Skizzen aus deutschen Parlamentssälen/4. Die deutsche Fortschrittspartei
„Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter (Hagen).“
Und wenn das „hohe Haus“ auch matt und müde oder – durch die vorhergehenden Redner der Aufmerksamkeit entwöhnt – in lebhafte Privatgespräche vertieft ist, so ist es doch schnell wieder bei der Sache; die Flüchtlinge kehren aus Foyer und Restauration zurück; die Commissarien des Bundesrathes nähern sich der linken Seite, und auf der Rechten schließen sich die Reihen, wie zum Carré, das mit gefälltem Bajonnet den feindlichen Ansturm kampfesfroh erwartet. Zuweilen bleibt es bei einem kurzen raschen Vorstoß, einigen scharfen Hieben, einem flüchtigen Plänkeln – nicht selten aber erfolgt ein mehrstündiger Vormarsch nach allen Regeln der Strategie, mit angezeichneter Munition und tiraillirendem Ausschwärmen nach allen Seiten; genau markiren sich die Punkte, wo es eingeschlagen, überall lebhaftes Feldgeschrei für und wider, und das Gefecht entbrennt auf der ganzen Linie. Nur klein ist das Häuflein, das um den muthigen Führer sich schaart, zur Hälfte mindestens alte Garde, darunter ehrwürdige Veteranen, die treu und beständig das Banner der deutschen Fortschrittspartei hochgehalten in allem Wechsel der Ereignisse und der Meinungen, das Banner der ältesten unserer parlamentarischen Parteien.
Als im October 1858 der Prinz von Preußen die Regentschaft übernommen und seine Ansprache mit ihrer vernichtenden Verurteilung der Heuchelei und Scheinheiligkeit, „alles Kirchenwesens als Mittel zu egoistischen Zwecken“, veröffentlicht hatte, begann das Volk endlich wieder freier zu athmen und glaubte die lange Nacht der Reaction gewichen Die „Landrathskammer“ wurde bei den Wahlen gesprengt, und im neuen Abgeordnetenhause gebot das liberale Ministerium über eine gewaltige Mehrheit. Der italienische Krieg und der Friede von Villafranca im nächsten Jahre zeigten mit einem Male wieder den Jammer deutscher Zerrissenheit in grellster Beleuchtung, Oesterreich und die Mittelstaaten in erbitterter Feindschaft gegen Preußen, alle alten Gegensätze – zwischen Norden und Süden, Katholiken und Protestanten, Demokraten und Constitutionellen – jäh geweckt und neu verstärkt. Aufgerüttelt durch des Vaterlandes Noth, fanden sich in Eisenach und Hannover patriotische Männer zusammen und beriefen eine größere Versammlung Gleichgesinnter auf den 15. und 16. September 1859 nach Frankfurt am Main. Das Mißtrauen gegen Preußen verhinderte die Einigung über ein bestimmtes Programm, aber statt dessen ward auf den mit einer begeisterten Rede begründeten Vorschlag von Schulze-Delitzsch das Statut eines programmlosen Vereins angenommen, der es sich zur Aufgabe stellte, „zum Zwecke der Einigung und einheitlichen Entwickelung des großen gemeinsamen Vaterlandes“ mit allen gesetzlichen Mitteln zu wirken. So entstand der „deutsche Nationalverein“, der die Bewegung rasch in Fluß brachte und unter großer Theilnahme des Volkes überall eine rührige Agitation entwickelte.
