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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
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Titel: Sankt Michael
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24-39, 40-52, S. 409–412, usw.
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Aus technischen Gründen geteilt in Teil I und Teil II
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[409]

Sankt Michael.

Roman von E. Werner.


Ostern war gekommen, das Fest des Lichtes und der Erlösung für die ganze Natur! Der Winter hatte sich bei seinem Scheiden in düstere Nebelschleier gehüllt, und auf jagenden, gährenden Wolken nahte jetzt der Frühling. Er hatte seine Sturmesboten vorausgesandt, um die Erde wach zu rufen aus ihrem langen Traume, sie brausten über Ebenen und Wälder, sie schwangen ihre Flügel um die mächtigen Gipfel des Hochgebirges und wühlten das Meer auf in all seinen Tiefen. Es war ein wildes Kämpfen und Toben in den Lüften, und doch klang es daraus hervor wie Siegesruf. Es waren ja Frühlingsstürme, und in ihnen brauste das Leben, sie kündeten die Auferstehung an.

Das Gebirge lag noch halb im Schnee begraben, und die alte Bergveste, die von der Höhe in das Thal herabblickte, ragte aus beschneiten Tannen hervor. Es war eines jener grauen Felsennester, die, einst der Schrecken ihrer Umgebung, jetzt meistentheils verödet und vergessen daliegen und oft nur noch in Trümmern von der einstigen Herrlichkeit erzählen. Das Letztere traf nun hier allerdings nicht zu, die Grafen von Steinrück schützten die Stammburg ihres Geschlechtes sorgfältig vor dem Verfalle, sonst aber kümmerten sie sich nicht viel um das alte Gemäuer, das, fernab von der Welt, tief in den Bergen lag. Nur zur Jagdzeit sah es regelmäßig eine größere Menge von Gästen, die auf einige Zeit Leben und Lärm in die Einsamkeit brachten.

Diesmal freilich fand eine Ausnahme statt, die Gaste waren schon im Frühjahre eingetroffen, aber sie kamen zu einer ernsten Feier. Der Schloßherr wurde zu Grabe geleitet und mit ihm erlosch die jüngere Linie des Hauses, wenigstens in ihren männlichen Sprossen, da er nur eine Wittwe und eine Tochter hinterließ. Graf Steinrück war auf einem der anderen Güter, seinem gewöhnlichen Wohnsitze, gestorben, und dort hatte auch die große Trauerfeier stattgefunden, dann war die Leiche nach der Familiengruft des Stammschlosses überführt worden, wo die eigentliche Bestattung in aller Stille und nur in Gegenwart der nächsten Verwandten vor sich ging.

Es war an einem jener stürmischen Märztage, der das ganze Thal mit grauen Wolkenmassen erfüllte. Das trübe Licht des Nachmittags fiel in das Gemach, das der verstorbene Schloßherr zu bewohnen pflegte, wenn er zu dem gewohnten kurzen Herbstaufenthalte hierher kam. Es war ein tiefer, ziemlich niedriger Raum mit einem einzigen breiten Erkerfenster und einer Einrichtung, die noch aus der ehemaligen Glanzzeit der Burg stammte. Das dunkle Holzgetäfel der Wände, die mächtigen Eichenthüren und der riesige, säulengetragene Kamin im Hintergrunde, mit dem Wappen der Steinrück, behaupteten seit Jahrhunderten ihren Platz, und die schweren, alterthümlichen Möbel, die alten Familienbilder an den Wänden gehörten gleichfalls einer längst vergangenen Zeit an. Das Feuer, das im [410] Kamine loderte, vermochte den düsteren Raum nicht behaglicher zu machen, aber es lag ein Stück Geschichte darin, die Geschichte eines alten mächtigen Geschlechtes, dessen Geschick von jeher mit dem seines Landes eng verknüpft gewesen war.

Soeben wurde die Thür geöffnet, und es traten zwei Herren ein, die wohl zu den Verwandten des Hauses gehören mußten, denn die Uniform des Einen und die Civilkleidung des Andern trugen die Abzeichen der Trauer. Sie kamen in der That soeben von der Bestattung zurück, und auf den Zügen des Aelteren lag noch der ganze Ernst dieser düsteren Feier,

„Das Testament soll morgen eröffnet werden,“ sagte er. „Es ist allerdings nur eine Form, da ich die Bestimmungen bereits kenne. Der Gräfin ist ein sehr reiches Witthum und Schloß Berkheim, ihr bisheriger Wohnsitz zugewiesen, die sämmtlichen anderen Güter fallen an Hertha, zu deren Vormund ich ernannt bin. Dann kommt noch eine Reihe von Legaten, und mir, als Haupt der älteren Linie, ist Steinrück vermacht.“

Der jüngere Gefährte zuckte bei den letzten Worten leicht die Achseln.

„Ein riesiger Besitz, der jetzt in der Hand dieses Kindes vereinigt wird!“ bemerkte er. „Deine Erbschaft ist nicht gerade glänzend, Papa, ich glaube, das alte Bergschloß mit seinem Waldreviere kostet beinahe so viel, als es einbringt.“

„Gleichviel, es ist die Stammburg unseres Geschlechtes, die nunmehr in unsere Hände übergeht. Mein Vetter hätte mir kein besseres Vermächtniß hinterlassen können, und ich bin ihm dankbar dafür. Du willst morgen schon wieder abreisen, Albrecht?“

„Ich hatte mich nur auf einige Tage eingerichtet, wenn Du es indessen wünschest –“

„Nein, es ist nicht nöthig, daß Du bleibst. Ich werde allerdings um Verlängerung meines Urlaubs ersuchen müssen. Es giebt noch Vieles zu besprechen und zu ordnen, und die Gräfin zeigt sich in allen Dingen so unselbständig, daß ich ihr nothgedrungen noch eine Zeit lang zur Seite bleiben muß.“

Er trat in den Erker und blickte hinaus in die verschleierte Berglandschaft. Der Graf hatte die Mittagshöhe des Lebens bereits überschritten, aber seine Erscheinung zeigte noch die vollste ungebrochene Kraft, eine prächtige Gestalt in gebietender Haltung, die freilich in jedem Zuge den Soldaten verrieth. Er war ohne Zweifel einmal sehr schön gewesen und konnte noch jetzt dafür gelten, wo er bereits an der Schwelle des Alters stand, aber das volle, nur leicht ergraute Haupthaar, die raschen lebhaften Bewegungen und die Sprache, die noch tief und voll klang, liehen ihm etwas Jugendliches, wie das Feuer, das noch in seinen Augen blitzte.

Sein Sohn war von dem Allem das Gegentheil, eine schmächtige Gestalt von kränklichem Aussehen. Das blasse Gesicht mit den schlaffen Zügen machte einen ziemlich nüchternen Eindruck, und doch glichen diese Züge auffallend denen des Vaters. Der Ausdruck der Persönlichkeit wirkte als vollster Gegensatz, aber trotzdem war die Familienähnlichkeit unverkennbar.

„Die Gräfin scheint überhaupt eine unselbständige Natur zu sein,“ sagte er, „und der Trauerfall findet sie nun vollends ganz fassungslos.“

„Es ist aber auch hart, den Gemahl nach so kurzer Krankheit, in der Blüthe des Lebens zu verlieren, weiche Naturen werden durch solchen Schlag völlig niedergeworfen.“

„Eine Andere hätte ihm Stand gehalten! Louise würde das Unabänderliche mit einer Fassung ertragen haben, –“

„Schweig’!“ unterbrach ihn der Graf finster, indem er sich abwandte.

„Verzeih’, Papa, ich weiß, Du willst nicht daran erinnert sein, aber gerade heute drängt sich die Erinnerung unabweisbar auf. Von Rechts wegen sollte Louise um den Todten trauern. Sie wäre schwerlich mit einem wenn auch noch so reichen Witthum abgefunden worden, Steinrück hätte sie unbedingt zur Herrin über das ganze Erbe gemacht, er ließ sich ja schon damals völlig von ihr beherrschen. Und seine Hand zurückzustoßen! Namen, Heimath, Familie, Alles zu opfern, um das Weib eines Abenteurers zu werden, der sie ins Verderben zog – man möchte wahrhaftig an die alte Sage von den Liebestränken glauben, denn auf natürlichem Wege ist das nicht zu erklären.“

„Thorheit!“ sagte der Graf kalt. „Das Schicksal des Menschen ist in seine eigene Hand gelegt. Louise hat das ihrige zum Abgrund gelenkt, es war nur natürlich, daß sie hineinstürzte.“

„Und vielleicht hättest Du trotz alledem die Verlorene wieder aufgenommen, wenn sie reuevoll zurückgekehrt wäre.“

„Nie!“ Das Wort klang in unbeugsamer Härte. „Uebrigens wäre sie auch nicht zurückgekehrt. Sie konnte zu Grunde gehen in der Schmach, in dem selbstverschuldeten Elend, aber um Gnade betteln bei dem Vater, der sie verstoßen, das hätte Louise nicht gekonnt. Sie war trotz alledem mein Blut!“

„Und Dein Liebling!“ ergänzte Albrecht mit aufwallender Bitterkeit. „ich habe das oft genug empfinden, es oft genug hören müssen, daß ich keinen Zug Deines Charakters besitze. Nur Louise hatte Dein Blut geerbt, die schöne, geistvolle, energische Louise, die war das Kind Deines Herzens. Dein Stolz und Dein Glück. Nun, wir haben es ja erlebt, wohin diese Energie führte, wir erfuhren es ja noch, daß sie von Stufe zu Stufe sank an der Seite jenes Mannes und endlich –“

„Deine Schwester ist todt,“ unterbrach ihn der Graf schneidend. „Laß die Todten ruhen!“

Albrecht schwieg, aber die Bitterkeit wich nicht aus seinen Zügen, er konnte es offenbar seiner Schwester noch im Grabe nicht verzeihen, was sie der Familie angethan hatte. Zu einer weiteren Erörterung kam es nicht, denn so eben erschien ein Diener und meldete:

„Hochwürden der Herr Pfarrer von Sankt Michael.“

Der Gemeldete schien erwartet zu werden, denn der Diener öffnete, ohne erst eine Antwort abzuwarten, die Thür, und der Pfarrer trat ein.

Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit schon völlig ergrautem Haar, einem Antlitz voll stiller, ernster Ruhe, mit tiefen, blauen Augen, und auch Haltung und Sprache verriethen dieselbe Ruhe und Milde, die von dieser Erscheinung unzertrennlich zu sein schienen.

Graf Steinrück ging ihm einige Schritte entgegen und begrüßte ihn höflich, aber fremd. Die altere Linie des Hauses war protestantisch, und ein katholischer Priester hatte als solcher keine Bedeutung für sie.

„Ich habe Ihnen zunächst meinen Dank auszusprechen, Hochwürden,“ begann er, indem er den Pfarrer mit einer Handbewegung einlud, Platz zu nehmen. „Es war der ausdrückliche Wunsch der verwittweten Gräfin, daß Sie die Trauerceremonien leiten sollten, und Sie haben ihr an dem heutigen schweren Tage so aufopfernd zur Seite gestanden, daß wir Alle Ihnen dankbar dafür sind.“

„Ich erfüllte nur meine Pflicht als Seelsorger,“ erwiderte der Geistliche ruhig. „Dafür bedarf es keines Dankes. Zu Ihnen aber, Herr Graf, komme ich in einer anderen Angelegenheit, unaufgefordert und in Ihren Augen vielleicht unberechtigt, dennoch muß ich sie zur Sprache bringen, da der Trauerfall Sie so ganz unerwartet in unsere Berge führt. ich ersuchte Sie deßhalb um eine Unterredung.“

„Und ich wiederhole, daß ich Ihnen zur Verfügung stehe, Herr Pfarrer Valentin. Wenn die Unterredung eine geheime sein soll, so wird mein Sohn uns sofort –“

„Ich bitte, daß der Graf bleibt.“ fiel Valentin ein. „Er kennt gleichfalls die Angelegenheit, die mich herführt, sie betrifft den Pflegesohn des Försters Wolfram.“

Er hielt inne, wie um eine Antwort zu erwarten, doch diese erfolgte nicht; der Graf saß mit völlig unbewegter Miene da, während Albrecht plötzlich aufmerksam zu werden schien, doch auch er äußerte nichts, und so war der Pfarrer genöthigt, fortzufahren.

„Sie werden sich erinnern, Herr Graf, daß ich es war, durch den Sie die Nachricht von dem Aufenthalt des Knaben erhielten und die Bitte, sich seiner anzunehmen.“

„Eine Bitte, der ich unverzüglich entsprochen habe. Wolfram nahm auf meine Weisung das Kind in Empfang, ich unterrichtete Sie ja davon.“

„Allerdings, ich hätte es freilich lieber in anderen Händen gesehen, indessen die Bestimmung hing von Ihnen ab. Jetzt aber ist der Knabe herangewachsen und kann unmöglich länger in derartiger Umgebung bleiben. Ich bin auch überzeugt, daß dies keineswegs Ihr Wille ist.“

„Weßhalb nicht!“ fragte Steinrück kalt. „Ich kenne Wolfram als durchaus zuverlässig und hatte meine Gründe, gerade ihn zu wählen, oder wissen Sie irgend etwas Nachtheiliges von ihm?“

[411] „Nein, der Mann ist brav in seiner Art, aber roh und halb verwildert in der Einsamkeit. Seit dem Tode seiner Frau kommt er kaum noch in Berührung mit Menschen, und sein Haushalt unterscheidet sich nicht von dem des ersten besten Bauern. Das ist schwerlich eine passende Umgebung für einen heranwachsenden Knaben, am wenigsten für den Enkel des Grafen Steinrück.“

Albrecht, der hinter dem Stuhle seines Vaters stand, machte eine Bewegung, der alte Graf zog nur finster die Brauen zusammen, aber er entgegnete mit voller Schärfe:

„Ich besitze nur einen Enkel, das Kind meines Sohnes, und ich bitte Sie, das im Auge zu behalten, Hochwürden, wenn von jener Angelegenheit die Rede ist.“

Die milden Augen des Priesters richteten sich ernst und vorwurfsvoll auf den Sprechenden.

„Verzeihung, Herr Graf, aber der legitime Sohn ihrer Frau Tochter hat doch wohl Anspruch auf diese Bezeichnung.“

„Gleichviel, er existirt als solcher nicht für mich, wie jene Heirath überhaupt nie für mich und die Meinigen existirt hat.“

„Und dennoch haben Sie meine Bitte gewährt, als Michael –“

Der Graf stutzte. „Michael?“ wiederholte er langsam.

„Der Name des Jünglings! Kannten Sie ihn nicht?“

„Nein, ich habe das Kind ja überhaupt nicht gesehen, als es Wolfram zur Erziehung übergeben wurde.“

„Von Erziehung konnte bei einem Manne von dem Bildungsgrade Wolfram’s wohl keine Rede sein, und doch hätte sie gerade hier vieles gut machen müssen. Michael war schon als Kind verwahrlost, verwildert und verschüchtert zugleich durch das unstäte Leben, das er so lange mit seinen Eltern geführt hat. Ich habe mich allerdings seiner angenommen und ihn unterrichtet, so viel das bei der weiten Entfernung der Försterei möglich war.“

„Haben Sie das wirklich gethan?“ Es klang eine offenbar unangenehme Ueberraschung aus der Frage.

„Gewiß, ein anderer Unterricht war in der Abgeschiedenheit nicht zu ermöglichen, und ich konnte doch nicht annehmen, daß der Knabe geistig verkommen und verbauern sollte in jenem Lebenskreise. Diese Strafe für das Unrecht seiner Eltern wäre doch allzu hart.“

Es lag ein schwerer Vorwurf in den einfachen Worten, und er mußte wohl treffen, denn es flog ein zorniges Aufleuchten über Steinrück’s Züge.

„Hochwürden, welchen Einblick Sie auch in unsere Familiengeschichte erhalten haben, Sie urtheilen als ein Fremder, und da mag Ihnen Manches hart und unbegreiflich erscheinen. Ich habe als Haupt des Hauses die Ehre unseres Namens zu wahren, und wer diese Ehre antastet und befleckt, der wird hinausgestoßen aus meinem Hause und aus meinem Herzen, sei es auch mein eigenes Kind! Ich that, was ich mußte, und wenn die furchtbare Nothwendigkeit noch einmal an mich heranträte, ich würde das Gleiche thun.“

Es lag eine eiserne Entschlossenheit in diesen Worten. Valentin schwieg, er mochte wohl fühlen, daß eine solche Natur sich keinem Priesterwort beugte.

„Gräfin Louise ruht im Grabe,“ sagte er endlich, und seine Stimme bebte leise, als er den Namen aussprach, „und mit ihr der Mann, dem sie angetraut war! Ihr Sohn steht allein und schutzlos da, ich bin gekommen, für den Jüngling zu erbitten, was Sie jeder fremden Waise gewähren würden, die Sie in Ihren Schutz genommen haben, eine Erziehung, die ihn befähigt, dereinst in die Welt und in das Leben zu treten. Bleibt er in Wolfram’s Händen, so ist das ausgeschlossen, er taugt dann höchstens noch für das halbwilde Dasein auf irgend einer einsamen Bergförsterei, für eine Bauernexistenz. Wenn Sie, Herr Graf, die Verantwortung dafür übernehmen können und wollen –“

„Genug!“ unterbrach ihn Steinrück heftig, indem er sich erhob. „Ich werde die Sache in Erwägung ziehen und dann Bestimmungen über Ihren Schützling treffen, verlassen Sie sich darauf, Hochwürden.“

Der Pfarrer stand gleichfalls auf, er sah, daß die Unterredung zu Ende war, und hegte wohl auch nicht den Wunsch, sie zu verlängern.

„Mein Schützling?“ wiederholte er. „Möge es auch der Ihrige werden, Herr Graf, ich glaube, er hat ein Recht darauf.“

Und mit einer kurzen, ernsten Verneigung sich von den beiden Herren verabschiedend, verließ er das Gemach.

„Das war ja ein eigenthümlicher Besuch!“ sagte Albrecht, der sich bisher völlig schweigsam verhalten hatte. „Was giebt denn diesem Pfarrer das Recht, sich in unsere Familienangelegenheiten zu mischen?“

Steinrück zuckte die Achseln.

„Er war früher der Beichtiger unserer Verwandten und nimmt noch jetzt eine Vertrauensstellung bei ihnen ein, trotzdem er hoch oben in einem einsamen Alpendorfe lebt. Er und kein Anderer sollte Steinrück zu Grabe geleiten. Ich werde ihm aber klar machen, daß ich priesterlichen Einflüssen nicht zugänglich bin; ganz zurückweisen konnte ich ihn nicht, da er es war, der damals meine Hilfe für den verwaisten Knaben anrief, so wenig, wie ich jene Hilfe verweigern konnte.“

„Nun ja, man mußte für den Buben sorgen, und das ist auch geschehen,“ stimmte Albrecht in sehr kühlem Tone bei. „Du hast die Sache damals allein in die Hand genommen, Papa; dieser Wolfram – ich erinnere mich noch dunkel des Namens – stand ja wohl früher als Jäger in Deinen Diensten?“

„Ja, mein Fürwort verschaffte ihm die Försterstelle bei unserem Vetter. Er ist verschwiegen und zuverlässig und kümmert sich überhaupt nicht um Dinge, die über seinen Horizont hinausgehen. Er fragte auch damals nicht, was für eine Bewandtniß es mit dem Knaben hatte, den man ihm anvertraute, sondern that, was ihm befohlen wurde, und nahm ihn in sein Haus.“

„Wo er jedenfalls am besten aufgehoben war. Du wirst darin doch keine Aenderung treffen?“

„Das wird sich finden. Zunächst will ich ihn einmal sehen.“

Albrecht stutzte, und eine sichtlich unangenehme Ueberraschung prägte sich in seinen Zügen aus.

„Wozu denn das? Weßhalb ihn uns persönlich nahe bringen? Dergleichen unliebsame Dinge schiebt man doch möglichst weit von sich.“

„Das ist Deine Art,“ sagte der Graf scharf. „Die meine ist es, diesen Dingen Stand zu halten und Auge in Auge mit ihnen zu rechten, wenn es nothwendig ist." Er stampfte in plötzlich ausbrechender Heftigkeit mit dem Fuße. „Verkommen und verbauern sollte, als Strafe für das Unrecht seiner Eltern! Das muß ich mir ins Antlitz sagen lassen von diesem Priester.“

„Ja, es fehlte nur noch, daß er die Eltern vertheidigte,“ warf Albrecht spöttisch ein. „Und Michael haben sie ihren Buben genannt! sie haben es gewagt, ihm Deinen Namen zu geben, den alten, traditionellen Namen unseres Hauses, das ist doch offenbarer Hohn.“

„Es kann auch Reue gewesen sein,“ sagte Steinrück finster. „Dein Sohn heißt allerdings Raoul.“

„Nicht doch, er ist nach Dir getauft und trägt Deinen Namen.“

„Im Kirchenbuche! Genannt wird er Raoul, dafür hat Deine Frau von Anfang an gesorgt.“

„Es ist der Name von Hortense’s Vater, an dem sie mit kindlicher Pietät hängt. Du weißt das ja und hast es niemals getadelt.“

„Wenn es nur der Name allein wäre. Aber es ist nicht das Einzige, was mir an meinem Enkel fremd ist. Raoul hat auch nicht einen Zug der Steinrück, weder im Gesicht noch im Charakter, er gleicht einzig seiner Mutter.“

„Nun, ich dächte, das wäre kein Nachtheil für ihn. Hortense hat von jeher für eine Schönheit gegolten, Du ahnst nicht, welche Triumphe sie noch feiert.“

Die Worte klangen scherzhaft, fanden aber keinen Anklang, der alte Graf blieb kühl und ernst.

„Daher stammt vermuthlich auch ihre Anhänglichkeit an den Schauplatz dieser Triumphe. Ihr seid ja mehr in Frankreich, bei ihren Verwandten, als daheim. Die Besuche werden immer häufiger und dauern immer länger, und jetzt ist sogar die Rede davon, Dich unserer Gesandtschaft in Paris zu attachiren. Dann hat Hortense ihren Willen vollends durchgesetzt.“

„Ich muß doch gehen, wohin ich gesandt werde,“ vertheidigte sich Albrecht, „und wenn man gerade mich wählt –“

„Willst Du mir etwa Deine diplomatischen Erfolge anführen?“ unterbrach ihn der Vater mit herbem Spott. „Ich weiß es besser, welche geheimen Federn da spielen, und der Posten ist wahrlich unbedeutend genug. Ich hatte doch mehr von Deiner Laufbahn erwartet, Albrecht! Es standen Dir Wege genug offen, um wenigstens einigermaßen zur Geltung zu gelangen, aber dazu gehört Ehrgeiz und Energie, und die hast Du nie besessen. Jetzt bewirbst Du Dich um eine Stellung, die Du nur [412] Deinem Namen verdanken wirst und in der Du ein Jahrzehnt bleiben kannst, ohne vorwärts zu kommen – auf Befehl Deiner Frau.“

Albrecht biß sich auf die Lippen bei diesem mit vollster Rücksichtslosigkeit ausgesprochenen Vorwurf.

„Papa, in diesem Punkte bist Du von jeher ungerecht gewesen, Du hast meine Heirath nie mit günstigen Augen angesehen. Ich glaubte bei meiner Wahl Deines vollen Beifalls sicher zu sein, und Du hast mir beinahe einen Vorwurf daraus gemacht, daß ich Dir eine schöne, geistvolle Tochter aus dem edelsten Hause zuführte –“

„Die uns bis auf diese Stunde fremd geblieben ist!“ ergänzte Steinrück. „Sie hat es noch immer nicht eingesehen, daß sie zu uns gehört, nicht Du zu ihr. Ich wollte, Du hättest mir die Tochter des einfachsten deutschen Landedelmannes in das Haus geführt, statt dieser Hortense de Montigny. Es thut nicht gut, dies heiße französische Blut in unserem alten germanischen Stamm, und Raoul hat nur zu viel davon. Es wird ihm heilsam sein, wenn er in die strenge militärische Zucht kommt.“

„Ja – Du bestehst ja darauf, daß er in die Armee eintritt,“ sagte Albrecht zögernd. „Hortense fürchtet nur – und ich fürchte es auch – daß unser Kind den Anstrengungen nicht gewachsen ist. Es ist ein zarter Knabe, er wird diese eiserne Disciplin nicht aushalten.“

„So muß er es lernen! Dich hat Deine Kränklichkeit allerdings vom Waffendienste ausgeschlossen, Raoul ist gesund, aber es ist die höchste Zeit, ihn Eurer Verweichlichung und Verzärtelung zu entziehen, und die Armee ist gerade die rechte Schule für ihn. Ich will nicht, daß mein Enkel dereinst ein Schwächling wird. Er soll unserem Namen Ehre machen – dafür werde ich sorgen!“

Albrecht schwieg, er kannte den unbeugsamen Willen seines Vaters, der ihm, obwohl er selbst längst Gatte und Vater war, noch unbedingt Gesetze vorschrieb, und Graf Michael Steinrück war der Mann danach, diesem Willen Geltung zu verschaffen.




„Ja, ich kann mir nicht helfen, Hochwürden, ich bleib’ dabei, es ist ein Elend mit dem Menschen. Nichts kann er, nichts versteht er, vom Morgen bis zum Abend läuft er in den Bergen herum, und dabei wird er immer dümmer von Tag zu Tag. Aus dem wird weder ein richtiger Weidmann noch sonst etwas, das ist verlorene Müh’.“

Die Worte kamen aus dem Munde eines Mannes, dessen Aeußeres schon verrieth, daß er sich mit dem Weidwerk abgab. Er war mit Flinte und Jagdtasche ausgerüstet, eine untersetzte, kraftvolle Gestalt, mit breiten Schultern und derben Zügen. Haar und Bart gänzlich verwildert, der Anzug, eine Mischung von Jäger- und Bauerntracht, gleichfalls im höchsten Grade verwahrlost, dazu eine Sprache so derb und rauh, wie sein ganzes Wesen – so stand er vor dem Geistlichen. Die Beiden befanden sich in der Pfarrwohnung von Sankt Michael, dem kleinen, hochgelegenen Wallfahrtsorte des Gebirges, und der Pfarrer, der vor seinem Schreibtisch saß, schüttelte mißbilligend das graue Haupt.

„Ich habe es Euch schon so oft gesagt, Wolfram, Ihr versteht Michael nicht zu behandeln. Mit Schelten und Drohen richtet Ihr bei ihm gar nichts aus, er wird nur noch scheuer dadurch, und ich dächte, er wäre schon scheu genug, wenn er wirklich einmal mit den Menschen in Berührung kommt.“

„Das macht seine Dummheit,“ erklärte der Förster. „Der Bube weiß ja nichts vom helllichten Tage, den muß man derb anfassen, wenn er aufwachen soll, und ich habe es Ihnen ja in die Hand geloben müssen, Hochwürden, ihn nicht mehr zu schlagen.“

„Und ich hoffe, Ihr habt Wort gehalten. Es ist viel an dem Kinde gesündigt worden, Ihr und Eure Frau habt es ja fast täglich gemißhandelt, ehe ich hierher kam.“

„Das war ihm gesund! Alle Buben brauchen Schläge, und der Michel hat von jeher die doppelte Portion gebraucht. Nun, er hat sie auch reichlich bekommen; wenn ich aufhörte, da fing meine Frau an, aber geholfen hat es nie etwas, und klüger ist er auch nicht dadurch geworden.“

„Nein, aber er wäre zu Grunde gegangen an dieser rohen Behandlung, wenn ich nicht eingeschritten wäre.“

Wolfram lachte laut auf.

„Zu Grunde gehen? der Michel? Der hätte das Zehnfache ausgehalten, er hat ja eine wahre Bärennatur. Es ist wirklich eine Schande mit dem Burschen, er ist so stark, daß er Bäume ausreißen könnte, und läßt sich hänseln von den Dorfbuben, ohne einen Finger zu rühren. Ich weiß schon, warum er heute wieder nicht mitging, sondern absolut nachkommen wollte. Er will nicht mit mir durch das Dorf, lieber macht er den Umweg durch den Wald, wie immer, wenn er zu Ihnen geht – der feige Bub’ der!“

„Feig ist Michael nicht,“ sagte der Pfarrer ernst. „Das solltet Ihr doch am besten wissen, Wolfram, Ihr habt mir ja selbst erzählt, daß er gar nicht zu bändigen ist, wenn er mit seinem Jähzorn losbricht.“

„Ja, dann ist er eben verrückt, und dann muß man ihn laufen lassen. Wenn ich nicht wüßte, daß hier oben bei ihm nicht Alles richtig ist, dann würde ich noch ganz anders mit ihm umgehen, aber ein Kreuz ist’s doch! Es ist nur merkwürdig, daß er so gut schießt und trifft, wenn er nämlich das Wild sieht, aber das kommt nicht oft vor. Er guckt sich die Bäume und den Himmel an, und derweil läuft ihm der Zwölfender vor der Nase vorbei. Ich bin nicht neugierig, aber das möchte ich doch wissen, wo dies Mondkalb eigentlich herstammt!“

Um die Lippen Valentin’s zuckte es schmerzlich bei den letzten Worten, aber er erwiderte ruhig:

„Das kann Euch ja gleichgültig sein. Bringt nur Michael nicht auf solche Ideen, er fängt sonst an darüber nachzugrübeln und stellt Euch Fragen, die Ihr ihm nicht beantworten könnt.“

„Dazu ist er viel zu dumm!“ behauptete der Förster, für den diese Eigenschaft seines Pflegesohnes ein Dogma zu sein schien, das unerschütterlich feststand. „Ich glaube, er weiß nicht einmal, daß er überhaupt geboren ist. Aber da schlägt mein Tyras an, er wird den Michel gesehen haben.“

In der That vernahm man draußen das freudige Gebell eines Hundes und nahende Schritte, und gleich darauf trat Michael ein.

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 25, S. 425–428
Novelle – Teil 2

[425] Michael war ein Jüngling von etwa achtzehn Jahren, zwar ungewöhnlich groß und stark für sein Alter, aber diese kraftvoll derbe Gestalt mit den ungelenken Bewegungen hatte so gar nichts von der Frische und Anmuth der Jugend. Das Gesicht, unregelmäßig und unschön in jeder Linie, zeigte einen halb scheuen, halb träumenden Ausdruck, der es noch weniger anziehend machte. Das dicke blonde Kraushaar lag wirr und wild um Stirn und Schläfen, und darunter blickten ein paar Augen hervor, dunkelblau, aber so leer und träumerisch, als berge sich gar kein Seelenleben dahinter. Der Anzug war ebenso verwahrlost und halb bäuerisch wie der des Försters, und in der ganzen Erscheinung lag auch nicht ein einziger Zug, der Sympathie erwecken konnte.

„Nun, kommst Du endlich?“ empfing ihn der Pflegevater unfreundlich. „Du hast wohl unterwegs geschlafen, sonst müßtest Du längst hier sein.“

„Ich bin durch den Wald gekommen,“ versetzte Michael, indem er sich dem Geistlichen näherte, der ihm freundlich die Hand hinstreckte. Wolfram lachte höhnisch auf.

„Sagt’ ich es Ihnen nicht, Hochwürden? Er hat sich wieder nicht durch das Dorf getraut, ich wußte es ja.“

Michael ließ den anscheinend ganz begründeten Vorwurf mit vollster Gleichgültigkeit über sich ergehen, ohne eine Silbe zu erwidern, er war an diese Behandlung von Seiten des Pflegevaters längst gewöhnt; dieser nahm jetzt seinen Hut und machte sich zum Gehen fertig.

„Ich muß noch hinauf nach dem Bannwald,“ sagte er. „Da oben sieht es bös aus, mehr als ein Dutzend der stärksten Stämme sind niedergebrochen, die wilde Jagd hat wieder einmal arg gehaust in den Forsten.“

„Die Stürme der letzten Nächte, wollt ihr sagen, Wolfram.“

„Die wilde Jagd ist’s gewesen, Hochwürden! Jetzt zur Frühjahrszeit ist sie ja Nacht für Nacht los. Vorgestern, als wir im Dunkeln durch den Wald kamen, ist der Spuk dicht an uns vorübergezogen, keine hundert Schritte weit. Das tobte und heulte und stürmte, als ob die ganze Hölle los wäre, und ein Stück davon wird es wohl auch gewesen sein. Der Michel in seiner Dummheit [426] wollte grade darauf los, aber ich ergriff ihn noch rechtzeitig am Arme und hielt ihn fest.“

„Ich wollte mir den Spuk doch einmal in der Nähe anschauen,“ sagte Michael ruhig, der Förster zuckte ärgerlich die Schultern.

„Sehen Sie, Hochwürden, so ist der Bub’ nun! Vor den Menschen läuft er, und solche Dinge, bei denen jedem Christenmenschen die Haut schaudert, wo Jeder sich scheu bei Seite drückt und sein Kreuz schlägt, die will er sich anschauen, da geht er mitten hinein! Ich glaube, er hätte sich in aller Ruhe mit den Gespenstern herumgeschlagen , wenn ich ihn nicht gepackt hätte. Dann läge er jetzt im Walde, denn wer in die wilde Jagd hineingeräth, der ist hin.“

„Aber Wolfram, kommt ihr denn nie los von diesem sündlichen Aberglauben?“ mahnte der Priester. „Ihr wollt ein Christ sein und steckt noch mit beiden Füßen im Heidenthume. Und den Michael habt Ihr auch schon damit angesteckt, er hat den ganzen Kopf voll von den heidnischen Sagen.“

„Ja, eine Sünd’ mag’s sein, aber wahr ist’s doch,“ beharrte Wolfram. „ich glaube es schon, daß Sie nichts davon spüren. Sie sind ein heiliger Mann, ein geweihter Priester, vor Ihnen hat es Furcht, all das unheimliche Gesindel, das Nachts in den Wäldern und Bergen sein Wesen treibt, aber unsereins sieht und hört oft mehr davon, als ihm lieb ist. – Also der Michel bleibt hier?“

„Gewiß, ich sende ihn am Nachmittage zurück.“

„Nun, dann Gott befohlen,“ sagte der Förster, indem er den Riemen seiner Flinte fester zog. Er grüßte den Pfarrer und ging, ohne von seinem Pflegesohne weiter Notiz zu nehmen.

Michael, der im Pfarrhause vollständig heimisch zu sein schien, holte jetzt aus einem Wandschränkchen verschiedene Bücher und Hefte hervor, die er auf den Schreibtisch legte. Der gewohnte Unterricht sollte offenbar beginnen, aber noch ehe es dazu kam, hörte man draußen das Geläut eines Schlittens. Valentin sah befremdet auf, die wenigen und seltenen Besuche, die er erhielt, bestanden ausschließlich aus den Pfarrern der einzelnen Alpendörfer, und Wallfahrer waren um diese Zeit kaum zu erwarten. Sankt Michael gehörte nicht zu jenen großen und berühmten Gnadenorten, wohin die Gläubigen das ganze Jahr hindurch in Scharen pilgern. Zu dem kleinen, stillen Wallfahrtsorte, hoch oben im Gebirge, brachten nur die armen Aelpler ihre Gebete und Gelübde, und nur an hohen Kirchentagen sah er eine größere Zahl von Andächtigen dort versammelt.

Der Schlitten war inzwischen näher gekommen und hielt vor dem Pfarrhause. Ein Herr im Pelze stieg aus, erkundigte sich bei der alten Magd, die ihm an der Thür entgegen kam, ob der Herr Pfarrer daheim sei, und trat dann ohne Weiteres in das Studirzimmer.

„Ich wünschte seine Hochwürden zu sprechen,“ sagte er, noch auf der Schwelle.

Valentin zuckte zusammen bei dem Klange der Stimme, dann fuhr er mit dem Ausdrucke der freudigsten Ueberraschung empor:

„Hans! Du bist es!“

„Also erkennst Du mich doch noch! Ein Wunder wäre es freilich nicht. wenn wir das beiderseitig verlernt hätten,“ entgegnete der Fremde ihm die Hand hinstreckend, die der Pfarrer mit voller Herzlichkeit ergriff.

„Sei willkommen! Hast Du wirklich den Weg zu mir gefunden?“

„Ja, ein Freundschaftsstück war es allerdings, bis zu Dir heraufzukommen,“ meinte der Gast. „Stundenlang haben wir uns durch den Schnee arbeiten müssen, bald lagen die gestürzten Tannen quer über den Weg, bald ging es mitten durch einen verschneiten Wildbach, und zur Abwechselung stäubte eine kleine Lawine von den Felsen nieder und dabei behauptet mein Kutscher hartnäckig, das sei eine Fahrstraße. Dann möchte ich Eure Fußwege sehen, die werden wohl nur für Gemsen gangbar sein.“

Valentin lächelte. „Du bist der Alte geblieben, immer spottend und kritisirend. – Laß uns allein, Michael, und sage dem Kutscher des Herrn, er möge ausspannen.“

Michael gehorchte und entfernte sich, der Fremde hatte sich umgewandt und streifte ihn mit einem flüchtigen Blicke.

„Hast Du Dir einen Famulus angenommen? Wer ist denn dies Traumgesicht?"

„Mein Schüler, den ich unterrichte.“

„Nun, das mag eine Arbeit sein! In den Kopf da ist wohl nichts hineinzubringen, das ganze Talent des Burschen scheint in den Fäusten zu stecken, so sieht er wenigstens aus.“

Der Gast hatte inzwischen seinen Pelz abgelegt. Er mochte fünf bis sechs Jahre jünger sein, als der Pfarrer, die Gestalt war kaum mittelgroß, aber der entschieden bedeutende Kopf mit der hohen Stirn und den geistvollen Zügen fesselte auf den ersten Blick. Die hellen, scharfen Augen schienen gewohnt zu sein, Alles und Jedes bis auf den Grund zu durchdringen, und in der Haltung wie in dem ganzen Wesen gab sich die Ueberlegenheit eines Mannes kund, der in seinem Kreise für eine Autorität gilt,

Augenblicklich musterte er die Umgebung, das Wohn- und Studirzimmer des Pfarrers, das allerdings von einer wahrhaft klösterlichen Einfachheit war, seine Augen schweiften langsam umher in dem engen Raume, dann sagte er, diesmal ohne jeden Spott, aber mit einem Anfluge von Bitterkeit:

„Also hier hast Du Anker geworfen. So öde und weltverloren habe ich mir Deine Einsamkeit denn doch nicht gedacht. Armer Valentin! Du mußt es büßen, daß ich mit meinen Forschungen so unerbittlich Euren Dogmen zu Leibe gehe, und daß meine Werke auf dem Index stehen.“

Der Pfarrer machte eine sanft abwehrende Bewegung.

