubt sowol in den Berichten über die Behandlung der Philippisten, als auch in der Darstellung der Motive, von denen die Verfasser der Concordienformel sich hätten leiten lassen. H. hatte den großen Vorzug, in seinen historischen Beweisen aus einem großen Vorrath bis dahin unbekannter urkundlicher Nachrichten schöpfen zu können. Dennoch ist seine Widerlegung nicht als gelungen anzusehen; sie leidet im Grunde nicht weniger an Parteilichkeit als die Arbeit des Gegners. Ihr historischer Inhalt sichert ihr indeß noch heute einen Anspruch auf Schätzung. Die übrigen polemischen Schriften Hutters richten sich, wie J. B. Sadeel elenchomenos Viteb. 1607, gegen die „Sacramentirer“, oder wie seine „Disputationes XX. de verbo Dei scripto et non scripto contra Bellarminum“, Viteb. 1610, gegen die Katholiken und sind gegenüber jenem Hauptwerke von mehr untergeordneter Bedeutung. – Auch exegetische und praktisch-theologische Schriften besitzen wir von H. Sie beweisen immerhin das Geschick des Dogmatikers auch auf ihm fremderem Boden. Von jenen sind zu nennen die „Epitome biblica“, 1609 und die „Succincta explicatio epistolae ad Galatas“, 1635; von diesen die „Meditatio crucis Christi sive homiliae Academicae in historiam Passionis et mortis Christi“, 1612; „Der Bericht vom ordentlichen und apostolischen Beruf, Ordination und Amt der lutherisch-evangelischen Prediger“, Wittenb. 1609, und endlich mehrere Leichenreden im pomphaften Zeitstil, die zu halten ihn seine amtliche Stellung verpflichtete: auf seine Collegen Dr. Aeg. Hunnius, 1603; Dr. Salom. Gesner, 1605; Dr. Georg Mylius, 1607; Dr. Polykarp Leyser, 1610; auf den Kurfürsten Christian II. von Sachsen und auf den Herzog August von Sachsen, 1616.

H., der „redonatus Lutherus“, ist mit Recht der Haushalter lutherischer Orthodoxie, mit Unrecht der Vater der lutherischen Scholastik genannt worden. Sein theologischer Standpunkt ist einfach der der Symbole, insonderheit der Concordienformel, denen er sogar die Theopneustie zuerkennt. Damit ist für ihn der Grund wie die Grenze seiner dogmatischen Spekulation gegeben. Man findet daher bei ihm weder einen künstlichen Bau eines Systems, noch auch formale Kategorien, noch endlich die bis ins Kleinste durchgeführte Division der Begriffe, welche die spätere lutherische Dogmatik kennzeichneten. Sein Bestreben ist allein darauf gerichtet, von dem Bestande und Inhalt des kirchlichen Lehrbegriffs Rechenschaft [479] zu geben mit voller Resignation auf alles Subjective, sei es in der unterscheidenden Würdigung seiner verschiedenen Bestandtheile, sei es selbst in der Deutung und Erklärung seiner Bestimmungen.

Zur Quellenlitteratur sind zu vergleichen: A. G. Hoffmann in Ersch u. Gruber’s A. E., Sect. II. Thl. 13 S. 222 ff., u. Wagenmann in Herzog’s Real-Enc., 2. Aufl. – Außerdem sind nachzusehen: J. G. Walch, Histor. u. theol. Einleitung in die Religionsstreitigkeiten der ev.-luth. Kirche, Bd. IV S. 54, 223, 249; Bd. V S. 769, 808, u. derselbe, Histor. u. theol. Einl. i. d. Religionsstreitigkeiten außerhalb der ev.-luth. Kirche, Bd. III S. 160, 496, 1066. – C. E. Luthardt, Die Lehre vom freien Willen u. sein. Verhältniß zur Gnade, Leipz. 1863 S. 286 f. – I. A. Dorner, Gesch. der prot. Theologie, München 1867 S. 530 f. – K. Hase, Hutterus redivivus, 11. Aufl. Prolegomena, § 26 II. und in den betr. Vorreden v. Hutter’s Schriften, besonders zu den ersten Auflagen derselben.