Das Ministerium der „neuen Aera“ in Preußen erwies sich in der deutschen Frage sehr bald unentschieden und ohne Muth, nach innen, gegenüber dem vollständig conservirten Beamtenbestand der Reactionsperiode, kraft- und machtlos, und die Mehrheit des Abgeordnetenhauses drängte es nicht vorwärts, sondern stimmte, um die „liberale“ Regierung nicht zu gefährden, sich selbst immer mehr herab. Das preußische Volk gab nicht mißzuverstehende Zeichen seines wachsenden Unmutes: bei drei Nachwahlen wählte es den alten Kammergerichtsrath Taddel, den mannhaften Präsidenten des abscheulichen Waldeck’schen Hochverrathsprocesses, Waldeck selbst und Schulze-Delitzsch, die bis dahin mit den andern demokratischen Führern eine weise Zurückhaltung beobachtet hatten. Auch innerhalb der maßgebenden, 150 Mitglieder zählenden parlamentarischen Fraction Vincke steigerte sich die Unzufriedenheit mit dem stets herrischer sich geberdenden, nach rechts treibenden Führer, und es erstand in
[525][526] ihr eine Linke, an ihrer Spitze der oftpreußische Freiherr Leopold von Hoverbeck, dessen schneidige Entschiedenheit dem westfälischen Baron sehr bald eine widerwillige Achtung abzwang.
Am 7. Februar 1881 kam es zum Bruch. Bei der Adreßdebatte wurde ein von Hoverbeck dahin gestelltes Amendement, daß dem Könige die Führung des deutschen Heeres übertragen und Preußen die ihm gebührende Stellung „an der Spitze des deutschen Bundesstaates“ eingeräumt werde, von der Mehrheit der Fraction verworfen, und es schied nun eine Anzahl Mitglieder, darunter auch von Forckenbeck, aus. Sie traten mit Taddel, Waldeck und einigen anderen „Wilden“ vorläufig zu einem parlamentarischen Verein zusammen, der aus neunzehn Abgeordneten bestand und den ihm von Vincke augehängten Spottnamen „Junglitthauen“ selbst acceptirte.
Angesichts der Neuwahlen galt es nun, eine Vereinigung aller entschiedenen Liberalen, wie sie im Nationalverein für das Volk sich vollzogen hatte, auch im Parlamente herzustellen. Sie glückte. In einer Versammlung zu Berlin am 8. Juni 1881 unter dem Vorsitze des Professor Virchow wurde das Programm einstimmig festgestellt, das dann die Zeitungen vom 9. Juni 1881 veröffentlichten. Unterzeichnet war es von den bekannten Parlamentariern und fünfzehn Berlinern, darunter von späteren Abgeordneten die Professoren Mommsen und Virchow, Dr. Langerhans, Franz Duncker, von Unruh, sowie die Redacteure der „Vossischen Zeitung“, der „Volkszeitung“ und der „Nationalzeitung“.
An diesem Programm hält die deutsche Fortschrittspartei noch heute fest; es ist unter dem 24. März 1877 nur neu formuliert und auf Grund der veränderten Verhältnisse hier und da bestimmter gefaßt und erweitert worden. Bemerkenswerthe Sätze sind insbesondere folgende:
„Wir sind einig in der Treue für den König und in der festen Ueberzeugung, daß die Verfassung das unlösbare Band ist, welches Fürst und Volk zusammenhält.
Für unsere inneren Einrichtungen verlangen wir eine feste liberale Regierung, welche ihre Stärke in der Achtung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger sieht und es versteht, ihren Grundsätzen in allen Schichten der Beamtenwelt unnachsichtlich Geltung zu verschaffen.
In der Gesetzgehung scheint uns die strenge und consequente Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaats eine erste und unbedingte Nothwendigkeit.