„Was fällt Dir ein. Es findet ja oft ein Wechsel in den Pfarrämtern statt, und ich bin nach Sankt Michael gekommen –"

„Weil Du Hans Wehlau zum Bruder hast!“ ergänzte dieser. „Wenn Du Dich öffentlich von mir losgesagt und auf der Kanzel einige Male gegen den Atheismus gedonnert hättest, wärst Du in eine behaglichere Pfarre gekommen, darauf gebe ich Dir mein Wort. Man weiß es recht gut, daß wir nicht mit einander gebrochen haben, wenn wir uns auch seit Jahren nicht mehr sahen, und das mußt Du büßen. Warum hast Du mich nicht öffentlich verdammt, ich hätte es Dir wahrhaftig nicht übelgenommen, da Du ja doch meine Lehre unbedingt verwirfst.“

„Ich verdamme Niemand,“ sagte der Pfarrer leise. „Auch Dich nicht, Hans, wenn es mir auch wehe genug thut, Dich auf diesem Wege zu sehen.“

„Ja, Du hattest nie Talent zum Fanatiker, höchstens zum Märtyrer, aber daß ich auch helfen muß, Dich dazu zu machen, quält mich oft. Ich habe übrigens dafür gesorgt, daß mein heutiger Besuch unbemerkt bleibt, ich bin gänzlich inkognito hier. Versagen konnte ich es mir nicht, Dich noch einmal zu sehen, da ich jetzt nach Norddeutschland übersiedle.“

„Wie! Du willst die Universität verlassen?“

„Schon im nächsten Monat. Ich habe einen Ruf nach der Hauptstadt selbst erhalten und habe ihn sofort angenommen, denn ich fühle, daß dort erst der eigentliche Boden für mich und mein Wirken ist. Da wollte ich Dir doch vorher noch Lebewohl sagen und hätte Dich beinahe verfehlt, denn wie ich höre, warst Du gestern in Steinrück zur Bestattung des Grafen.“

„Auf ausdrücklichen Wunsch der Gräfin. Ich habe die Trauerceremonie vollzogen.“

„Ich dachte es mir! ich bin gleichfalls telegraphisch nach Berkheim an das Sterbebett gerufen worden.“

„Und Du bist dem Rufe gefolgt?“

„Gewiß, wenn ich auch die ärztliche Praxis längst aufgegeben und mich dem Lehrstuhl zugewendet habe – das war ein Ausnahmefall. Ich habe es nicht vergessen, daß ich als junger, unbedeutender Arzt von den Steinrücks angenommen wurde, allerdings auf Deine Empfehlung, aber sie kamen mir doch mit vollem Vertrauen entgegen. Ich konnte freilich nichts weiter thun, als dem Grafen die Todesstunde erleichtern, aber meine Anwesenheit war doch eine Beruhigung für die Familie.“

Der Wiedereintritt Michael’s unterbrach das Gespräch. Er brachte die Nachricht, daß der Meßner den Herrn Pfarrer nur auf einige Minuten zu sprechen wünsche und draußen warte.

„Ich komme sogleich zurück,“ sagte Valentin. „Lege Deine Schreibereien fort, Michael, der Unterricht fällt für heute aus.“

Er verließ das Zimmer, während Michael sich daran machte, die Bücher und Hefte zusammenzupacken. Der Professor sah ihm dabei zu und fragte flüchtig:

„Also der Herr Pfarrer unterrichtet Dich?“

Michael nickte nur und fuhr in seiner Beschäftigung fort.

„Das sieht ihm ähnlich!“ murmelte Wehlau. „Da quält er sich damit ab, diesem beschränkten Burschen Lesen und Schreiben [427] beizubringen, weil vermuthlich keine Schule in der Nähe ist. – Zeig’ doch einmal her!“

Damit griff er ohne Umstände nach den Heften und schlug eines derselben auf, hätte es aber vor Ueberraschung beinahe fallen lassen.

„Was? Lateinisch? Wie kommst Du denn dazu?“

Michael begriff die Verwunderung nicht, ihm kam es ganz selbstverständlich vor, daß er Latein verstand, und ruhig entgegnete er:

„Das sind meine Arbeiten.“

Der Professor sah den Jüngling, den er seiner Kleidung nach für einen Bauernburschen gehalten hatte, von oben bis unten an, dann fing er an in dem Hefte zu blättern, las einzelne Seiten und schüttelte den Kopf.

„Du scheinst ja ein vortrefflicher Lateiner zu sein, Wo bist Du denn eigentlich her?“

„Aus der Försterei, eine Stunde von hier.“

„Und wie heißest Du?“

„Michael.“

„Da führst Du ja denselben Namen wie der Wallfahrtsort. Bist wohl nach ihm genannt?“

„Ich weiß nicht – ich glaube nach dem Erzengel Michael.“

Er sprach den Namen mit einer gewissen Feierlichkeit aus, und Wehlau, der das bemerkte, fragte mit einem sarkastischen Lächeln:

„Du hast wohl großen Respekt vor den Engeln?“

Michael warf den Kopf zurück.

„Nein, die beten und lobsingen nur die ganze Ewigkeit hindurch, und das mag ich nicht, aber Sankt Michael, den mag ich. Der thut doch wenigstens etwas – er stößt den Satan nieder!“

Es mußte in den Worten oder in dem Ausdruck wohl etwas Ungewöhnliches liegen, denn der Professor stutzte und heftete seine scharfen Augen fest auf das Gesicht des Jünglings, der dicht vor ihm stand, hell überfluthet von dem Sonnenschein, der durch das niedrige Fenster hereindrang.

„Merkwürdig!“ murmelte er wieder. „Das ist ja auf einmal ein ganz anderes Gesicht! Was liegt nur in diesen Zügen?“

In diesem Augenblicke trat Valentin wieder ein, und als er das Heft in der Hand seines Bruders sah, fragte er:

„Hast Du Michael examinirt? Nicht wahr, er ist ein guter Lateiner?“

„Gewiß, aber was soll er mit seinem Latein auf einer einsamen Bergförsterei anfangen? Der Vater hat wohl nicht die Mittel, ihn auf eine Schule zu schicken?"

„Nein, aber ich hoffe, auf anderem Wege etwas für ihn zu erreichen,“ sagte der Pfarrer und fuhr dann, während Michael an den Wandschrank ging, leise fort. „Wenn der Arme nur nicht so häßlich und so unbeholfen wäre! Es hängt Alles von dem Eindrucke ab, den er an einem gewissen Orte macht, und ich fürchte, der wird sehr ungünstig sein.“

„Häßlich nun ja, das ist er allerdings, und doch, als er vorhin eine übrigens ganz gescheite Aeußerung that, brach plötzlich blitzähnlich etwas hervor, das mich unwillkürlich erinnerte an – jetzt habe ich’s – an den Grafen Steinrück.“

„An den Grafen Steinrück?“ wiederholte Valentin auf das Aeußerste betroffen.

„Ich meine nicht den Verstorbenen, sondern seinen Vetter, das Haupt der älteren Linie. Er war in Berkheim anwesend, und dort lernte ich ihn kennen. Er würde eine solche Idee übrigens als Injurie betrachten, und da hätte er im Grunde Recht. Der schöne, imposante Steinrück und der Hans Träumer da! Auch nicht einen Zug haben sie mit einander gemein – ich weiß nicht, woher mir auf einmal der unsinnige Gedanke kam, als ich das Aufflammen dieser Augen sah.“

Der Pfarrer schwieg zu dieser Aeußerung, er sagte nur ablenkend:

„Ja, ein Träumer ist Michael allerdings. Er kommt mir in seiner Gleichgültigkeit und Theilnahmlosigkeit oft wie ein Nachtwandler vor.“

„Nun das wäre noch nicht das Schlimmste,“ meinte Wehlau. „Nachtwandler kann man wecken, wenn man sie bei dem rechten Namen ruft, und wenn der da einmal aufwacht, kommt vielleicht etwas ganz Erträgliches zum Vorschein. Seine Arbeiten sind gar nicht so übel.“

„Und doch ist ihm das Lernen schwer genug gemacht worden! Wie oft hat er sich durch Sturm und Unwetter kämpfen müssen, um den Unterricht nicht zu versäumen, und er hat es stets unverdrossen gethan.“

„Das wäre so etwas für meinen Hans gewesen,“ sagte Wehlau trocken. „Der zeichnet in den Schulstunden Karikaturen von seinen Lehrern, ich habe schon ein paarmal ernstlich dazwischen fahren müssen. Der Bube wird zu übermüthig, weil er so eine Art Glückspilz ist. Was er anfängt, gelingt ihm, wo er anklopft, findet er offene Thüren und Herzen, und darum bildet er sich ein, man brauche überhaupt nichts mit Ernst anzugreifen, und das Leben sei nur ein einziges Vergnügen von Anfang bis zu Ende. Nun, ich werde ihm schon eine andere Meinung beibringen, wenn es erst an das Studium der Naturwissenschaften geht.“

„Hat er denn Neigung zu diesem Studium?“

„Gott bewahre! Er hat höchstens Neigung zum Kritzeln und Pinseln, und wenn er eine bemalte Leinwand wittert, ist er nicht zu halten, aber ich werde ihm die Narrenspossen austreiben.“

„Wenn er aber Talent hat –“ warf der Pfarrer ein, doch der Bruder unterbrach ihn heftig.

„Das ist ja eben das Unglück, daß er Talent hat! Da setzen ihm seine Zeichenlehrer allerhand Dummheiten in den Kopf, und neulich rückt mir ein Freund unseres Hauses, ein Maler, in förmlich tragischer Weise auf den Leib. Ob ich es denn verantworten könnte, der Welt ein solches Talent zu entziehen? Ich konnte mir nicht helfen, ich bin grob geworden.“

Valentin schüttelte halb mißbilligend den Kopf.

„Aber weßhalb läßt Du Deinen Sohn nicht seiner Neigung folgen?“

„Das fragst Du noch? Weil ich meine geistige Erbschaft keinem Anderen gönne, als ihm. Mein Name hat einen Klang in der Wissenschaft, und der soll dem Hans Thür und Thor öffnen im Leben. Tritt er in meine Fußtapfen, so ist ihm der Erfolg gesichert, er ist eben der Sohn seines Vaters. Aber Gnade ihm Gott, wenn er sich einfallen läßt, ein sogenanntes Genie zu werden!“

Michael hatte inzwischen seine Bücher fortgepackt und kam jetzt herbei, um sich zu verabschieden; da der Unterricht heute ausfiel, hatte er keine Veranlassung, länger im Pfarrhause zu verweilen. Sein Gesicht zeigte wieder ganz den leeren, träumenden Ausdruck, der ihm sonst eigen war, und als er ging, sagte Wehlau halblaut zu seinem Bruder:

„Du hast Recht, er ist gar zu häßlich – der arme Teufel!“


Die Grafen von Steinrück waren ein altes, einst sehr mächtiges Adelsgeschlecht, das seinen Stammbaum weit in die Jahrhunderte zurückführte. Die beiden Zweige des Hauses rühmten sich allerdings einer gemeinsamen Abstammung, waren aber jetzt nur weitläufig verwandt, und es hatte Zeiten gegeben, wo sie gar nicht mit einander verkehrten, stand doch schon die Verschiedenheit der Konfession trennend zwischen ihnen.

Die ältere, protestantische Linie, die in Norddeutschland heimisch war, besaß nur ein Majorat, das ein ziemlich mäßiges Einkommen gewährte, die süddeutschen Vettern dagegen waren Herren eines sehr bedeutenden Grundbesitzes, ausschließlich Allodialgüter, und gehörten zu den Reichsten des Landes. Dieser Reichthum lag gegenwärtig in der Hand eines achtjährigen Kindes, das Töchterchen des eben verstorbenen Grafen war die einzige Erbin desselben. Der schon hoffnungslos Erkrankte hatte seinen Vetter zu sich rufen lassen und ihn zum Testamentsvollstrecker und Vormund seines Kindes ernannt. Damit wurde zugleich eine Entfremdung abgeglichen, die seit Jahren zwischen den beiden Familien bestand und ihren Grund in einem erst geknüpften und dann jäh zerrissenen Bande hatte.

Graf Steinrück hatte außer seinem Sohne noch eine Tochter besessen, ein schönes, reichbegabtes Mädchen, den Liebling des Vaters, dem sie an Charakter sehr ähnlich war. Sie sollte sich dereinst mit ihrem Verwandten, dem jetzt Dahingeschiedenen vermählen, das war längst in der Familie beschlossen, und die junge Gräfin war in Folge dessen oft wochenlang im Hause ihrer künftigen Schwiegereltern.

[428] Da trat, noch ehe die förmliche Verlobung stattgefunden hatte, in das Leben des achtzehnjährigen Mädchens eine jener Leidenschaften, die zum Unglücke führen, führen müssen, nicht wegen des Standesunterschiedes, auch nicht, weil sie den Familienzwist heraufbeschworen, sondern weil ihnen das Einzige fehlt, was einem solchen Bunde Segen und Dauer geben kann, die wahre, echte Liebe. Es war ein Rausch, dem Reue und Ernüchterung folgten, aber sie kamen erst, als es zu spät war.

Louise lernte einen Mann kennen, der, obgleich bürgerlicher Herkunft, sich doch den aristokratischen Kreisen vielfach zu nähern wußte. Eine blendende Erscheinung, voll glänzender Eigenschaften und von bestechender Liebenswürdigkeit, gelang es ihm, sich überall Eingang zu verschaffen, aber er war einer jener unstäten, abenteuerlichen Menschen, die in keinem Verhältnisse und an keinem Orte aushalten. Voll leidenschaftlicher Begier nach dem Glanze und Genusse des Lebens besaß er dennoch nicht die Fähigkeit, sich aus eigener Kraft emporzuarbeiten, und war ein Glücksritter im vollsten Sinne des Wortes. Vielleicht liebte er die junge Gräfin wirklich, vielleicht wollte er durch sie nur eine Lebensstellung und einen Platz in der Gesellschaft erobern, genug, er wußte sie so vollständig an sich zu ketten, daß sie entschlossen war, trotz des voraussichtlichen Widerstandes des Vaters und der ganzen Familie sein Weib zu werden.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Graf Steinrück von der Sache erfuhr, und er griff sofort mit einer Energie ein, die in diesem Falle verhängnißvoll wurde. Er glaubte mit einem Machtworte, mit Befehlen und Drohungen der Sache ein Ende zu machen, und rief damit nur jenen Trotz wach, den die Tochter von ihm geerbt hatte. Sie weigerte sich entschieden, zu gehorchen, widerstrebte energisch allen Versuchen, sie zur sofortigen Verlobung mit ihrem Vetter zu zwingen, und wußte trotz der strengsten Bewachung in Verbindung mit dem Geliebten zu bleiben. Plötzlich war sie verschwunden, und schon nach wenigen Tagen traf die Nachricht ein, daß die Trauung vollzogen und sie die Gattin Rodenberg’s sei.

Die Ehe war unanfechtbar, trotz der Eile und Heimlichkeit, mit der sie geschlossen wurde, Rodenberg hatte dafür gesorgt und Alles längst vorbereitet. Er rechnete darauf, daß Graf Steinrück den Gemahl seiner Tochter schließlich nicht verleugnen und fallen lassen könne, rechnete auf die Neigung des Vaters zu seinem Lieblingskinde, aber er kannte jene eiserne Natur nicht. Steinrück antwortete auf die Vermählungsanzeige mit der vollständigen Lossagung von seiner Tochter und verbot ihr, ihm je wieder zu nahen – sie existire hinfort nicht mehr für ihn.

Er hielt das mit unerbittlicher Konsequenz aufrecht bis zu ihrem Tode und noch darüber hinaus. Rodenberg machte anfangs noch Versuche, eine Annäherung an den Vater seiner Frau zu erreichen oder zu ertrotzen, er mußte aber endlich einsehen, daß sich von dem Grafen nichts erreichen und erzwingen ließ, und da ihm alle Hilfsquellen abgeschnitten waren, so warf er sich mit Weib und Kind wieder in das Abenteuerleben, das die Zügellosigkeit seiner Natur vollends entfesselte.

Was nun folgte, war ein unlösliches Gewebe von Schuld und Elend, ein stufenweises Sinken zum Abgrunde, und das Los der jungen Frau an der Seite dieses Gatten, dem sie Glanz und Reichthum, Heimath und Familie geopfert hatte, ließ sich nur zu leicht errathen, waren doch all die Hoffnungen gescheitert, die er an sie und ihren Besitz knüpfte. Sie verleugnete auch jetzt ihren Charakter nicht und hielt aus an der Seite des Mannes, dessen Weib sie einmal geworden war, ohne je einen Versuch zu machen, bei ihrem Vater Hilfe und Rettung zu suchen, sie wußte freilich, daß es vergebens gewesen wäre, vermochte doch nicht einmal ihr Tod ihn zu versöhnen. Jetzt deckte sie und ihren Gatten schon seit Jahren das Grab, und damit war auch jenes unselige Familiendrama begraben. –

Eine volle Woche war seit der Bestattung auf Steinrück vergangen. Graf Michael, der die ehemaligen Zimmer seines Vetters bewohnte, befand sich in dem Erkergemach und hatte soeben die Meldung empfangen, daß der Förster Wolfram, den er zu dieser Stunde befohlen hatte, angelangt sei. Er war heute in voller Uniform, denn es galt eine Fahrt nach dem benachbarten Städtchen, wo der Bruder des Souveräns eingetroffen war, um einer Gedenkfeier beizuwohnen. Selbstverständlich hatte man auch die vornehmsten Persönlichkeiten der Umgegend dazu eingeladen, und der nunmehrige Herr von Steinrück konnte sich dieser ersten officiellen Veranlassung nicht entziehen, wenn er auch mit Rücksicht auf die Familientrauer nur der Feier selbst, nicht den späteren Festlichkeiten beizuwohnen beabsichtigte. Die Stunde der Abfahrt war bereits bestimmt, indessen blieb immer noch Zeit zur Audienz für den Förster.

Textdaten
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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 26, S. 441–446
Novelle – Teil 3

[441] Der Graf stand am Schreibtische und nahm aus einem der Fächer einen funkelnden Gegenstand, den Stern eines hohen Ordens, der reich mit Brillanten besetzt war. Im Begriff, ihn zu befestigen, bemerkte er, daß das Band sich gelöst hatte, und da Wolfram in diesem Augenblicke bereits eintrat, so legte er das offene Etui auf den Schreibtisch nieder.

Der Förster war heute in der vollen Gala, in der er sich zeigte, eine ganz stattliche Erscheinung. Haar und Bart hatten sich zur Ordnung bequemen müssen, und der Jagdkleidung war die gleiche Sorgfalt zugewendet. Auch schien er seinem ehemaligen Herrn gegenüber nicht ganz die Formen verlernt zu haben, denn er blieb mit ehrerbietigem Gruß an der Thür stehen, bis der Graf ihm einen Wink gab, näher zu treten.

„Da bist Du ja, Wolfram,“ sagte er freundlich, sich noch der alten vertraulichen Anrede bedienend. „Ich habe Dich lange nicht gesehen, wie ist es Dir ergangen?“

„Mir ist’s ganz leidlich gegangen, Herr Graf“, versetzte der Förster, der in strammer Haltung dastand. „Ich hab’ ja mein Auskommen, und der hochselige Herr Graf war auch zufrieden mit mir. Ich komm’ freilich das ganze Jahr nicht heraus aus meinen Wäldern, aber daran ist unsereins gewöhnt, man muß sich halt finden in das Alleinsein.“

„Du warst ja verheirathet, ist Deine Frau nicht mehr am Leben?“

„Nein, sie starb vor fünf Jahren, Gott hab’ sie selig, und Kinder haben wir nie gehabt. Man hat mir wohl zugeredet, wieder zu freien, aber ich mochte nicht. Wer die Geschicht’ einmal probirt hat, der hat genug davon.“

„Also war Deine Ehe nicht glücklich?" fragte ihn Steinrück, über dessen Zuge ein flüchtiges Lächeln glitt, bei dieser naiven Behauptung.

„Wie man’s nimmt!“ sagte der Förster gleichmüthig. „Wir sind eigentlich ganz gut mit einander ausgekommen, gezankt haben wir uns freilich alle Tage, aber das gehört dazu, und wenn uns dann der Michel dazwischen kam, dann schlugen wir Beide auf den los, und dabei vertrugen wir uns wieder.“

[442] Der Graf hob mit einer jähen Bewegung den Kopf.

„Auf wen habt Ihr losgeschlagen?“

„Ja so – das war eine Dummheit!“ brummte Wolfram verlegen in seinen Bart.

„Ist etwa von dem Knaben die Rede, der Dir übergeben wurde?“

Der Förster senkte das Auge vor dem zornigen Blick, der ihn traf, und vertheidigte sich etwas kleinlaut.

„Es hat ihm nichts geschadet, und es hat auch bald aufgehört, denn der Herr Pfarrer von Sankt Michael verbot es uns, und da ließen wir es bleiben. Uebrigens hat der Bube die Schläge reichlich verdient.“

Steinrück erwiderte nichts; er hatte es freilich gewußt, daß der Jüngling in rohe und gewaltsame Hände kam, aber der Einblick, den er jetzt erhielt, berührte ihn doch peinlich, und ziemlich ungnädig fragte er: „Hast Du Deinen Pflegesohn mitgebracht?“

„Jawohl, Herr Graf, wie es befohlen war.“

„So laß ihn eintreten.“

Wolfram ging, um den im Vorzimmer harrenden Michael herbeizurufeu, während der Blick des Grafen sich mit unruhiger Spannung auf die Thür heftete, durch die in der nächsten Minute sein Enkel treten sollte, das Kind der verstoßenen, der erbarmungslos gerichteten und doch einst so geliebten Tochter. Vielleicht war der Knabe das Ebenbild seiner Mutter, jedenfalls trug er einige Züge von ihr, und Steinrück wußte selbst nicht, ob er diese Erinnerung fürchtete oder – ersehnte.

Da öffnete sich die Thür, und an der Seite seines Pflegevaters trat Michael ein. Auch er hatte mit Rücksicht auf diese Vorstellung seinem Aeußeren größere Sorgfalt zuwenden müssen, aber bei ihm half das wenig. Das Sonntagsgewand kleidete ihn nicht besser und war überdies, obgleich neu, doch halb bäuerisch in Schnitt und Aussehen. Die dichten, wirren Locken ließen sich nun einmal nicht glätten, und die Ordnung, die er heute Morgen mühsam hineingebracht hatte, war auf dem Wege hierher längst wieder verloren gegangen, sie legten sich eben so wild wie sonst um die Stirn. Dazu prägte sich die Scheu und Befangenheit, die er in der fremden Umgebung empfand, deutlich auf seinem Gesicht aus, das ausdrucksloser als je erschien, und die nachlässige Haltung, die schwerfälligen Bewegungen machten seine Erscheinung nur noch abstoßender.

Der Graf warf einen raschen, scharfen Blick auf den Eintretenden, nur einen einzigen, dann preßte er mit dem Ausdruck herbster Enttäuschung die Lippen zusammen. Das also – das war Louisen’s Sohn!

„Das ist der Michel, Herr Graf,“ sagte Wolfram, indem er Michael in nicht gerade sanfter Weise vorwärts schob. „Mach’ Deine Reverenz und bedank’ Dich bei dem gnädigen Herrn, der Dich blutarme Waise aufgenommen und für Dich gesorgt hat. Es ist ja das erste Mal, daß Du Deinen Wohlthäter zu Gesicht bekommst.“

Aber Michael machte keine Reverenz und sprach auch keinen Dank aus. Seine Augen hingen wie gebannt an dem Grafen, der sich freilich in der glänzenden Uniform imponirend genug ausnahm, er schien über dem Anschauen alles Andere zu vergessen.

„Nun, kannst Du nicht reden?“ fragte Wolfram ungeduldig. „Sie dürfen es ihm nicht übelnehmen, Herr Graf, es ist nur Dummheit, nichts weiter. Er thut schon daheim kaum den Mund auf, und wenn er viel Neues und Fremdes sieht, wie heut, dann ist es vollends zu Ende mit seinem bischen Verstand.“

Es war ein Ausdruck offenbaren Widerwillens, mit dem Steinrück sich jetzt endlich an den Jüngling wandte, und seine Stimme klang kalt und herrisch, als er fragte:

„Du heißest Michael?“

„Ja,“ versetzte dieser, wie mechanisch, er schien das Auge noch immer nicht losreißen zu können von der hohen Gestalt und dem gebietenden Antlitz, das so herb und verächtlich auf ihn niederblickte. Steinrück sah nicht die grenzenlose Bewunderung, die in diesen Augen lag, er sah nur den träumerischen Ausdruck darin, nur ein dumpfes, neugieriges Anstarren, das ihn verletzte.

„Wie alt bist Du?“ fuhr er, in dem gleichen Tone wie vorhin, fort.

„Achtzehn Jahr.“

„Und was hast Du bisher gelernt und getrieben?“

Die Frage schien Michael in Verlegenheit zu setzen, er schwieg und sah den Förster an, der denn auch für ihn das Wort nahm.

„Getrieben hat er eigentlich nichts, Herr Graf, obgleich er den ganzen Tag im Walde herumläuft, und gelernt wird er wohl auch nicht viel haben. Ich hab’ keine Zeit, mich darum zu kümmern, zu Anfang thaten wir ihn in die Dorfschule, und später hat sich der Herr Pfarrer seiner angenommen und ihn unterrichtet. Viel wird es aber auch nicht geworden sein, trotz aller Mühe, der Michel begreift nun einmal nichts.“

„Aber er muß sich doch für irgend eine Thätigkeit entscheiden. Wozu taugt er denn und was will er werden?“

„Gar nichts und er taugt auch zu nichts!“ sagte der Förster lakonisch.

„Das ist ja ein glänzendes Zeugniß, das Dir ausgestellt wird!“ sagte der Graf verächtlich. „Also den ganzen Tag im Walde herumlaufen, das ist Deine Arbeit, das kostet allerdings keine Anstrengung, und viel zu lernen braucht man auch nicht dabei, aber es ist eine Schande, daß ein junger, kräftiger Bursche wie Du sich so etwas sagen lassen muß.“

Michael schaute betroffen auf bei diesen herben Worten, und in seinem Antlitz begann langsam eine dunkle Röthe aufzusteigen, der Förster aber stimmte bei:

„Ja, das meine ich auch, aber mit dem Michel ist ja nichts anzufangen. Sehen Sie ihn sich nur an, Herr Graf, der giebt sein Lebtag keinen richtigen Weidmann ab.“

Es schien dem Grafen Ueberwindung zu kosten, sich überhaupt noch mit einer Sache abzugeben, die ihm so zuwider war, aber er bezwang sich und sagte hart und befehlend:

„Tritt näher!“

Michael rührte sich nicht, er stand da, als habe er den Befehl gar nicht gehört.

„Hast Du so wenig Gehorsam gelernt?“ fragte Steinrück drohend. „Tritt näher, sage ich.“

Michael blieb noch immer regungslos, bis der Förster sich veranlaßt fand, seiner vermeintlichen Dummheit zu Hilfe zu kommen, er faßte ihn derb an der Schulter, traf aber auf entschiedenen Widerstand seines Pflegesohnes, der sich mit einer heftigen Bewegung losriß. Es lag nur Trotz in diesem jähen Zurückweichen, aber es sah wie Flucht aus und so faßte es auch der Graf auf.

„Also auch noch feig!“ murmelte er. „Wahrhaftig, es ist genug!“

Er zog die Klingel und rief dem eintretenden Diener zu: „Der Wagen soll vorfahren,“ wandte sich dann aber wieder an den Förster.

„Mit Dir habe ich noch ein paar Worte zu reden, folge mir.“

Er öffnete die Thür eines kleinen Nebengemaches und schritt voran. Wolfram versuchte, indem er ihm folgte, das Benehmen seines Pflegesohnes zu entschuldigen.

„Er hat sich vor Ihnen gefürchtet, Herr Graf, der Bub’ hat nun einmal keine Kourage im Leibe!“

„Das sehe ich!“ sagte Steinrück mit grenzenloser Verachtung; wenn er Alles verzieh, Feigheit verzieh er nicht, das war in seinen Augen ein unauslöschlicher Makel.

„Laß gut sein, Wolfram, ich weiß, Du kannst nichts dafür, aber Du wirst den Burschen wohl einstweilen noch behalten müssen, denn der taugt höchstens für Deine Bergförsterei. Da mag er meinetwegen sein Leben verdämmern und verdummen, zu etwas Anderem auf der Welt taugt er nicht!“

Er ging mit dem Förster, ohne sich weiter um Michael zu kümmern, der noch regungslos an demselben Platze stand. Noch lag die dunkle Röthe auf seinem Gesicht, aber es war jetzt nicht mehr leer und ausdruckslos. Finster, mit zusammengebissenen Zähnen schaute er dem Manne nach, der so erbarmungslos den Stab über ihn und seine Zukunft brach. Er hatte ja oft genug Aehnliches gehört, aus dem Munde des Försters, ohne daß es ihn aus seiner Gleichgültigkeit aufzurütteln vermochte, aber es klang so anders von jenen stolzen Lippen, und der verächtliche Blick jener Augen bohrte sich wie ein schmerzender Stachel in seine Seele. Zum ersten Male empfand er die Behandlung, an die er von Kindheit an gewöhnt war, als ein brennendes Weh, als einen Schimpf, der zu Boden drückte.

Der Diener war gegangen, um den erhaltenen Befehl auszuführen und Michael befand sich allein in dem Gemache. Durch das Erkerfenster strömte der Sonnenschein herein und lag hell auf dem Schreibtische, wo es gleißend aufblinkte, die Diamanten des Ordenssternes sprühten und glänzten in allen Regenbogenfarben. [443] Aber auch über das dunkle Holzgetäfel zuckten goldene Lichter und auf dem Fußboden einten sie sich mit dem Scheine des Kaminfeuers, das schon in Gluth zusammensank.

„Was thust Du hier?“ fragte auf einmal eine Kinderstimme.

Michael wandte sich um, auf der Schwelle des anstoßenden Schlafzimmers, dessen Thür offen geblieben war, stand ein etwa achtjähriges Kind, ein kleines Mädchen, und blickte verwundert auf den Fremden, der jetzt lakonisch antwortete:

„Ich warte.“

Die Kleine, das hinterlassene Töchterchen des Grafen Steinrück, kam näher und besah sich neugierig den Fremden, mußte aber wohl bald zu der Ueberzeugung kommen, daß dieser junge Mensch in der halb bäurischen Kleidung nicht als Gast im Schlosse war, denn sie rümpfte das feine Näschen, da er aber auf jemand wartete, so ließ sich gegen sein Hiersein füglich nichts einwenden. Sie ließ ihn deßhalb stehen und lief an den Kamin, wo sie sich damit unterhielt, in die Gluth zu blasen und sich an den sprühenden Funken zu ergötzen.

Es war ein kleines, zierliches Geschöpf, schlank und zart wie eine Elfe und unleugbar ein schönes Kind, trotz des stark röthlichen Haares. Aber gerade dies Haar, das in langen Locken über Hals und Schultern auf den schwarzen Krepp des Trauerkleidchens fiel, gab der Kleinen einen eigenthümlichen Reiz. Aus dem rosigen Kindergesichte blickten ein Paar große Augen von unbestimmbarer Farbe, sie glänzten wie Sterne, aber es lag ein seltsam schillernder Glanz darin, harmlose lachende Kinderaugen waren es nicht.

Es dauerte nur kurze Zeit, dann wurde die Kleine des Spiels mit den Funken überdrüssig und sah sich nach einer andern Unterhaltung um, ihr Blick fiel wieder auf Michael, der diesmal einer näheren Beachtung gewürdigt wurde.

„Wo kommst Du her?“ fragte sie, sich dicht vor ihn hinstellend.

„Aus dem Walde,“ versetzte er ebenso einsilbig wie vorhin.

„Weit von hier?“

„Sehr weit.“

„Und gefällt es Dir in unserem Schlosse?“

„Nein!“

Hertha sah ihn hochst verwundert an mit ihren glänzenden Augen, sie hatte die Frage sehr herablassend gethan, und nun unterstand sich dieser fremde Mensch, kurz und trocken zu erklären, daß es ihm in dem Grafenschlosse nicht gefalle. Die Kleine überlegte augenscheinlich, ob sie das übelnehmen solle, da fiel ihr Blick auf den Hut, den Michael in der Hand hielt, und den ein Strauß großer, prachtvoller Schneerosen zierte.

„O, die schönen Blumen!“ rief sie erfreut. „Gieb sie mir!“ Sie streckte begehrlich die kleinen Arme empor und hatte den Hut ergriffen und den Strauß losgenestelt, ehe Michael auch nur antworten konnte. Er sah etwas betroffen aus, als so ohne Weiteres über sein Eigenthum verfügt wurde, machte aber keinen Versuch, es zu hindern.

Die Kleine hatte sich in den Lehnstuhl am Kamine gesetzt mit ihren Blumen, von denen sie ganz entzückt schien, und begann jetzt unbefangen und zutraulich zu plaudern. Sie erzählte von dem großen Schlosse, wo sie gewöhnlich mit ihren Eltern wohne und wo es viel schöner sei als hier, von ihrem Pony, auf dem sie spazieren reite und der leider dort geblieben sei, von der Mutter, kurz von allem Möglichen. Die Blödigkeit ihres Zuhörers schien ihr großen Spaß zu machen, sie versuchte immer wieder, ihn zum Reden zu bringen, und brachte es denn auch wirklich heraus, daß er der Sohn des Försters sei und in der Försterei hoch oben in den Bergen wohne, sie schien sich sehr dafür zu interessiren.

Es lag etwas Berückendes in dieser süßen, schmeichelnden Kinderstimme und in der kleinen Elfengestalt, die sich so zierlich und geschmeidig in die Polster schmiegte, und dazu leuchtete das Haar förmlich auf dem dunklen Grunde. Michael kam langsam näher und fing allmählich an, Rede und Antwort zu geben, dies Schmeicheln, Lachen und Plaudern umspann ihn mit einer Macht, die er nur dunkel empfand, der er sich aber nicht zu entziehen vermochte.

Hertha hatte während der ganzen Zeit unaufhörlich mit ihren Blumen gespielt, die sie bald zusammenfügte, bald wieder trennte, jetzt aber schien sie auch dieses Spiels müde zu werden und begann den eben noch so heiß begehrten Strauß zu zerpflücken. Die kleinen Hände zerstörten erbarmungslos die weißen Blüthen, um sie dann achtlos auf den Boden zu werfeu, und waren unendlich flink dabei.

Michael zog die Stirn kraus, und mahnend zwar, aber doch im Tone der Bitte sagte er:

„Nicht zerpflücken! Die Blumen waren schwer zu finden.“

„Ich mag sie aber jetzt nicht mehr!“ erklärte Hertha, indem sie, ohne auf das Verbot zu achten, in ihrem Zerstorungswerke fortfuhr, da aber ergriff Michael ohne Weiteres ihren Arm und hielt sie fest.

„Laß mich los!“ rief die Kleine zornig, indem sie sich zu befreien versuchte. „Ich mag Deine Blumen nicht mehr, und ich mag Dich auch nicht mehr! Geh’ fort!“

Es lag nicht bloß ein kindischer Trotz in diesen Worten. Das „Ich mag Dich auch nicht mehr!“ klang höhnend und verächtlich, und dabei schillerten die Augen wieder in jenem seltsamen Glanze, der sie so unkindlich machte. Michael gab plötzlich die kleine Hand frei, die er festgehalten, aber in demselben Momente entriß er ihr auch den Strauß.

Hertha glitt von dem Armsessel, um ihren Mund zuckte es wie ausbrechendes Weinen, aber die Augen sprühten dabei im hellsten Zorne.

„Meine Blumen! Gieb mir meine Blumen zurück!“ trotzte sie und stampfte dabei mit ihrem Füßchen auf den Boden. Da trat Wolfram aus dem Kabinette. Die Entlassung mußte wohl sehr gnädig gewesen sein, denn er sah äußerst zufrieden aus.

„Komm, Michel, wir wollen gehen,“ sagte er, seinem Pflegesohne zuwinkend.

Hertha kannte den Förster, der zur Jagdzeit einmal auf dem Schlosse gewesen war, als einen Untergebenen ihres Vaters und begriff auf der Stelle, daß er ihr helfen werde, ihren Willen durchzusetzen, sie wandte sich schleunigst zu ihm.

„Ich will die Blumen wieder haben!“ rief sie mit der ganzen Heftigkeit eines verwöhnten, verzogenen Kindes. „Sie sind mein, er soll sie mir zurückgeben!“

„Was für Blumen?“ fragte Wolfram. „Die Seerosen dort? Nun, so gieb sie doch her, Michel. Es ist ja die kleine Gräfin, das Kind unserer Herrschaft.“

Die Kleine schüttelte triumphirend ihre Locken und streckte wie vorhin die Arme empor, aber diesmal war Michael auf seiner Hut, er hielt den Strauß so hoch, daß sie ihn nicht erreichen konnte.

„Nun, wird es bald?“ fragte der Förster ungeduldig. „Begreifst Du wieder einmal nicht? Du sollst der kleinen Gräfin die Blumen geben, auf der Stelle!“

„Auf der Stelle!“ wiederholte Hertha, die vorhin so süße Kinderstimme klang schneidend und befehlend. Michael blickte einige Sekunden stumm nieder auf die kleine Tyrannin und schleuderte dann plötzlich den Strauß in den Kamin.

„So hole ihn Dir!“ sagte er herb, wandte ihr den Rücken und schritt aus dem Zimmer.

„Wahrhaftig, mit dem Menschen leg’ ich heute Ehre ein! Gnade Dir Gott, wenn wir erst wieder daheim sind!“ murmelte Wolfram mit unterdrückter Wuth, indem er ihm folgte.

Hertha blieb allein zurück, sie stand regungslos da und sah mit großen Augen den Beiden nach, in der nächsten Minute aber besann sie sich und lief schleunigst wieder an den Kamin. Die Gluth sprühte auf und verzehrte knisternd ihre Beute, die zarten weißen Blüthensterne färbteu sich glühend roth und leuchteten einen Moment lang wie Wunderblüthen, dann krümmten sie sich und sanken in Asche zusammen.