Für die Ehre und die Machtstellung unseres Vaterlandes, wenn diese Güter durch einen Krieg gewahrt oder erlangt werden müssen, wird uns niemals ein Opfer zu groß sein; im Interesse einer nachhaltigen Kriegführung aber erscheint uns die größte Sparsamkeit für den Militär-Etat im Frieden geboten.“
Die neue Partei, welche zuerst den Muth hatte, in dem Parlamente eines Einzelstaates die Einigung Deutschlands auf ihr Banner zu schreiben, und als deutsche Fortschrittspartei in das preußische Abgeordnetenhalls zu einer Zeit einzog, wo die Reichsfreundlichkeit durchaus noch nicht unbedingt populär und nach oben zweifellos nicht „opportun“ war, errang um Wahltage, dem 8. December 1881, trotz aller gegnerischen Anstrengungen einen glänzenden Sieg. Doppelt und dreifach wurden die namhaftesten Fortschrifttsmänner gewählt, durunter der durch sein Duell mit dem General von Manteuffel schnell berühmt gewordene Berliner Stadtrichter Karl Twesten; zweiundachtzig Mitglieder zählte die offizielle, zwanzig die sogenannte „stille Fortschrittspartei“ in dem am 14. Januar 1862 zusammentretenden Abgeordnetenhaus, das schon am 11. März aus Grund des Hagen’schen Antrages wieder ausgelöst wurde. Das neue Haus zählte hunderteinundvierzig Fortschrittsmänner. Es befand sich einem streng conservativen Ministerium gegenüber; die „neue Aera“ hatte abgewirthschaftet, der Kriegsminister von Roon die Armeereorganisation durchgeführt, ohne die erforderlichen Mittel bewilligen zu lassen. Am 18. September 1862 ward der erste Autrag der Budgetcommission auf Sonderung und Streichung der Kosten für die ungesetzlichen Maßnahmen angenommen, und drei Tage später traf Herr von Bismarck-Schönhausen aus Paris ein, um seinen Botschafterposten mit dem des Ministerpräsidenten zu vertauschen. Er hatte sich in den Anfängen des preußischen Parlamentarismus 1847 und 1848 als einen der schneidigsten rnd rücksichtslosesten Vorfechter der äußersten Rechten bemerklich gemacht, war beim Bundestag nicht minder streitbar gegen das österreichische Uebergewicht aufgetreten und alsdann in Petersburg, zuletzt am französischen Hofe gewesen, wo er den Kaiser Napoleon und den Cäsarismus aus das Schärfste beobachtet und eingehend studirt hatte. Mit seiner Berufung erreichte der Militärconflict sofort den Höhepunkt. Nicht um die Sache, um die Form handelte es sich, und der Kampf wurde geführt um die grundlegenden verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung.
Die Regierung scheute kein Mittel; denn es erfolgten Auflösung über Auflösung, Maßregelung der liberalen Beamten, Knebelung der Presse durch die berüchtigten Ordonnanzen, Eingriffe in das Versammlungsrecht, sogar in die Redefreiheit der Abgeordneten. Fest und unerschütterlich stand das Parlament und treu zu ihm das Volk, das, durch nichts eutmuthigt oder irregeführt, immer wieder die tapfern Streiter für Recht und Verfassung wählte.
Ein neuer Feind war dem liberalen Bürgerthum erstanden: Ferdinand Lassalle hatte die Socialdemokratie begründet und drohte den „Bourgeois“ mit dem aus der Ferne tönenden Schritt der heranziehenden Arbeiterbataillone. Herr von Bismarck schien eine zeitlang an die Möglichkeit einer Bundesgenossenschaft zu glauben; er hatte Berührungen mit dem genialen Agitator und ermöglichte durch königliche Unterstützung den sehr bald kläglich gescheiterten Versuch einer Fabrik auf socialistischer Grundlage. Die Liberalen dagegen nahmen sofort den Kampf auf, und bis heute noch giebt es keine unversöhnlicheren Gegensätze und Gegner, als Fortschrittspartei und Socialdemokratie, die Partei des aus Selbsthülfe und Selbstverantwortlichkeit beruhenden Rechtsstaates und die Anhänger einer jeden Einzelwillen und alle Selbstbestimmung vernichtenden Staatsallmacht.
Nur in einem Punkte hatte das Ministerium Bismarck der unbedingten Unterstützung der Abgeordnetehausmehrheit sich erfreut, bei Verfolgung der gesunden preußischen Freihandelspolitik, welche den durch die Mittelstaaten abgelehnten französischen Handelsvertrag wieder zu Stande brachte und selbst Oesterrreich zu einer liberalen Tarifreform nöthigte.
Inzwischen – nach siegreicher Beendigung des dänischen Krieges – waren die eroberten Herzogtümer an die beiden deutschen Großmächte abgetreten; der Nationalverein protestirte gegen die Annexion und agitirte auf das Lebhafteste für das Selbstbestimmungsrecht der Schleswig-Holsteiner und die Einsetzung des Augustenburgers. Das preußische Abgeordnetenhaus schwieg in dieser Frage, und dadurch wurde das Mißtrauen der mittel- und süddeutschen Liberalen wieder rege. Der vierjährige Conflict mit seinen vielfachen Rechts- und Versassungsverletzungen und dem budgetlosen Regiment hatte Preußen um alles Vertrauen und jede Zuneigung gebracht, und als es plötzlich am 9. April 1866 bei dem Bundestage einen constitutionellen Antrag stellte, erklärte der Ausschuß des deutschen Nationalvereins unter lauter Zustimmung, das deutsche Volk werde niemals an eine ihm von Preußen in Aussicht gestellte Verfassung glauben, „so lange die preußische Verfassung ein todter Buchstabe ist“.
Der schon im Februar entlassene Landtag ward im Mai aufgelöst, als der Krieg Deutscher gegen Deutsche unvermeidlich geworden. Das Budget war wiederum nicht zu Stande gekommen; Gelder zur Kriegsführung hatte die Regierung, welche das Bewilligungsrecht des Abgeordnetenhauses grundsätzlich bestritt, gar nicht verlangt, das Parlament daher niemals in der Möglichkeit sich befunden, durch Gewährung oder Versagung der Mittel seine Stimmung auszudrücken. Die deutsche Fortschrittspartei erklärte in ihrem Wahlaufruf vom 20. Juni, daß nach Lage der Dinge und Mangels jedes Einflusses der Volksvertretung der nun einmal entstandene Krieg geführt werden müsse, sein Ziel aber kein anderes sein könne und dürfe, „als die Wiederherstellung Deutschlands, geeinigt auf dem Boden der Freiheit und des Volkswohls durch eine Verfassung“.
Wenn die Partei im norddeutschen Reichstage mit vierunddreißig anderen Abgeordneten gegen die Bundesverfassung stimmte und im preußischen Landtage gleichfalls die Ablehhnung votirte, so geschah dies nicht aus Widerstreben gegen die deutsche Einheit, sondern wegen ungenügender Ausdehnung und Sicherstellung der Volksrechte in dem vorgelegten Entwurf. Waldeck betonte nachdrücklich, daß Bündniß wie Einheit an sich vollständig feststehen und durch die Ablehnung dieser Verfassung die Sache, für welche die Partei einstehe, nicht im mindeste gefährdet sei, sondern nur gewinnen könne.
Im preußischen Volke hatte während des Krieges eine rückläufige Bewegung begonnen, und bei den um Schlachttage von Königgrätz stattfindenden Wahlen verloren Fortschrittspartei und [527] linkes Centrum fast die Hälfte ihrer Mitglieder. Dagegen ward der früheren Conflicts-Mehrheit die nachträgliche Genugthuung, daß die siegreich aus dem Kampfe heimkehrende Regierung sofort Indemnität bei dem Abgeordnetenhause nachsuchte und so dessen verfassungsmäßige Rechte anerkannte.
Am 15. October wurde das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes und am 12. November noch ein gemeinschaftlicher Wahlaufruf der Fortschrittspartei und des linken Centrums veröffentlicht. Allein schon in den nächsten Tagen veranlaßten heftige Debatten in den Fractionssitzungen den Austritt verschiedener Mitglieder – darunter namentlich Lasker, Twesten und von Forckenbeck – und die Bildung der „nationalliberalen“ Partei, die bald einen entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung und Entwickelung unserer inneren Verhältnisse gewann und geraume Zeit behielt. Grund der Meinungsverschiedenheit war das größere oder geringere Vertrauen zu dem leitenden Staatsmanne. Die Wahlen am 12. Februar 1867 ergaben in den alten preußischen Provinzen einen glänzenden Sieg der conservativen Regierungspartei, während in den neuen die Nationalliberalen, welche neunundsiebenzig Sitze errangen, überwogen. Zu Folge des allgemeinen Stimmrechts erschienen auch die Socialdemokraten zum ersten Mal geschlossen auf dem Plane und gaben in Elberfeld bei der engeren Wahl den Ausschlag für Bismarck gegen Forckenbeck. Nordhausen wählte Eugen Richter und eröffnete so dem Achtundzwanzigjährigen die parlamentarische Laufbahn.