Die Kleine hatte die Hände in einander geschlungen und sah zu, auf ihrem Gesichte lag noch der Ausdruck des Trotzes, aber ihre Augen füllten sich allmählich mit Thränen, und als die letzte der Blumen den Flammentod gestorben war, brach sie plötzlich in lautes Schluchzen aus. –

Als Graf Steinrück nach einer Weile in das Arbeitszimmer zurückkehrte, fand er Niemand mehr dort. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß die Zeit der Abfahrt gekommen war, und er trat rasch an den Schreibtisch, um den Orden anzulegen, der seine Uniform vervollständigen sollte. Das Etui lag noch an demselben Platze wie vorhin, aber es war leer, wahrscheinlich hatte der Diener das fehlende Band entdeckt und war eben damit beschäftigt, es zu ersetzen, Steinrück zog die Klingel.

„Meinen Orden,“ sagte er flüchtig zu dem Eintretenden. „Ist der Wagen da?“

[446] „Zu Befehl. Aber der Orden – die Ordenszeichen pflegen der Herr Graf ja stets selbst zu verwahren.“

„Gewiß, ich habe ihn auch heute selbst herausgenommen. Es war der große Stern mit den Brillanten. Hast Du denn nicht bemerkt, daß das Band gelöst war?“

Der Diener schüttelte den Kopf.

„Ich habe den Stern gar nicht gesehen, ich kam ja nur auf einen Augenblick in das Zimmer, als der Herr Graf den Befehl hinsichtlich des Wagens ertheilten.“

Steinrück blickte mit dem äußersten Befremden auf das leere Etui nieder.

„Du bist seitdem nicht im Zimmer gewesen?“

„Mit keinem Schritte.“

„Auch sonst Niemand?“

„Doch, der Sohn des Försters blieb allein hier, als ich ging, den Wagen zu bestellen, und ich glaube, er ist ziemlich lange allein geblieben.“

Es lag ein deutlich ausgesprochener Argwohn in diesen Worten, aber der Graf machte eine heftig abwehrende Bewegung.

„Thorheit, davon kann keine Rede sein! Ist wirklich kein Anderer hier gewesen? Besinne Dich.“

„Nein, Herr Graf, es hat Keiner auch nur den Korridor betreten.“

„Aber das Schlafzimmer – es hat freilich keinen eigenen Eingang.“

„Nur die Tapetenthür, und die führt direkt in die Zimmer der Frau Gräfin.“

Steinrück erbleichte, seine Hand krampfte sich unwillkürlich zusammen, aber noch wehrte er sich gegen den aufsteigenden Verdacht.

„Sieh nach!“ sagte er kurz. „Der Stern muß sich finden, unter den Papieren oder den Büchern, vielleicht habe ich ihn verlegt.“

Und ohne die Hilfe des Dieners abzuwarten, begann er selbst zu suchen. Er wußte genau, daß er den Stern in das Etui gelegt und dies offen gelassen hatte, trotzdem wurde jedes Papier aufgehoben, jedes Buch nachgesehen, sogar die einzelnen Fächer aufgezogen, vergebens, das Vermißte fand sich nicht.

„Es ist nicht da,“ sagte der Diener endlich leise. „Wenn es hier in dem offenen Etui gelegen hat, so bleibt nur eine Erklärung.“

Steinrück antwortete nicht, aber auch er zweifelte jetzt nicht mehr. Also Diebstahl! Gemeiner niedriger Diebstahl! Das brachte das bis an den Rand gefüllte Maß des Hasses und der Verachtung zum Ueberlaufen.

Es folgte ein sekundenlanges Schweigen, der Diener stand da und wartete auf Befehle, zu sprechen wagte er nicht, denn das Gesicht seines Herrn erschreckte ihn, so hatte er es noch nie gesehen.

„Ist Wolfram noch im Schlosse?“ fragte der Graf endlich.

„Ich glaube wohl, er wollte noch zum Kastellan.“

„So rufe mir seinen Sohn her. Aber kein Wort von dem Vorgefallenen, auch gegen den Förster nicht, Du überbringst nur den Befehl.“

Der Diener entfernte sich, und einen Moment lang legte Steinrück die Hand über die Augen. Das war furchtbar! Und doch, war es denn so ungeheuerlich bei einem Sproß aus solchem Stamme? Daß er keinen Tropfen von dem Blute der Mutter in sich hatte, verrieth schon sein Aeußeres, und jenes andere Blut, das der Vater auf ihn vererbte, nun das zeigte sich eben jetzt und zeigte, daß man das Recht und die Pflicht hatte, es auszustoßen. Fort damit!

Der Graf stand wieder aufrecht da, mit der alten eisernen Entschlossenheit, als Michael eintrat, der keine Ahnung hatte, was der erneute Ruf bedeutete, aber ihm nur widerwillig folgte.

„Schließe die Thür,“ gebot Steinrück, „und komm näher!“

Diesmal war kein zweiter Befehl nothwendig, Michael gehorchte ohne Zogern. Er stand jetzt vor dem Grafen, der das Auge durchbohrend auf ihn richtete und ihm dabei das leere Etui entgegenhielt.

„Kennst Du das?“ fragte er anscheinend ruhig.

Der Gefragte schüttelte langsam verneinend den Kopf, er begriff die seltsame Frage nicht.

„Es lag hier auf dem Schreibtische,“ fuhr Steinrück fort, „aber es war nicht leer, wie jetzt, ein Stern mit funkelnden Steinen befand sich darin. Hast Du den auch nicht gesehen?“

Michael besann sich, das mußte der funkelnde Gegenstand gewesen sein, der so gleißend aufblinkte im Sonnenschein, den er aber nicht weiter beachtet hatte.

„Nun, ich warte auf Antwort,“ sagte der Graf, ohne das Auge von seinem Gesicht zu lassen. „Wo ist der Stern geblieben?“

„Wie soll ich denn das wissen?“ fragte Michael, immer mehr verwundert über dies seltsame Examen, die Lippen des Grafen zuckten in tiefster Bitterkeit.

„Also Du weißt es wirklich nicht? Scheinst doch nicht so beschränkt zu sein, wie Du Dich anstellst, wenigstens spielst Du trefflich Komödie. Wo ist der Stern geblieben? Ich will es wissen, heraus damit!“

Der drohende Ton der letzten Worte machte dem Jüngling endlich die Wahrheit klar, er stand da wie vom Blitze getroffen, so entsetzt, so fassungslos, daß er im Augenblick gar nicht fähig war, sich zu vertheidigen, und das nahm Steinrück den letzten Zweifel, es sah in der That aus wie Schuldbewußtsein.

„Gesteh’, Bube!“ sagte er, mit gedämpfter Stimme, aber mit einem furchtbaren Ausdruck. „Gieb das Gestohlene heraus und danke Gott, wenn ich Dich dann laufen lasse. Hörst Du nicht? Deine Diebsbeute sollst Du herausgeben!“

Michael zuckte zusammen, als habe er eine Wunde empfangen, im nächsten Augenblick aber fuhr er auf.

„Ich ein Dieb? Ich soll –“

„Still!“ unterbrach ihn Steinrück heftig. „Ich will keinen Lärm, kein Aufsehen, aber Du kommst nicht von der Stelle, bis Du gestanden hast. Gestehe!“

Er faßte ihn hart am Arm, und seine Hand verstand es, festzuhalten, sie schloß wie eine eiserne Klammer, doch mit einem einzigen kraftvollen Ruck hatte sich Michael losgerissen.

„Lassen Sie mich!“ keuchte er. „Sagen Sie das nicht noch einmal – nicht noch einmal, oder –“

„Willst Du mir etwa noch drohen?“ rief der Graf, der diesen Ausbruch für den Gipfel der Frechheit hielt. „Wahre Dich, Bube! Noch ein Wort, und ich vergesse, daß ich Dich schonen muß.“

„Ich bin aber kein Dieb!“ schrie Michael gellend aus. „Und wer mich so nennt – den schlage ich zu Boden!“

Zugleich riß er einen schweren silbernen Armleuchter von dem nächsten Tische und schwang ihn wie eine Waffe gegen den Grafen, dieser trat einen Schritt zurück, nicht vor der drohenden Bewegung, sondern vor dem Anblick, der sich ihm bot. War denn das noch derselbe junge Mensch, der vorhin hier gestanden hatte, mit dem leeren, träumenden Gesicht, dem scheuen blöden Wesen? Jetzt bäumte er sich auf wie ein verwundeter Löwe, bereit, sich auf den viel stärkeren Gegner zu stürzen, maßlose Wuth und maßlose Wildheit in jedem Zuge. Und die Augen Steinrück’s, die so vernichtend niederflammten, trafen auf ein anderes Augenpaar, dunkelblau wie das seinige und in diesem Moment auch flammend wie das seinige, es war ein starres, athemloses Anschauen, aber so sah kein Feigling und so sah auch kein Dieb aus.

Da flog die Thür auf – man mochte im Vorzimmer wohl die lauten, drohenden Stimmen gehört haben – der Förster stand auf der Schwelle und hinter ihm zeigte sich das erschrockene Gesicht des Dieners.

„Bube – bist Du unsinnig geworden?“ schrie Wolfram, indem er seinem Herrn zu Hilfe eilte und Michael an der Schulter packte, doch dieser schüttelte ihn ab, wie ein angeschossenes Wild die Meute, schmetterte dann wüthend den Leuchter zu Boden und stürzte nach der Thür. Hier aber vertrat ihm der Diener den Weg.

„Halten Sie ihn auf!“ rief er dem Förster zu. „Er darf nicht fort, er hat den Herrn Grafen bestohlen!“

Wolfram, der eben Miene machte, sich seines Pflegesohnes zu versichern, hielt entsetzt inne.

„Der Michel – ein Dieb?“

Ein Aufschrei brach aus der Brust des Gequälten, so wild und verzweiflungsvoll, daß Steinrück rasch dazwischen trat. Er wollte Halt gebieten, aber es war zu spät, schon taumelte der Diener, von einem Schlage getroffen, seitwärts, und Michael stürzte, wie gejagt von dem furchtbaren Worte, an ihm vorüber, zur Thür hinaus.

Textdaten
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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 27, S. 461–466
Novelle – Teil 4

[461] Der Förster Wolfram trat in das Pfarrhaus von Sankt Michael, wo er erwartet zu werden schien, denn der Pfarrer kam ihm schon im Hausflur entgegen.

„Nun, Wolfram, noch immer keine Nachricht?“

„Nein, Hochwürden, keine Spur von dem Buben, aber vom Schlosse kann ich Ihnen Nachricht bringen, ich komm’ eben daher.“

Valentin öffnete die Thür zu seinem Studirzimmer und winkte dem Förster, ihm zu folgen, aber die Nachrichten aus dem Schlosse lagen ihm offenbar nicht so am Herzen, wie die Frage, die er mit allen Zeichen der Unruhe wiederholte:

„Also Michael ist auch heute nicht nach Haus gekommen?“

„Nein, Hochwürden, ich sag’s ja.“

„Das ist nun der dritte Tag und keine Spur, wo man ihn suchen könnte! Wenn ihm nur kein Unglück zugestoßen ist!“

„Dem stößt nichts zu,“ sagte der Förster mit rauhem Lachen. „Der streift irgendwo herum und wagt sich nicht nach Haus, weil er sich wohl denken kann, was da auf ihn wartet, aber einmal muß er doch wiederkommen, und dann gnad’ ihm Gott!“

„Was wollt Ihr thun, Wolfram? Denkt an Euer Versprechen.“

„Das habe ich gehalten, so lange der Unheilsmensch noch zu regieren war, aber jetzt ist’s zu End’ damit! Wenn er glaubt, Alles niederschlagen und niederrennen zu können, so soll er erfahren, daß es wenigstens noch Einen giebt, der ihm gewachsen ist, und das wird er spüren, so lange ich die Arme regen kann.“

„Ihr rührt Michael nicht an, bis ich ihn selbst gesprochen habe,“ sägte der Geistliche ernst. „Ihr kommt also vom Schlosse? Wie steht es dort, hat sich der vermißte Ordensstern denn nun endlich gefunden?“

„Jawohl, noch an demselben Tage. Die kleine Gräfin Hertha hatte das funkelnde Ding als Spielzeug mitgenommen, war damit nach ihrem Zimmer gelaufen und brachte es schließlich ihrer Mutter, da klärte sich die Geschichte auf.“

„Also um der Spielerei eines Kindes willen!“ sagte Valentin mit schmerzlicher Bitterkeit. „Ein so schmachvoller, erniedrigender Verdacht, ohne Untersuchung, ohne Beweise und gerade gegen Michael, der –“

Er brach plötzlich ab, der Förster aber sagte grollend:

„Warum hat er den Mund nicht aufgethan und sich verantwortet! Ich hätte mich schon dagegen gewehrt, aber der Michel wird wohl wieder dagestanden haben wie ein Stock und hernach, als man ihm ernstlich zu Leibe ging, da war er wie ein angeschossener Bär. Auf den Herrn Grafen loszugehen! Es ist nicht zu glauben, aber ich hab’ es ja selbst gesehen, wie er dastand mit dem Leuchter in der Hand! Schließlich werde ich die Geschichte ausbaden [462] müssen, die der verdammte Bube angerichtet hat. Der Herr war heut sehr ungnädig, kaum daß er ein paar Worte mit mir sprach, aber einen Brief hat er mir gegeben, den soll ich Ihnen überbringen, Hochwürden.“

Er zog ein Schreiben hervor und reichte es dem Priester, der es in Empfang nahm.

„Es ist gut, Wolfram. Geht jetzt, und wenn sich Michael auf der Försterei blicken läßt, schickt ihn sofort zu mir. Aber ich verbiete Euch noch einmal jede Mißhandlung, erst will ich ihn hören.“

Der Förster ging, grollend darüber, daß er das Strafgericht an dem „Unheilsbuben“ noch aufschieben sollte, aber aufgehoben sollte es deßhalb nicht sein, das gelobte er sich. Als Valentin allein war, erbrach er den Brief, der nur wenige Zeilen von der Hand des Grafen enthielt.

„Hochwürden! Der vermißte Gegenstand hat sich gefunden, und der ausgesprochene Verdacht erweist sich somit als ungerecht. Was das Benehmen Ihres Schützlings dabei betrifft, der, anstatt sich zu vertheidigen und die Sache aufzuklären, sich wie ein Rasender geberdete und sogar zu einem Angriff auf mich fortreißen ließ, so werden Sie durch Wolfram wohl darüber unterrichtet sein und es begreifen, wenn ich nunmehr jedes Eingehen auf Ihre Wünsche ablehne. Dieser rohe, beschränkte Bursche, mit seiner zügellosen Wildheit, gehört einzig in die Sphäre, die ihm von Anfang an zugewiesen wurde, und in der er allein möglich ist. Wolfram ist gerade der rechte Mann, ihn zu bändigen, er bleibt in seiner Obhut. Bei einer solchen Natur wäre jede Erziehung verschwendet, und ich bin überzeugt, daß Sie mir nach dem Vorgefallenen darin beipflichten werden.
Michael, Graf Steinrück.“ 


Der Lesende ließ das Blatt sinken und blickte bekümmert vor sich hin.

„Kein einziges Wort des Bedauerns über den schmählichen Verdacht, der einen Unschuldigen getroffen hat, nur Verurtheilung und Verachtung. Und es ist doch Blut von seinem Blute!“

„Hochwürden!“ klang es mit halb unterdrückter Stimme von der Thür her. Valentin fuhr auf, und ein Athemzug der Erleichterung entrang sich seiner Brust.

„Michael! bist Du endlich da? Gott sei Dank!“

„Ich glaubte – Sie würden mich auch fortweisen,“ sagte Michael leise.

„Erst will ich Dich hören. Was stehst Du so fremd an der Thür? Komm herein!“

Der junge Mann kam langsam näher, er trug noch die Sonntagskleidung, die er an jenem verhängnißvollen Tage getragen, aber man säh es ihr an, daß sie inzwischen Sturm und Wetter ausgehalten hatte.

„Ich habe mich geängstigt um Dich,“ sagte Valentin vorwurfsvoll. „Seit zweimal vierundzwanzig Stunden keine Spur, keine Nachricht von Dir! Wo bist Du gewesen?“

„In den Wäldern.“

„Und wo hast Du die Nächte zugebracht?“

„In der leeren Sennhütte droben.“

„In Sturm und Kälte? Warum bist Du nicht nach Haus zurückgekehrt?“

„Der Vater hätte mich geschlagen, ich weiß es, aber ich lasse mich jetzt nicht mehr schlagen. Ich wollte es ihm und mir sparen, Was dann geschehen wär!“

Die Antworten klangen tonlos, aber es war nicht mehr die alte Gleichgültigkeit, es lag in dem ganzen Wesen Michael’s etwas Fremdes, etwas Starres, Finsteres, das nichts gemein hatte mit seiner früheren Art. Der Priester blickte ihn unruhig an.

„So hättest Du zu mir kommen sollen, ich wartete darauf.“

„Ich komme ja auch, Hochwürden, und was sie Ihnen von mir gesagt haben, es ist nicht wahr. Ich bin kein Dieb –“

„Das weiß ich! Ich habe nie auch nur einen Augenblick daran geglaubt, und jetzt ist der Verdacht überhaupt von Dir genommen. Das Vermißte hat sich gefunden, die kleine Gräfin Hertha hatte es als Spielzeug mitgenommen.“

Michael strich sich das durchnäßte Haar aus der Stirn, und ein eigenthümlich herber Ausdruck legte sich auf seine Züge.

„Ah, das Kind mit den rothgoldenen Locken und den schönen, schlimmen Augen, also dem danke ich das Unheil?“

„Die Kleine trägt keine Schuld, sie hat nach Art verwöhnter Kinder nach einem vermeintlichen Spielwerk gegriffen, das im Zimmer ihres Onkels lag, und es dann ihrer Mutter gebracht. Die Schuld ist Dein, hättest Du Dich ruhig und vernünftig vertheidigt, so wäre die Sache sofort aufgeklärt worden, statt dessen – Michael, ist es denn möglich, Du hast die Hand gegen den Grafen Steinrück erhoben?“

„Er nannte mich Dieb!“ stieß Michael mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wenn Sie wüßten, was er mir angethan hat! Gestehen sollte ich, das Gestohlene, die Diebesbeute sollte ich herausgeben! Er fragte gar nicht, ob ich schuldig war, er hätte mich am liebsten mit dem Fuße fortgestoßen!“

Es lag eine wilde qualvolle Bitterkeit in den Worten, und Valentin schien sie zu begreifen, er sah es ja, daß sein Zögling bis zum Wahnsinn gereizt worden war.

„Man hat Dir Unrecht gethan,“ sagte er, „schweres Unrecht, aber Du durftest Dich nicht in dieser maßlosen Weise dagegen aufbäumen, und die Folgen Deines Jähzornes werden schwer genug auf Dich zurückfallen. Der Graf ist begreiflicherweise empört über den Vorfall. Du darfst hinfort nicht mehr auf seinen Schutz rechnen, er will nichts weiter von Dir hören.“

„Nicht? Aber er soll von mir hören! Wenigstens einmal noch.“

„Was willst Du damit sagen? Du willst doch nicht –?“

„Zu ihm! Ja, Hochwürden! Jetzt weiß er, welchen ungerechten Schimpf er mir angethan hat, jetzt soll er es zurücknehmen.“

Du willst den Grafen Steinrück zur Rede stellen?“ rief der Priester in äußerster Bestürzung. „Welch ein unsinniger Gedanke! Den wirst Du aufgeben.“

„Nein!“ sagte Michael kalt und hart.

„Michael!“

„Nein, Hochwürden, das thu’ ich nicht, auch wenn Sie es mir verbieten. Ich werde ihn fragen, warum er mich Dieb genannt hat.“

All’ seine Gedanken drehten sich nur um den einen Punkt, um den Schimpf, den man ihm angethan, und der wie ein glühendes Eisen in seiner Seele fortbrannte. Valentin stand rathlos da, er fühlte, daß er hier jede Macht verloren hatte, und die wilde Rachsucht, die aus jenem Vorhaben sprach, erfüllte ihn mit namenloser Angst. Wenn Michael es wirklich wagte, den Grafen zur Rede zu stellen, und dieser den Versuch machte, den „rohen zügellosen Burschen“ zu züchtigen – das konnte unabsehbares Unglück geben und das mußte verhindert werden um jeden Preis.

„Ich habe nie geglaubt, daß meine Stimme so machtlos bei Dir verhallen würde,“ sagte er schmerzlich. „Nun denn, so mag etwas Anderes zu Dir sprechen! Ob Dir der Graf Unrecht gethan hat oder nicht, es war ein Verbrechen, daß Du die Hand gegen ihn hobst; Du darfst ihm nie, hörst Du, niemals feindselig nahen – er steht Dir näher, als Du ahnst.“

„Mir? Der Graf Steinrück?“

„Ja. Ich wollte Dir das, was für Dich bis jetzt noch ein Geheimniß geblieben ist, erst später enthüllen, aber Dein unsinniges Vorhaben zwingt mich, jetzt schon zu sprechen. Du wärst im Stande, Dich zum zweiten Mal zu vergreifen – an Deinem Großvater!“

Michael zuckte zusammen, starr, mit weitgeöffneten Augen, blickte er den Sprechenden an.

„Mein Großvater! Er ist –?“

„Der Vater Deiner Mutter! Aber Du darfst keine Hoffnungen an jenes Band knüpfen, Deine Mutter ist enterbt, verstoßen worden, ihre Heirath riß sie auf immer los von ihrer Familie, und sie ist daran zu Grunde gegangen!“

Er schwieg und blickte auf Michael, der keinen Laut von sich gab, aber man sah es, wie die Enthüllung ihn erschüttert hatte, es arbeitete furchtbar in seinen Zügen, und seine Brust hob und senkte sich stürmisch, endlich, nach einer langen Pause sagte er dumpf:

„Und weiter – wollen Sie mir nichts sagen?“

„Nein, mein Sohn, für jetzt weiter nichts. Es ist eine unselige Geschichte, die in Elend und Jammer endigt, ein unlösliches Gewebe von Schuld und Unglück, das Deinem Verständniß noch fern liegt. Später, wenn Du älter und reifer geworden bist, sollst Du Alles erfahren, jetzt laß Dir an der Thatsache genügen, ich verbürge sie Dir. Du begreifst es nun hoffentlich, daß Dir die Person des Grafen Steinrück heilig sein muß.“

„Heilig? Vielleicht weil er mich als einen Dieb von seiner Schwelle jagte?“ brach Michael plötzlich wild aus. „Er wußte [463] es, daß er mein Großvater ist, und hat mich so behandelt! Wie einen Hund, den man mit dem Fuße fortstößt! Hochwürden, das hätten Sie mir nicht sagen sollen, das nicht! Ich habe den Grafen gehaßt, weil er hart und erbarmungslos war gegen einen Fremden, jetzt aber, jetzt möchte ich ihn –“

Er ballte die Hände mit einem so furchtbaren Ausdruck, daß Valentin entsetzt zurückwich.

„Um aller Heiligen willen, Du willst doch nicht –?“

„Ihn anrühren – nein! Ich weiß es ja nun, daß ich nicht die Hand gegen ihn heben darf, aber könnte ich auf andere Weise mit ihm abrechnen, mein Leben gäbe ich darum.“

Valentin stand sprachlos da, aber es war nicht dieser jähe Ausbruch allein, der ihn verstummen machte. Er sah jetzt auch, was seinem Bruder damals so aufgefallen war, jenes seltsame Aufflammen, das plötzlich, blitzähnlich hervorbrach, um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden. Es waren noch dieselben unschönen, unentwickelten Züge, aber das „Traumgesicht“ war es nicht mehr: als sei ein Schleier gelüftet worden, so zeigten sich auf einmal eine ganz andere Stirn und ganz andere Augen, und die Bewegung, mit der sich Michael jetzt nach der Thür wandte, hatte etwas von wilder Energie.

„Wo willst Du hin?“ fragte der Pfarrer hastig. „Nach der Försterei?“

„Nein, da habe ich nichts mehr zu suchen, jetzt vollends nicht mehr – Leben Sie wohl, Hochwürden!“

„Bleib! Wohin denn sonst?“

„Ich weiß nicht – fort – in die weite Welt!“

„Allein? Ohne Hilfsmittel, in vollster Unbekanntschaft mit der Welt und dem Leben? Was willst Du dort?“

„Zu Grunde gehen – wie meine Mutter!“ sagte Michael herb.

„Nein, beim Himmel, das sollst Du nicht!“ rief der Priester, sich mit ungewohnter Energie aufrichtend. „Wenn mir auch das Gelübde die Hände bindet, wenn ich nicht für Dich sorgen kann, so kann ich die Sorge doch in die Hände eines Anderen legen. Es war ein Wink der Vorsehung, der meinen Bruder gerade jetzt herführte, er wird mir seine Hilfe nicht versagen, darauf kenne ich ihn.“

Michael schüttelte finster abwehrend den Kopf.

„Lassen Sie mich gehen, Hochwürden, ich bin es ja gewohnt, überall mißhandelt und fortgestoßen zu werden, ich mag keinem Fremden zur Last fallen. Viel ärger kann es da draußen auch nicht zugehen, als bei meinen Eltern, ich weiß das noch von meiner Kinderzeit her. Ein gutes Wort haben wir nie von dem Vater gehört, ich und die Mutter, aber geschlagen hat er uns Beide oft genug – es war nicht viel anders, als später in der Försterei, nur daß ich da nicht mehr zu hungern brauchte.“

Valentin schauderte zusammen, er mochte an die Frau denken, die er einst im vollen Glanze der Schönheit und des Glückes gekannt hatte. Das also war das Ende gewesen? Ein grauenvoller Blick in die Tiefe menschlichen Elendes!

„Du gehst nicht, Michael,“ sagte er mild, aber mit voller Bestimmtheit. „Von Deiner Rückkehr nach der Försterei kann allerdings keine Rede mehr sein, Du bleibst einstweilen hier, bis die Antwort meines Bruders eingetroffen ist, ich weiß es freilich im Voraus, wie sie lautet, und so lange stehst Du unter meinem Schutze.“

Michael widersprach nicht mehr und machte auch keinen Versuch mehr, zu gehen. Stumm und finster kehrte er zurück, trat an das Fenster und blickte mit verschränkten Armen hinaus, aber auf seinem Gesichte lag noch dieselbe trotzige Energie, mit der er vorhin fortstürmen wollte. Ja wohl, der Nachtwandler war aufgewacht, als man ihn beim Namen rief, aber es war ein herber Ruf gewesen und ein bitteres Erwachen!




Aus dem dichten Morgennebel war ein goldig klarer Herbsttag emporgestiegen, der die Berge entschleierte und die Thäler mit hellem Sonnenschein erfüllte.

Die kleine Bergstadt, die, etwa eine Stunde von Schloß Steinrück entfernt, malerisch am Eingange des Thales lag, beherbergte augenblicklich einen berühmten Gast. Professor Hans Wehlau, dessen Ruf längst über die wissenschaftlichen Kreise hinausgedrungen und aller Welt bekannt war, befand sich zum Besuch bei seinem Schwager, dem Bürgermeister des Städtchens. Der Professor lebte seit zehn Jahren in der Hauptstadt Norddeutschlands, wo er an der Universität eine hervorragende Stellung einnahm. Seit dem Tode seiner Frau hatte er sich einigermaßen von der Gesellschaft zurückgezogen, zumal auch seine beiden Söhne durch ihre Berufspflichten fern gehalten wurden, der jüngere vollendete das Studium der Naturwissenschaften, das er unter der Leitung des Vaters begonnen hatte, auf einer andern Universität, und der ältere – eigentlich nur ein Adoptivsohn, das Kind eines früh verstorbenen Jugendfreundes – hatte die militärische Laufbahn erwählt und stand mit seinem Regimente in einer Provinzialstadt. Den Ausflug in die Berge und zu den Verwandten hatte man aber gemeinschaftlich geplant. Der Professor befand sich schon seit einigen Wochen dort, und seine Söhne waren gestern eingetroffen.

Das stattliche und geräumige Haus des Bürgermeisters lag am Marktplatze, und die oberen Räume desselben, die für gewöhnlich nicht benutzt wurden, waren den Gästen zur Verfügung gestellt worden. Die Frau Bürgermeisterin that das Möglichste, dem Gatten ihrer verstorbenen Schwester den Aufenthalt angenehm zu machen, und das war um so anerkennenswerther, als sie eigentlich mit ihm auf dem Kriegsfuße stand. Sie schwankte fortwährend zwischen dem Respekt vor seiner Berühmtheit, die ihr bei der nahen Verwandtschaft sehr schmeichelhaft war, und dem Abscheu vor der „gottlosen“ naturwissenschaftlichen Lehre, der er diese Berühmtheit verdankte, und es war ihr größter Kummer, daß ihr Neffe, den sie bei dem Mangel eigener Kinder wie einen Sohn liebte, sich auf Befehl des Vaters gleichfalls dieser Lehre hatte zuwenden müssen.

Es war in den Morgenstunden, der Professor stand am Fenster seines Zimmers und blickte hinaus auf den stillen Marktplatz. Wehlau hatte sich in dem verflossenen Jahrzehnt nur wenig verändert, es war noch dasselbe geistvolle Gesicht mit dem sarkastischen Zuge und den durchdringenden Augen, nur das Haar war grau geworden. Neben ihm stand die Frau Bürgermeisterin, eine stattliche Erscheinung, der die bösen Zungen von Tannberg allerdings nachsagten, daß sie ihrerseits den regierenden Herrn Bürgermeister regiere und unbedingt die erste Stimme in ihrem Hause habe.

„Also unsere Buben wären nun glücklich da!“ sagte der Professor in offenbar sehr behaglicher Stimmung. „Da wird es bei Euch Lärm und Unruhe genug geben, denn der Hans stellt das Haus sicher wieder auf den Kopf, Du kennst ihn ja. Uebrigens sehen sie Beide ganz stattlich aus, Michael besonders hat schon ein echt männliches Aussehen.“

„Hans ist viel hübscher und auch viel liebenswürdiger,“ sagte die Dame in sehr bestimmtem Tone. „Michael hat überhaupt nichts von diesen beiden Eigenschaften.“

„Zugestanden, wenigstens für Euch Frauen! Dafür besitzt er aber einen Ernst und eine Tüchtigkeit, an denen sich unser Sausewind ein Beispiel nehmen könnte. Es ist keine geringe Auszeichnung für einen so jungen Officier, zur Dienstleistung beim Generalstabe kommandirt zu werden. Er überraschte mich erst bei seiner Ankunft mit der Neuigkeit, Hans dagegen wird wohl nur mit genauer Noth seinen Doktor fertig bringen.“

„Das ist nicht die Schuld des armen Buben,“ vertheidigte die Frau Bürgermeisterin. „Er ist ja von jeher nur mit halbem Herzen bei dem erzwungenen Berufe gewesen. Es hat meiner Schwester damals manche heimliche Thräne gekostet, als Du ihn so unerbittlich zwangst, sein schönes Talent zu begraben.“

„Und Dir ganze Thränenströme!“ spottete der Professor. „Ihr habt mir damals das Leben schwer genug gemacht, Ihr waret ja allesammt im Komplott mit dem Jungen, bis ich endlich ein Machtwort sprach, dem er sich wohl oder übel fügen mußte.“

„Mit Verzweiflung im Herzen! Du hast ihm mit seinem Künstlertraum auch das Ideal und die Poesie seines Lebens genommen.“

„Bleib’ mir vom Leibe mit der Poesie!“ unterbrach Wehlau sie. „Mit der Dame stehe ich auf sehr gespanntem Fuße, weil sie meistentheils nur Unheil anrichtet und den Leuten die Köpfe verdreht. Ich habe meinem Herrn Sohn den seinigen noch zeitig genug zurechtgesetzt. Von Verzweiflung habe ich übrigens nie etwas bei ihm gespürt, der hat überhaupt gar kein Talent zum Verzweifeln.“

„Guten Morgen, Papa!“ rief eine helle Stimme, und der Gegenstand des Gespräches erschien in der Thür.

[466] Hans Wehlau, der Jüngere, war ein schlanker, bildhübscher Junge von vierundzwanzig Jahren, dessen Aeußeres allerdings noch sehr die Würde des künftigen Professors vermissen ließ. Das Strohhütchen saß keck und schief auf dem dunkelblonden Haare, und der höchst kleidsame Anzug, das Sommerjaquet mit dem umgeschlagenen Hemdkragen, hatte ein entschieden mehr geniales als gelehrtes Ansehen. In dem jugendlich frischen Gesichte blitzten ein paar lustige, lachende Augen, und die ganze Erscheinung hatte etwas so Herzgewinnendes, daß man den Vaterstolz begriff, mit dem der Professor auf seinen Sohn schaute.

„Nun, Du Sausewind, da bist Du ja!“ sagte er heiter. „Ich habe die Tante soeben darauf vorbereitet, daß es wieder Unheil in ihrem Hause geben wird, wie stets, wenn Du da bist.“

„O nein, Papa, diesmal beabsichtige ich vernünftig zu sein, ungeheuer vernünftig,“ versicherte Hans und lieferte auf der Stelle den Beweis davon, indem er die Frau Bürgermeisterin, die eben ahnungslos ihr Schlüsselkörbchen niedersetzte, plötzlich umfaßte und mit ihr durch das Zimmer walzte, trotz all ihres Sträubens.

„Du böser Bube, willst Du mich wohl in Frieden lassen!“ schalt sie athemlos, als er sie endlich losließ und ihr mit abgezogenem Hute eine tiefe Verbeugung machte.

„Verzeihung, Tante, aber das war die nothwendige Einleitung zu meiner Botschaft. Man verlangt im Küchendepartement dringend Deine Gegenwart, und ich habe die Vermittelung übernommen, da ich mich sehr gern im Hause nützlich mache.“

Die Nützlichkeitsbestrebungen ihres Neffen schienen der Frau vom Hause doch einigermaßen verdächtig zu sein, denn sie fragte in sehr gedehntem Tone:

„Was hast Du denn in der Küche bei den Mägden zu suchen?“

„Mein Gott, ich habe nur die alte Gretel begrüßt,“ erklärte Hans mit der unschuldigsten Miene.

„So? Und die junge Leni war wohl nicht dabei?“

„Die habe ich mir vorstellen lassen, da ich sie noch nicht kannte. Als Verwandter des Hauses ist das meine Pflicht. O, ich habe eine sehr häusliche Richtung!“

„Mein lieber Hans,“ sagte die Frau Bürgermeisterin resolut. „Deine häusliche Richtung kann ich hier nicht brauchen, und wenn sie Dich noch einmal in die Küche führen sollte, wird der Riegel vorgeschoben, merke Dir das.“ Damit nickte sie ihrem Schwager zu und ging in voller Majestät zur Thür hinaus.

„Nimm Dich in Acht,“ sagte der Professor strafend. „So sehr Du auch das Herzblatt der Tante bist, in dem Punkte versteht sie keinen Spaß, und mit vollem Rechte. Wenigstens wird sie nun wohl über Deine sogenannte Verzweiflung beruhigt sein, sie hält hartnäckig an der Idee fest, Du fühltest Dich unglücklich in Deinem Berufe.“

„Nein, Papa, ich bin gar nicht unglücklich!“ versicherte der junge Mann, indem er sich rittlings auf einen Stuhl setzte und sich seelenvergnügt im Zimmer umschaute.

„Das habe ich auch nie vorausgesetzt. Dergleichen thörichte Jugendideen fallen von selbst, sobald man anfängt, sich mit ernsten Dingen zu beschäftigen.“

„Jawohl, Papa!“ stimmte Hans bei, der sich angelegentlich damit beschäftigte, seinen Stuhl in eine schaukelnde Bewegung zu bringen, was ihn höchlich zu amüsiren schien.

„Und das Ernsteste ist wohl die Wissenschaft,“ fuhr Wehlau mit Nachdruck fort. „Ich habe leider in der letzten Zeit – Hans, man benutzt die Stühle nicht zum Reiten, diese Studentengewohnheit mußt Du ablegen, sie paßt nicht mehr für den angehenden Doktor – ich habe wenig Zeit gehabt, Deine Studien eingehend zu prüfen. Du weißt ja, daß mein großes eben vollendetes Werk mich gänzlich in Anspruch genommen hat. Jetzt aber bin ich frei, und nun wollen wir das Versäumte nachholen.“

„Jawohl, Papa!“ sagte Hans, der allerdings die väterliche Mahnung beherzigt und den Stuhl verlassen hatte, aber dafür saß er jetzt auf der Tischkante und schlenkerte mit den Füßen. Der Professor sah das zum Glück nicht, da er gerade etwas auf seinem Schreibtisch ordnete, und sprach ruhig weiter.

„Die Studienzeit liegt jetzt hinter Dir und hoffentlich auch ihre Ausgelassenheit. Ich rechne unbedingt auf größeren Ernst, wenn ich Dich nunmehr in die Wissenschaft einführe. Nimm Dich zusammen, Hans, Du wirst es mir einst noch danken, wenn Du als Professor auf meinem Lehrstuhle docirst.“

„Jawohl, Papa!“ sagte der gehorsame Sohn zum dritten Male, sprang aber in demselben Augenblick mit einem Satze vom Tische, denn der Vater hatte sich umgewandt und sandte ihm einen unwilligen Blick zu.

„Kannst Du Dir denn diese burschikose Art nicht abgewöhnen? Nimm Dir ein Beispiel an Michael, der würde sich nie dergleichen erlauben.“

„Nein, gewiß nicht,“ lachte Hans übermüthig. „Der Herr Lieutenant ist ja auch zu Hause das verkörperte Dienstreglement. Immer Gewehr beim Fuß, immer zugeknöpft bis an den Hals. Wer hätte das gedacht, als er damals zu uns kam! Da war er noch der scheue blöde Bube, der die Welt und die Menschen anstaunte, wie etwas Unerhörtes. Ich habe ihn im Anfange vollständig unter meine Flügel nehmen müssen.“

„Nun, ich dächte, er wäre ihnen bald genug entwachsen,“ sagte der Professor sarkastisch.

„Leider! Jetzt hat sich das Verhältniß umgekehrt, und er kommandirt mich. Aber gestehe es nur, Papa, Du verzweifeltest im Anfang auch daran, irgend etwas Menschliches aus ihm zu machen.“

„Was die äußeren Formen betraf, allerdings. Gelernt hatte er damals schon viel mehr, als ich voraussetzte, mein Bruder ist ihm ein trefflicher Lehrer gewesen, als er aber erst einmal erwacht war, hat er auch mit so eisernem Fleiße, mit so unermüdlicher Ausdauer an sich gearbeitet, daß ich oft genug die Thatkraft bewunderte, mit der er sich aus der alten Knabenträumerei emporriß.“

„Ja, Michael ist stets Dein Liebling gewesen,“ schmollte Hans. „Den hast Du auch nie gezwungen, Du warst sofort einverstanden, als er Soldat werden wollte, ich dagegen –“

„Das ist etwas ganz Anderes!“ unterbrach ihn der Vater. „Michael ist darauf angewiesen, sich seinen Lebensweg und seine Zukunft selbst zu schaffen, und wie er nun einmal ist, taugt er am besten zum Soldaten. Dies rücksichtslose Draufgehen auf das Ziel, ohne rechts oder links zu blicken, dies starre Pflichtgesetz, dies oft tyrannische Beugen jedes widerstrebenden Elementes unter eine eiserne Disciplin decken sich völlig mit seinem Charakter, deßhalb wird er auch seinen Weg machen. Du dagegen sollst meine Saat ernten und mußt deßhalb auf meinem Felde bleiben, Dir wird es bequem genug gemacht im Leben.“

Die Miene des jungen Mannes verrieth, daß er sich sehr wenig aus dieser Bequemlichkeit mache, plötzlich aber fuhr er auf und rief fröhlich:

„Da kommt Michael!“

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 28, S. 481–484
Novelle – Teil 5

[481] Zehn Jahre sind eine lange Zeit im Menschenleben und sie wiegen doppelt schwer, wenn sie in die Entwickelungszeit eines Menschen fallen, hier aber grenzte die Wandlung, die sie hervorgebracht hatten, doch an das Wunderbare. Der einstige Pflegesohn des Försters Wolfram und der junge Officier, der soeben eintrat, waren zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten, die auch nicht einen Zug mit einander gemein hatten.

Hübsch war Michael Rodenberg allerdings nicht geworden, in dem Punkte stand er unbedingt hinter Hans Wehlau zurück, aber er war eine von jenen Erscheinungen, die man nirgends übersieht. Die kraftvoll markige Gestalt schien wie geschaffen für die Uniform und den Degen an der Seite, sie hatte das Ungelenke des Knaben abgestreift und dafür die straffe Haltung des Soldaten angenommen. Das blonde Kraushaar hatte, ohne von seiner Fülle und Ueppigkeit etwas einzubüßen, sich doch zur Ordnung bequemt; und der blonde Vollbart umrahmte ein Gesicht, das allerdings keinen Anspruch auf Schönheit machen konnte, aber auch dessen nicht bedurfte. Es war eben kein Jünglingsantlitz mehr, der energische, charaktervolle Kopf schien einem frühgereiften Manne anzugehören, vielleicht zu früh gereift, denn er hatte einen Zug von Ernst, ja von Härte, der sonst bei der Jugend nicht zu finden ist.

Auch die Augen verriethen nichts mehr von der einstigen Träumerei, der Blick war fest und scharf geworden, aber jugendfroh und begeistert zu blicken hatten diese Augen nicht gelernt. Es lag etwas Eisiges darin, wie überhaupt in dem ganzen Wesen des jungen Mannes, das nur vorübergehend im Gespräch von einem wärmeren Hauche belebt wurde, aber wie er so dastand, fest, energisch, hochaufgerichtet, war er das Urbild eines Soldaten, vom Scheitel bis zur Sohle.

„In Uniform?“ fragte der Professor befremdet, als Michael mit einem kurzen Morgengruß näher trat. „Hast Du hier einen officiellen Besuch zu machen?“

„Theilweise, ja, ich muß nach Elmsdorf hinüber. Mein ehemaliger Regimentschef, der Oberst von Reval, bringt, seit er den Abschied genommen hat, stets die Sommer- und Herbstmonate auf seiner dortigen Besitzung zu. Er glaubt wahrscheinlich, daß ich schon länger hier bin, denn ich fand gestern bei der Ankunft einige Zeilen von ihm vor, die mich für heute nach Elmsdorf einladen. Die Tante wird mich hoffentlich entschuldigen, der Oberst hat mir stets viel Freundlichkeit erwiesen.“

„Du warst ja immer sein besonderer Günstling,“ mischte sich Hans ein. „Als er nach Beendigung des dänischen Krieges zurückkam, hat er den Papa eigens aufgesucht, um ihm zu dem Besitz dieses ausgezeichneten Sohnes zu gratuliren. Ich war damals wüthend, denn ich bekam wochenlang nichts weiter zu hören, als Loblieder auf Dich, mit sehr bedenklichen Seitenblicken auf meine Wenigkeit, Deine Heldenthaten waren mir im höchsten Grade unbequem.“

„Zu Deinem Besitz hat mir allerdings noch Niemand gratulirt, am wenigsten während Deiner Universitätszeit,“ sagte Wehlau mit einiger Schärfe. „Uebrigens [482] haben wir Euch schon in der vergangenen Woche erwartet. Weßhalb seid Ihr so spat gekommen?“

„Michael’s wegen, dessen Urlaub sich verzögerte, weil er erst seine Leute von den Uebungen zurückführen mußte. Als ich ihn in der Garnison abholte, oder vielmehr abholen wollte, denn ich hatte Glück dabei -“

„Wie gewöhnlich!“ schaltete der Professor ein.

„Nun ja, ich hatte mich auf volle acht Tage in der langweiligen Provinzialstadt gefaßt gemacht und höre bei meiner Ankunft, daß sich Michael drei Meilen davon in dem höchst amüsanten Badeorte befindet, in dessen Umgegend manövrirt wurde. Natürlich fuhr ich schleunigst nach und segnete diese weise Verfügung der Militärbehörde. Der Herr Lieutenant steckte freilich bis über die Ohren im Diensteifer und war taub und blind für alles Andere, sogar für eine Bekanntschaft, um die ihn das gesammte Officierkorps beneidete, und mit der er gar nichts anzufangen wußte. Es war sonst nicht möglich, Zutritt bei der Gräfin Steinrück zu erlangen, da sie recht leidend war.“

Der Professor wurde aufmerksam bei dem Namen und sandte einen forschenden Blick zu Michael hinüber.

„Gräfin Steinrück?“

„Auf Berkheim! Du kennst sie ja, Papa, denn wie die Gräfin mir mittheilte, bist Du als junger Arzt vielfach im Hause, ihrer Schwiegereltern gewesen und auf ihre Bitte sogar an das Sterbebett ihres Gatten geeilt, sie ist Dir noch heute dankbar dafür.“

„Gewiß kenne ich sie, aber wie kamst Du denn zu der Bekanntschaft, Michael?“

„Durch Zufall,“ versetzte der Gefragte lakonisch.

„Seine Schuld war es allerdings nicht,“ spottete Hans, mit einer Unbefangenheit, die deutlich verrieth, daß er die Rolle nicht kannte, die der Name Steinrück in dem Leben Michael’s spielte. „Ich muß Dir die Geschichte ausführlich erzählen, Papa, sie fängt hochromantisch an. Also, Michael sitzt im Walde – das heißt eigentlich hält er dort und kommandirt seine Leute – und läßt lustig drauf losschießen. Da kommt ein Wagen die Chaussee entlang, die in einiger Entfernung vorbeiführt. Die Pferde werden scheu bei dem Lärm der Schüsse, sie gehen durch, der Kutscher verliert die Zügel und die Gefahr ist unabwendbar, da stürmt der Ritter und Retter aus dem Waldesdunkel herbei, bändigt die Thiere, hält den Wagen auf, trägt die ohnmächtigen Damen heraus –“

„Bleib’ bei der Wahrheit, Hans!“ fiel der junge Officier unmuthig ein. „Weder die Gefahr noch die Heldenthat waren so groß, als es Dir beliebt, sie zu schildern. Ich sah allerdings, daß die Pferde scheu wurden, und sprengte heran, um ein Unglück zu verhüten, aber die Thiere standen sofort, als ich ihnen in die Zügel fiel, und die Damen blieben ruhig im Wagen. Du mußt Alles in das Poetische hinaufschrauben.“

„Und Du ziehst Alles in die Nüchternheit herab,“ gab Hans ärgerlich zurück. „Ich habe die Geschichte aus dem eigenen Munde der Gräfin, die hartnäckig darauf besteht, in Dir ihren Lebensretter zu sehen, was Du eben so hartnäckig leugnest.“

Michael zuckte die Achseln und wandte sich an den Professor.

„Die Gräfin behauptete das in der That, und da das Haus, in dem ich wohnte, dicht neben ihrer Villa lag, so ließ sich ein öfteres Zusammentreffen nicht vermeiden. Ich war aber sehr von dem Dienst in Anspruch genommen und hatte wenig Zeit übrig.“

„Ja, er hatte immer und ewig Dienst!“ rief Hans entrüstet. „Man bekam ihn schließlich gar nicht mehr zu Gesichte. Ich erreichte es nur mit Mühe, daß er mich überhaupt vorstellte, und dann ging er wieder davon, und überließ es mir, sein unverantwortliches Benehmen wieder gut zu machen. Die Damen kamen ihm mit der größten Liebenswürdigkeit entgegen, aber er blieb wie ein Eiszapfen!“

„Michael wird wohl seine Gründe gehabt haben,“ sagte Wehlau kühl. „Und wenn er die Zurückhaltung für geboten hielt, so hättest Du seinem Beispiele folgen sollen.“

„Nein, das war schlechterdings nicht möglich, dazu war die junge Gräfin zu schön. Eine Gestalt, wie aus einem unserer Feenmärchen, prachtvolles, goldblondes Haar, Augen, die wie Sterne glänzen! Sie können berücken, diese Augen.“

„Und verhöhnen!“ ergänzte Michael in einem Tone, dessen Kälte seltsam mit dem Enthusiasmus seines Freundes kontrastirte. „Hüte Dich vor ihnen, Hans, es ist ein trauriges Schicksal, erst verlockt und dann verlacht zu werden.“

„Du meinst, weil Gräfin Hertha für sehr hochmüthig gilt? Ich glaube allerdings auch, däß ein Sterblicher, der nicht mindestens sechzehn Ahnen zählt, sich einen empfindlichen Korb holen würde, wenn er die Kühnheit haben sollte, um sie zu werben. Da ich aber nicht nach dieser Ehre geize, so stört das meine Bewunderung durchaus nicht. Und wenn ich mich von diesen Augen wirklich verlocken lasse –“

„Das wirst Du bleiben lassen!“ schnitt ihm der Vater mit vollem Nachdruck das Wort ab. „Du hast Dich jetzt weder um Feenmärchen noch um Sternenaugen zu kümmern – dergleichen Unsinn verbitte ich mir überhaupt – sondern einzig und allein um Deine bevorstehende Dissertation.“

Die beiden jungen Männer wechselten einen raschen, etwas eigenthümlichen Blick mit einander, dann sagte Michael mit leichtem Spott:

„Sei ohne Sorge, Onkel. Wenn Hans auch wirklich Feuer gefangen haben sollte, dergleichen hat bei ihm keine Gefahr – es kommt zu oft vor.“

„Ja, er hat bisher nur Kindereien und Thorheiten getrieben, aber jetzt wird er die Güte haben und sich zum Ernst bequemen. Ich habe mich für heute Vormittag frei gemacht, und nun wollen wir endlich einmal eingehend über Deine Studien sprechen, Hans. Der Ueberblick, den Du mir bei den Ferienbesuchen gabst, ist doch immer nur ein flüchtiger gewesen, ich wünsche jetzt Näheres zu hören.“

Wieder wechselten die Beiden jenen Blick, der auf ein geheimes Einverständniß zu deuten schien, der Professor aber erhob sich und sagte flüchtig:

„Ich will nur noch der Leni einschärfen, daß sie die heutige Postsendung pünktlich besorgt. Ich komme sogleich zurück.“ Damit ging er hinaus.

Hans sah ihm nach, schlug die Arme über einander und sagte halblaut:

„Jetzt wird die Bombe platzen!“

„Nimm die Sache nicht so leicht,“ warnte Michael. „Du hast jedenfalls einen harten Kampf zu bestehen, der Onkel wird außer sich sein.“

„Das weiß ich, deßhalb bin ich auch gewappnet und gerüstet. Du willst doch nicht etwa fort? Das geht nicht, ich kann die Reserven nicht entbehren bei der bevorstehenden Schlacht. Wenn es gar zu heiß hergeht, ziehe ich Dich als Hilfskorps heran. Thu’ mir den Gefallen und bleibe.“

„Ich bin froh, daß die Heimlichkeit ein Ende nimmt,“ sagte der junge Officier unmuthig, indem er sich in die Fensternische zurückzog. „Ich hatte Dir mein Wort gegeben, zu schweigen, aber es ist mir schwer genug geworden, schwerer als Dir.“

„Pah, ich wußte mir nicht anders zu helfen. Bei Euch Soldaten gilt auch die Kriegslist für erlaubt. Still, da kommt der Papa zurück – jetzt zur Attacke!“

Der Professor kehrte in der That zurück und nahm behaglich in seinem Lehnstuhl Platz, während er seinen Sohn zu sich heranwinkte.

„Du bist jedenfalls in guten Händen gewesen,“ begann er. „Mein Kollege Bauer ist eine Autorität in unserem Fach und steht gänzlich auf meinem Standpunkte. Das war auch der Grund, weßhalb ich Deinen Bitten nachgab und Dich noch auf zwei Jahre nach B. schickte. Ich fürchte allerdings, daß es Dir in erster Linie um das lustige Studentenleben dort zu thun war, ich hielt es aber trotzdem für gut, wenn Du Deine Studien unters einer anderen Leitung fortsetztest, die Grundlage dazu hast Du ja doch von mir empfangen. Nun laß hören!“

Dem jungen Manne schien es doch etwas heiß zu werden bei dieser Einleitung, er drehte verlegen sein zierliches Schnurrbärtchen und stotterte ein wenig bei der Antwort:

„Ja, Professor Bauer – ich habe seine Vorlesungen besucht – sehr regelmäßig sogar.“

„Selbstverständlich! Ich hatte Dich ja hauptsächlich an ihn empfohlen.“

„Aber gelernt habe ich gar nichts bei ihm, Papa.“

Wehlau runzelte die Stirn und sagte zurechtweisend:

„Hans, es ist unpassend, einen verdienstvollen Gelehrten in dieser Weise zu kritisiren. Sein Vortrag läßt allerdings Manches zu wünschen übrig, aber seine Leistungen sind sehr bedeutend.“

[483] „Mein Gott, ich spreche ja nicht von den Leistungen des Herrn Professors, sondern von meinen eigenen, und die waren leider gar nicht bedeutend. Ich fühlte das selbst und deßhalb – habe ich mir eine kleine Aenderung im Studium erlaubt.“

„Gegen meine ausdrückliche Weisung? Ich hatte Dir Deinen Studiengang doch genau vorgeschrieben. Zu wem hast Du Dich denn eigentlich gehalten?“

Hans zögerte mit der Antwort und warf einen Blick nach der Fensternische, wo seine „Reserve“ stand, dann entgegnete er etwas gepreßt:

„Zu – dem Professor Walter.“

„Walter? Wer ist das? Ich kenne den Namen gar nicht.“

„Doch, Papa, Du hast sicher schon von Friedrich Walter gehört. Er hat ja einen weltberühmten Namen als Künstler.“

„Als was?“ fragte der Professor, der nicht recht gehört zu haben glaubte.

„Als Künstler, und das war auch der Grund, weßhalb ich nach B. wollte. Meister Walter lebt dort und würdigte mich des Vorzuges, in sein Atelier aufgenommen zu werden. Ich habe nämlich nicht die Naturwissenschaften studirt – ich bin Maler geworden!“

Jetzt war es heraus! Wehlau fuhr in die Höhe und starrte fast sprachlos seinen Sohn an.

„Junge, bist Du toll geworden?“ rief er, aber Hans, der sehr gut wußte, daß sein einziger Erfolg darin bestand, den Vater überhaupt nicht zu Worte kommen zu lassen, sprach schleunigst weiter.

„Ich bin sehr fleißig gewesen in den zwei Jahren, außerordentlich fleißig. Mein Lehrer wird es Dir bestätigen, er meint, daß ich jetzt auf eigenen Füßen stehen könne, und er sagte mir noch beim Abschiede: ‚Es wird Ihrem Herrn Papa sicher Freude machen, wenn er Ihre Leistungen sieht, berufen Sie sich nur auf mich.‘“

Er brachte das Alles mit unendlicher Geläufigkeit hervor, und die Rede floß wie Honigseim von seinen Lippen, aber das half ihm jetzt nichts mehr, der Professor hatte endlich begriffen, daß es mit der „kleinen Aenderung des Studiums“ Ernst sei, und nun brach er los.

„Und das wagst Du mir zu bieten! Du hast Dich unterstanden, heimlich, hinter meinem Rücken eine derartige Komödie zu spielen, meinem Verbote zu trotzen, meinen Willen zu verhöhnen, und bildest Dir jetzt ein, ich würde mich dieser sogenannten Thatsache beugen und Ja und Amen dazu sagen – da bist Du denn doch sehr im Irrthum.“

Hans ließ den Kopf hängen und nahm eine äußerst zerknirschte Miene an.

„Sei nicht so hart, Papa! Die Kunst ist nun einmal mein Ideal, die Poesie meines Lebens, und wenn Du wüßtest, was für Gewissensbisse ich mir schon gemacht habe wegen meines Ungehorsams!“

„Du siehst mir gerade nach Gewissensbissen aus!“ rief der Professor, der immer wüthender wurde. „Ideale – Poesie – da haben wir schon wieder die verwünschte Geschichte! Die Schlagworte, die allen Unsinn decken müssen, den die Menschen begehen. Aber bilde Dir nur nicht ein, daß Du diesen Unsinn wirklich bei mir durchsetzen kannst. Was Du auch da für Allotria getrieben haben magst, jetzt kommst Du nach Hause zurück, und jetzt nehme ich Dich in die Schule. Du wirst zunächst Dein Doktorexamen machen, hörst Du? Ich befehle es Dir!“

„Ich habe aber gar nichts gelernt,“ erklärte Hans mit einem förmlichen Triumphe. „Ich habe in den Vorlesungen nur die Herren Professoren und das Auditorium skizzirt oder karikirt, wie es gerade kam, und was Du mir von Gelehrsamkeit eintrichtertest, das habe ich längst wieder vergessen, damit bringe ich nicht drei Seiten der Dissertationsschrift zu Stande, und Du kannst mich doch nicht noch einmal auf die Universität schicken.“

„Du rühmst Dich ja förmlich Deiner Unwissenheit,“ sagte Wehlau schneidend, „und den unerhörten Betrug, den Du mir gespielt hast, rechnest Du Dir wohl auch als eine Heldenthat an?“

„Nein, aber als eine Nothwehr, zu der ich erst griff, als jedes andere Mittel versagte. Wie habe ich damals gebeten und gefleht, um Dich zur Nachgiebigkeit zu bewegen, es war Alles umsonst! Ich sollte mein Talent, meine ganze Zukunft einem Berufe opfern, für den ich nicht tauge und in dem ich nie etwas leisten würde. Du versagtest mir die Mittel zur künstlerischen Ausbildung und dachtest mich damit zu zwingen. Als ich Dir sagte: Ich will Maler werden, setztest Du mir ein unerbittliches Nein entgegen, jetzt sage ich Dir: ich bin Maler geworden! und dazu wirst Du Ja sagen müssen.“

„Das wird sich zeigen!“ brauste Wehlau von Neuem auf. „Ich will doch sehen, ob ich meinen eigenen Sohn nicht meistern kann. In meinem Hause bin ich Herr, da dulde ich keine Rebellion, und wer sich gegen meinen Willen auflehnt, der hat dies Haus fortan zu meiden.“

Der junge Mann erbleichte denn doch bei dieser Drohung, er trat dicht vor den Vater hin, und seine Stimme klang bittend, aber zugleich tief ernst.

„Papa, laß es nicht so weit kommen zwischen uns. Ich bin nun einmal anders geartet als Du, ich habe von jeher ein Grauen gehabt vor Deiner hohen, kalten Wissenschaft, die das Leben so klar macht und so – öde! Du begreifst nicht, daß es noch eine andere Welt, daß es noch eine Jugend giebt, der diese Welt so nothwendig ist, wie die Luft zum Athmen. Du zwingst der Natur unerbittlich ihre Geheimnisse ab, Alles, was darin lebt und webt, muß sich Deinen Regeln und Systemen fügen, von jedem Geschöpf kennst Du das Werden und Vergehen. Aber Deinen eigenen Buben, den kennst Du nicht, und den zwingst Du auch nicht in eines Deiner Systeme. Der hat sich das Bischen Ideal und Poesie noch glücklich gerettet und geht damit seinen eigenen Weg – und er wird Dir auch auf diesem Wege keine Schande machen!“

Damit wandte er sich um und schritt nach der Thür, der Professor aber war keineswegs gewillt, die Unterredung so zu beendigen, er rief ihm zornig nach: „Hans, Du bleibst! Du kommst auf der Stelle zurück!“

Hans fand es jedoch für gut, den Befehl zu überhören, er sah, daß sein „Hilfskorps“ jetzt heran rückte, und überließ es diesem, ihm den Rückzug zu decken, was denn auch geschah.

„Laß ihn gehen, Onkel,“ sagte Michael, der schon während der letzten Minuten hervorgetreten war und jetzt den erzürnten Mann zu beschwichtigen suchte. „Du bist jetzt zu gereizt, werde erst ruhiger.“

Die Mahnung blieb fruchtlos. Wehlau dachte gar nicht daran, sich zu beruhigen, und da der ungehorsame Sohn ihm nicht mehr erreichbar war, so wandte er sich gegen dessen Fürsprecher.

„Und Du bist auch mit im Komplott gewesen! Du hast um die ganze saubere Geschichte gewußt, leugne es nur nicht. Hans verschweigt Dir ja nichts. Ihr hängt ja zusammen wie die Kletteu. Warum hast Du geschwiegen?“

„Weil ich mein Wort gegeben hatte und das nicht brechen durfte, wenn ich auch mit der Heimlichkeit nicht einverstanden war.“

„So hättest Du auf eigene Hand eingreifen und Hans zur Vernunft bringen müssen.“

„Auch das konnte ich nicht, denn er ist in seinem Rechte.“

„Was? Fängst Du auch noch an?“ schrie der Professor, indem er ihm drohend auf den Leib rückte, aber Michael hielt Stand und wiederholte fest:

„Ja, Onkel, in seinem vollen Rechte! Ich hätte mir auch keinen Beruf aufzwingen lassen, den ich nicht mag und für den ich nicht tauge. Ich hätte allerdings offener und eben deßhalb schwerer gekämpft als Hans, der dem Kampfe einfach aus dem Wege ging. Von dem Tage an, wo Du ihn zu dem Studium zwangst, und er sich scheinbar fügte, hat er auch angefangen, seine Vorstudien in der Malerei zu machen, aber er sah schließlich die Unmöglichkeit ein, seine künstlerische Ausbildung unter Deinen Augen zu vollenden, deßhalb ging er nach B. Er muß dort wohl Tüchtiges geleistet haben, denn wenn ein Mann wie Professor Walter ihm das Zeugniß künstlerischer Reife giebt, so hat er sie, daran darfst Du nicht zweifeln.“

„Schweig!“ grollte der Professor, „ich will nichts hören. Ich sage nein und nochmals nein, und – kommst Du mir auch noch mit Deinem Triumphe? Du bist wohl auch mit im Komplott gewesen?“

Die letzten Worte waren an die Frau Bürgermeisterin gerichtet, die ganz harmlos zurückkehrte, um das vergessene Schlüsselkörbchen zu holen, und sehr verwundert war ob dieses grimmigen Empfanges.

„Was hast Du denn?“ fragte sie. „Was ist vorgefallen?“

[484] „Vorgefallen? Nichts ist vorgefallen! Nur eine ganz kleine Aenderung im Studium, wie mein Herr Sohn sich auszudrücken beliebt. Aber wehe dem Jungen, wenn er mir wieder vor die Augen kommt, er soll mich kennen lernen!“

Damit ging Wehlau stürmisch in das Nebenzimmer und schlug die Thür hinter sich zu, während seine Schwägerin sich jetzt wirklich erschreckt an Michael wandte.

„Aber in des Himmels Namen, was ist denn eigentlich geschehen?“

„Eine Katastrophe! Hans hat dem Vater ein Geständniß gemacht, mit dem er nicht länger zurückhalten konnte. Er hat nicht studirt, sondern die Universitätszeit dazu benutzt, sich zum Künstler auszubilden. Aber verzeih, Tante, ich muß ihm nach, es ist wirklich nicht gut, wenn er dem Vater jetzt vor die Augen kommt.“

Damit verließ auch Michael eiligst das Zimmer, die Frau Bürgermeisterin stand einige Minuten lang starr, wie eine Salzsäule, dann aber verklärte sich ihr Gesicht förmlich und mit dem Ausdruck der tiefsten Genugthuung sagte sie:

„Da hat er dem unfehlbaren Herrn Professor eine Nase gedreht und was für eine! Der Goldbub’ der!“

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 29, S. 501–504
Novelle – Teil 6

[501] Elmsdorf, die Besitzung des Herrn von Reval, lag nicht allzuweit von der Stadt entfernt. Es war kein altes Bergschloß, mit Wald- und Jagdrevier und einer historischen Vergangenheit wie Steinrück, sondern ein moderner, freundlicher Wohnsitz, den seine schöne Lage zu einem sehr angenehmen Sommeraufenthalt machte. Das Haus, eine geräumige Villa mit Balkon und Terrassen, war von einem nicht großen, aber vorzüglich angelegten Park umgeben und die innere Einrichtung zeugte, ohne grade glänzend zu sein, von dem Geschmack und dem Reichthum der Bewohner.

Oberst Reval hatte vor drei Jahren seinen Abschied genommen, in Folge einer Verwundung, die er im letzten Kriege erhalten. Seitdem lebte er mit seiner Gemahlin im Winter in der Hauptstadt und im Sommer regelmäßig in Elmsdorf, das er aus einem einfachen Landgute zu einem höchst behaglichen Wohnsitz umgeschaffen hatte.

Michael Rodenberg, der in dem Regimente des Obersten diente und später sein Adjutant gewesen war, hatte sich von jeher einer besonderen Auszeichnung von Seiten seines Chefs erfreut, und selbst nachdem dieser den Dienst quittirt hatte, gab er dem jungen Officier noch vielfache Beweise seines Wohlwollens.

In Elmsdorf fand heute eine größere Festlichkeit statt. Man feierte den Geburtstag der Frau von Reval, und da das reiche, gastfreie Haus vielfache Beziehung in der Umgegend hatte, so war die Gesellschaft auch sehr zahlreich. Michael’s Erscheinen verstand sich von selbst, aber auch Professor Wehlau und Hans hatten Einladungen erhalten. Leider mußte man darauf verzichten, den berühmten Gelehrten unter den Gästen zu sehen. Er entschuldigte sich mit Unwohlsein, in Wahrheit aber verspürte er keine Lust, jetzt in Gesellschaft zu gehen, wo die Eigenmächtigkeit seines Sohnes ihn noch immer mit Empörung erfüllte und seine Stimmung in höchst bedenklicher Weise beeinflußte. Die beiden jungen Männer waren daher allein nach Elmsdorf gefahren.

In den lichtstrahlenden Räumen der Villa empfingen Herr und Frau von Reval ihre Gäste mit jener Liebenswürdigkeit, die ihr Haus zum Mittelpunkt der dortigen Geselligkeit machte. Hans Wehlau rechtfertigte auch hier die Behauptung seines Vaters, daß er ein Glückskind sei, dem sich überall Thüren und Herzen öffneten, ohne daß er sich besondere Mühe darum gab. Er war der Dame des Hauses kaum vorgestellt worden, als er auch schon ihre Gunst erobert hatte, alle Welt fand ihn liebenswürdig, und er bewegte sich auf dem ihm völlig fremden Boden mit einer Leichtigkeit und Sicherheit, als ob er von jeher dort verkehrt hätte.

Um so fremder fühlte sich Michael, der weder die Neigung noch die Fähigkeit besaß, so leicht und schnell Beziehungen anzuknüpfen. Auch er kannte, mit Ausnahme des Oberst und seiner Frau, Niemand in der Gesellschaft, und die flüchtigen Vorstellungen der verschiedensten Persönlichkeiten und die noch flüchtigeren Gespräche, die sich daran knüpften, interessirten ihn wenig. Das glänzende, heitere Treiben, in dem Hans schwamm und plätscherte, wie der Fisch [502] im Wasser, vermochte seinem ernsten ungeselligen Freunde nur eine vorübergehende Aufmerksamkeit abzugewinnen; er war mehr Beobachter als Theilnehmer dabei.

Auf seiner Wanderung durch die verschiedenen Gemächer gelangte er endlich in das Gewächshaus, das die Gesellschaftsräume abschloß und durch Palmen, Lorbeerbäume und Blumengruppen zu einem stillen, lauschigen Ruheplatze umgeschaffen war.

Hier war es kühl und einsam, und der junge Officier fühlte keine Neigung, sofort wieder in die heißen Zimmer zurückzukehren, wo ihn Niemand vermißte. Langsam ging er von einer Pflanzengruppe zur andern, bis er in seinen Betrachtungen durch den Eintritt des Oberst Reval gestört wurde.

„Wieder so ungesellig, Lieutenant Rodenberg?“ fragte dieser, halb scherzend, halb vorwurfsvoll. „Sie sind ein schlimmer Gast bei unserem Feste. Was machen Sie denn hier in dem einsamen Gewächshause?“

„Ich bin soeben erst eingetreten,“ entschuldigte sich Michael, „und überdies bin ich so fremd in der Gesellschaft –“

„Ein Grund mehr, sich bekannt zu machen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem jungen Freunde, der schwimmt bereits mit vollen Segeln auf dem Strome der Geselligkeit. Ich vermisse Sie schon eine ganze Zeit lang im Saale, ich wollte Sie dem Grafen Steinrück vorstellen. Sie kennen ihn doch noch nicht?“

„Den kommandirenden General – nein!“

„Er ist soeben erst gekommen, und Sie werden sich später jedenfalls noch dienstlich bei ihm melden müssen. Der General ist äußerst einflußreich, allerdings auch sehr gefürchtet wegen seiner eisernen Strenge im Dienste. Er schont darin Niemand, am wenigsten freilich sich selbst, obschon er bereits im Anfange der Siebzig steht, aber der Begriff des Alters scheint für ihn nicht da zu sein.“

Michael hörte schweigend zu, er wußte bereits, daß der Graf sich in Steinrück befand, und mußte auf eine Begegnung gefaßt sein, die ihm bisher erspart geblieben war, die aber in Zukunft nicht vermieden werden konnte, denn er mußte sich allerdings später bei dem kommandirenden General melden.

„Wir hofften auch den jungen Grafen zu sehen,“ fuhr Reval fort, „aber wir hören soeben, daß er erst morgen Abend eintrifft. Schade! Sie hätten da eine interessante Bekanntschaft gemacht.“

„Sie meinen den Sohn des Generals, Herr Oberst?“

„Nein, der ist schon seit Jahren todt, ich meine den Enkel, Graf Raoul. Er ist wirklich eine der schönsten Männergestalten, die ich je gesehen habe! Immer voran bei allen Tollheiten, immer den Kopf voll von genialen Ideen und dabei von einer so hinreißenden Liebenswürdigkeit, daß er im Sturm Alles gewinnt. Er ist in der That eine ungewöhnlich begabte Natur, aber auch ein Tollkopf, der seinem Großvater noch zu schaffen machen wird, wenn dieser ihn nicht bei Zeiten bändigt.“

„Wie es scheint, ist General Steinrück der Mann dazu,“ warf Michael hin.

„Das glaube ich auch! Graf Raoul fürchtet sonst weder Tod noch Teufel, aber vor seinem Großvater hat er einen heillosen Respekt, und wenn Seine Excellenz einen Ukas erläßt – was, unter uns gesagt, ziemlich oft nothwendig ist – bequemt er sich regelmäßig zum Gehorsam.“

Ein leises Rauschen, wie von seidenen Frauengewändern, ließ sich hinter den beiden Herren vernehmen, die dem Eingange den Rücken zukehrten; sie wandten sich um, und in demselben Augenblicke trat der junge Officier so jäh und hastig zurück, daß der Oberst ihn befremdet anblickte.

Es waren zwei Damen eingetreten; die ältere, eine zarte, blasse und kränkliche Erscheinung, in gewählter, aber dunkler Toilette, schien den Ruhesitz aufsuchen zu wollen, der sich unter einer Palmengruppe am Ende des Gewächshauses befand: die jüngere stand noch auf den Stufen, die hinabführten, hell beleuchtet von dem Schein einer Ampel, die sich gerade über ihrem Haupte befand.

Hans Wehlau hatte Recht mit seiner enthusiastischen Bemerkung, es war eine Gestalt wie aus einem Feenmärchen, hoch und schlank, mit einem Antlitz von seltsam berückender Schönheit und großen, strahlenden Augen, die wie Sterne glänzten und deren Farbe sich doch nicht errathen ließ, weil sie in dem einen Momente tiefdunkel erschienen und in dem andern leuchtend hell. Die rothen Locken, die einst über die Schultern des Kindes fielen, waren freilich verschwunden; auf den reichen, goldblonden Flechten ruhte jetzt nur noch ein leichter, röthlicher Schimmer und wetteiferte mit dem matten Glanz der Perlenschnüre, die sich durch das Haar schlangen, und doch gleißte es in diesem Augenblicke, wo das Licht der Ampel darauf niederfloß, wie das „rothe Gold“ in den alten Märchenschätzen. Das bläulich schillernde Seidengewand verschwand fast unter einer Wolke von Spitzen, die von einzelnen Blumen gehalten wurde, und dazwischen funkelten Juwelen – die ganze Erscheinung war wie aus Duft und Glanz gewoben.

„Ah, Frau Gräfin Steinrück!“ rief der Oberst, indem er zu der älteren Dame eilte und der sichtbar Erschöpften den Arm bot. „Es war wohl zu heiß im Saale? Ich fürchte, Sie haben uns ein Opfer gebracht mit Ihrem Erscheinen.“

„Es ist nur Ermüdung, nichts weiter,“ versicherte die Gräfin, während er sie zu dem Sitze geleitete. „Sieh da, Lieutenant Rodenberg!“

Michael verneigte sich; jetzt rauschte auch das blaue Seidenkleid über den Boden, und Gräfin Hertha trat an die Seite ihrer Mutter.

„Mama ist allerdings etwas angegriffen,“ sagte sie, „deßhalb haben wir den Saal verlassen. Hier, wo es kühl und still ist, wird sie sich bald erholen.“

„Dann wäre es wohl am besten –“ Michael blickte den Oberst an und machte eine Bewegung nach der Thür, aber die Gräfin fiel mit gewinnender Liebenswürdigkeit ein:

„O nicht doch! Nur die Hitze und das Gewühl greifen mich an. Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Lieutenant Rodenberg.“

Der Oberst schien erstaunt, daß der junge Officier den Damen bekannt war, und machte eine Bemerkung darüber, was die Gräfin veranlaßte, ihm die Geschichte dieser Bekanntschaft zu erzählen. Sie bestand darauf, daß Michael durch sein rasches Eingreifen ihr und ihrer Tochter das Leben gerettet habe. Er protestirte dagegen.

Gräfin Hertha nahm keinen Antheil an dem Gespräche, das bald lebhafter wurde, sondern wandte ihre ganze Aufmerksamkeit den Blumen zu. Langsam glitt sie durch das Gewächshaus, das nur von dem gedämpften Lichte zweier Ampeln erhellt wurde; ihre Bewegungen hatten etwas ungemein Anmuthiges; aber in dem Wesen der jungen Dame selbst lag nichts von der halb schüchternen, halb unbefangenen Anmuth des Mädchenalters. Sie zeigte mit ihren neunzehn Jahren schon die volle Sicherheit der Weltdame, das ganze Selbstbewußtsein der reichen Erbin und wußte ohne Zweifel sehr genau, daß sie schön sei. Jetzt stand sie vor einer Gruppe ausländischer Pflanzen und fragte, den Kopf wendend, in gleichgültigem Tone:

„Kennen Sie vielleicht diese Blume, Herr Lieutenant? Es sind fremdartige wundervolle Blüthen, und ich gestehe, daß meine botanischen Kenntnisse mich hier im Stiche lassen.“

Michael mußte nothgedrungen nach der anderen Seite des Gewächshauses kommen, und er that dies in ziemlich gemessener Weise, aber es lag eine leichte Blässe auf seinem Gesicht, als er die geforderte Auskunft gab.

„Es scheint eine Dionäa zu sein, eine von jenen mörderischen Blüthen, die sich schließen, wenn ein Insekt ihre Blätter berührt, und dem Gefangenen dann den Tod geben.“

Um die Lippen der jungen Dame spielte ein halb mitleidiges, halb verächtliches Lächeln.

„Das arme Ding! Und doch muß es schön sein, so im berauschenden Duft zu sterben – meinen Sie nicht?“

„Nein! Schön ist nur der Tod in der Freiheit; über die Gefangenschaft kann kein Rausch hinwegtäuschen.“

Die Antwort klang beinahe schroff, und Hertha preßte einen Augenblick lang die Lippen zusammen, dann aber ließ sie den Gegenstand des Gespräches fallen und sagte mit leisem Spott:

„Ich sehe mit Vergnügen, daß Sie hier nicht so gänzlich durch den ‚Dienst‘ in Anspruch genommen sind, wie damals im Bade; dort blieb Ihnen nie Zeit zu irgend einer Geselligkeit.“

„Wir waren dort mitten in den Uebungen, hier bin ich auf Urlaub.“

„Als Gast des Oberst Reval vielleicht?“

„Nein.“

„Ich wußte gar nicht, daß Sie hier in der Gegend Beziehungen hatten. Sie sind also –?“

„Bei Verwandten.“

[503] Die Spitze des kleinen Fußes in dem blauen Atlasschuh schlug ungeduldig gegen den Boden.

„Der Name scheint Staatsgeheimniß zu sein, da Sie ihn so beharrlich verschweigen.“

„Durchaus nicht, ich habe nicht den mindesten Grund dazu. Ich bin als Gast in Tannberg, bei den dortigen Verwandten des Professors Wehlau.“

Hertha schien überrascht zu sein, sie spielte anscheinend zerstreut mit einer Rose, die sie vorhin abgebrochen hatte, aber ihre Augen hafteten auf dem Gesichte des jungen Officiers.