Drei Jahre vorher war der zum Bürgermeister von Neuwied gewählte Regierungsassessor wegen notorischer Freisinnigkeit nicht bestätigt worden, hatte den Staatsdienst aufgegeben und in Berlin als politischer und volkswirthschaftlicher Schriftsteller sich niedergelassen Er zählt zu den hervorragendsten Parlamentariern unserer Zeit und führt seit des großen Waldeck und des unvergeßlichen Hoverbeck Tode die Partei. Staunenswerth, wie seine Arbeitslust, ist die Fülle des Materials, das er aus allen Gebieten, insbesondere dem finanziellen und militärischem bis in das kleinste Detail beherrscht und stets im rechten Augenblick zu verwenden weiß. Auch als Redner steht er jetzt auf der Höhe und wirkt durch die Form nicht weniger, wie durch die Sache, während eine gewisse Rücksichtslosigkeit, die zuweilen verletzte, jetzt der Ruhe des reiferen Alters zu weichen beginnt. Dem Vielbewunderten und Vielgehaßten hören die Gegner fast noch aufmerksamer zu, als die Freunde.
Die nächsten Wahlen fielen für die Fortschrittspartei etwas günstiger aus. Berlin blieb ihr treu, ließ für den Reichstag Lasker fallen und beseitigte im Landtage diejenigen fünf seiner neun Abgeordneten, welche nationalliberal geworden waren. In drei parlamentarischen Körperschaften, im Reichstage, im Zollparlament und im preußischen Abgeordnetenhause, hat die Partei während der nächsten Jahre auf das Eifrigste an der Gesetzgebung mitgearbeitet, deren Fortschritte in wirtschaftlichen Fragen, dank dem einsichtsvollen Minister Delbrück und dem einmüthigen Zusammenhalten aller Liberalen, verhältnismäßig bedeutende und bahnbrechende waren. Auch wo es sich um politische Freiheit handelte, blieb die Mehrheit der nationalliberalen Partei den alten Grundsätzen noch treu, während die Mitglieder aus Hannover und Hessen zumeist der Regierung zum Siege verhalfen. Am 19. Juli 1870 bewilligte der Reichstag in außerordentlicher Sitzung einstimmig die zur Kriegführung gegen Frankreich verlangten Geldmittel, und am 24. November ward er zum letzten Mal eröffnet. Niemand grämte sich darob.
Alle Liberalen hatten die norddeutsche Bundesverfassung von vornherein nur als einen mangelhaften Anfang, einen traurigen Notbehelf betrachtet und selbst die Nationalliberalen stets erklärt, bei erster Gelegenheit, namentlich beim Hinzutritt der süddeutschen Staaten, die Mängel beseitigen zu wollen. Alle Liberalen hofften von Beginn des Krieges an auf ein einiges deutsches Reich und eine freiheitliche Reichsverfassung. Das Werk von Versailles sollte sie bitter enttäuschen – particularistisch verschüchtert freiheitlich nicht verbessert war es im Wesentlichen die norddeutsche Bundesverfassung geblieben unter der nun das Reich geeinigt ward. In dem Wahlaufrufe vom 21. Januar 1871 erklärte die deutsche Fortschrittspartei, ihr an der Spitze des Programms vom 9. Juni 1861 ausgesprochenes und in der Verfassung des deutschen Reiches nur teilweise erreichtes Ziel sei „nach wie vor die Freiheit im geeinigten Deutschland“.