„Ah, die kleine Bergstadt, die ganz in der Nähe von Steinrück liegt! Wir denken auch einige Wochen auf dem Schlosse zuzubringen.“

Ein schnelles, blitzähnliches Aufleuchten flog über Michael’s Züge, es kam und ging in einem Moment, im nächsten war es schon wieder verschwunden, und er erwiderte in kühlem Tone:

„Die Herbstzeit ist allerdings sehr schön in den Bergen.“

Diesmal wurde die junge Gräfin nicht ungeduldig, vielleicht war ihr jenes Aufleuchten nicht entgangen, denn sie lächelte, während sie in ihrem Spiel mit der Blume fortfuhr.

„Wir werden Sie trotz dieser Nähe schwerlich zu Gesicht bekommen,“ sagte sie spottend. „Ich vermuthe, daß Sie auch hier irgendwo ,Dienst’ haben.“

„Sie scherzen, Gräfin Steinrück.“

„Ich spreche im vollen Ernste. Auch heute erfuhren wir erst durch Herrn Wehlau von Ihrer Anwesenheit. Sie hatten sich natürlich sofort unsichtbar gemacht und waren jedenfalls in irgend ein strategisches Gespräch mit dem Oberst vertieft, als wir eintraten. Wir bedauern sehr, gestört zu haben, man sah ja, wie unangenehm es Ihnen war.“

„Sie sind gänzlich im Irrthum, ich war sehr erfreut, die Damen wiederzusehen.“

„Und doch erschraken Sie bei unserem Anblick?“

Michael sah auf, und ein finsterer, fast drohender Blick traf die junge Dame, die ihn so erbarmungslos in die Enge trieb, aber seine Stimme klang völlig beherrscht, als er antwortete:

„Ich war nur überrascht, da ich wußte, daß die Frau Gräfin nach beendigter Badekur direkt nach Berkheim zurückzukehren beabsichtigte.“

„Wir haben unseren Plan geändert, auf besonderen Wunsch meines Onkels Steinrück, und überdies empfahl der Arzt noch einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in der stärkenden Bergluft. Werden wir Sie wirklich nicht im Schlosse sehen? Es würde meine Mutter freuen und – mich auch.“

Ihre Stimme klang gedämpft, aber schmeichelnd süß bei den letzten Worten, sie stand dicht vor ihm, halb im Schatten und doch schöner noch als vorhin, wo das Licht auf sie niederfloß, umweht von dem Blumenduft, der ringsum aus den Kelchen emporstieg. Leise rauschte die schimmernde Seide ihres Gewandes und die Spitzenwolke streifte fast den Arm des jungen Officiers, der noch bleicher war als vorhin. Einige Sekunden lang schien er nach Athem zu ringen, dann verneigte er sich tief und förmlich und sagte: „Es wird mir eine große Ehre sein.“

Trotz des Versprechens mußte etwas in seinem Tone liegen, was der jungen Gräfin verrieth, er werde nicht kommen, denn in ihre Augen trat wieder jener seltsam schillernde Glanz, der ihnen für einen Augenblick all ihre Schönheit nahm, aber sie neigte wie zustimmend das Haupt und wandte sich, um zu ihrer Mutter zurückzukehren. Dabei entglitt – ganz zufällig – die Rose ihren Fingern und blieb auf dem Boden liegen, ohne daß sie es zu bemerken schien.

Michael verharrte an seinem Platze, aber ein heißer, verlangender Blick fiel auf die Blume, die eben noch in jener Hand geruht hatte. Die zarte, halb erschlossene Knospe lag zu seinen Füßen, rosig und duftig, und dicht vor ihm schimmerten die Blüthen der Dionäa, die ihrem Gefangenen den Tod geben – im berauschenden Duft!

Die Hand des jungen Officiers zuckte unwillkürlich nach der Erde, und ein rascher Blick glitt zu der plaudernden Gruppe hinüber, ob man dort seine Bewegung bemerkte. Da sah er zwei Augen auf sich gerichtet, erwartungsvoll, triumphirend, er mußte sich ja beugen! Aber in demselben Augenblick richtete er sich hoch und fest empor und setzte vorwärts schreitend den Fuß auf die Rose; die zarte Blume starb unter seinem Tritt.

Gräfin Hertha gebrauchte ihren Fächer so heftig, als sei es auf einmal erstickend heiß geworden, Oberst Reval aber, der soeben das Gespräch beendigt hatte, sagte jetzt:

„Nun wollen wir aber endlich der Frau Gräfin Ruhe gönnen, damit sie sich völlig erholt. Kommen Sie, lieber Rodenberg.“

Sie verabschiedeten sich von den Damen und kehrten in die Gesellschaftszimmer zurück – aus dem kühlen, dufterfüllten Raum mit seinem traulichen Dämmerlicht in die heiße Lichtfluth des Saales, in das Wogen und Treiben der Gesellschaft. Und doch athmete Michael auf, als trete er aus einer schwülen, erstickenden Luft in das Freie.

Hans Wehlau, der in der That mit vollen Segeln auf dem Strome der Geselligkeit schwamm, erblickte kaum seinen Freund, als er sich auch schon seiner bemächtigte und ihn bei Seite zog.

„Hast Du die Gräfinnen Steinrück gesehen, unsere Bekanntschaft aus dem Bade? Sie sind hier.“

„Ich weiß es,“ versetzte Michael einsilbig. „Ich sprach sie soeben.“

„Wirklich? Wo hast Du denn gesteckt? Du langweilst Dich wohl wieder, wie gewöhnlich, wenn Du in Gesellschaft bist? Ich amüsire mich vortrefflich und bin bereits mit aller Welt bekannt geworden.“

„Auch wie gewöhnlich! Du mußt heut Deinen Vater mit vertreten; man will wenigstens den Sohn des berühmten Forschers kennen lernen, da er selbst –“

„Fängst Du auch damit an!“ unterbrach ihn Hans ärgerlich. „Mindestens zwanzig Mal bin ich heut in dieser Weise vorgestellt und ausgefragt worden, als Merkwürdigkeit Numero zwei, da die Merkwürdigkeit Numero eins fehlt. Man hat mir die Berühmtheit meines Vaters so oft zu kosten gegeben, daß ich schon ganz in Verzweiflung darüber gerathen bin.“

„Hans – wenn Dein Vater das hörte!“ sagte Michael vorwurfsvoll.

„Ja, ich kann mir nicht helfen! Jeder andere Mensch ist doch wenigstens eine Persönlichkeit, ein Ding an sich, irgend etwas Subjektives, ich bin der Sohn unseres berühmten – und so weiter! Und weiter bin ich gar nichts. Als solcher werde ich vorgestellt, behandelt, ausgezeichnet meinetwegen, aber es ist fürchterlich, immer und ewig als Relativ umherzulaufen.“

Der junge Officier lächelte flüchtig.

„Nun, Du bist ja auf dem Wege, das zu ändern; hoffentlich heißt es künftig: der berühmte Künstler Hans Wehlau, dessen Vater ja auch in der Wissenschaft – und so weiter.“

„In dem Falle werde ich allerdings meinem Papa seine Berühmtheit verzeihen. – Du hast also die Steinrück’schen Damen schon gesprochen? Das war eine Ueberraschnng, sie plötzlich hier auftauchen zu sehen, während wir sie längst in Berkheim glaubten! Die Gräfin Mutter hat mich, oder vielmehr uns Beide, mit der größten Liebenswürdigkeit nach dem Schlosse eingeladen, und ich habe natürlich angenommen. Wir werden doch gemeinschaftlich in Steinrück einen Besuch machen?“

„Nein, ich gehe nicht dorthin,“ sagte Michael kurz.

„Aber weßhalb denn nicht, in des Himmels Namen?“

„Weil ich keine Veranlassung und auch keine Lust habe, mich dem Steinrück’schen Kreise zu nähern; der Ton, der dort herrscht, ist bekannt genug. Als Bürgerlicher muß man fortwährend unter Waffen sein, wenn man sich in jener Gesellschaft behaupten will.“

„Nun, die Kriegsbereitschaft ist ja Dein Fach, da kannst Du sie gründlich studiren,“ spottete Hans. „Ich finde es übrigens sehr unbequem, fortwährend in Waffen zu starren, wie Du und mein Papa, der im Verkehr mit der Aristokratie auch immer und ewig seine Principien im Auge hat. Ich amüsire mich ohne all und jedes Princip, und den Damen gegenüber strecke ich nun vollends die Waffen. Sei vernünftig, Michael, und komm’ mit.“

„Nein!“

„Nun, so laß es bleiben! Wenn Du Dir etwas in Deinen Starrkopf gesetzt hast, ist nichts mit Dir anzufangen, das weiß ich längst; ich werde sicher nicht die Gelegenheit versäumen, dieser goldhaarigen Märchenfee, dieser Gräfin Hertha wieder zu nahen. Du hast es wohl gar nicht einmal bemerkt, wie hinreißend, wie bezaubernd sie heute ist, in dieser Wolke von Seide und Spitzen, das verkörperte Schönheitsideal!“

„Ich glaube allerdings, daß die Gräfin schön ist, aber –“

[504] „Das glaubst Du nur?“ fiel ihm Hans entrüstet in das Wort. „Wirklich? Und Du willst wohl gar noch kritisiren mit Deinem ‚Aber!‘? Höre, Michael, Du bist jetzt eine unbedingte Respektsperson für mich geworden und wirst mir von dem Papa so oft als Muster aufgestellt, daß mir Deine Vorzüglichkeit schon längst ein Dorn im Auge ist. Aber wenn es sich um Frauen und Frauenschönheit handelt, dann schweige gefälligst, davon verstehst Du rein gar nichts, da bleibst Du nach wie vor – der dumme Michel!“

Mit diesen halb lachend, halb ärgerlich gesprochenen Worten ließ er seinen Freund stehen und trat wieder zu einer der plaudernden Gruppen; Michael schritt allein weiter, aber es lag ein unendlich herber Ausdruck auf seinen Zügen.

Inzwischen stand drüben auf der andern Seite des Saales Oberst Reval im Gespräche mit dem Grafen Steinrück. Sie hatten sich in den kleinen Erker zurückgezogen, den eine nur halb zurückgeschlagene Portière von dem Salon trennte, und Reval sagte soeben: „Ich möchte Sie auf diesen jungen Officier aufmerksam machen, Excellenz. Sie werden sich bald überzeugen, daß er im vollsten Maße die Beachtung verdient.“

„Wenn Sie ihn so warm empfehlen, zweifle ich nicht daran,“ entgegnete Steinrück. „Sie sind sonst karg mit Ihrem Lobe. Er hat von Anfang an in Ihrem Regimente gedient?“

„Ja, und ich wurde zuerst im dänischen Kriege auf ihn aufmerksam. Damals nahm er als jüngster Lieutenant des Regimentes mit einer Hand voll Leuten eine Position, die bisher allen Angriffen getrotzt hatte und von der äußersten Wichtigkeit war, und die Art, wie er dies Wagestück ausführte, bewies ebenso viel Energie wie Geistesgegenwart. Im letzten Feldzuge war er mein Adjutant, und jetzt eben ist er auf Grund einer ganz vorzüglichen Leistung zum Generalstab kommandirt worden. Die Arbeit hat Ihnen vielleicht vorgelegen, Excellenz, sie betrifft einen Punkt, für den Sie erst kürzlich mit vollem Nachdruck eingetreten sind, und sie war mit dem Namen unterzeichnet.“

„Lieutenant Rodenberg, ich erinnere mich!“ sagte der General nachdenklich. Der Name berührte ihn noch immer peinlich, fiel ihm aber nicht auf, weil er mehrfach in der Armee vorkam. Es gab einen Oberst Rodenberg, dessen drei Söhne gleichfalls dienten, und der Graf nahm mit voller Bestimmtheit an, daß es sich um einen dieser jungen Officiere handelte, so daß er es für überflüssig hielt, noch eine Frage in dieser Richtung zu thun.

„Ich kenne die Arbeit allerdings,“ fuhr er fort. „Sie bekundet eine ungewöhnliche Begabung und hätte dem Verfasser meine Beachtung gesichert selbst ohne Ihre warme Fürsprache, und da Sie ihm auch in Bezug auf den gewöhnlichen Dienst ein so glänzendes Zeugniß geben –“

„Rodenberg ist unbedingt zuverlässig, allerdings nimmt er seinen Kameraden gegenüber eine etwas isolirte Stellung ein, seine Ungeselligkeit und sein starres, verschlossenes Wesen schaffen ihm wenig Freunde, aber respektirt wird er von Allen.“

„Das ist genug!“ erklärte Steinrück, der mit augenscheinlichem Interesse zuhörte. „Wer Ehrgeiz hat und einem großen Ziele nachstrebt, findet selten Zeit, liebenswürdig zu sein. Ich liebe solche Naturen, die ganz auf sich selbst gestellt sind, ich bin in meiner Jugend auch nicht anders gewesen.“

„Da ist er ja! Seine Excellenz wünscht Sie kennen zu lernen, lieber Rodenberg,“ sagte der Oberst, indem er diesem, der gerade vorüber kam, einen Wink gab, näher zu treten. Er stellte ihn in aller Form vor und wandte sich dann wieder zu der Gesellschaft, indem er es seinem Günstling überließ, den Eindruck zu vollenden, den jenes Gespräch bei dem General hervorgerufen hatte.

Textdaten
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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 30, S. 517–522
Novelle – Teil 7

[517] Michael stand vor dem Manne, den er nur ein einziges Mal vor zehn Jahren gesehen hatte und dessen Bild doch unauslöschlich in seiner Erinnerung stand, denn es verband sich mit einer der herbsten Erfahrungen seines Lebens.

Graf Michael Steinrück hatte jetzt bereits die Siebzig überschritten, aber er war eine jener Naturen, an die sich das Alter nicht zu wagen scheint, und die Jahre, die sonst unerbittlich den Verfall zu bringen pflegen, fanden ihn noch aufrecht und ungebeugt, wie einst in seiner vollen Manneskraft. Haar und Bart waren weiß geworden, das war aber auch die einzige Veränderung des letzten Jahrzehntes. Die stolzen, energischen Züge hatten sich kaum etwas tiefer gefurcht, die Augen blickten noch scharf und feurig, und es war auch noch die alte gebietende Haltung, die in jeder Bewegung die Gewohnheit des Befehlens verrieth. Diese stählerne und durch körperliche und geistige Anstrengungen aller Art gehärtete Natur bewahrte sich noch im Greisenalter eine Lebenskraft, um welche sie ein Jüngling hätte beneiden können.

Der General musterte scharf und prüfend den jungen Officier, aber die Prüfung fiel offenbar günstig aus. Er liebte bei der militärischen Jugend diese männlich kraftvolle Erscheinung, diese ernste Ruhe, die auch auf geistige Disciplin deutete, und er eröffnete das Gespräch mit mehr Wohlwollen, als sonst in seiner Art lag.

„Oberst Reval hat Sie mir warm empfohlen, Lieutenant Rodenberg, und ich gebe viel auf sein Urtheil. Sie sind sein Adjutant gewesen?“

„Zu Befehl, Excellenz.“

Steinrück wurde aufmerksam, es lag für ihn etwas Bekanntes in dieser Stimme, als habe er sie schon einmal gehört, und doch war es ihm eine ganz fremde Erscheinung. Er begann von militärischen Angelegenheiten zu sprechen und stellte dabei häufige Fragen nach den verschiedensten Richtungen hin, aber Michael bestand das scharfe Examen, das in Gesprächsform über ihn verhängt wurde, zur vollen Zufriedenheit. Seine Antworten klangen allerdings einsilbig, nicht ein Wort mehr, als unbedingt nothwendig erschien, aber sie waren knapp, klar und unbedingt zutreffend, ganz im Geschmack des Generals, der sich immer mehr überzeugte, daß der Oberst ihm nicht zu viel gesagt hatte. Graf Steinrück war in der That gefürchtet wegen seiner eisernen Strenge, aber er war ebenso gerecht, wo ihm [518] Verdienst oder Talent entgegentrat, und diesem jungen Offieier gegenüber, der sich zweifellos als einer der Tüchtigsten erwiesen hatte, ließ er sich sogar zu einem Lobe herab.

„Die große Laufbahn ist Ihnen nunmehr geöffnet,“ sagte er am Schlusse der Unterredung. „Sie stehen auf der ersten Stufe, und das Emporsteigen ist in Ihre Hand gegeben. Wie ich höre, haben Sie sich schon in sehr jugendlichem Alter im Felde ausgezeichnet, und Ihre jüngste Arbeit beweist, daß Sie noch mehr können, als nur mit dem Schwerte dreinschlagen. Es soll mich freuen, wenn sich die Hoffnungen, die Sie daran knüpfen, dereinst erfüllen, wir können jungen kräftigen Nachwuchs brauchen. Ich werde mich Ihrer erinnern, Lieutenant Rodenberg – wie ist Ihr Vorname?“

„Michael!“

Der General stutzte bei diesem ungewöhnlichen Namen, ein seltsamer, ein unmöglicher Gedanke blitzte in ihm auf, freilich nur, um im nächsten Augenblick schon wieder verworfen zu werden, aber er musterte noch einmal scharf die Züge des vor ihm Stehenden.

„Sie sind ein Sohn des Oberst Rodenberg, der in W. kvmmandirt?“

„Nein, Excellenz.“

„Aber doch mit ihm verwandt?“

„Auch das nicht. Ich kenne weder den Oberst noch seine Familie.“

Jetzt flog ein jähes Erbleichen über das Antlitz Steinrück’s, und er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Und welchem Berufe gehört Ihr Vater an?“

„Mein Vater ist todt, schon seit Jahren.“

„Und die Mutter?“

„Gleichfalls.“

Es folgte eine sekundenlange Pause, die Augen des Grafen bohrten sich förmlich in das Gesicht des jungen Offiziers, endlich fragte er langsam:

„Und wo – wo haben Sie Ihre Jugendzeit verlebt?“

„Auf einer Försterei in der Nähe von Sankt Michael.“

Der General zuckte zusammen, die Entdeckung, die er freilich während der letzten Minuten geahnt hatte, traf ihn dennoch wie ein Schlag.

„Du bist es? – Unmöglich!“ stieß er halblaut hervor.

„Excellenz befehlen?“ fragte Michael in eisigem Tone. Er stand unbeweglich da, in streng dienstlicher Haltung, nur seine Augen flammten, und jetzt erkannte Steinrück auch diese Augen wieder. Er hatte sie schon einmal so wildflammend gesehen, als er dem Knaben jenen unverdienten Schimpf angethan, sie hatten genau denselben Ausdruck wie damals.

Aber Graf Michael verlor selbst nicht in einem solchen Augenblick die Haltung. Schon in der nächsten Minute hatte er sich gefaßt und stand da in der alten gebietenden Weise.

„Gleichviel! Die Vergangenheit mag abgethan sein, und ich sehe den Lieutenant Rodenberg heut zum ersten Male. Ich nehme weder das Lob zurück, das ich Ihnen ertheilte, noch die Hoffnungen, die ich hinsichtlich Ihrer Zukunft aussprach. Sie dürfen nach wie vor auf mein Wohlwollen rechnen.“

„Ich danke, Excellenz,“ unterbrach ihn Michael mit schneidendem Ton. „Es genügt mir, aus Ihren, eigenen Munde zu hören, daß ich denn doch noch zu irgend etwas in der Welt tauge. Ich habe allein meinen Weg gefunden und werde ihn auch allein weiter gehen.“

Auf der Stirn des Generals stieg eine Wetterwolke empor.

Er wollte großmüthig vergessen und glaubte mit seiner widerwilligen Anerkennung etwas Ungeheures zu thun, und jetzt wurde Beides in der schroffsten Form zurückgewiesen.

„Sehr hochmüthig!“ sagte er in einem beinahe drohenden Tone. „Sie thäten besser, diesen unbändigen Stolz zu zügeln. Es ist Ihnen einmal Unrecht geschehen, und das mag Ihre Antwort entschuldigen, ich will sie nicht gehört haben. Sie werden sich jedenfalls eines Besseren besinnen.“

„Haben Excellenz noch Befehle für mich?“ fragte Michael kalt.

„Nein!“

Ein zorniger Blick traf den jungen Offieier, der es wagte, sich selbst zu verabschieden, ohne die Entlassung abzuwarten, aber Michael schien jenes Nein dafür zu nehmen, er grüßte militärisch, wandte sich um und schritt davon.

Stumm nud finster blickte ihm der General nach. Er konnte sich noch immer nicht in das finden, was er doch vor Augen sah. Es war ihm freilich damals gemeldet worden, daß der „mißrathene Bube“ seinem Pflegevater entlaufen und nicht wieder zurückgekehrt sei, wahrscheinlich aus Furcht vor Strafe. Er hatte es nicht der Mühe werth gehalten, Nachforschungen nach dem Entflohenen anzustellen: wenn der Bube verschwunden blieb, um so besser, dann war man ihn los, und mit ihm die letzte Erinnerung an ein Familiendrama, das begraben bleiben sollte um jeden Preis; er war ja stets im Wege gewesen. Wohl drohte bisweilen wie ein dunkler Schatten die Befürchtung, der Verschwundene könne dereinst aus Schande und Elend wieder auftauchen und seine verwandtschaftlichen Beziehungen, die sich doch nun einmal nicht ableugnen ließen, zu Erpressungen benutzen, aber man war mit seinem Vater fertig geworden, als dieser Aehnliches versuchte, man würde auch mit ihm fertig werden. Graf Michael war nicht der Mann, sich vor Schatten zu fürchten.

Und jetzt tauchte der Verschwundene in der That wieder auf, aber auf demselben Boden, wo die gräflich Steinrück’sche Familie verkehrte, jetzt wurde er genannt, als Einer von denen, die dereinst emporsteigen werden, ohne fremde Hilfe durch eigene Kraft, und jetzt wagte er es, die Protektion zurückzuweisen, die man ihm bot, gezwungen und widerwillig genug, aber doch immerhin bot – sah es doch beinahe aus, als wolle er jetzt die Familie seiner Mutter verleugnen!

Auf der Stirn des Grafen lag noch die drohende Wolke, als er in die Gesellschaft zurückkehrte. Soeben erschienen auch Hertha und ihre Mutter wieder im Saale, und die junge Dame wurde sofort der Mittelpunkt des ganzen Kreises. Alles drängte sich um sie, Alles huldigte ihr, Hans Wehlau brach in einer förmlichen Kometenbahn durch den Salon, um in ihre Nähe zu gelangen, und selbst das finstere Antlitz Steinrück’s erhellte sich flüchtig, als er auf sein schönes Mündel blickte.

Nur Lieutenant Rodenberg schien den Eintritt der Damen nicht zu bemerken. Er stand abseits, im Gespräch mit einem alten Herrn, der ihm ein Langes und Breites von dem unfreundlichen Sommer dieses Jahres und dem schönen Herbste erzählte, und hörte anscheinend sehr aufmerksam zu. Aber sein Blick hing an jenem Bannkreise, dem er doch mit keinem Schritt nahte, so heiß und verlangend, wie vorhin an der Rose zu seinen Füßen, und als der Redselige ihn endlich verließ, murmelte er halblaut: „Der dumme Michel! Ich wollte, ich wäre es geblieben!“


Graf Michael Steinrück nahm in der Hauptstadt eine sehr eiuflußreiche Stellung ein. Im Beginn des letzten Feldzuges zum General ernannt, hatte er sich dort als einer der tüchtigsten und schneidigsten Führer bewiesen, und seine Stimme war von entscheidendem Gewicht in militärischen Dingen.

Der General hatte vor sechs Jahren seinen einzigen Sohn verloren, welcher der Gesandtschaft in Paris attachirt gewesen war, und seitdem lebten Schwiegertochter und Enkel in seinem Hause. Der Letztere hatte ursprünglich in die Armee treten sollen, auf Wunsch, oder vielmehr auf Befehl seines Großvaters, der entschlossen war, seinen Willen selbst gegen den Widerstand der Eltern durchzusetzen, trotzdem war es nicht dazu gekommen. Raoul, der in der That ein zarter Knabe war, kränkelte gerade in der Zeit, wo es sich um die Entscheidung über seine künftige Laufbahn handelte, in so bedenklicher Weise, daß die Aerzte einstimmig erklärten, er sei den Anstrengnngen der militärischen Laufbahn nicht gewachsen. Sie wiesen warnend auf das Brustübel des Vaters hin, das sich schon damals zeigte und dessen Keim in dem Sohne erwachen könne, wenn man ihn nicht hinreichend schone, und dieser Sohn war der einzige und letzte Sprosse des alten Geschlechtes. Dieser Rücksicht beugte sich denn endlich auch Graf Michael, aber er hatte es noch bis zum heutigen Tage nicht verwunden, daß ihm sein Lieblingswunsch versagt geblieben war, um so weniger, als Raoul, nachdem er die kritischen Jahre überwunden hatte, zur vollsten Gesundheit und Schönheit heranwuchs. Er war, nachdem er seine Studien auf einer deutschen Universität vollendet hatte, in den Staatsdienst getreten und arbeitete gegenwärtig im Auswärtigen Amte, wo er freilich, seiner Jugend wegen, noch eine untergeordnete Stellung einnahm.

Der General, nunmehr seit zehn Jahren der Herr von Schloß Steinrück, war der Gewohnheit seines verstorbenen Vetters [519] treu geblieben, auch er brachte regelmäßig zur Herbst- und Jagdzeit einige Wochen dort zu, da ihm seine militärische Stellung selten einen längeren Urlaub gestattete. Schwiegertochter und Enkel begleiteten ihn meist auf diesen Ausflügen, man empfing dann Gäste, veranstaltete Jagden, und das so öde, alte Bergschloß war eine kurze Zeit voll Lärm und Leben, bis es nach wenigen Wochen wieder in seine frühere Einsamkeit zurücksank.

Es war am Morgen nach der Ankunft des Grafen Raoul. Er befand sich in dem Zimmer seiner Mutter, und Beide waren in ein angelegentliches Gespräch vertieft, aber der Gegenstand desselben schien kein erfreulicher zu sein, Mutter und Sohn sahen ernst und verstimmt aus.

Gräfin Hortense Steinrück war jedenfalls eine blendende Schönheit gewesen; man sah noch jetzt die Spuren davon, wo sie die Mutter eines erwachsenen Sohnes war, und sie verstand es meisterhaft, noch immer anziehend zu erscheinen, wenn auch wohl die Kunst der Toilette einen hervorragenden Antheil daran hatte. Das geistvolle Antlitz, mit den dunklen, lebhaften Augen, besaß einen Reiz, der die Jugend zu ersetzen vermochte, und die etwas üppige Gestalt hatte sich die volle Grazie bewahrt.

Raoul zeigte eine auffallende Aehnlichkeit mit seiner Mutter, deren ganze Schönheit er geerbt hatte, auch nicht ein einziger Zug in dieser schlanken, jugendlichen Erscheinung erinnerte an den Vater oder Großvater, an das Steinrück’sche Geschlecht überhaupt. Es war ein herrlicher Kopf, mit dichtem, dunklem Lockenhaar, einer genialen Stirn und dunklen, sprechenden Gluthaugen, aber das Feuer, das sich in der Tiefe dieser Augen barg, konnte verzehrend auflodern, und selbst im ruhigen Gespräche brach es bisweilen daraus hervor wie ein heißer, versengender Strahl. So unbestritten die Schönheit des jungen Grafen war, es lag etwas darin wie ein halbverschleierter, dämonischer Zug, der sie freilich noch fesselnder machte.

„Also gestern Abend noch hat er Dich rufen lassen?“ sagte Hortense in erregtem Tone. „Ich wußte es, daß wieder ein Sturm heranzog, und versuchte, ihn abzuwenden, aber ich glaubte doch nicht, daß er gleich am ersten Abend losbrechen würde.“

„Ja, der Großpapa war äußerst ungnädig,“ erklärte Raoul, gleichfalls gereizt. „Er ging wegen einiger Tollheiten so streng mit mir ins Gericht, als ob es Staatsverbrechen wären. Ich hatte Dir ja schon gebeichtet, Mama, und hoffte auf Deine Fürsprache.“

„Auf meine Fürsprache?“ wiederholte die Gräfin bitter. „Du solltest doch wissen, wie machtlos sie ist, zumal wenn es sich um Dich handelt. Was gelten denn auch Mutterliebe und Mutterrechte einem Manne, der gewohnt ist, rücksichtslos Alles seinem Willen zu beugen und zu brechen, was sich nicht beugen will! Ich habe genug darunter gelitten, daß Dein Vater so völlig abhängig war, daß ich es nach seinem Tode bin, auch ich besitze ja nicht das geringste Vermögen, und man weiß uns festzuhalten an der Kette dieser Abhängigkeit. Wie oft schon haben mich diese Fesseln wund gedrückt!“

„Du irrst, Mama,“ warf Raoul ein. „Was mich zwingt, das ist nicht diese Macht des Großvaters, sondern seine Persönlichkeit. Es liegt etwas in seinem Auge, seiner Stimme, dem ich nicht trotzen kann. Ich will es nöthigenfalls mit der ganzen Welt aufnehmen, aber nicht mit ihm.“

„Ja, er hat Dich trefflich geschult! Das ist die Frucht einer Erziehung, die darauf berechnet war, mir jeden Einfluß zu rauben und Dich einzig an ihn zu ketten. Dir imponirt dieser Gebieterton, dieser Herrscherblick, ich sehe längst darin nur noch die Tyrannei, die ich von Anfang meiner Ehe an ertragen mußte, aber sie wird ja nicht ewig währen!“

Sie athmete tief auf bei den letzten Worten. Raoul erwiderte nichts, er stützte den Kopf in die Hand und sah zu Boden.

„Ich schrieb Dir bereits, daß Du Hertha und ihre Mutter hier finden würdest,“ hob die Gräfin wieder an. „Ich war überrascht von der Erscheinung Hertha’s, sie hat sich in dem Jahre, wo wir sie nicht gesehen haben, zu einer Schönheit ersten Ranges entwickelt. Findest Du das nicht auch?

„Ja, sie ist sehr schön – upd sehr verwöhnt und voller Laune! Ich habe das bereits gestern empfinden müssen.“

Hortense zuckte leicht die Achseln.

„Sie fühlt sich als reiche, gefeierte Erbin und überdies ist sie das einzige Kind einer grenzenlos schwachen Mutter, die ihr gegenüber nie einen Willen hatte. Du hast ihn, Raoul, und wirst ihn Deiner künftigen Frau gegenüber zur Geltung bringen, daran zweifle ich nicht, und ich bin hier einmal in dem seltenen Falle, ganz und rückhaltslos mit Deinem Großvater übereinzustimmen, der den gesammten Familienbesitz dereinst in Deiner Hand vereinigt wissen will. Die Einkünfte des Majorates sind sehr mäßig, dem Großvater ist nicht viel mehr als ein Jagdschloß vermacht worden, Hertha dagegen ist die Erbin der sämmtlichen Allodialgüter, und auch das reiche Witthum ihrer Mutter fallt dereinst an sie zurück. Ueberdies seid Ihr die beiden letzten Sprossen des Steinrück’schen Hauses, da ist eine Verbindung zwischen Euch eigentlich selbstverständlich.“

„Wenn Familienrücksichten allein maßgebend sind, allerdings – Ihr habt Euch ja beeilt, das festzustellen, als wir Beide noch Kinder waren,“ sagte Raoul mit einem Anfluge von Bitterkeit, der seiner Mutter nicht entging, sie sah ihn befremdet an.

„Nun, ich dächte, Du hättest allen Grund, mit dieser Familienübereinkunft zufrieden zu sein. Genügt sie doch selbst mir, die ich sicher die höchsten Ansprüche für Dich stellte. Du warst ja stets einverstanden, was soll denn jetzt die Wolke auf Deiner Stirn? Hat Dich eine bloße Laune Hertha’s so verstimmt? Ich gebe es zu, sie hat Dich gestern nicht besonders liebenswürdig empfangen, aber Du wirst Dich deßwegen doch nicht bedenken, mit der Hand einer schönen Frau einen Reichthum zu empfangen, um den Dich Tausende beneiden werden.“

„Das nicht, aber es widerstrebt mir, jetzt schon meine Freiheit zu opfern.“

„Freiheit!“ lachte Hortense auf. „Wagst Du es wirklich, das Wort in diesem Hause auszusprechen? Bist Du es nicht müde, mit Deinen fünfundzwanzig Jahren immer noch wie ein Knabe behandelt zu werden, dem man jeden Schritt vorschreibt? Ausgescholten zu werden, wenn Dein Betragen nicht genehm ist, um die Erfüllung jedes berechtigten Wunsches erst bitten zu müssen, und Dich demüthig zu fügen, wenn von höchster Stelle ein Nein erfolgt? Kannst Du auch nur einen Augenblick zögern, die Selbständigkeit zu ergreifen, die Dir geboten wird? Schon im nächsten Jahre geht laut Testament die Vormundschaft Deines Großvaters über Hertha zu Ende, dann tritt sie in ihre vollen Rechte und ihr Gemahl mit ihr. Mache Dich frei, Raoul, Dich – und mich!“

„Mama!“ sagte der junge Graf warnend, mit einem Blick auf die Thür, aber die erregte Frau fuhr nur leidenschaftlicher fort:

„Ja, auch mich! Was ist denn mein Leben in diesem Hause Anderes, als ein fortwährender Kampf und ein ewiges Erliegen? Du hattest bisher nicht die Macht, mich zu schützen gegen all die tausendfachen Kränkungen, die ich Tag für Tag erdulde, jetzt wirst Du sie haben, Du brauchst nur zu wollen. Ich flüchte zu Dir, sobald Du Herr auf eigenem Boden bist.“

Raoul erhob sich mit einer heftigen Bewegung. Die leidenschaftliche Beredsamkeit der Mutter blieb nicht wirkungslos, das sah man, und das Bild von Freiheit und Selbständigkeit, das sie ihm ausmalte, war verlockend genug für den jungen Mann, der eben noch so bitter die Strenge des Großvaters empfunden hatte. Dennoch zögerte er mit der Antwort, und es war etwas wie geheimer Kampf in seinen Zügen.

„Du hast ja Recht, Mama,“ sagte er endlich, „vollkommen Recht, ich widerstrebe ja auch nicht, aber wenn die Sache jetzt beschleunigt werden soll, wie es den Anschein hat –“

„So hättest Du doch allen Grund, Dich darüber zu freuen! Ich begreife Dich nicht, Raoul. Ich will doch nicht fürchten – Du hast Dich doch nicht etwa irgendwo gebunden?“

„Nein, nein!“ rief der junge Graf, hastig abwehrend, „davon ist keine Rede, ich versichere es Dir, Mama.“

Die Mutter schien durch diese Versicherung wenig beruhigt, sie war eben im Begriff, noch weitere Fragen zu thun, da wurde die Thür rasch, aber geräuschlos geöffnet, und die Kammerzofe der Gräfin rief mit gedämpfter Stimme: „Seine Excellenz, der Herr General!“

Sie hatte kaum Zeit, zurückzutreten, der General folgte ihr auf dem Fuße. Er blieb noch einen Augenblick auf der Schwelle stehen und streifte mit einem raschen forschenden Blick Mutter und Sohn.

„Seit wann ist denn diese strenge Etikette in unserer Familie eingeführt?“ fragte er. „Ich werde bei Dir gemeldet, Hortense?“

„Ich begreife Marion nicht. Sie weiß doch, daß die Meldung überflüssig ist.“

[520] „Wenn es ihr nicht eigens befohlen wurde, allerdings, – es klang beinahe wie ein Warnungsruf!“

Mit diesen Worten nahm Steinrück neben seiner Schwiegertochter Platz, während er den Morgengruß seines Enkels nur mit einem flüchtigen Kopfnicken erwiderte. Die Beiden hatten bisher ausschließlich französisch gesprochen, sie bequemten sich aber sofort zur deutschen Sprache beim Eintritt des Generals, der jetzt fortfuhr: „Ich wollte Dich um eine Auskunft ersuchen, Hortense. Ich höre soeben, daß Zimmer für zwei Gäste in Stand gesetzt werden, auf Deinen Befehl. Ich dächte, wir hatten schon unsere Verwandten zu Gaste und wollten diesmal im Familienkreise bleiben. Wen hast Du eingeladen?“

„Es handelt sich nur um einen ganz flüchtigen Besuch, Papa,“ erklärte die Gräfin. „Bekannte, die in Wildbad sind und auf der Rückreise nur zwei oder drei Tage bei uns verweilen werden. Ich habe erst heute Morgen die Nachricht von ihrem Eintreffen erhalten und hätte es Dir jedenfalls mitgetheilt.“

„Nun wohl, aber ich möchte wissen, wen Du erwartest.“

„Henri de Clermont und seine Schwester,“ die Antwort wurde mit einem gewissen Zögern gegeben, und das Antlitz des Generals verfinsterte sich sofort.

„Dann bedaure ich, daß Du mich nicht vorher von dieser Einladung verständigt hast – ich hätte sie nicht erlassen.“

„Es geschah auf Raoul’s Wunsch, auf seine besondere Bitte.“

„Gleichviel, ich wünsche die Clermonts nicht in unserem Kreise zu sehen.“

Raoul fuhr auf bei dieser mit voller Bestimmtheit gegebenen Erklärung, und eine dunkle Gluth bedeckte plötzlich sein Gesicht.

„Verzeih, Großpapa, aber Henri und seine Schwester sind im Winter schon verschiedene Male in unserem Hause gewesen.“

„Bei Deiner Mutter! Ich mache ihr keine Vorschriften in Bezug auf die Besuche, die sie persönlich empfängt, dieser Besuch in Steinrück aber, wo wir im engsten Familienkreise sind, würde eine Intimität bedeuten, die ich entschieden ablehne, und muß deßhalb unterbleiben.“

„Das ist unmöglich!“ entgegnete Hortense, indem sie in nervöser Gereiztheit ihr Taschentuch zusammenpreßte. „Ich habe die Einladung nun einmal erlassen und kann sie nicht rückgängig machen.“

„Weßhalb nicht? Du schreibst einfach, daß Du erkrankt bist und Dich außer Stande fühlst, die Pflichten der Wirthin zu erfüllen.“

„Das würde uns ja lächerlich machen!“ brach Raoul aus. „Der Vorwand würde niemals geglaubt werden, es wäre eine Beleidigung für Henri und seine Schwester.“

„Der Meinung bin ich auch,“ stimmte Hortense bei.

„Wohl, so bin ich anderer Meinung, als Ihr Beide!“ sagte der General mit Nachdruck, „und auf mich kommt es hier doch wohl allein an. Es ist Eure Sache, wie Ihr die Einladung rückgängig machen wollt, geschehen wird es unter allen Umständen, denn ich empfange die Clermonts nicht in meinem Schlosse.“

Das war allerdings der volle Gebieterton, der die leidenschaftliche Frau herausforderte, sie erhob sich stürmisch.

„Soll ich gezwungen werden, die Freunde meines Sohnes zu beleidigen? Freilich, sie gehören ja meinem Lande, meinem Volke an, und das bannt sie von dieser Schwelle. Meine Liebe zu der Heimat ist mir ja stets zum Vorwurf gemacht worden, und bei Raoul gilt die Neigung dafür als ein Verbrechen. Er hat seit dem Tode seines Vaters Frankreich nicht wieder betreten dürfen, sein Umgang wird ihm vorgeschrieben und geregelt wie einem Schulknaben, kaum daß er noch mit meinen Verwandten verkehren darf. Aber ich bin dieser ewigen Sklaverei müde, ich will endlich –“

„Raoul – verlaß uns!“ unterbrach Steinrück sie. Er war ruhig sitzen geblieben, und sein Gesicht erschien unbewegt, nur auf der Stirn zeigte sich wieder die drohende Falte.

„Du bleibst, Raoul!“ rief Hortense heftig. „Du bleibst bei Deiner Mutter!“

Der junge Graf schien allerdings geneigt, Partei für die Mutter zu nehmen, er war wie schützend an ihre Seite getreten und schien entschlossen, dem Großvater Trotz zu bieten, jetzt aber erhob sich dieser auch und seine Augen flammten.

„Du hast gehört, was ich befahl!“ herrschte er seinem Enkel zu. „Geh!“

Es lag etwas so Zwingendes in diesem Gebot, daß Raoul’s Widerstand davor zusammensank. Er vermochte es in der That nicht, diesen Augen und dieser Stimme zu trotzen, einen Moment zögerte er noch, aber auf einen nochmaligen gebieterischen Wink bequemte er sich zum Gehorsam und verließ das Zimmer.

„Ich will nicht, daß Raoul Zeuge von Auftritten wird, wie sie leider zwischen uns nicht selten sind,“ sagte der General kalt, indem er sich zu seiner Schwiegertochter wandte. „Jetzt sind wir allein, was wolltest Du sagen?“

Wenn irgend etwas die erregte Frau noch mehr reizen konnte, so war es diese kalte, überlegene Ruhe, die ihr wie Hohn erschien, sie gerieth darüber völlig außer sich.

„Meine Rechte will ich vertheidigen!“ rief sie. „Ich will mich auflehnen gegen eine unerhörte Tyrannei, die mich wie meinen Sohn knechtet. Es ist eine Beleidigung für mich, wenn ich die Einladung an die Clermonts widerrufen muß, und das geschieht nicht – eher lasse ich es auf das Aeußerste ankommen.“

„Ich rathe Dir, Hortense, fordere dies Aeußerste nicht heraus, Du könntest es bereuen,“ fiel der Graf ein, der jetzt auch seine Ruhe verlor, seine Stimme klang dumpf und drohend. „Wenn Du denn die schonungslose Wahrheit willst, so magst Du sie haben. Ja, es handelt sich in erster Linie darum, Raoul Umgebungen und Einflüssen zu entziehen, die ich bei meinem Enkel nicht dulden kann und werde. Ich verließ mich auf Albrecht’s wiederholte, feierliche Versicherung, daß der Knabe eine deutsche Erziehung erhalte; aber bei Euren kurzen flüchtigen Besuchen konnte ich mich nicht davon überzeugen, und das Kind war leider geschult für diese Besuche. Erst nach dem Tode meines Sohnes ist es mir klar geworden, daß er sich auch in diesem Punkte blindlings Deinem Willen unterworfen, daß er mich absichtlich gctäuscht hat.“

„Willst Du meinem Gatten noch im Grabe Vorwürfe machen?“ fuhr Hortense auf.

„Ich kann ihm auch dort den Vorwurf nicht ersparen, den ich dem Lebenden ins Antlitz geschleudert hätte. Er hat zugelassen, was er nie zulassen durfte. Raoul war ein Fremdling in seinem Vaterlande, fremd in seiner Geschichte, seinen Aufgaben, in Allem, was ihm theuer und heilig sein sollte, er wurzelte mit jeder Faser in dem fremden Boden. Der Einblick, den ich damals erhielt, als Du mit ihm in mein Haus zurückkehrtest, war derart, daß er mich zum sofortigen energischen Einschreiten zwang. Es war die höchste Zeit – wenn es nicht schon zu spät war!“

„Ich bin sicher nicht freiwillig in Dein Haus zurückgekehrt,“ die Stimme der Gräfin klang in schneidender Bitterkeit. „Ich wäre gern zu meinem Bruder geeilt, aber Du beanspruchtest ja Raoul, Du nahmst ihn mir, kraft Deines vormundschaftlichen Rechtes, und ich konnte und wollte mich nicht von meinem Kinde trennen. Hätte ich es mit mir nehmen dürfen –“

„Um vollends einen Montigny aus ihm zu machen!“ ergänzte Steinrück. „Das wäre Dir nicht schwer geworden, er hat nur zu viel von Dir und den Deinen. Ich suche vergebens mein Blut in ihm, aber verleugnen wird und soll er dies Blut niemals. Du kennst mich in dem Punkte, und auch Raoul wird mich kennen lernen. Wehe ihm, wenn er es jemals vergißt, daß er den Namen Steinrück führt, daß er einem deutschen Geschlechte angehört!“

Er sprach mit gedämpfter Stimme, aber es lag etwas so furchtbar Drohendes darin, daß Hortense leise zusammenbebte. Sie wußte, daß es ihm Ernst war mit der Drohnng, und in dem Gefühl, daß sie wieder einmal erlag in dem alten Kampfe, nahm sie ihre Zuflucht zu Thränen und brach in einen Weinkrampf aus.

Der General war an dergleichen zu sehr gewöhnt, als daß es ihn hätte überraschen sollen, er zuckte schweigend die Achseln und ging. Im Vorzimmer fand er Raoul, der dort unruhig auf und nieder schritt und plötzlich stehen blieb beim Eintritt des Großvaters.

„Geh zu Deiner Mutter!“ sagte dieser bitter. „Laß es Dir wieder einmal sagen, daß ich ein Tyrann bin, ein Despot, der seine Freude daran hat, sie und Dich zu quälen, Du hörst das ja täglich, Du wirst ja regelrecht hineingehetzt in den Argwohn, in die Bitterkeit gegen mich, und das hat längst seine Früchte getragen.“

So herb die Worte klangen, es lag ein unterdrückter Schmerz darin, und derselbe finstere Schmerz stand in den Zügen des Grafen. Raoul mochte das sehen und fühlen, denn er schlug die Augen nieder und entgegnete leise: „Du thust mir Unrecht, Großpapa.“

[522] „So beweise es mir! Zeige mir endlich einmal volles, rückhaltloses Vertrauen, Du wirst es nicht bereuen. Ich habe gestern erst wieder zürnen und drohen müssen, Du hast mich oft genug dazu gezwungen in der letzten Zeit, und trotz alledem habe ich Dich lieb, Raoul – sehr lieb!“

Die sonst so strenge, befehlende Stimme hatte einen Ton von Güte, ja von Weichheit, und das blieb nicht ohne Wirkung auf den jungen Mann. Auch in ihm wallte die Liebe zu dem Großvater empor, dem er seit seiner Jugend entfremdet worden war, vor dem er immer nur Scheu empfunden hatte, in diesem Augenblick empfand er nichts davon.

„Ich habe Dich ja auch lieb, Großpapa!“ brach er aus.

„Komm,“ sagte Steinrück, mit einer Wärme, die ihm selten eigen war. „Laß uns einmal eine gute Stunde mit einander haben, wo kein fremder Einfluß zwischen uns steht. Komm, Raoul!“

Er legte den Arm um die Schultern seines Enkels und zog ihn mit sich fort, da wurde die Thür hastig aufgerissen, und Marion erschien.

„Um Gottes willen, Herr Graf, kommen Sie – die Frau Gräfin ist sehr unwohl – sie verlangt nach Ihnen!“

Raoul fuhr bestürzt auf, als wolle er zu der Mutter eilen, hielt aber plötzlich inne, denn er begegnete dem Blick seines Großvaters, der ernst, aber fast bittend auf ihn gerichtet war.

„Deine Mutter hat wieder ihre Nervenzufälle,“ sagte er ruhig. „Du kennst sie ja so gut wie ich und weißt, daß dabei nichts zu besorgen ist. Komm mit mir, Raoul!“

Er hatte ihn nicht losgelassen, Raoul schien mit sich zu kämpfen, nur einige Minuten lang, dann aber versuchte er, sich freizumachen.

„Verzeih, Großpapa – die Mama ist leidend, sie verlangt nach mir – ich kann sie jetzt nicht allein lassen!“

„So geh!“ rief Steinrück hart, indem er ihn fast von sich stieß. „Ich will Dich Deiner Kindespflicht nicht entziehen. Geh’ zu Deiner Mutter!“

Und ohne auch nur einen Blick weiter auf Raoul zu werfen, wandte er sich um und verließ das Zimmer.

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 31, S. 537–540
Novelle – Teil 8

[537] Sankt Michael war eine der höchstgelegenen Ortschaften des Gebirges. Das kleine, stille Alpendorf wäre ganz abgeschieden gewesen, wenn es nicht als Wallfahrtsort eine gewisse Bedeutung gehabt hätte. Die einzelnen Gehöfte lagen zerstreut auf den Matten und am Bergesrand, in der Mitte die Dorfkirche und das Pfarrhaus: Alles klein, schmucklos und dürftig; nur die eigentliche Wallfahrtskirche, die eine Strecke vom Dorfe entfernt, auf freier Höhe stand, hatte ein stattliches Ansehen. Es war eine Stiftung der Grafen von Steinrück, die an Stelle der uralten Sankt Michael’s Kapelle, die einst hier gestanden, das nun auch schon altersgraue Gotteshaus erbaut und ihm seitdem oftmals Schenkungen und Vermächtnisse zugewendet hatten bis in die neueste Zeit. Galt doch Sankt Michael als Schutzpatron des Geschlechtes, wie er dessen Namenspatron war. Der Ahnherr hatte so geheißen, und seitdem hatte der Name von Geschlecht zu Geschlecht sich fortgeerbt. Selbst die protestantische Linie des Hauses, die längst die heimische Stammburg verlassen hatte und nach Norddeutschland ausgewandert war, hielt an dieser Tradition fest, wenn sie ihr auch keine religiöse Bedeutung mehr beilegte, sondern nur noch eine historische. Auch das jetzige Haupt des Hauses war ein Graf Michael, und Sohn und Enkel waren nach ihm getauft, wenn auch ihr Rufname anders lautete. – Das Innere der Wallfahrtskirche bot nicht viel Bemerkenswerthes, den gewöhnlichen Schmuck von Bildern und buntbemalten Statuen der Heiligen, in oft sehr mangelhafter Ausführung. Nur der Hochaltar machte eine Ausnahme davon, er war im reichsten, kunstvollen Schnitzwerk ausgeführt, und die Engelsgestalten zu beiden Seiten der Stufen, die mit ausgebreiteten Flügeln und betend erhobenen Händen den heiligen Ort zu hüten schienen, gehörten zu den besten Werken der Holzbildnerei. Es war ein Geschenk der gräflich Steinrück’schen Familie, ebenso wie die drei gothischen Fenster in der Altarnische, deren kostbare Glasmalereien eine glühende Farbenpracht zeigten. Dagegen entstammte das Altarbild, ein ziemlich umfangreiches Gemälde, der naiven Auffassung einer längstvergangenen Zeit. Es war dunkel geworden vor Alter, hier und da beschädigt, aber doch noch deutlich erkennbar in seinen Einzelheiten. Sankt Michael, in langem blauen Gewande und wallendem rothen Mantel, den Heiligenschein über dem Haupte, war nur durch ein kurzes Panzerhemd als der streitbare Engel gekennzeichnet, sah aber sonst nicht sehr kriegerisch aus. Das Flammenschwert in der Rechten, die Wage in der Linken, thronte er auf einer Wolke, zu seinen Füßen krümmte sich der Satan, ein [538] gehörntes Ungethüm, mit qualverzerrten Zügen, dessen Körper in einem Schlangenleibe endigte. Dazu zuckten blutrothe Flammen aus der Tiefe empor und von oben schaute eine Glorie von Engelsköpfen herab. Das Ganze war ohne jeden künstlerischen Werth.

„Das soll nun Sieg und Kampf bedeuten!“ sagte Hans Wehlau, der vor dem Bilde stand und es betrachtete. „Sankt Michael steht so feierlich gemüthlich auf seiner Wolke, als ob ihn der Gottseibeiuns da unten gar nichts anginge, und wenn der gescheit ist, so greift er zu und packt das Schwert, das gerade über seiner Nasenspitze schwebt; so hält man doch keine Waffe! Wie ein Adler müßte er aus der Höhe niederstoßen, und wie ein Sturmwind müßte er den Satan packen und vernichten, aber in den langen Gewändern soll er das Fliegen wohl bleiben lassen, und den Flügeln da glaubt man es überhaupt nicht, daß sie ihn tragen, sie sind viel zu schwach.“

„Du hast eine höchst respektlose Art, die Heiligenbilder zu kritisiren!“ sagte Michael, der neben ihm stand. „In dem Punkte bist Du wirklich der Sohn Deines Vaters.“

„Es käme darauf an! Weißt Du, daß ich Lust hätte, selbst ein solches Bild zu malen? Sankt Michael und der Satan – der Kampf des Lichtes mit der Finsterniß! Aus dem Stoff ließe sich etwas machen, wenn man ihn energisch angreift, und das Modell dazu habe ich ganz in der Nähe.“

Er wandte sich plötzlich um und sah seinem Freunde voll ins Gesicht, der den Blick mit einigem Befremden zurückgab.

„Was fällt Dir ein? Ich habe doch sicher –“

„Nichts Engelhaftes! Nein, wahrhaftig nicht, und unter den himmlischen Heerscharen, die in weißen Kleidern mit Palmenzweigen im Aether herumschweben, würdest Du eine sehr komische Figur spielen. Aber so mit dem Flammenschwerte auf den Feind losgehen und ihn niederwerfen, wie Dein heiliger Namensvetter, das ist ganz Dein Fall. Natürlich müßte man sehr idealisiren, denn hübsch bist Du gar nicht, Michael, aber was man zu solcher Gestalt braucht, das hast Du, besonders wenn Du wüthend bist. Jedenfalls würdest Du einen weit besseren Erzengel abgeben, als der da oben!“

„Thorheit!“ sagte Michael, indem er sich zum Gehen wandte.

„Uebrigens mußt Du jetzt aufbrechen, Hans, wenn Du zu Fuß nach Tannberg zurück willst. Du hast vier Stunden bis dahin.“

„Auf der langweiligen Fahrstraße, die ich natürlich nicht benutze; ich gehe mitten durch den Bergwald, das ist näher.“

„Und dabei verirrst Du Dich gründlich! Du kennst ja die Gegend nicht so genau wie ich.“

„Ich werde mich schon zurechtfinden,“ sagte Hans, während sie die Kirche verließen und ins Freie traten. „Wenigstens werde ich in Tannberg nicht mehr mit einem grimmigen Gesicht empfangen. Ich bin froh, daß der Papa fort ist, und ich glaube, das ganze Haus hat mit mir aufgeathmet. Er hing ja zuletzt wie eine Donnerwolke über uns Allen, man mußte fortwährend auf Blitz und Schlag gefaßt sein.“

„Es war schließlich das Beste, daß er den Aufenthalt abkürzte und nach Hause zurückkehrte,“ entgegnete Michael ernst. „Bei seiner fortwährenden Gereiztheit und Erbitterung wäre es noch zum offenen Bruche gekommen. Ich wollte das um jeden Preis verhüten und redete ihm daher selbst zu, abzureisen.“

„Ja, Du hast mich nach Kräften gedeckt. Du und die Tante, Ihr standet wie zwei Friedensengel an meiner Seite und schirmtet mich mit Euren Flügeln, aber viel hat das auch nicht geholfen, der Papa war gar zu grimmig. Du warst noch der Einzige, der mit ihm auskam.“

„Und deßhalb schickst Du mich regelmäßig zuerst ins Feuer, wenn es etwas durchzusetzen gilt.“

„Natürlich, denn Du riskirst gar nichts dabei. Papa behandelt Dich immer äußerst respektvoll, selbst wenn Ihr verschiedener Meinung seid. Merkwürdig – vor mir hat er nie Respekt gehabt!“

„Hans, sei vernünftig und treibe nicht schon wieder Possen,“ sagte Michael verweisend. „Ich dächte, Du hättest allen Grund, ernsthaft zu sein.“

„Mein Gott, was soll ich denn thun! Ich habe nun einmal kein Talent zu der Rolle des zerknirschten Sünders. Wenigstens hast Du mir die allerhöchste Erlaubniß ausgewirkt, in Tannberg zu bleiben, so lange Dein Urlaub währt, und wenn wir nach Hause zurückkehren, wird sich der Sturm wohl einigermaßen gelegt haben. Doch da ist der Weg! Bringe dem Onkel Valentin noch einen Gruß von mir. Ich habe ihn wieder einmal ,kompromittirt‘ durch meinen Besuch, als Sohn meines Vaters, aber er hat es ja selbst gewollt. Auf Wiedersehen, Michael!“

Er winkte seinem Freunde noch einmal zu und schlug dann einen Seitenweg ein, der bergabwärts führte. Michael sah ihm nach, bis er zwischen den Tannen verschwand; dann trat er gleichfalls den Rückweg nach dem Dorfe an.

Er befand sich seit einigen Tagen in Sankt Michael, und gestern hatte auch Hans dort einen kurzen Besuch abgestattet. Es war ein seltener und langersehnter Besuch für den Pfarrer, der es schmerzlich genug empfand, daß seine nächsten Angehörigen ihm für gewöhnlich fern blieben und bleiben mußten. Man machte ihm jeden Verkehr mit dem Bruder zum Vorwurfe, der allerdings der religiösen Richtung als erklärter Gegner gegenüberstand. Sie sahen sich nur in den Zwischenräumen von Jahren, wenn der Professor einmal bei den Verwandten in Tannberg war. Daß es aber dennoch bisweilen geschah, und daß sie in Briefwechsel standen, erklärte es vielleicht, wie Valentin Wehlau in dem einsamen Alpendorfe gelassen und – vergessen werden konnte.

Michael dagegen war in den letzten Jahren öfter bei seinem alten Freunde und Lehrer gewesen, aber der Lieutenant Rodenberg war eine völlig neue Erscheinung für die Bewohner von Sankt Michael, die sich kaum noch des blöden, scheuen Buben aus der Försterei erinnerten, den sie ja überhaupt nur äußerst selten zu Gesicht bekamen. Er hatte ihnen stets als ein Verwandter Wolfram’s gegolten, der auch dessen Namen führte, und die Bergförsterei war längst in anderen Händen. Graf Steinrück hatte seinem ehemaligen Jäger eine bessere Stellung mit reicherem Gehalte auf einem der Güter seines Mündels zugewendet, vielleicht als Belohnung für die geleisteten Dienste, vielleicht auch, weil er durch Nichts mehr an die Vergangenheit erinnert sein wollte, wenn er nach dem ihm jetzt gehörigen Schlosse kam. Jedenfalls hatte Wolfram schon vor zehn Jahren die Gegend verlassen und war nach seinem neuen Wohnorte übergesiedelt.

Als Michael in das Pfarrhaus zurückkehrte, das er vor einer halben Stunde in gewohnter Stille und Einsamkeit verlassen hatte, fand er dort eine seltsame Aufregung. In der Küche hantirte die alte Magd voll Eifer und Geschäftigkeit mit Töpfen und Pfannen, als gelte es ein Gastmahl zu rüsten. Sie hatte sich jedenfalls Hilfe aus den benachbarten Gehöften herbeigeholt, denn zwei junge Bauermädchen liefen treppauf, treppab, in den Giebelzimmern wurde geräumt und gelüftet, das ganze sonst so friedliche Hauswesen schien auf dem Kopfe zu stehen, und der Meßner verabschiedete sich soeben eilfertig und mit höchst wichtiger Miene, als Rodenberg in das Studirzimmer des Pfarrers trat.

In dem kleinen Raume hatte sich nichts verändert, es war noch die alte Einrichtung mit ihrer klösterlichen Einfachheit: die weißgetünchten Wände, der mächtige Kachelofen, das geschnitzte Krucifix in der Ecke, und auch noch die alten Möbel von schlichtem Tannenholz; die Zeit war an dem Allem spurlos vorüber gegangen, nur an dem Bewohner nicht.

Der Pfarrer hatte recht gealtert. Während sein Bruder, der allerdings um mehrere Jahre jünger war, sich noch die Kraft und Frische des Mannesalters bewahrt hatte, machte er bereits den Eindruck eines Greises. Die Gestalt war gebeugt, das Gesicht tief durchfurcht, das Haar weiß geworden, nur die Augen strahlten noch in dem alten milden Glanze und täuschten bisweilen hinweg über das Müde, Gebrochene der ganzen Erscheinung.

„Was giebt es denn, Hochwürden?“ fragte Michael etwas verwundert. „Das ganze Haus ist ja auf einmal in Unruhe und Aufregung, und die alte Katrin hat so vollständig den Kopf verloren, daß sie davonlief, ohne mir Rede zu stehen.“

„Uns ist ganz unerwartet ein Besuch angekündigt worden,“ entgegnete Valentin, „ein vornehmer Besuch, der schon einige Umstände beansprucht. Kaum warst Du mit Hans fort, so kam ein Bote mit einem Briefe der Gräfin Steinrück, sie wird in zwei Stunden hier sein.“

Der junge Mann, der eben im Begriff war, sich niederzusetzen, hielt betroffen inne.

„Gräfin Steinrück? Was will sie denn hier in Sankt Michael?“

„Den Wallfahrtsort besuchen. Die Gräfin ist eine sehr fromme Frau und versäumt das niemals, wenn sie im Schlosse ist. [539] Ueberdies ist unsere Kirche eine Stiftung ihrer Familie und verdankt ihr persönlich manche Zuwendung. Sie besucht fast alljährlich die Ruhestätte ihres Gemahls und kommt dann regelmäßig auch hierher.“

„Und kommt sie allein?“ Die Frage hatte etwas Athemloses, Gepreßtes, um so ruhiger klang die Erwiderung des Pfarrers.

„Nein, mit ihrer Tochter und mit der nöthigen Bedienung. Du wirst für heute das Gastzimmer räumen müssen, Michael, die doppelte Bergfahrt ist an einem Tage zu anstrengend für die Damen, sie bleiben stets über Nacht und nehmen alsdann mit der einfachen Gastfreundschaft des Pfarrhauses vorlieb. Ich habe Deinetwegen schon mit dem Meßner gesprochen, der Dir bis morgen Unterkunft gewähren wird.“

Michael erwiderte keine Silbe, er trat an das Fenster und blickte mit verschränkten Armen hinaus. Endlich, nach einer ganzen Weile, sagte er halblaut:

„Ich wollte, ich wäre mit Hans gegangen!“

„Weßhalb? Vielleicht weil die Damen den Namen Steinrück führen, und weil Du nun einmal Alles in Acht und Bann gethan hast, was diesen Namen trägt? Wie oft schon habe ich Dich ermahnt und gebeten, Dich von diesem unchristlichen Hasse los zu machen!“

„Von meinem Hasse?“ wiederholte der junge Mann mit eigenthümlich erzitternder Stimme.

„Nun, was ist es denn sonst? Als Du mir neulich von dem Zusammentreffen mit Deinem Großvater berichtetest, habe ich gesehen, wie starr und unversöhnlich Du noch immer daran festhältst, und jetzt überträgst Du das sogar auf die ganz unbetheiligten Verwandten des Grafen, von denen Du nur Freundlichkeit empfängst. Du hast mir allerdings nichts von der Bekanntschaft erzählt, aber Hans that es um so ausführlicher. Er scheint ja ganz begeistert zu sein von der jungen Gräfin.“

„So lange er sie vor Augen hat! Und sobald wir wieder in der Stadt sind, hat er sie vergessen – ihm wird das leicht genug.“

Die Worte sollten spöttisch sein und klangen so bitter, daß Valentin befremdet den Kopf schüttelte.

„Das ist in diesem Falle ein Glück,“ erwiderte er. „Es wäre traurig, wenn Hans die Sache ernst nähme, denn ganz abgesehen von dem Standesunterschiede, ist die Hand der Gräfin Hertha längst versagt.“

„Versagt – an wen?“ fragte Michael jäh und heftig, indem er sich umwandte.

„An den Grafen Raoul Steinrück, ihren Verwandten. In jenen Kreisen werden die Verbindungen meist durch Familienbeschluß geregelt, und das ist auch hier geschehen, schon vor Jahren. Eine Verlobung hat allerdings noch nicht stattgefunden, weil die Gräfin sich noch nicht zur Trennung von ihrer Tochter entschließen konnte, die Sache steht aber nahe bevor.“

Der Pfarrer, der als ehemaliger Beichtiger der Gräfin noch jetzt ihr ganzes Vertrauen besaß, war in den Verhältnissen ihrer Familie genau bewandert, er erörterte sie jetzt in voller Ruhe und mit einiger Umständlichkeit, und darüber entging es ihm, daß sein Zuhörer so völlig verstummt war. Michael hatte sich wieder dem Fenster zugewendet, er preßte die Stirn gegen die Scheiben und verharrte noch in dieser Stellung, als die Erzählung längst zu Ende war.

„Sie werden heute viel Unruhe im Hause haben, Hochwürden,“ sagte er endlich, „und ich möchte auch dem Meßner keine Umstände machen. Es wäre Wohl das Beste – ich ginge nach der Försterei und bliebe dort bis morgen.“

„Was fällt Dir ein!“ rief Valentin unwillig. „Ich begreife Deine Zurückhaltung, die Dir Hans zum Vorwurf macht, aber das geht denn doch zu weit.“

„Die Gräfin weiß nichts von meinem Hiersein, und wenn Sie es ihr verschweigen –“

„So erfährt sie es durch Katrin oder den Meßner. Ein Gast ist eine Seltenheit in meinem einsamen Pfarrhause, die Leute reden jedenfalls davon, und wie soll ich dann der Gräfin gegenüber Deine Flucht entschuldigen?“

„Flucht?“ fuhr der junge Officier auf.

„Nun, dafür muß sie es doch halten, da sie Deine Beziehungen zu ihrer Familie nicht kennt.“

„Sie haben Recht,“ sagte Michael mit einem tiefen Athemzuge. „Es wäre Flucht und Feigheit – ich werde bleiben!“

„Ja, vernünftigen Vorstellungen bist Du nicht zugänglich,“ meinte Valentin mit einem flüchtigen Lächeln, „aber sobald man vom Fliehen spricht, regt sich der Soldat in Dir und zwingt Dich, Stand zu halten. – Doch ich muß jetzt sehen, was Katrin schafft; sie scheint wirklich den Kopf verloren zu haben, ich werde ihr wohl mit Rath und That beistehen müssen.“

Michael blieb allein zurück. Er hatte ja fort gewollt, man zwang ihn ja, zu bleiben, und doch wandten sich seine Augen aufleuchtend der Fahrstraße zu, die sich dort drüben aus dem Thale emporwand. Flucht! Der junge Krieger war so empört aufgefahren bei dem Worte, und er war doch seit Wochen auf der Flucht vor einer Macht, der er sich nicht beugen wollte, und die ihn trotz alledem zu erreichen wußte. Als sei sie mit einem Dämon im Bunde, so nahte sie ihm immer wieder, dort unten in dem glänzenden Wogen und Treiben der Gesellschaft und hier in dem einsamen Alpendorfe; gerade dann, wenn er sie am fernsten wähnte, tauchte sie urplötzlich vor ihm auf. Jetzt hieß es wieder einmal ihr Auge in Auge gegenüberstehen, und Michael wußte, was das für ihn bedeutete, aber als er sich jetzt emporrichtete, finster, entschlossen, kampfbereit, da sah er nicht aus, als ob er unterliegen werde.


Die erwarteten Gäste waren zur festgesetzten Zeit eingetroffen, die Gräfin in einem kleinen, eigens für solche Fahrten bestimmten Bergwagen, während ihre Tochter es vorgezogen hatte, den Weg zu Pferde zurückzulegen. Eine Kammerfrau, die mit im Wagen fuhr, und ein gleichfalls berittener Diener begleiteten die Damen, denen sich die Gräfin Hortense ursprünglich hatte anschließen wollen, aber sie litt noch an den Folgen eines Nervenanfalles, der ihr die anstrengende Bergfahrt verbot.

Die Damen hatten gleich nach der Ankunft ihre Andacht in der Kirche verrichtet, und die feierliche Messe fand erst morgen früh statt. Jetzt war es Nachmittag geworden, und der Pfarrer schritt, in Begleitung seiner beiden jüngeren Gäste, langsam durch das Dorf. Die Gräfin, die sich ermüdet fühlte, war im Pfarrhause zurückgeblieben, Michael dagegen hatte sich dem Spaziergange angeschlossen oder vielmehr anschließen müssen, denn Gräfin Hertha, die es gewohnt war, sehr souverain über ihre ganze Umgebung zu verfügen, hatte ihn in einer Weise dazu aufgefordert, die keinen Widerspruch duldete.

Man befand sich bereits in der Mitte des September, aber der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen. Das machte sich selbst in dieser Höhe fühlbar, es herrschte eine schwüle, drückende Temperatur. Die Matte, auf der Sankt Michael zerstreut lag, stand allerdings noch im hellen Sonnenschein und der Himmel war noch klar, aber die Nebel zogen unruhig an der Bergwand hin, und um die Gipfel, die sich bald verschleierten, bald wieder lichteten, begann sich dunkles Gewölk zu sammeln.

„Ich fürchte, wir werden heut Abend ein Wetter bekommen,“ sagte Valentin. „Es war ja auch ein Tag wie mitten im Hochsommer.“

„Ja, das haben wir auf unserer Bergfahrt empfunden,“ stimmte Hertha bei. „Glauben Sie, daß wir an den Rückweg denken müssen?“

„Nein,“ erklärte Michael mit einem prüfenden Blick nach den Bergen. „Wenn das Gewölk sich dort drüben an der Adlerwand sammelt, wie eben jetzt, hängt es meist stundenlang an den Felsen, ehe es wirklich losbricht, und geht auch gewöhnlich in die Thäler nieder, ohne uns zu berühren. Ein Wetter wird es allerdings geben – da blitzt schon Sankt Michael’s Flammenschwert auf!“

Er wies hinüber nach der Adlerwand, wo es in der That aufblitzte, noch matt und fern, aber doch deutlich wahrnehmbar.

„Sankt Michael’s Flammenschwert?“ wiederholte Hertha fragend.

„Gewiß, kennen Sie nicht den alten Volksglauben, der überall in den Bergen verbreitet ist?“

„Nein, ich bin ja immer nur auf kurze Zeit hier gewesen und kaum jemals mit dem Volke in Berührung gekommen.“

„Nun, jener Glaube sieht in den Blitzen das Schwert des zürnenden Erzengels, das aus den Wolken hervorzuckt, und die Gewitter, die ja oft genug in den Thälern Unheil anrichten, gelten für sein Strafgericht.“

[540] „Sankt Michael liebt den Sturm und die Flammen,“ sagte Hertha lächelnd. „Ich bin immer sehr stolz darauf gewesen, daß gerade der Heerführer des Himmels, der mächtige Kriegs- und Schlachtenengel, der Schutzpatron unseres Hauses ist. Sie führen ja auch seinen Namen, gerade wie mein Onkel Steinrück.“

Valentin warf einen raschen, etwas besorgten Blick auf seinen ehemaligen Zögling, aber das Gesicht desselben blieb unbewegt, und er erwiderte mit voller Gelassenheit:

„Jawohl – zufälligerweise!“

„Der Tag des Heiligen steht ja nahe bevor,“ wandte sich die junge Gräfin an den Pfarrer. „Der Wallfahrtsort ist dann wohl zahlreich besucht, nicht wahr, Hochwürden?“

„Die Bewohner der benachbarten Dörfer pflegen dann allerdings zu kommen, aber das eigentliche hohe Kirchenfest unseres Wallfahrtsortes fällt in den Mai, auf den Tag, der Michael’s Erscheinung kündet. Da strömt das ganze Gebirgsvolk herbei, von den fernsten Höhen und aus den entlegensten Thälern, so daß Kirche und Dorf gewöhnlich nicht die dichtgedrängte Menge zu fassen vermögen. Die Legende läßt den Erzengel an jenem Tage noch immer unsichtbar von der Adlerwand niedersteigen und mit seinem leuchtenden Schwert die Erde furchen, wie es sichtbarlich vor Jahrhunderten geschah, als das Heiligthum gegründet wurde.“

Sie waren bei den letzten Worten stehen geblieben, an einem Krucifix, das sich hier einsam auf grüner Matte erhob und grade nach der Adlerwand hinüberblickte. Ein Wildrosenstrauch rankte sich an dem Stamme des Kreuzes empor, das er fast überwucherte. Die dichten, grünen Zweige überschatteten und umspannen das heilige Bild, wie ein lebendiger Rahmen, dessen Blüthenpracht freilich längst dahin war. Dennoch hatten die warmen sonnigen Herbsttage noch einige späte Knospen erschlossen, nicht duftend und farbenreich, wie ihre Schwestern drunten in der Ebene, blasse, wilde Gebirgsrosen, die, heute erblüht, morgen vom Sturme entblättert werden, und doch schimmerten sie rosig in dem dunklen Grün, wie ein letzter Gruß des scheidenden Sommers.

Ein junger Bauer näherte sich jetzt mit abgezogenem Hute und etwas schüchtern der Gruppe, er hatte eine Anliegen an den Herrn Pfarrer, den er schon im Dorfe gesucht hatte. Die Mutter sei wieder recht krank und begehre dringend den Zuspruch Seiner Hochwürden; das Häuschen liege ja ganz nahe, kaum zweihundert Schritte weit, und wenn Hochwürden nur auf einige Minuten kommen wolle, so werde die Kranke schon erfreut und getröstet sein.

„Da werde ich wohl mit dem Hies gehen müssen,“ sagte Valentin. „Ich lasse die Gräfin unter Deinem Schutze, Michael, wenn sie in das Pfarrhaus zurückehren will –“

„Nein, Hochwürden, wir erwarten Sie hier;“ fiel Hertha ein. „Der Blick auf die Adlerwand ist ja prachtvoll!“

„Ich komme auch bald zurück,“ versicherte der Pfarrer, indem er mit freundlichem Gruße das Haupt neigte und dann in Begleitung des Hies nach dem nahen Häuschen schritt, in dessen Thür sie beide verschwanden.

Das unerwartete Alleinsein, das erste, seit sie sich überhaupt kannten, schien die beiden Zurückgebliebenen in Verlegenheit zu setzen, denn das eben noch so lebhafte Gespräch verstummte plötzlich.

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 32, S. 557–559
Novelle – Teil 9

[557] Sankt Michael erschien Hertha und ihrem Begleiter fast wie ein einsames Hochalpenthal, so eingebettet lag es in den grünen Alpen, die es rings umgaben. Es hatte nur einen einzigen Ausblick, der es freilich mit jedem anderen aufnahm, den Blick auf die Adlerwand. Der mächtige Felsenzug, der dort drüben aufstieg, in ernster, düsterer Majestät, beherrschte völlig die Aussicht und deckte all die anderen Berggipfel; war er doch selbst ein Gebirge mit dunklen Tannenwäldern, wild zerklüfteten Schluchten und stürzenden Wildbächen, deren Brausen dumpf herüberdrang. Die Wand selbst mit ihren nackten, starren Schroffen und ihrem jähen Absturz in die Tiefe schien unzugänglich für jedes menschliche Wesen, ihre Gipfel ragten zu schwindelnder Höhe empor, und der höchste derselben, das Haupt des Adlers, trug eine Gletscherkrone, die in blendender, eisfunkelnder Pracht dastand, seine riesigen Felsenschwingen schirmten das kleine Sankt Michael zu seinen Füßen. Die Wand führte ihren Namen mit Recht, sie glich in der That den ausgebreiteten Flügeln eines Adlers.

Das Schweigen hatte ziemlich lange gewährt, endlich brach Hertha es mit der Frage:

„Von jener Höhe also soll der Legende nach der Erzengel niedersteigen?“

„Mit dem ersten Morgenstrahl!“ ergänzte Michael, „dort drüben an der Adlerwand geht die Sonne auf. Das Volk hängt nun einmal mit unverbrüchlicher Treue an seinen altgeheiligten Ueberlieferungen, es läßt sich sein Frühlingsfest und seinen Sonnenkultus nicht nehmen. Es ist die uralte Lichtgottheit, die sich segnend oder verheerend dem Menschen zuwendet, die in den Donnerwolken zürnt und dann wieder mit ihrem Flammenschwert die Erde furcht, damit ihr das neue Frühlingsleben entsteige – die Kirche hat sie freilich hier mit der strahlenden Rüstung des Erzengels umkleidet.“

„Das klingt sehr ketzerisch,“ sagte die junge Gräfin vorwurfsvoll. „Lassen Sie das den Herrn Pfarrer und meine Mutter nicht hören. Man merkt es, daß Sie im Hause des Professors Wehlau aufgewachsen sind. Er war ja wohl ein Jugendfreund Ihres Vaters?“

Michael neigte nur wie zustimmend das Haupt. Der Professor hatte es ihm längst zur Pflicht gemacht, diese Annahme zu bestätigen, welche unbequemen Nachforschungen vorbeugen sollte, und die selbst Hans für Wahrheit nahm.

„Sie haben Ihren Vater sehr früh verloren?“

„Ja – sehr früh!“

„Und auch die Mutter?“

„Auch die Mutter!“

Es klang etwas wie aufquellendes Weh in diesem [558] Worte, Hertha mochte fühlen, daß sie unbewußt etwas Bitteres berührt habe, und rasch, wie um den Eindruck zu verwischen, sagte sie: „Auch ich war noch ein Kind, als mein Vater starb, ich habe nur noch eine dunkle Erinnerung an ihn und an die grenzenlose Liebe und Zärtlichkeit, mit der er mich umgab und verwöhnte. Wo haben Sie denn mit Ihren Eltern gelebt?“

Die Lippen des jungen Mannes zuckten in tiefster Bitterkeit. Auch er hatte noch Erinnerungen an seine Kinderzeit, aber was ihn damals umgab, war nicht Liebe und Zärtlichkeit gewesen. Die Schmach und das Elend, das er doch kaum zur Hälfte verstand, hatten sich trotzdem wie mit glühenden Zeichen in das Gedächtniß des Knaben eingeprägt, und das war noch heute nicht verwischt, trotzdem zwei Jahrzehnte dazwischen lagen.