Im ersten deutschen Reichstage erschien sie sechsundvierzig Mann stark, darunter sechs Baiern und fünf Schleswigholsteiner. Diese, in den früheren Parlamenten als „Landespartei“ durch Augustenburgische Tendenzen vereinigt, traten jetzt in die Fortschrittspartei ein, voran Albert Hänel, Prozessor in Kiel, der feingebildete Stiefsohn Heinrich Laube’s. Seine Bedeutung sicherte ihm schnell eine maßgebende Stellung in der Partei wie im Parlamente; er ist Vicepräsident des deutschen Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses gewesen, als die Liberalen über diesen Platz verfügten. Eine Autorität auf dem Gebiete des Staatsrechtes, tiefsittlichen Ernstes und bei aller Entschiedenheit der Gesinnung voll Ruhe und Mäßigung, wirkt er vor Allem durch seine edle Erscheinung und das überzeugende Pathos seiner formvollendeten Beredsamkeit; er genießt besonderer vertrauensvoller Beliebtheit bei den Mittelparteien.
Am 3. März, dem Tage der Friedensverkündigung, inmitten des allgemeinen Festjubels und Freudenrausches, wurde gewählt. Die beiden liberalen Parteien bildeten zusammen noch nicht die Mehrheit, diese war vielmehr wechselnd und von Fall zu Fall den verschiedensten Umständen und besonderen Verhältnissen, nicht selten bloßer Zufälligkeiten unterworfen, wie sie es bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Unter Führung des früheren hannöver’schen Staatsministers Windthorst hatte sich zunächst im preußischen Abgeordnetenhause eine besondere Partei für die Interessen der katholischen Kirche gebildet, welche nun auch im Reichstage auftrat und durch ihre Mitgliederzahl wie durch die Geschicklichkeit ihrer Leitung immer mehr in den Vordergrund rückte. Lange Zeit in erbittertem Kampfe mit der Regierung, bildete sie die schärfste Opposition und verhielt sich in allen politischen Fragen entschieden liberal, seit aber der kirchliche Streit friedlicher Beilegung immer näher gerückt, hat sich das „Centrum“ zu einer gewissen Regierungsfreundlichkeit bekehrt und nicht selten mit den Conservativen gegen die Liberalen vereinigt. Die Fortschrittspartei ist überall für die berechtigten Ansprüche des Staates gegenüber der Kirche voll und ganz eingetreten und hat den Cultusminister Falk, welcher die damalige Richtung der Staatsregierung vertrat, mit aller Kraft unterstützt. Führer der Partei im „Culturkampfe“ ist Virchow, dem auch dieses jetzt allgemein gebräuchliche Wort entstammt. Der berühmte Professor und Gelehrte, dessen Name in der ganzen gebildeten Welt bekannt und gefeiert, gehört zu den Begründern der Fortschrittspartei und zu ihren stolzesten Zierden; ein Bahnbrecher auch in der Wissenschaft, ist er für die geistige und sittliche Befreiung des Volkes nicht minder thätig, als für die politische.
Der Reichstag eröffnete am 5. Februar 1874 seine zweite Legislaturperiode unter scheinbar günstigeren Anzeichen für die Liberalen, welche zusammen fünf Stimmen über die absolute Mehrheit hatten. Er begann mit der Berathung des Reichsmilitärgesetzes, dessen erster Paragraph den brennenden Punkt langer Zwistigkeiten zwischen Regierung und Volksvertretung bezeichnete. Wiederum ward dauernde Feststellung der Friedenspräsenzstärke des Heeres durch das Gesetz verlangt, während die Liberalen, nach dem Muster aller übrigen Verfassungsstaaten, auf der budgetmäßiger Bewilligung von jeher bestanden. Noch im constituirenden Reichstage von 1867 hatten die nationalliberalen Führer, vor Allen Forckenbeck, Lasker und Twesten, unumwunden ausgesprochen, daß hier die Frage zur Entscheidung stehe, ob fürder die constitutionelle Staatsform in Deutschland aufrecht erhalten oder der Absolutismus wiederhergestellt werden solle. Man hatte damals aber den Austrag vermieden und einen vorübergehenden Zustand geschaffen, der noch für die ersten drei Jahre nach Gründung des deutschen Reiches verlängert wurde.
Jetzt schien ein ferneres Ausweichen unmöglich, und in der vorbereitenden Commission, deren Vorsitzender von Bennigsen, deren bedeutendstes, seiner militärwissenschaftlichen Kenntnisse wegen selbst von den ersten Fachautoritäten bewundertes Mitglied Eugen Richter war, fiel der bestrittene Paragraph, während im Uebrigen Annahme des Gesetzes beantragt wurde. Unter dem Feldgeschrei, es gelte die Wehrlosmachung des deutschen Reiches zu verhüten, wurde das Volk aufgeboten und ein Sturm entfesselt, vor dem die meisten der liberaler Abgeordneten zurückwichen. Ein neuer Ausgleich auf sieben Jahre, das sogenannte „Septennat“, kam mit dem Gesetze zu Stande. Er brachte die Nationalliberalen der Fortschrittspartei ferner, sie selbst aber verlor elf Mitglieder, welche der [528] zu Tage gekommenen Meinungsverschiedenheiten wegen austraten. Dieser Erfolg der Regierung und die Art, wie sie ihn erreicht, wurde verhängnißvoll Zwar suchte sich Bismarck zu Anfang des Winters in vertraulichen Gesprächen mit angesehenen Abgeordneten der Fortschrittspartei wieder zu nähern, als aber anläßlich der Verhaftung des Reichstagsabgeordneten Majunke der Reichstag auf Antrag Hoverbeck’s dafür Sorge zu tragen beschloß, daß ohne seine Genehmigung während der Sitzungsperiode kein Abgeordneter verhaftet werde, reichte Bismarck seine Entlassung ein. Er zog sie zwar schleunigst wieder zurück, aber der Vorgang hatte auf die Nationalliberalen einen so tiefen Eindruck gemacht, daß sie den gelegentlich wiederkehrenden Rücktritts-Androhungen des Reichskanzlers gegenüber zu vergleichsweiser Beilegung von Streitpunkten immer geneigter sich erwiesen.
Mit dem Compromiß im Militärgesetz hatte der Reichstag drei Jahre zuvor begonnen; mit dem Compromiß über die Justizgesetze schloß er. Die deutsche Fortschrittspartei hatte sich diesen Abmachungen auf das Entschiedenste widersetzt und rechtfertigte sich in ihrem Wahlaufrufe vom 23. December 1876 vor allem Volke.
Im Wahlkampf selbst ward sie von sämmtlichen Parteien auf das Heftigste angegriffen und galt schon für vernichtet, als am 10. Januar nur 15 Mitglieder endgültig gewählt waren, siegte aber bei den Stichwahlen achtzehnmal und gewann so die alte Stärke wieder, während die Nationalliberalen einen beträchtlichen Verlust erlitten. Die Fortschrittspartei verhielt sich während der nächsten Zeit vorwiegend abwartend und bemühte sich, gewisse im Abgeordnetenhause und Reichstage immer deutlicher hervortretende Pläne des Fürsten Bismarck zu enthüllen und schon in den ersten sichtbaren Anfängen zu bekämpfen, während die Nationalliberalen noch vertrauensselig genug waren, an ein liberales Regiment unter dem Fürsten Bismarck zu glauben. Nach dem Hödel’schen Attentat und der Ablehnung des Socialistengesetzes wurde der Reichstag geschlossen, und als der zweite fluchwürdige Mordversuch auf den greisen Herrscher das ganze deutsche Volk in schmerzliche Aufregung und tiefe Trauer versetzt, am 13. Juni 1878 aufgelöst. Jetzt schien der Augenblick gekommen, die Nationalliberalen. „an die Wand zu drücken“ und eine große, dem Reichskanzler unbedingt ergebene Partei zu schaffen. Schon zwei Jahre vorher hatten die Conservativen die „Vereinigung der Steuer- und Wirthschaftsreformer“ in’s Leben gerufen, bei der sich auch die früheren „Kreuzzeitungsdeclaranten“ zahlreich betheiligten. Sie hatten ihre Furcht vor dem Bismarck’schen Liberalismus überwunden und drängten sich zur Unterstützung des