„Meine Jugend ist keine frohe gewesen,“ sagte er ausweichend. „Sie bietet wenig Bemerkenswerthes, so wenig, daß ich Sie wirklich nicht damit behelligen möchte, es kann Sie unmöglich interessiren.“

„Doch, es interessirt mich!“ fiel Hertha lebhaft ein. „Aber ich möchte nicht zudringlich erscheinen, und wenn Ihnen meine Theilnahme unangenehm ist –“

„Ihre Theilnahme – mir?“ flammte Michael auf und brach dann plötzlich ab, aber was die Lippen nicht aussprachen, das sagte sein Blick, er hing wie gebannt an der jungen Gräfin, die freilich nicht des glänzenden Rahmens einer reichen Toilette bedurfte. Sie war berückend schön gewesen in Seide und Spitzen, in Blumen und Juwelen unter dem strahlenden Glanze der Kronleuchter, und heute, in dem einfachen dunkelblauen Reitkleide, das sich eng um die schlanke Gestalt schmiegte, war sie fast noch schöner. Unter dem Hütchen mit dem blauen Schleier schimmerten die goldblonden Flechten, halb verhüllt durch jenes Schleiergewebe, und die Augen strahlten leuchtend hell. Es lag heute etwas Eigenthümliches in dem Wesen Hertha’s, sie erschien wie losgelöst von dem glänzenden Boden, auf dem sie sich sonst bewegte, wie angeweht von dem Ernste der mächtigen Bergwelt, die sie umgab, und das gab ihr einen neuen, gefährlichen Reiz.

„Nun?“ sagte sie lächelnd, ohne jenes jähe Abbrechen bemerken zu wollen. „Ich warte.“

„Worauf?“

„Auf den Bericht aus Ihrer Jugendzeit, den Sie mir noch immer schuldig sind.“

Michael athmete tief auf und fuhr mit der Hand über die Stirn.

„Ich werde ihn wohl schuldig bleiben müssen, denn ich kann nichts berichten von einem Elternhaus und Elternliebe. Ich bin unter Fremden aufgewachsen, habe Alles von Fremden annehmen und empfangen müssen, und so gütig und großherzig es mir auch geboten wurde, ich empfinde es doch als eine Schuld, die mich zu Boden drücken würde, hätte ich mir nicht das Wort gegeben, sie mit meiner ganzen Zukunft einzulösen. Jetzt endlich habe ich selbst das Steuer in Händen und darf hinaussteuern in das offene Meer.“

„Und vertrauen Sie diesem Meere mit seinen Wogen und Stürmen?“

„Ja! Wer der Fluth vertraut, den trägt sie, und Eins wenigstens weiß ich mit Bestimmtheit: ich werde nie auf halbzerschelltem Wrack an das Ufer treiben, froh, nur das nackte Leben gerettet zu haben, ich führe entweder mein Schiff in den Hafen – oder sinke mit ihm!“

Er hatte sich hochaufgerichtet bei den letzten Worten, die in vollster Energie klangen. Hertha sah ihn betroffen an, auf einmal sagte sie:

„Merkwürdig – wie Sie in diesem Augenblicke meinem Onkel Steinrück gleichen!“

„Ich – dem General?“

„Zum Sprechen!“

„Das muß wohl eine Täuschung sein,“ entgegnete Michael kalt. „Ich bedaure, die Ehre einer Aehnlichkeit mit Seiner Excellenz ablehnen zu müssen, aber sie besteht wirklich nicht.“

„Für gewöhnlich allerdings nicht, da haben Sie auch nicht einen Zug mit einander gemein, es liegt nur im Ausdruck, und jetzt ist es auch schon wieder verschwunden. Aber in jenem Moment, da waren es die Augen des Grafen, seine Haltung, seine Stimme sogar – ich erschrak förmlich darüber.“

Ihre Augen ruhten noch immer auf seinem Gesicht, und sie schien eine Antwort zu erwarten, die jedoch ausblieb, Michael wandte sich wie zufällig seitwärts und sagte abbrechend:

„Die Aussicht verschleiert sich immer mehr, wir werden bald mitten in den Wolken stehen!“

Das Wetter war in der That drohender geworden, die Sonne begann schon zu sinken, aber ihre Strahlen kämpften noch mit den Nebeln, die jetzt von allen Seiten heranschwebten. Als habe ein mächtiger Heerführer seinen Ruf erschallen lassen, den die ganze Bergwelt vernommen hatte, so stiegen überall die Wolkengestalten auf, bald feierlich, langsam, bald in jagender Hast. Aus den Schluchten und Tiefen quoll es unaufhörlich empor, wie weiße Schleier, die lautlos und gespenstig über die Wälder hinstreiften, hier und da einen flatternden Streifen an den Tannenwipfeln zurückließen und dann immer höher emporstiegen. Aber auch seitwärts über die grünen Alpen kam es jetzt herangezogen, erst einzelnes Gewölk, dann ganze Wolkenmassen, und Alles wallte und strebte der Adlerwand zu, wo es sich immer dunkler und drohender zusammenzog.

Die Matte, auf der Sankt Michael lag, erschien bald nur noch wie eine Insel inmitten eines wogenden, fluthenden Meeres, dessen Wellen mit jeder Minute höher stiegen. Hier leuchtete es weiß, wie der Schaum der Brandung aufwallend und zerfließend, dort lagerte es grau und gestaltlos wie Schatten, und hoch oben an den Zinnen der Wand, die noch von der Sonne getroffen wurden, schwamm ein goldiger, flimmernder Nebel, in dem seltsame Strahlen zuckten. Er umwob die Felsenhäupter und die Gletscherkrone mit einem leuchtenden Zauberschleier, sie standen halb verschleiert, halb sichtbar, wie Schemen in dem goldigen Duft.

Zu ihren Füßen aber ballte sich das Wetter zusammen, und jetzt klang auch dumpf der erste Donner herüber, der aus dem Schoße des Berges zu kommen schien und dann grollend in der Ferne erstarb.

Die Luft war bisher unbewegt geblieben, jetzt aber erhob sich der Wind. Der Schleier der jungen Gräfin flatterte hoch auf und verfing sich dabei in einem niederhängenden Zweige des Wildrosenstrauches, sie versuchte vergebens, ihn los zu machen. Die Dornen hielten ihre Beute fest, und Rodenberg, der ihr zu Hilfe kam, mochte wohl etwas ungeschickt dabei zu Werke gegangen sein, denn auf einmal löste sich das Band des Hutes und dieser fiel herab. Michael, der sich niedergebeugt hatte, um das leichte Gewebe zu befreien, zuckte zusammen und ließ die Hand sinken, denn dicht vor seinen Augen schimmerten jetzt unbedeckt die reichen Flechten, das „rothe Märchengold“.

„Haben Sie sich verletzt?“ fragte Hertha, welche diese Bewegung bemerkte.

„Nein!“ Er griff plötzlich mitten hinein in das dornige Gezweige und riß Hut und Schleier gewaltsam los, aber die Dornen rächten sich, der Schleier zerriß, und von der Hand des jungen Mannes rieselten einige Blutstropfen nieder.

„Ich danke,“ sagte Hertha, indem sie ihren Hut wieder in Empfang nahm. „Aber Sie sind ein ungestümer Helfer. Wie unvorsichtig, mitten in die Dornen zu greifen, Sie bluten ja!“

Es lag eine wirkliche Besorgniß in dem Tone, um so eisiger klang die Antwort.

„Es ist nicht der Rede werth. Ich werde als Soldat doch einen Dornritz nicht scheuen!“

Er zog sein Taschentuch hervor und preßte es achtlos auf die kleinen Wunden, dabei glitt aber ein Blick bebender Ungeduld nach dem Häuschen hinüber, wo der Pfarrer noch immer weilte. Die Unterredung da drinnen schien kein Ende zu nehmen, und die Folter mußte ausgekostet werden bis auf den letzten Grad!

Die junge Dame mochte wohl eine Ahnung von dieser Folter haben, aber sie fühlte sich nicht veranlaßt, sie abzukürzen. Die verwöhnte, gefeierte Schönheit empfand es als eine Beleidigung, daß der Mann dort es wagte, einer Macht zu trotzen, die sie so oft schon an Anderen erprobt hatte. Er hatte diese Macht auch kennen gelernt, das wußte sie längst, er war ihr nicht straflos genaht, und doch stand er da, mit dieser eisigen Zurückhaltung, die nicht zu durchbrechen war, mit dieser trotzigen Stirn, die sich nicht beugen wollte – das sollte er büßen!

„Ich möchte eine Frage an Sie richten, Herr Lieutenant Rodenberg,“ hob sie wieder an. „Meine Mutter machte Ihnen [559] vorhin Vorwürfe, weil Sie ihrer Einladung noch immer nicht gefolgt sind, ich hörte es.“

„Ich habe die Frau Gräfin bereits um Entschuldigung gebeten. Uns beschäftigte während der letzten Zeit eine Familienangelegenheit, welche auch die unerwartete Abreise des Professors veranlaßte. Sobald ich von Sankt Michael zurückkehre –“

„Werden Sie einen anderen Vorwand finden!“ fiel Hertha ein. „Sie wollen nicht kommen.“

In dem Gesichte Michael’s stieg eine dunkle Gluth auf, aber er vermied es, den Augen zu begegnen, die er auf sich gerichtet wußte, er schaute hinüber nach der Adlerwand.

„Sie nehmen das mit einer seltsamen Bestimmtheit an, Gräfin Steinrück – und dennoch wünschen Sie mein Kommen?“

„Ich wünsche nur Aufklärung darüber, was es eigentlich ist, das Sie uns fern hält. Sie haben mir und meiner Mutter das Leben gerettet und entziehen sich unserer Dankbarkeit in einer Weise, die uns unerklärlich ist, wenn wir sie nicht für beleidigend halten wollen. Bei einem Fremden würden wir kein Wort darüber verlieren, unserem Retter dürfen wir wohl die Frage stellen: Was liegt zwischen uns? Was haben wir Ihnen gethan?“

Die Worte hatten einen weichen, halb verschleierten Klang, aber es verflossen einige Sekunden, ehe die Antwort kam. Michael’s Auge hing noch immer an jenen Felsenhäuptern, er wußte, daß es Gewitterwolken waren, die sie umzogen, und sah doch nur den goldigen Nebel, den leuchtenden Zauberschleier, er hörte das Donnergrollen, das jetzt näher und lauter herüberklang, und vernahm doch nur dies leise, vorwurfsvolle: „Was haben wir Ihnen gethan?“

„Sie beschämen mich wirklich,“ sagte er endlich, mit einem letzten Versuch, den Ton kühler Artigkeit festzuhalten. „Der kleine Dienst, den ich Ihnen leisten konnte, bedurfte gar nicht des Dankes, Sie haben ihn stets überschätzt.“

„Sie weichen mir wieder einmal aus, darin sind Sie wirklich Meister!“ rief die junge Dame mit einer Bewegung der äußersten Ungeduld. „Aber ich erlasse Ihnen die Antwort nicht, ich will endlich die Wahrheit wissen.“

„Und wenn ich nun diesem Befehl, denn ein solcher scheint es doch zu sein, nicht nachkomme?“

„Das steht freilich bei Ihnen, aber es war kein Befehl, nur eine Bitte, die ich jetzt wiederhole: Was haben wir Ihnen gethan? Warum fliehen Sie uns?“

Es spielte wieder ein Lächeln um ihre Lippen, das alte zauberhafte Lächeln, dem Keiner widerstand, aber hier blieb es wirkungslos. Rodenberg richtete das Auge voll und finster auf sie und sagte mit unendlich herber Stimme: „Das wissen Sie ja, Gräfin Steinrück – das haben Sie längst gewußt!“

„Ich?“

„Ja Sie, Hertha, denn Sie kennen nur zu gut Ihre Macht, und jetzt treiben Sie mich bis zum Aeußersten und lassen mir keinen Ausweg mehr. Nun wohl – ich stelle mich Ihnen!“

Befremdet, fast bestürzt blickte Hertha ihn an, auf eine derartige Wendung war sie nicht gefaßt gewesen, sie hatte sich den Moment ihres Triumphes doch anders gedacht.

„Ich verstehe Sie nicht, Herr Lieutenant Rodenberg,“ sagte sie. „Was soll diese seltsame Sprache bedeuten, die dem Hasse verwandt zu sein scheint?“

„Dem Hasse?“ brach er mit wilder Heftigkeit aus. „Wollen Sie zu dem Spiele auch noch den Spott fügen? Es ist Ihnen ja niemals ein Geheimniß gewesen, daß ich Sie liebe!“

Es klang eigenthümlich genug, das Liebesgeständniß, mit dieser bebenden Stimme, in der Groll und Leidenschaft stritten, mit diesen Augen, in denen es nicht zärtlich, sondern drohend aufblitzte, die Empfindung schien in der That dem Hasse verwandt zu sein.

„Und in solcher Weise werben Sie um die Liebe einer Frau?“ fragte Hertha entrüstet, während doch zugleich eine geheime, nie gekannte Bangigkeit in ihrem Innern aufstieg.

„Werben?“ wiederholte er mit schneidender Bitterkeit. „Nein, das thue ich nicht, und die Werbung wäre mir auch schwerlich gestattet worden, mir, dem jungen, unbedeutenden Officier mit dem bürgerlichen Namen, der nichts hat, als sich selbst und vielleicht noch eine Hoffnung auf die Zukunft. Es wäre mir wohl in der schonungslosesten Weise klar gemacht worden, daß ich meine Augen nicht zu der Gräfin Steinrück erheben darf, daß ihre Hand läugst einem Anderen zugesagt ist, der wie sie die Grafenkrone trägt.“

Hertha biß sich auf die Lippen, der Vorwarf traf, das wäre allerdings der Ausgang der Sache gewesen. Es war der Gräfin Steinrück nie eingefallen, dies Spiel mit dem bürgerlichen Officier ernst zu nehmen, aber es überkam sie doch wie eine heiße Beschämung bei der Entdeckung, daß sie von Anfang an durchschaut gewesen war.

„Sie scheinen nicht zu fühlen, wie beleidigend Ihre Worte sind,“ sagte sie, sich stolz aufrichtend, „und wie beleidigend dies Geständniß ist –“

„Das Sie doch um jeden Preis hören wollten!“ unterbrach er sie. „Nun denn, so nehmen Sie es hin! Ich will Ihnen nicht ableugnen, was sich nun einmal nicht ableugnen läßt, ich will dem Verhängniß ins Auge sehen, denn wie ein Verhängniß ist es über mich gekommen. Ja, ich habe Sie geliebt, Hertha, vom ersten Augenblicke an, wo ich Sie sah, und hätte ich auf Ihre Gegenliebe hoffen dürfen, der Grafentitel der Steinrück hätte mich wahrlich nicht abgeschreckt. Stände mein Glück auch so hoch und unerreichbar wie die Adlerwand dort, ich würde hinaufdringen, und wenn mir auf jedem Schritte das Verderben drohte, ich würde mir das Glück herabzwingen in meine Arme, der ganzen Welt zum Trotze! Aber ich war gewarnt, gewarnt durch ein Kind, das mir einst meinen Schneerosenstrauß abschmeichelte, um ihn dann zu zerpflücken im gedankenlosen Spiel. Es sind noch dieselben rothgoldenen Locken und dieselben schönen, schlimmen Augen, ich erkannte sie wieder bei der ersten Begegnung, aber ich will es nicht zum zweiten Male von diesen Lippen hören, das höhnische, verächtliche: ,Geh’ fort! Ich mag Dich jetzt nicht mehr! Ich bin des Spieles müde!‘ Hat es mir doch ohnehin immer in den Ohren geklungen, wenn mich der Schmeichellaut Ihrer Stimme auch noch so süß umstrickte. Der Knabe ließ seine Blumen eher den Flammentod sterben, ehe er sie in Ihren Händen ließ, und der Mann wird seine Liebe niederzwingen und vernichten, ginge ihm auch ein Stück seines Lebens damit verloren – ein Spielball in Ihren Händen wird sie nimmer sein!“

Hertha war todtenbleich geworden; so hatte es noch Niemand gewagt, sie zu beleidigen, ihr die Wahrheit so rückhaltlos und schonungslos ins Antlitz zu schleudern, aber was fragte der Mann, den sie auf das Aeußerste gebracht hatte, jetzt noch danach, ob er sie beleidigte oder nicht? Der Sturm, den sie selbst entfesselt, brauste auch über sie hin, sie konnte ihm nicht mehr Halt gebieten. Sie sah das deutlich, als Michael jetzt vor ihr stand und ihr flammend, unaufhaltsam dies seltsame Gemisch von Liebe und Haß entgegenschleuderte. Jede Fiber in ihm bebte in wilder, qualvollster Leidenschaft, und dennoch rang er auch jetzt noch dagegen, rang mit einer Kraft, die nicht erliegen wollte und auch nicht erlag. Er war besiegt – unterworfen war er nicht!

„Sie erlassen es mir wohl, Herr Lieutenant Rodenberg, diese Ausbrüche noch ferner anzuhören,“ sagte die junge Gräfin endlich, ihre ganze Selbstbeherrschung zusammenraffend. „Ich werde den Herrn Pfarrer aufsuchen.“

„Dessen bedarf es nicht, ich gehe!“ erklärte Michael, seine Stimme klang tonlos, aber fest. „Ich weiß, daß wir uns nach dieser Stunde nichts mehr zu sagen haben – Leben Sie wohl, Gräfin Steinrück!“

Er verneigte sich und ging. Hertha sah es nicht, wohin er sich wandte, und bemerkte es auch nicht, daß der Pfarrer jetzt aus dem Hause trat und sich ihr näherte. Sie stand regungslos da.

Der Wind wnrde heftiger, die Zweige des Wildrosenstrauches wehten und flatterten über ihrem Haupte, das Wolkenmeer wallte und wogte immer näher heran, und immer höher stieg die Nebelbrandung, als wollte sie die Matte überfluthen. Der verklärende Schimmer an der Adlerwand war erloschen, verschwunden die goldigen Schemen, dort schwammen jetzt graue, schwere Nebelmassen, sie sanken tiefer und tiefer und einten sich mit dem dunklen Gewölk, das jetzt plötzlich zerriß, und mit zackigem leuchtenden Strahle blitzte es hervor – das Flammenschwert Sankt Michael’s!

Textdaten
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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 33, S. 573–576
Novelle – Teil 10

[573] Das Gewitter war mit voller Macht in die Thäler niedergegangen und hatte sich dort, nachdem es wohl eine Stunde lang mit Blitz und Donner getobt, in einen ausgiebigen Regen verwandelt.

Mitten durch den triefenden Wald schritt ein junger Wanderer, den das Wetter auf seinem Wege überrascht hatte. Wäre Hans Wehlau dem Rathe seines Freundes gefolgt und auf der langweiligen Fahrstraße geblieben, so wäre er längst in Tannberg eingetroffen, in dem romantischen Bergwalde verirrte er sich gründlich und schlug eine falsche Richtung ein, die ihn weit von seinem Ziele abführte. Eine überhängende Felswand hatte ihm allerdings einen nothdürftigen Schutz gewährt, jetzt aber, wo die Dämmerung hereinbrach und der Regen noch immer strömte, blieb ihm nur die Wahl, entweder die Nacht in dem nassen Walde zuzubringen oder auf gut Glück vorwärts zu gehen, in der Hoffnung, irgend eine Köhlerhütte oder ein sonstiges Obdach zu erreichen, und er entschloß sich zu dem letzteren.Endlich nahm der dichte Forst ein Ende, und der junge Mann gewahrte, als er in das Freie trat, einen Lichtschein, der aus einiger Entfernung herüberblinkte. Die Dämmerung und der Nebel ließen nicht erkennen, welcher Art das Gebäude war, das auf einer mäßigen, bewaldeten Anhöhe lag und nur zum Theil aus den Bäumen hervorragte; aber jedenfalls wohnten Menschen dort, und der durchnäßte Wanderer richtete schleunigst seine Schritte dorthin.

Der Weg, der zu der Höhe hinaufführte, schien sehr verwahrlost zu sein. Hans blieb verschiedene Male in dem aufgeweichten Boden stecken; dann mußte er über einen Bach, der quer über den Pfad lief, dann über eine morsche Holzbrücke und endlich durch ein Thor, von dem nur noch die beiden steinernen Pfeiler standen, während das Gitter fehlte. Ein anscheinend umfangreiches, aber halb verfallenes Gebäude mit Mauern und Thürmen lag vor dem jungen Manne, aber die Dunkelheit war inzwischen völlig hereingebrochen, sodaß er nur mit Mühe und nur von jenem Lichtschein geleitet eine kleine Pforte fand, die gerade unter dem erhellten Fenster lag und verschlossen war.

Er pochte, anfangs bescheiden, dann lauter und nachdrücklicher an die Thür; nach Verlauf von einigen Minuten wurde dann auch [574] das Fenster geöffnet, und eine heisere Stimme fragte von oben, wer da sei?

„Ein Fremder, der sich verirrt hat und um Obdach für die Nacht bittet.“

„Ich habe kein Obdach für Vagabunden und Herumstreicher. Macht, daß Ihr fortkommt!“

„Das ist ja ein recht liebenswürdiger Empfang!“ rief Hans entrüstet. „Ich bin weder Vagabund noch Herumstreicher, sondern ein höchst anständiger Mensch und gern bereit, mein Nachtlager zu bezahlen.“

„Bezahlen! In der Ebersburg!“ klang es mit der gleichen Entrüstung von oben. „Hier ist kein Wirthshaus, geht wieder dahin, wo Ihr hergekommen seid.“

„Das werde ich wohl bleiben lassen, denn ich komme gradewegs aus einem Wolkenbruch und habe dabei im Walde Weg und Steg verloren. Ist das eine Art, einen Gast bei solchem Unwetter vor der Thür stehen zu lassen und ihm den Eintritt zu verweigern? Machen Sie auf!“

„Nein,“ sagte die heisere Stimme, offenbar erbost, „Ihr bleibt draußen!“

„Zum Kukuk, jetzt reißt mir die Geduld!“ rief der junge Mann wüthend, der eben von einem neuen Regengusse überschüttet und bis auf die Haut durchnäßt wurde. „Aufgemacht! Oder ich schlage die Thür ein und renne Sturm gegen die alte Baracke.“

Er begann in der That mit beiden Fäusten gegen die Thür zu trommeln, und was der höflichen Bitte nicht gelungen war, das erreichte die Grobheit, sie imponirte offenbar dem unsichtbaren Hüter des Einganges, denn nach einigen Sekunden ließ sich dessen Stimme in bedeutend gemildertem Tone vernehmen:

„Wer sind Sie eigentlich und was wollen Sie?“

„Ich bin vorläufig noch ein gänzlich aufgeweichter Mensch und suche nur Trockenheit. Uebrigens bin ich im Stande, die allerbefriedigendsten Aufklärungen über Stand, Name, Alter, Herkommen, Heimat, Familie und so weiter zu geben, wenn es gewünscht wird.“

„Sie sind also von Familie?“

„Selbstverständlich! Jeder Mensch muß doch eine Familie haben.“

„Ich meine – von Adel?“

„Natürlich! Aber jetzt wachen Sie endlich auf!“

„Warten Sie – ich komme!“ klang es verheißungsvoll von oben; gleich darauf wurde das Fenster geschlossen und der Lichtschein verschwand.

„Man scheint hier erst auf den Stammbaum geprüft zu werden, ehe man eingelassen wird!“ sagte Hans, indem er sich in die Thürnische drückte, um dem Regen zu entgehen. „Meinetwegen! Mir kommt es gar nicht darauf an, mir nöthigenfalls eine Grafenkrone beizulegen, wenn sie mir nur ein trockenes Nachtlager verschafft. Gott sei Dank, da wird endlich geöffnet!“

In der That wurde drinnen ein Schlüssel umgedreht und ein Riegel zurückgeschoben; dann öffnete sich die Thür und vor dem Eintretenden stand ein alter Mann, der sich mit der Rechten auf einen Stock stützte und mit der Linken eine Lampe emporhielt.

Es war eine hagere, gebeugte Gestalt, die einst wohl stattlich gewesen sein mochte. Die pergamentfarbene Haut und die tausend Runzeln und Falten gaben dem Gesicht etwas Mumienhaftes, die Augen waren trübe, und unter dem schwarzen Käppchen stahl sich spärliches weißes Haar hervor. Der kurze Gang schien den alten Herrn angegriffen zu haben, denn er stützte sich hüstelnd fester auf seinen Stock, während er zugleich den Gast beleuchtete.

„Ich bitte um Verzeihung wegen meines ungestümen Eindringens, aber ich war wirklich im Begriff, fortgeschwemmt zu werden,“ sagte Hans, mit einer Verbeugung, die nach allen Seiten hin Nässe sprühte. „Habe ich die Ehre, den Herrn des Hauses vor mir zu sehen?“

„Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau auf Ebersburg,“ versetzte dieser mit großer Feierlichkeit. „Und Sie, mein Herr?“

„Hans Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein,“ war die ebenso feierliche Antwort.

Der Name schien dem alten Freiherrn zu gefallen, er neigte das Haupt und sagte würdevoll: „Sie sind mir willkommen, Herr Hans Wehlau Wehlenberg, folgen Sie mir!“

Er verschloß sorgfältig wieder die Thür und ging dann voran, um seinem Gaste den Weg zu zeigen. Sie schritten zunächst durch eine Vorhalle, deren Dach nicht mehr fest zu sein schien, denn der Regen hatte seine Spuren überall auf dem Fußboden hinterlassen. Dann ging es eine enge, steil gewundene Treppe mit ausgetretenen steinernen Stufen hinauf, dann durch einen endlosen Gang, wo jeder Schritt auf den Steinfliesen widerhallte, und in der tiefen Dunkelheit ringsum war die Lampe, die der Schloßherr trug, die einzige Beleuchtung. Endlich öffnete er eine Thür und trat mit seinem Begleiter ein.

„Verfügen Sie über dies Gemach,“ sagte er, die Lampe auf den Tisch niedersetzend. „Das Wetter hat Sie allerdings übel zugerichtet, wie ich sehe. Ich will Sie jetzt beim Umkleiden nicht stören, erwarte Sie aber bei Tische. Auf Wiedersehen, Herr von Wehlau Wehlenberg.“

Er grüßte mit einer Handbewegung, die wirklich etwas Vornehmes und Ritterliches hatte, und ging. Hans musterte zunächst die Umgebung: es war ein kleines, düsteres und sehr dürftig ausgestattetes Gemach, nur das große Himmelbett, das an der Hauptwand stand, schien ein ehemaliges Prachtstück gewesen zu sein, aber die kunstvolle Schnitzerei war beschädigt und zerbrochen, die Seidenvorhänge verblichen und zerrissen und das Bettzeug vom gröbsten, bäuerischen Leinen.

„Das Beste wäre es, schleunigst zu Bette zu gehen,“ sagte Hans, indem er in der Nähe des Ofens eine Trockenanstalt einrichtete. „Da mich jedoch dieser Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau zur Tafel geladen hat, so muß ich nothgedrungen erscheinen; aber woher ein trockenes Kostüm schaffen? Vielleicht findet sich irgendwo eine alte Ritterrüstung oder sonst ein mittelalterliches Gerümpel, das ich anlegen kann. Ich glaube, es würde hier großen Eindruck machen, wenn ich eisenklirrend in den Ahnensaal träte. Suchen wir also!“

Er begann wirklich zu suchen und fand auch bald einen Wandschrank, in dem der Schlüssel steckte und der die ganze, sehr bescheidene Garderobe des Schloßherrn zu enthalten schien. Hans nahm ohne Besinnen das beste Stück derselben, einen Pelzrock, und war kaum mit dem Umkleiden fertig, als eine schon bejahrte Frau erschien, die ein Kopftuch trug und im unverfälschten Gebirgsdialekt den Herrn „Baron“ einlud, zu Tische zu kommen.

„Nur Baron – ich hätte mich mindestens zum Grafen gemacht!“ sagte Hans geringschätzig, indem er der Aufforderung nachkam. Die alte Magd führte ihn wieder eine Strecke den Gang hinauf und dann in ein Gemach, das augenscheinlich als Wohn-, Speise- und Empfangszimmer diente.

Es hatte auf den ersten Blick ein ganz stattliches Ansehen, aber ehemalige Pracht und jetziger Verfall mischten sich seltsam darin. Die Wände zeigten noch kunstvolle Täfelung, die Decke dagegen war ganz einfach weiß getüncht und der Kachelofen in der Ecke von der gewöhnlichsten Art. Derselbe Kontrast zeigte sich auch in der Einrichtung: hochlehnige Eichenstühle standen um einen Tisch von grob gezimmertem Tannenholz; auf einem reich geschnitzten alterthümlichen Kredenzschranke machte sich ganz gemeines irdenes Geschirr breit, und das schöne alte Spitzbogenfenster, wahrscheinlich dasselbe, dessen Lichtschein den Wanderer vorhin geleitet hatte, trug Vorhänge von geblümtem Kattun.

„Ich bitte um Entschuldigung wegen meiner Eigenmächtigkeit,“ sagte der junge Mann, indem er sich dem Schloßherrn näherte, der in einem Armstuhle saß. „Meine Toilette war in einem so wenig salonfähigen Zustande, daß ich mir im Vertrauen auf Ihre Güte auch diesen Raub erlaubte.“

Er nahm sich allerdings etwas wunderlich aus in dem Pelzrock, sah aber trotzdem mit dem jugendlichen Gesicht, mit den vom scharfen Bergwinde gerötheten Wangen und den noch regenfeuchten Locken so bildhübsch aus, daß um die welken Lippen des alten Freiherrn ein Lächeln spielte und er freundlich erwiderte:

„Es freut mich, wenn Sie in meiner Garderobe das Nöthige fanden. Nehmen Sie Platz, ich möchte noch eine Frage an Sie richten.“

„Jetzt kommt die Ahnenprobe!“ dachte Hans, und er hatte sich nicht getäuscht, sein Wirth steuerte geradewegs auf dies Ziel los.

„Hans Wehlau Wehlenberg – das hat einen guten Klang!“ fuhr er fort. „Dagegen ist der Name Ihres Stammsitzes etwas ungewöhnlich. Wo liegt eigentlich der Forschungstein?“

„In Norddeutschland, Herr Baron,“ versetzte Hans, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Das dachte ich mir, da ich ihn nicht kenne. Die süddeutschen Adelsgeschlechter und ihre Stammsitze kenne ich sämmtlich, [575] gehört doch mein Geschlecht zu den allerältesten. Es stammt aus dem zehnten Jahrhundert, das ist historisch beglaubigt, aber die Ueberlieferung reicht noch viel weiter zurück. In Norddeutschland giebt es wohl kaum eine so alte Familie?“

Er machte sich augenscheinlich bereit, nun auch den Stammbaum seines Gastes zu prüfen, aber dieser, der das Unheil kommen sah, parirte geschickt und fuhr mit einer Frage dazwischen.

„Darf ich fragen, wen dies Bild darstellt? Es fiel mir schon beim Eintritte auf,“ sagte er, auf ein Gemälde deutend, das ihm gerade gegenüber an der Wand hing. Es war das lebensgroße Brustbild eines Mannes von etwa vierzig Jahren, mit dunklem Haar, lebhaften dunklen Augen und edlen regelmäßigen Zügen, in denen allerdings keine besondere Intelligenz lag. Die Kleidung, die eine Uniform zu sein schien, wurde größtentheils durch einen Mantel verhüllt. Das Portrait war jedenfalls neueren Datums. Der Schloßherr richtete die Augen gleichfalls dorthin, er vergaß auf einmal Stammbaum und Jahrhunderte und fragte angelegentlich:

„Gefällt Ihnen das Bild?“

„Außerordentlich! Welch ein schöner Kopf! und auch vortrefflich gemalt. Jedenfalls auch ein Eberstein?“

Der alte Herr sah halb geschmeichelt, halb gekränkt aus, als er langsam entgegnete:

„Ja, ein Eberstein! Sie erkennen ihn also nicht wieder?“

Hans stutzte, er warf wieder einen Blick auf das Bild und dann auf die zusammengesunkene Gestalt mit den trüben Augen und den welken Zügen.

„Es kann doch nicht – sollte es etwa Ihr eigenes Portrait sein, Herr Baron?“

„Das war es einst – und es soll vor dreißig Jahren sehr ähnlich gewesen sein. Ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie keinen Zug mehr darin wiederfinden, bin ich doch nur noch eine Ruine, wie meine Ebersburg!“

Die Worte klangen so tief schmerzlich, daß Hans sofort einlenkte und sich bemühte, den alten Mann zu trösten.

„Doch, ich erkenne die Züge deutlich wieder,“ versicherte er. „Das Bild hatte ja schon im ersten Augenblick etwas Bekanntes für mich, aber ich rieth auf einen Ihrer Söhne.“

„Ich habe keine Söhne,“ versetzte Eberstein wehmüthig. „Mein Geschlecht geht mit mir zu Grabe, denn meine erste Ehe ist kinderlos gewesen, und die zweite hat mir nur eine Tochter geschenkt. Ich begreife nicht, wo Gerlinde bleibt, ich werde sie wohl herbeirufen müssen.“ Er erhob sich mühsam und schritt nach dem Nebenzimmer, dessen Thür geschlossen war.

„Gerlinde von Eberstein – brr!“ rief Hans aus. „Das klingt ganz nach Söller und Burgverließ. Jedenfalls ein mittelalterliches Burgfräulein, denn da der Herr Papa in den Siebzigen steht, so muß die Tochter mindestens Vierzig zählen; nun, der Dame kann man sich allenfalls im Pelzrock vorstellen.“

Er blickte mit sehr mäßiger Neugierde nach der Thür, fuhr aber plötzlich wie elektrisirt in die Höhe, denn das, was jetzt auf der Schwelle erschien, entsprach keineswegs seinen Voraussetzungen.

Es war die zarte Gestalt eines noch sehr jungen Mädchens im schlichten, grauen Hauskleide, das dunkle Haar einfach zurückgestrichen und in Flechten am Hinterkopfe befestigt. Das noch ganz kindliche Gesichtchen erschien ein wenig bleich, war aber, wenn auch nicht eigentlich schön, doch von unsagbarer Lieblichkeit. Von den Augen sah man nichts als die tiefgesenkten, dunklen Wimpern. Der Freiherr mußte erst im späteren Alter zu der zweiten Ehe geschritten sein, denn sein Töchterlein zählte höchstens sechzehn Jahre.

„Hans Freiherr von Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein – meine Tochter Gerlinde!“ stellte der Schloßherr mit aller Feierlichkeit vor. Hans war so überrascht, daß er zwei Verbeugungen nach einander machte, welche die junge Dame ihrerseits mit einer unglaublich steifen Bewegung erwiderte, die zwischen Knix und Verneignng die Mitte hielt. Dann nahm sie, immer noch mit niedergeschlagenen Augen, ihren Platz am Tische ein, wo das kalte Abendessen bereits aufgetragen war, und die sehr bescheidene Mahlzeit nahm ihren Anfang.

Der alte Freiherr war sehr redselig und sprach unaufhörlich mit dem Gast, der durch die Bewunderung seines Bildes sein ganzes Herz gewonnen hatte; um so schweigsamer zeigte sich Fräulein Gerlinde. Sie besorgte still und aufmerksam all die kleinen Geschäfte der Hausfrau, hielt sich dabei aber steif wie ein Holzbild und setzte allen Unterhaltungsversuchen Hans Wehlau’s ein hartnäckiges Stillschweigen entgegen; der Vater nahm dann regelmäßig statt ihrer das Wort, und dabei blieb ihr Gesicht so unbeweglich, als höre sie gar nicht, was gesprochen wurde.

„Das arme Kind scheint taubstumm zu sein,“ dachte der junge Mann mitleidig. „Schade um das liebliche Gesichtchen! Wenn sie wenigstens nur einmal die Augen aufschlagen wollte!“

Er machte noch einen letzten Versuch, indem er sich direkt an sie wandte mit der Frage, ob das gnädige Fräulein schon lange auf der Ebersburg wohne, und ob es im Winter hier nicht sehr einsam sei. Gerlinde blieb auch jetzt stumm, und ihr Vater gab die Antwort.

„Wir leben jahraus, jahrein hier, und meine Tochter ist seit frühester Jugend an diese Einsamkeit gewöhnt. Ich habe ihr allerdings erlaubt, in der nächsten Woche auf einige Tage nach Steinrück zu gehen auf dringenden Wunsch der Gräfin, deren Pathenkind sie ist. Sie kennen doch die Grafen von Steinrück?“

„Gewiß, ich habe die Ehre.“

„Ein altes Geschlecht, aber volle zweihundert Jahre jünger als das meinige!“ sagte der Freiherr mit höchster Genugthuung. „Der Ahnherr der Steinrück wird erst in den Kreuzzügen genannt, und leider haben sie auch einen Flecken auf ihrem Stammbaum, eine Mißheirath der schlimmsten Art, die freilich erst aus der neuesten Zeit stammt. Sie geschah vor etwa dreißig Jahren, bis dahin war die Familie makellos.“

„Seit den Kreuzzügen! Und im neunzehnten Jahrhundert muß ihnen ein solches Unglück begegnen!“ rief Hans mit einer Entrüstung, die ihm ein beifälliges Kopfnicken seines Wirthes eintrug.

„Allerdings ein Unglück! Sie haben vollkommen Recht, Sie scheinen überhaupt ein sehr lebhaft entwickeltes Standesgefühl zu besitzen, ich liebe das außerordentlich. Ja, Graf Michael hat den Schlag überwunden, ich hätte es nicht gekonnt; mich hätte er zu Boden geworfen, denn mein Stammbaum ist rein bis auf diese Stunde, ganz rein!“

Damit begann er eine sehr weitläufige, historische Erörterung über besagten Stammbaum, in der er mit den Jahrhunderten nur so um sich warf und die um volle zweihundert Jahre jüngeren Grafen von Steinrück behandelte, als ob sie Wickelkinder seien. Hans achtete gar nicht darauf, er zerbrach sich noch immer den Kopf darüber, ob Fräulein Gerlinde von Eberstein wirklich taubstumm sei oder nicht, und das beschäftigte ihn so sehr, daß der Erzähler seine Zerstreutheit bemerkte und etwas empfindlich fragte, ob er auch zuhöre.