früher so grimmig Befehdeten und mit seiner Hülfe wieder in die Parlamente. Bei dem letzten Reichstage hat der Reichskanzler seine wirthschaftlichen, in der Vermehrung der Steuern und Zölle gipfelnden Projecte durchgesetzt; sein früherer treuer Mitarbeiter Delbrück, der sich um die Anfänge des Deutschen Reiches unsterbliche Verdienste erworben, hat unmittelbar vom Regierungstische aus Platz auf den Bänken der parlamentarischen Opposition genommen. Für andere mit der beabsichtigten Volksbeglückung und Unterstützung des „armen Mannes“ zusammenhängende Versuche hat sich eine Mehrheit noch nicht gefunden. Die Fortschrittspartei, welche von ihrem alten Standpunkt und Programm auf diesen Neuerungen auf das Hartnäckigste entgegen getreten, hat den erbitterten Haß des unerbittlichen Machthabers sich zugezogen, der sie überall und mit allen Waffen bekämpft und immer neue, zum Theil recht absonderliche Bundesgenossen findet. Im letzten Reichstage zählte sie 28 Mitglieder, darunter viele allbekannte Männer mit klangvollen Namen: Schulze-Delitzsch, der Begründer der Genossenschaften, ein wahrer Freund und Wohltäter des Volks, für das er Großes und Dauerndes geschaffen, Klotz, ein altpreussischer Richter von echtem Schrot und Korn, Moritz Wiggers, der bewährte Kämpfer und Dulder, dem das mecklenburgische Zuchthaus die kindliche Offenheit und Liebenswürdigkeit nicht zu verbittern vermacht, von Saucken-Tarputschen, der Landesdirector der Provinz Preußen, kein Junker, sondern ein wahrer Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle, Albert Traeger, der gemütvolle Dichter, bekannte Verteidiger und hinreißende Volksredner, und Ludwig Loewe, ein selbstgemachter Mann, der, seit seinem fünfundzwanzigsten Jahr Stadtverordneter von Berlin, in der Reichshauptstadt unbegrenzter Beliebtheit und Volkstümlichkeit sich erfreut, und dessen schlagfertige Schärfe nicht minder groß, wie die Verbindlichkeit seines Wesens. Rastlos sind diese Männer und ihre Freunde tätig im Dienste ihrer Partei, der an Organisation und Agitation keine andere gleichkommt. Erst vor Kurzem eroberte sie bei Nachwahlen vier Sitze, die sie noch niemals innegehabt, wie im Sturme. Eigennützige Bestrebungen zu verfolgen, gewährt sie ihren Anhängern keinen Raum, wohl aber verlangt sie von ihnen unbedingte Hingebung und Opferfreudigkeit. Mag man darum ihre Ansichten und Bestrebungen, teilen oder bekämpfen, diejenige Anerkennung wird man den Männern der Fortschrittspartei nicht versagen dürfen, welche Ueberzeugungstreue und Beständigkeit von jedem Billigdenkenden zu fordern berechtigt sind.
- ↑ Nicht ohne Absicht bringen wir gerade jetzt, in dem kritischen Momente des beginnenden Wahlkampfes, mit obigem Artikel unsere objectiven
Würdigungen der drei liberalen Hauptparteien des deutschen Reichstags (vergl. Nr. 48, Jahrg. 1880 und Nr. 14 d. J.) zum Abschlusse. Bald werden
die Wähler aufs Neue an die Urne herantreten, aus welcher das Schicksal der inneren Lage Deutschlands für die nächste Legislaturperiode hervorgehen
wird. Das ist ein Moment, der uns Alle an die Pflichten mahnt, die wir dem Vaterlande, seiner freien Entwickelung nach innen, seiner Sicherung
nach außen hin schuldig sind. Angesichts der immer mehr erstarkenden Reaction ist das Zusammengehen aller Liberalen ein zwingendes
Gebot, und im Hinblick auf die bevorstehenden Neuwahlen rufen wir unsern Lesern zu. Jeder freie Mann thue seine Pflicht – und wähle
liberal!
D. Red.