„Natürlich, ich bewundere den ganz reinen Stammbaum,“ versicherte der junge Mann. „Also die Eberstein-Ortenau –“

„Führen diesen Doppelnamen seit dem vierzehnten Jahrhundert,“ ergänzte der Freiherr. „Gerlinde, mein Kind, erzähle unserem Gaste, wie das geschah.“

Fräulein Gerlinde faltete die Hände auf dem Tische, sie hob auch jetzt das Auge nicht empor, und ihr Gesicht blieb unbeweglich, aber sie begann plötzlich zum Entsetzen des Gastes zu reden oder vielmehr zu plappern, in der Weise eines Kindes, das eine eingelernte Lektion aufsagt:

„Im Jahre dreizehnhundertundsiebzig war eine Fehde ausgebrochen zwischen Kunrad von Eberstein und Balduin von Ortenau, dieweil die Hand der Hildegund von Ortenau dem Ritter Kunrad von Eberstein versagt worden war, bei welcher Fehde sowohl die Ebersburg als die Veste Ortenau verschiedene Male berannt wurden, bis im Jahre dreizehnhundertundeinundsiebzig Ritter Balduin in die Gefangenschaft des Ebersteiners gerieth und in das Burgverließ geworfen wurde, allwo er endlich in die Vermählung Hildegund’s mit Kunrad willigte, welche Vermählung im Jahre dreizehnhundertundzweiundsiebzig mit großer Pracht gefeiert wurde, was zur Folge hatte, daß bei dem Tode des Ritters Balduin im Jahre dreizehnhnndertundsechsundachtzig die Veste Ortenau und deren sämmtliche Liegenschaften an die Herren von Eberstein kamen, die seitdem den Namen von Eberstein-Ortenau führen.“

„O – das ist erstaunlich!“ sagte Hans, der wirklich starr vor Staunen über diese Leistung der vermeintlich Taubstummen war. Er begriff nicht, wie sie beim Sprechen den Athem behielt, den er schon beim Zuhören verlor.

„Ja, meine Gerlinde weiß Bescheid in der Geschichte unseres Hauses,“ sagte der Freiherr triumphirend. „Sie hat sie sogar [576] besser im Kopfe als ich; denn mein Gedächtniß beginnt schon vom Alter zu leiden. Erst gestern machte sie mich auf einen Irrthum in der Jahreszahl aufmerksam, als ich von der Belehnung Udo’s von Eberstein sprach. Nicht wahr, mein Kind?“

Als habe man den Pendel einer Uhr angestoßen, so legte Fräulein Gerlinde auf diese Frage hin von Neuem los und erzählte eine noch weit längere Geschichte, diesmal aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in dem irgend ein Eberstein, in irgend einer Schlacht, dem Kaiser das Leben gerettet hatte und dafür mit irgend einer Burg belehnt worden war. All diese schwierigen Daten und Namen kamen mit einer unfehlbaren Geläufigkeit und Sicherheit, zugleich aber auch mit einer Eintönigkeit von ihren Lippen, die an das Klappern eines Mühlenwerkes erinnerte, und am Ende verstummte sie ebenso plötzlich, wie sie angefangen hatte. Hans rückte unwillkürlich seinen Stuhl um einige Schritte zurück, denn jetzt fing ihm die Sache an unheimlich zu werden; der Schloßherr aber, der das für eitel Bewunderung hielt, schien sehr geneigt, ihm noch weitere Einblicke in die Chronik seines Hauses zu verstatten, als die alte Wanduhr mit lauten, langsamen Schlägen die neunte Stunde verkündete.

„Schon neun Uhr!“ sagte Eberstein, indem er sich erhob. „Wir leben sehr regelmäßig, Herr von Wehlau, und pflegen stets um diese Stunde zur Ruhe zu gehen. Ihnen wird das nach Ihrer anstrengenden Wald- und Bergpartie nur angenehm sein. Ich wünsche Ihnen eine ruhige und angenehme Nacht in der Ebersburg.“

Textdaten
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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 34, S. 593–596
Novelle – Teil 11

[593] Das war ja fürchterlich!“ sagte Hans Wehlau tiefaufseufzend, als er sich auf seinem Schlafzimmer in der Ebersburg allein sah. „Dieser Greis aus dem zehnten Jahrhundert und dieses kleine Burgfräulein, das ich für taubstumm hielt und das nun die alten Chroniken herunterbetet wie ein Staarmatz, dem man die Zunge gelöst hat, haben mich ganz wirr im Kopfe gemacht. Ich stecke auch schon vollständig im Mittelalter, aber ich komme mir doch merkwürdig exklusiv vor, seit ich Hans Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein bin.“

Damit ging er zu Bett und schlief ein und träumte, der alte Freiherr ziehe mit einer Laterne durch ganz Norddeutschland, um den Forschungstein zu suchen, und Fräulein Gerlinde flattere [594] als Staarmatz neben ihm her und plappere unaufhörlich von Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau, und als sie den Forschungstein nicht fanden, setzten sie sich auf ihren Stammbaum und stiegen damit hoch empor, immer höher, bis in das zehnte Jahrhundert, und das sah sehr imponirend aus.

Als Hans am anderen Morgen erwachte, schien die Sonne hell durch das Fenster und seine Kleider waren wenigstens so weit getrocknet, daß er sie anlegen konnte. Es war noch früh am Tage und im Hause schien sich noch nichts zu regen; er beschloß deßhalb, sich die Ebersburg, wo er in voller Dunkelheit und im vollsten Unwetter angelangt war, jetzt bei Tageslicht zu besehen. Aus seinem Zimmer trat er sofort in den langen Gang, der sich durch ein Fenster erhellt zeigte, fand ohne besondere Mühe die steil gewundene Treppe mit den ausgetretenen Stufen und gelangte durch die Vorhalle in das Freie.

Die Ebersburg war ohne Zweifel in früherer Zeit ein starkes stattliches Bergschloß gewesen, vielleicht im Laufe der Jahrhunderte mehrmals zerstört und immer wieder aufgebaut worden, jetzt war sie nur noch eine Ruine. Der größte Theil lag in Trümmern, was von dem Mauerwerk noch stand, schien dem Zerfall nahe zu sein. Im Schloßhofe wuchs das Gras lustig empor, dazwischen hatte sich eine ganze Generation von Gesträuchen und jungen Bäumchen angesiedelt, die den Raum zu einer förmlichen Wildniß machten. Auch von der Zinne des alten Wartthurms, der noch anscheinend unversehrt stand, winkte grünes Gesträuch und zu den Fensteröffnungen flogen die Dohlen ein und aus. Dazwischen lagen verfallene Gewölbe, halb versunkene Mauern, und hier und da ragten die Ueberreste der eigentlichen Schloßräume empor.

Der einzige noch erhaltene Flügel, der von dem jetzigen Schloßherrn bewohnt wurde, hatte gleichfalls ein trostloses Ansehen. Die Ruine war in ihrer Verwilderung wenigstens malerisch, hier aber zeigte sich überall das Armselige, mühsam Zusammengeflickte, das den Verfall decken sollte und ihn nur um so krasser hervortreten ließ. Das graue zerbröckelnde Mauerwerk hatte einen grellen Kalkanstrich erhalten, die fehlenden Fenster und Thüren waren in der einfachsten Weise ersetzt und, wo die Räume nicht benutzt wurden, einfach mit Brettern verschlagen. Der prächtige alte Erker mußte sich ein ganz gewöhnliches Nothdach gefallen lassen, und die ehemals steinernen Stufen der Außentreppe, die zum Haupteingange führte, waren durch hölzerne ersetzt worden.

Hans Wehlau’s Künstlerauge war förmlich beleidigt von diesem Anblick; er wandte sich schleunigst wieder der Ruine zu, bahnte sich einen Weg durch die grüne Wildniß des Schloßhofes und gelangte endlich durch eine Maueröffnung, die wohl einst ein Pförtchen gewesen sein mochte, auf die ehemalige Burgterrasse. Hier aber wurde seinen weiteren Streifzügen ein Ziel gesetzt; denn aus dem Wartthurm, wo sich ein Stall zu befinden schien, tönte ein lustiges Meckern und gleich darauf sprang eine Ziege aus dem geöffneten Verschlage in das Freie; hinterdrein aber kam Fräulein Gerlinde, trotz der frühen Stunde schon in voller Toilette, das heißt in dem grauen Hauskleidchen von gestern, und trug in beiden Händen vorsichtig ein kleines hölzernes Milchgefäß, das bis an den Rand gefüllt war.

Das unerwartete Zusammentreffen überraschte beide Theile. Gerlinde blieb wie angewurzelt stehen, der Gast des Hauses mußte ja nun nothgedrnngen errathen, daß das Fräulein von Eberstein, das aus dem zehnten Jahrhundert stammte und eine unendliche Menge von Ahnen zählte, höchsteigenhändig die Ziege gemolken hatte, um die Milch für den Frühstückstisch zu beschaffen. Ihre sichtbare Bestürzung machte auch Hans verlegen, so daß auch er nicht das passende Wort fand, sondern sich mit einer stummen Verbeugung begnügte. Zum Glück begriff die Ziege das Peinliche der Situation und machte ihr ein Ende, indem sie in lustigem Bocksprunge gegen den Fremden anrannte und sich dann zurückkehrend so ungestüm an ihre junge Herrin schmiegte, daß das Gefäß ins Schwanken gerieth und ein Theil der Milch verschüttet wurde.

Das unterbrach in sehr glücklicher Weise die Verlegenheitspause; Hans eilte schleunigst herbei, um der jungen Dame die Milch abzunehmen, was sie sich auch gefallen ließ, aber sie sagte dabei leise wie entschuldigend:

„Muckerl freut sich so, wenn sie in das Freie kommt.“

„Gott sei Dank! Endlich etwas Anderes als mittelalterliche Chronik!“ dachte Hans, förmlich entzückt über diese Aeußerung. Er sprach seine Freude über die Lebhaftigkeit Muckerl’s aus, erkundigte sich angelegentlich nach deren Alter und Befinden und brachte dann zuvörderst seine Milch in Sicherheit, indem er sie auf einen Mauervorsprung niedersetzte, denn Muckerl betrachtete ihn mit höchst kritischen Blicken und schien sehr geneigt, den Angriff zu wiederholen, besann sich aber schließlich eines Besseren und machte sich über das saftige Gras her, welches den Boden bedeckte.

Der Blick von der Ebersburg war nur ein beschränkter, sie lag in einem ziemlich tiefen Thalkessel, und der ringsum an der Berglehne aufsteigende Wald verdeckte und raubte ihr die weitere Aussicht, aber sie lag wie eingebettet in ein grünes duftiges Waldmeer, dessen Wipfel leise im Morgenwinde schwankten und aus dem hier und da Vogelgezwitscher heraufklang.

Die Morgensonne überfluthete hell die alte Burgterrasse. Auch hier überall Verödung und Verfall, und doch überall frisches, blühendes Leben, das mitleidig die Zerstörung deckte. In der ehemaligen Ringmauer klafften breite Lücken, aber wildes Gesträuch wuchs daraus empor und bildete eine lebendige Brustwehr; der mächtige Wartthurm, in dem die Dohlen aus- und einflogen, war wie eingesponnen in einem Netze von dichtem dunkelgrünen Epheu; an die altersgrauen Trümmer ringsum schmiegte sich weiches Moos, und üppige Schlingpflanzen wucherten darüber hin. Auf jedem Stein, aus jeder Mauerspalte grünte und blühte es, und über dem Allem lag die tiefe, traumhafte Stille der ersten Morgenfrühe.

Inmitten dieser Ueberreste einer längst vergangenen Herrlichkeit stand der letzte Sprößling der Eberstein in dem grauen Aschenbrödelkleidchen, dicht an die Mauer geschmiegt. Verschwunden war die steife Haltung und das lächerliche Gebahren von gestern Abend, das junge Mädchen war offenbar befangen durch das Alleinsein mit dem fremden Gast und blickte mit dem Ausdruck eines erschrockenen Kindes zu ihm empor. Er bekam auf diese Weise zum ersten Male ihre Augen zu sehen, ein Paar schöne, braune Augen, sanft und schüchtern wie die eines Rehs, sie entsprachen vollkommen dem holden Gesichtchen.

Das Schweigen dauerte ziemlich lange. Hans war so angelegentlich beschäftigt, in die Augen zu blicken, die sich ihm endlich entschleierten, daß er darüber ganz vergaß, das Gespräch wieder aufzunehmen, und als er es schließlich doch that, geschah es in rein mechanischer Weise, er knüpfte unwillkürlich an das gestern Gehörte an.

„Ich habe vorhin einen Streifzug durch die Ebersburg unternommen,“ begann er. „Es muß einst eine stolze Veste gewesen sein, die sicher ihren Feinden zu schaffen gemacht hat, und eine Fehde zu der Zeit, wo Kunrad von Ortenau und Hildegund von Eberstein – nein, die Geschichte war ja wohl umgekehrt.“

Es war ein Unglück, daß er die Namen aussprach; sobald Fräulein Gerlinde vom Mittelalter hörte, wurde sie wieder starr und steif wie ein Holzbild; die langen Wimpern senkten sich, ebenso das Köpfchen und in dem alten Plappertone begann sie:

„Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau im Jahre des Heils –“

„Ja wohl, mein gnädiges Fräulein, ich weiß schon, ich erinnere mich jetzt ganz genau der Sache,“ fiel Hans entsetzt ein. „Ich bin durch Ihre Güte ja vollständig eingeweiht in die Chronik Ihres Hauses. Eigentlich wollte ich nur bemerken, daß der Aufenthalt auf dieser alten Bergveste doch sehr eintönig sein muß. Sie bringen Ihrem Herrn Vater sicher ein großes Opfer damit, eine junge Dame sehnt sich doch hinaus in die Welt und in das Leben.“

Gerlinde schüttelte verneinend das Haupt, und plötzlich öffnete sie den Mund und that mit der Unfehlbarkeit eines siebzigjährigen Weisen den Ausspruch:

„Die Welt und das Leben taugen gar nichts!“

„Nichts?“ fragte der junge Mann betreten. „Woher wissen Sie denn das so genau?“

„Mein Papa sagt das,“ versetzte Gerlinde mit einer Feierlichkeit, die bewies, daß die Aussprüche ihres Vaters für sie Orakel waren. „Die Welt ist immer schlechter geworden mit jedem Jahrhundert, und das jetzige steht nun vollends im Zeichen des Unterganges, denn der Adel hat gar keine Geltung mehr.“

[595] Sie hielt die Augen wieder hartnäckig gesenkt und sprach in einem Tonfall, der ihren Zuhörer auf das Lebhafteste an seinen Traum in der vergangenen Nacht erinnerte. Um seine Lippen zuckte es eigenthümlich, aber er bezwang sich und erwiderte mit vollem Ernste:

„Ja, der Adel! Aber es giebt doch auch außerdem noch einige Menschen in der Welt.“

Fräulein Gerlinde sah etwas erstaunt aus, sie schien diese Thatsache zu bezweifeln und verfiel in ein tiefes Nachdenken, als dessen Resultat sie endlich erklärte:

„Ja freilich – die Bauern.“

„Richtig! Und noch einigen anderen Menschenrassen kann man die Daseinsberechtigung nicht völlig abstreiten. Die Gelehrten zum Beispiel, die Künstler, zu denen ich auch gehöre –“

Fräulein Gerlinde öffnete die rosigen Lippen weit vor Erstaunen und wiederholte:

„Zu den Künstlern?“

„Ja so, sie hält mich auch für solch ein mittelalterliches Subjekt,“ dachte Hans, der seine Standeserhöhnug ganz vergessen hatte, laut aber fügte er hinzu:

„Gewiß, mein gnädiges Fräulein, ich beschäftige mich mit der Kunst und schmeichle mir sogar, etwas darin zu leisten.“

Die junge Dame fand diese Beschäftigung offenbar sehr unpassend. Zum Glück fiel ihr ein, daß irgend ein Eberstein sich in irgend einem Jahrhnndert mit Astrologie abgegeben hatte, und das erklärte einigermaßen den wunderlichen Geschmack des Herrn Wehlau Wehlenberg, aber sie fand sich doch veranlaßt, ihm einen Ausspruch ihres Vaters zu wiederholen:

„Mein Papa sagt, ein Mann von altem Adel dürfe der Gegenwart keine Koncessionen machen, das sei unter seiner Würde.“

„Das ist nun die Ansicht des Herrn Baron,“ sagte Hans achselzuckend. „Er scheint sich so vollständig von der Welt zurückgezogen zu haben, daß er jede Fühlung mit ihr verloren hat; seine Standesgenossen denken ganz anders in dieser Beziehung. Sehen Sie zum Beispiel die Grafen von Steinrück, ein Geschlecht, das ebenso alt ist wie das Ihrige.“

„Zweihundert Jahre jünger!“ unterbrach ihn Gerlinde entrüstet.

„Ganz recht, volle zweihundert Jahre! Ich erinnere mich, der Ahnherr wird erst in den Kreuzzügen genannt, während der Ihrige aus dem achten Jahrhundert stammt.“

„Aus dem zehnten.“

„Natürlich, aus dem zehnten! Ich habe mich nur versprochen, ich meinte selbstverständlich das zehnte Jahrhundert. Um aber wieder auf die Steinrück zu kommen, so ist Graf Michael kommandirender General; sein Sohn war, so viel ich weiß, bei der Gesandtschaft in Paris, sein Enkel ist im Staatsdienste. Sie Alle stehen mitten im lebendigen Strome der Gegenwart und würden sich schwerlich zu den Ansichten Ihres Herrn Vaters bekennen, und auch Sie werden anders darüber denken, wenn Sie erst in die Welt und das Leben eintreten.“

„Ich mag gar nicht dort eintreten,“ sagte Gerlinde leise und zaghaft. „Ich fürchte mich so davor.“

Hans lächelte, er trat einen Schritt näher und beugte sich nieder zu dem zarten Geschöpfchen; seine Stimme klang eigenthümlich weich und sanft, als spreche er zu einem Kinde.

„Das läßt sich begreifen, Sie leben ja hier so weltentrückt, so eingesponnen in eine längst versunkene Zauberwelt, wie das schlummernde Dornröschen im Märchen. Aber einmal wird doch der Tag kommen, wo die Dornenhecke gesprengt wird, wo die grünen Mauern weichen, der Tag, wo Sie erwachen aus dem Zauberschlaf, und glauben Sie mir, mein Fränlein, was Sie dann erblicken, das ist nicht mehr der Staub und Moder der Jahrhunderte, das ist das warme, goldige Sonnenlicht, das auch durch unsere Zeit fluthet, trotz aller Kämpfe und Bitternisse – Sie werden auch noch lernen hineinzuschauen!“

Gerlinde hörte schweigend zu, aber ein leises, glückliches Lächeln spielte um ihre Lippen und verrieth, daß sie das Märchen von Dornröschen kenne. Jetzt hob sie langsam die Augen empor, nur für einen Moment, und senkte sie dann schnell wieder, was ihr aus dem Antlitz des jungen Mannes entgegenleuchtete, mochte auch etwas von jenem Lichte sein, das er ihr eben verheißen – sie wurde plötzlich dunkelroth und wandte sich hastig ab.

Muckerl war jedenfalls eine sehr verständige Ziege, sie hatte bisher ruhig geweidet und nur bisweilen einen ernsthaften Blick auf die Beiden geworfen, schien aber im Ganzen zufrieden mit dem Verlauf der Unterredung. Jetzt aber mußte ihr die Sache doch bedenklich vorkommen, denn sie ließ plötzlich das Gras im Stich und lief zu ihrer jungen Herrin, an deren Seite sie sich wie ein Wächter aufpflanzte.

„Ich glaube – ich muß in das Schloß zurück,“ sagte Gerlinde kaum hörbar.

„Schon?“ fragte Hans, der es gar nicht merkte, daß das Gespräch schon eine halbe Stunde gewährt hatte.

Sie traten gemeinschaftlich den Rückweg an, wobei Hans die Milch trug, Fräulein Gerlinde an seiner Seite ging und Muckerl folgte, von Zeit zu Zeit ernsthaft mit dem Kopfe nickend. Verdächtig war und blieb ihr die Sache doch, sie konnte nicht begreifen, weßhalb die Beiden auf einmal so stumm geworden waren. –

Eine Stunde später stand der junge Wanderer am Fuße der Ebersburg. Er hatte sich von dem Freiherrn und seiner Tochter verabschiedet, ohne sein Inkognito aufzugeben, er wollte dem alten Herrn den alsdann unvermeidlichen Aerger ersparen. Was lag denn auch daran, wenn man ihn hier noch ferner für ein „mittelalterliches Subjekt“ hielt; das Abenteuer war ja zu Ende, und er betrat schwerlich jemals wieder die Ebersburg.

Sein Blick flog noch einmal hinauf zu dem grauen Gemäuer, zu der sonnigen Burgterrasse, und die so gepriesene Gegenwart, der er sich jetzt wieder zuwandte, wollte ihm auf einmal recht nüchtern erscheinen gegen den Märchentraum, der ihm dort aufgegangen war, inmitten des grünen Waldmeeres, auf den alten Trümmern, wo es ringsum blühte und duftete, und an der Seite des kleinen Dornröschens, das sich nun wieder einspann in seine Einsamkeit und weiter träumte von dem Ritter, der die Dornenhecke sprengte und es wach küßte aus seinem Zauberschlummer. Hans unterdrückte einen Seufzer, als er sich jetzt abwandte und halblaut sagte:

„Es ist doch eigentlich schade, daß ich nicht Hans Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein bin!“


In Steinrück herrschte eine äußerst rege Geselligkeit, die durch die Jagdzeit und die schönen, sonnigen Herbsttage noch mehr begünstigt wurde. Es war zwar Niemand zu längerem Aufenthalte in das Schloß geladen worden, Gerlinde von Eberstein ausgenommen, die seit einigen Tagen dort weilte, aber man empfing fast täglich Gäste und machte eben so häufig Besuche in der Umgegend. Den Mittelpunkt dieser Geselligkeit bildeten gewöhnlich Hertha und Raoul Steinrück. Man wußte ja längst, daß die Beiden für einander bestimmt waren, daß das jetzige Zusammensein ihnen nur Gelegenheit zu einer Erklärung geben sollte, die eigentlich nur noch eine bloße Form war, und als der General die Einladungen zu einer größeren Festlichkeit erließ, die den ganzen Freundes und Bekanntenkreis des gräflichen Hauses vereinigen sollte, kannte ein Jeder die Bedeutung derselben; es handelte sich um die öffentliche Verkündigung der Verlobung.

Der Abend brach bereits herein, und das ganze Schloß war von jener Unruhe erfüllt, die einem größeren Feste voranzugehen pflegt. Die Diener liefen treppauf, treppab, hier und dort wurde noch in aller Eile eine Anordnung getroffen und die Gesellschaftsräume strahlten bereits im vollsten Lichtglanz.

Die Familie, in der nur noch Hertha und Gerlinde fehlten, trat soeben in den Empfangssalon. Graf Steinrück, der die verwittwete Gräfin führte, sah ungewöhnlich heiter aus; der heutige Tag brachte ihm ja die Erfüllnng seines Lieblingswunsches; die Verlobung der beiden letzten Sprossen seines Hauses wurde auf der Stammburg gefeiert, und damit war auch der Glanz dieses Hauses gesichert, der gesammte Steinrück’sche Besitz sollte fortan in Einer Hand vereinigt sein.

Hortense, die am Arme ihres Sohnes folgte, verrieth gleichfalls eine stolze, glückliche Zufriedenheit. Sie sah in der ebenso reichen wie geschmackvollen Toilette und bei Kerzenlicht noch immer schön aus und überstrahlte weit ihre Kousine. Die zarte, blasse Frau verschwand völlig neben dieser glänzenden Erscheinung. Naoul war heiter und liebenswürdig, nur bisweilen schien eine leichte Wolke über seine Stirn zu gleiten, aber sie verschwand [596] schnell wieder, und er zeigte seiner Mutter gegenüber die zärtlichste Aufmerksamkeit.

„Wir haben die Einladungen so viel als möglich beschränkt,“ sagte Hortense, indem sie einen prüfenden Blick durch die erleuchteten Gemächer sandte, „und dennoch werden wir nur nothdürftig Raum für unsere Gäste haben. Es ist etwas Entsetzliches um diese alten Bergschlösser, die weder einen großen Festsaal noch eine Flucht zusammenhängender Zimmer besitzen; nicht einmal eine Gesellschaft kann man darin geben!“

„Dazu sind sie auch nicht erbaut,“ entgegnete der Graf ruhig. „Sie sollten ein Heim für die Familie, sollten Schutz und Wehre nach außen sein, modernen Ansprüchen genügen sie freilich nicht, am wenigsten den Deinen, Hortense, denn Du hast Steinrück nie geliebt.“

„Nun, in dem Punkte theile ich vollkommen den Geschmack der Mama,“ fiel Raoul ein. „Mich reizt hier nur die Jagd in den Bergwäldern. Das Schloß selbst, mit seinen engen, düsteren Räumen, den endlosen, hallenden Gängen und steilen, dunklen Treppen kommt mir immer wie ein Gefängniß vor. Ich athme förmlich auf, wenn ich das alte Gemäuer im Rücken habe.“

„Du scheinst ganz zu vergessen, daß dies alte Gemäuer die Wiege Deines Geschlechtes ist und Dir als solche theuer und heilig sein muß, selbst wenn es in Trümmern läge,“ sagte der General mit einiger Schärfe.

Raoul biß sich auf die Lippen bei dieser sehr deutlichen Zurechtweisung.

„Verzeih, Großpapa, ich habe gewiß die nöthige Pietät für unseren Stammsitz, aber schön kann ich ihn beim besten Willen nicht finden. Ja, wenn es das sonnige heitere Schlößchen in der Provence wäre, mit seiner paradiesischen Umgebung, seiner sagen- und liederreichen Vergangenheit, wo ich früher so oft –“

„Du meinst das Schloß der Montigny?“ unterbrach ihn Steinrück in einem Tone, der den jungen Grafen warnte, denn er verstummte. Die Mutter aber nahm statt seiner das Wort.

„Gewiß, Papa, er spricht von meiner schönen, sonnigen Heimat. Du wirst wohl begreifen, daß sie uns ebenso theuer ist, als Dir die Deinige.“

„Uns?“ fragte der General kalt. „Du sprichst Doch wohl nur von Dir, Hortense? Ich finde es natürlich, daß Du an Deinem Vaterhause hängst, Raoul aber ist ein Steinrück und hat mit der Provence nichts zu schaffen. Seine Liebe gehört selbstverständlich seinem Vaterlande.“

Die Worte hatten einen beinahe drohenden Klang.

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 35, S. 609–614
Novelle – Teil 12

[609] Hortense, durch den drohenden Klang der letzten Worte des Grafen gereizt, schien eine heftige Antwort auf den Lippen zu haben, als ihre Kousine, die den Zündstoff in der Familie hinreichend kannte, rasch ablenkte.

„Unsere jungen Damen scheinen noch nicht fertig zu sein,“ bemerkte sie. „Ich habe Hertha gebeten, Gerlinde in den Toilettenangelegenheiten ein wenig beizustehen; das arme Kind versteht ja nicht das Mindeste davon.“

„Das kleine Burgfräulein scheint überhaupt sehr beschränkter Natur zu sein,“ spottete Raoul. „Für gewöhnlich ist sie stumm wie ihre Ahnengruft, und sobald man auf die historische Feder drückt, fängt sie an, wie ein Papagei zu plappern. Dann schnurrt sofort ein ganzes Jahrhundert herunter, mit haarsträubenden Ritternamen und unendlichen Jahreszahlen, es ist wirklich grauenhaft!“

„Und doch bist Du es grade, der Gerlinde veranlaßt, sich immer wieder in dieser Weise lächerlich zu machen,“ sagte die Gräfin vorwurfsvoll. „Sie ist viel zu unerfahren, um hinter Deiner Artigkeit und Deiner scheinbaren Bewunderung ihrer Kenntnisse den schonungslosen Spott zu bemerken. Kannst Du sie denn nicht in Frieden lassen?“

„Sie fordert aber den Spott gradezu heraus,“ warf Hortense ein. „Mein Himmel, welche Toilette und welche Verbeugungen! Und wenn sie den Mund öffnet, ist es vollends aus. Nimm es mir nicht übel, liebe Marianne, aber es ist fast unmöglich, Deinen Schützling in die Gesellschaft einzuführen.“

„Das ist nicht die Schuld der armen Kleinen,“ sagte Marianne. „Sie hat das Unglück gehabt, schon in den ersten Kinderjahren ihre Mutter zu verlieren, hat nie etwas von der Welt gesehen, ist nie mit Menschen in Berührung gekommen, den Vater ausgenommen, und der alte Sonderling hat das Kind förmlich abgerichtet und untauglich gemacht für jeden anderen Umgang.“

„Ich bewundere Ihre Geduld, Marianne, daß Sie überhaupt noch mit Eberstein verkehren,“ sagte Steinrück. „Ich habe ihn früher einmal aufgesucht, weil er mir in seiner Vereinsamung leid that, mußte aber sofort hören, daß sein Geschlecht zweihundert Jahre älter sei als das [610] meinige. Ich glaube, er hat mir das sechsmal erzählt; es war überhaupt kein vernünftiges Wort mit ihm zu reden, so hatte er sich schon damals in seine Marotten verrannt, und jetzt scheint er beinahe kindisch geworden zu sein.“

„Er ist alt und krank, und es ist ein trauriges Schicksal, in Armuth und Einsamkeit zu verkümmern,“ entgegnete die Gräfin sanft. „Seit ihn sein Gichtleiden zwang, den Abschied zu nehmen, besitzt er nichts als seine kleine Pension und die alten Trümmer der Ebersburg. Wenn er nur wenigstens zu bewegen wäre, Gerlinde auf einige Zeit von sich zu lassen, ich nähme sie gern mit nach Berkheim oder nach der Stadt, da wir ja in diesem Winter auf einige Zeit dorthin gehen, aber das wird kaum zu erreichen sein.“

„Der alte Egoist!“ sagte der General ärgerlich. „Was soll denn aus dem armen Kinde werden, wenn er die Augen schließt? Aber unsere jungen Damen lassen in der That auf sich warten, es wird Zeit, daß sie erscheinen.“

Die jungen Damen hatten sich allerdings etwas verspätet, aber es waren nicht Toilettenangelegenheiten, die sie zurück hielten. Hertha befand sich schon völlig angekleidet in ihrem Zimmer; sie hatte ihre Kammerfrau fortgesandt und stand vor dem großen Spiegel, in den sie unverwandt hineinblickte. Man hätte glauben können, sie sei in die Bewunderung ihrer eigenen Schönheit versunken, aber die Augen hatten einen seltsam träumenden Ausdruck und sahen offenbar nichts von dem Bilde, welches das helle Glas zurück warf; sie schienen weit darüber hinauszublicken in unendliche Fernen.

Da wurde leise die Thür des Nebenzimmers geöffnet, und Gerlinde erschien. Die beiden jungen Mädchen hatten stets mit einander verkehrt, wenn die gräfliche Familie nach Steinrück kam; dennoch herrschte nicht die geringste Vertraulichkeit zwischen ihnen.

Gerlinde blickte mit scheuer Bewunderung zu der glänzenden Hertha empor, während ihr diese höchstens eine mitleidige Duldung gewährte und sie bisweilen sogar mit dem ganzen Uebermuthe des verzogenen Glückskindes verspottete. Auch heute ruhten die Augen des „kleinen Burgfräuleins“ mit neidloser Bewunderung auf der jungen Gräfin, die in der That bräutlich schön aussah in dem weißen Atlaskleide, das in weichen schweren Falten niederfloß. Das Haar schmückte nur eine einzige weiße Rose, und ein Strauß duftender, halberschlossener Rosenknospen lag auf dem Tischchen neben dem Spiegel.

„Wie schön Du bist!“ sagte Gerlinde unwillkürlich. Die junge Gräfin wandte sich um und lächelte, aber es war kein Lächeln befriedigter Eitelkeit.

„Ich kann Dir das Kompliment zurückgeben,“ erwiderte sie. „Du siehst heute allerliebst aus.“

Das junge Mädchen trug allerdings nicht mehr das graue Aschenbrödelkleidchen, die Gräfin hatte dafür gesorgt, daß ihr Pathenkind bei dem heutigen Feste in entsprechender Toilette erschien, aber Gerlinde fühlte sich offenbar bedrückt von der ungewohnten Pracht und verstand es nicht, sich darin zu bewegen. Sie mochte wohl fühlen, wie wenig sie überhaupt in diesen glänzenden Kreis paßte, und das verschüchterte sie noch mehr. Verlegen und ängstlich stand sie da und wagte kaum die Augen aufzuschlagen.

„Nur diese lächerliche steife Haltung mußt Du ablegen,“ kritisirte Hertha. „Du verlernst es auf der einsamen Ebersburg noch völlig, Dich unter Menschen zu bewegen. Du siehst ja Niemand dort, als Deinen Vater und höchstens die Bauern des benachbarten Dorfes, wo Du die Messe hörst.“

Gerlinde schwieg und senkte das Köpfchen. Niemand? Sie dachte an deu jungen Gast, der in Sturm und Unwetter gekommen und im hellen Sonnenschein wieder gegangen war, aber sie hatte das bisher noch mit keiner Silbe erwähnt, obgleich es ein Ereigniß in ihrem einsamen Leben war. Eine unbewußte Scheu schloß ihr die Lippen, und heute hätte sie nun vollends nicht davon sprechen können. Die Erinnerung an den sonnigen Morgentraum auf den alten Burgtrümmern gehörte nicht vor das Ohr der jungen Dame, welche die Jugendfreundin mit so kühler Ueberlegenheit hofmeisterte.

Hertha hatte sich wieder umgewandt, sie streifte dabei das Tischchen, wo der Rosenstrauß lag, und dieser fiel zu Boden, ohne daß sie es beachtete; Gerlinde hob ihn auf.

„Danke!“ sagte Hertha gleichgültig, indem sie die Blumen wieder in Empfang nahm. Sie schienen nur lose zusammengefügt zu sein, denn eine der Rosen hatte sich aus dem Kreise ihrer Schwestern gelöst und lag grade zu den Füßen der jungen Gräfin, die mit einem eigenthümlich herben Ausdruck darauf nieder schaute. Vielleicht kam ihr die Erinnernng an jenen Abend, wo auch solch eine duftende, halb erschlossene Knospe ihrer Hand entfallen war, um wenige Minuten darauf zu sterben unter einem eisernen Tritt, der sie zermalmte.

„Laß das!“ wehrte sie heftig, als Gerlinde sich von Neuem bücken wollte. „Was liegt denn an der einzelnen Rose, ich habe ja genug davon.“

„Es ist aber ein Geschenk Deines Bräutigams,“ bemerkte das junge Mädchen.

„Nun ja, ich werde es auch am heutigen Abend tragen, mehr kann Raoul doch nicht verlangen. Wenn nur erst die Ceremonie des Glückwünschens vorüber wäre! Es ist tödlich langweilig, von Jedem dasselbe zu hören und all diesen banalen Redensarten Stand halten zu müssen. Ich bin heute gar nicht in der Stimmung dazu.“

Die Worte klangen sehr ungeduldig und es lag auch eine nervöse Ungeduld in der Art, mit der sie jetzt im Zimmer auf und ab zu schreiten begann. Gerlindens Augen folgten erstaunt der stolzen, königlichen Erscheinung, der die schwere Atlasschleppe rauschend nachfolgte: sie begriff nicht, daß eine Braut an ihrem Verlobungstage nicht in der Stimmung sein könne, Glückwünsche zu empfangen, und mit naiver Verwunderung fragte sie: „Hast Du denn den Grafeu Raoul nicht lieb?“

Hertha blieb plötzlich stehen.

„Seltsame Frage, wie kommst Du darauf? Gewiß habe ich ihn lieb, wir sind ja für einander erzogen worden, ich wußte ja schon in meinen Kinderjahren, daß er mir zum Gemahl bestimmt war. Er ist schön, ritterlich, liebenswürdig, mir gleich an Namen und Geschlecht, weßhalb soll ich ihn denn nicht lieben? Du glaubst Wohl, es müsse bei einer Vermählung noch heute so romantisch zugehen wie in Deinen alten Chronikbüchern, wo immer erst um die Braut gekämpft und gestritten wird? Du hast uns ja gestern erst eine derartige Geschichte erzählt von einer Gertrudis –“

„Gertrudis von Eberstein und Dietrich Fernbacher,“ fiel Gerlinde schleunigst ein, als habe sie mit dem Namen ein Stichwort erhalten. „Aber sie durfte ihn nicht ehelichen, dieweil er nicht ritterlicher Abkunft, sondern nur der Sohn eines Kaufherrn war.“

„Sie durfte nicht?“ fragte Hertha, den Kopf aufwerfend. „Sie wollte vielleicht auch nicht, es widerstrebte ihr wahrscheinlich, den alten, edlen Namen ihres Geschlechtes gegen den einer reichgewordenen Krämerfamilie umzutauschen. Begreifst Du das nicht, Gerlinde? Was würdest Du thun, wenn Du zum Beispiel einen Bürgerlichen liebtest?“

„Das wäre schrecklich!“ sagte das kleine Burgfräulein, mit dem ganzen Entsetzen eines Sprößlings aus dem zehnten Jahrhundert, setzte aber dann mit voller Ueberzeugung hinzu:

„Mein Papa sagt, das dürfe nicht vorkommen.“

„Es ist aber doch vorgekommen, sogar in Eurem eigenen Geschlechte. Wie endete denn die Sache eigentlich, hat Deine Ahnfrau auf ihren Dietrich verzichtet?“

Die arme Gerlinde merkte es in der That nicht, daß sie während der ganzen Zeit ihres Hierseins nur das Stichblatt für den Spott Raoul’s und Hertha’s gewesen war, die sie bei jeder Gelegenheit veranlaßten, sich lächerlich zu machen. Sie wollte sich so gern dankbar zeigen für die gespendete Gastfreundschaft und glaubte in aller Unschuld und Harmlosigkeit, man interessire sich in Steinrück wirklich für die Geschichten, die ihr so unendlich wichtig erschienen. So faltete sie denn auch jetzt ernsthaft die Hände und begann wieder in der gewohnten Art einen Abschnitt ihrer Hauschronik herzubeten, der aber diesmal nicht mit einer fröhlichen Hochzeit endete wie bei Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau, sondern mit einer Trennung. Die Geschichte war sehr lang, und die Ritternamen und Jahreszahlen, die Raoul so haarsträubend fand, kamen wieder in unendlicher Menge vor, aber die junge Gräfin schien heute ihre Spottlust verloren zu haben. Sie war an das Fenster getreten und blickte unverwandt und regungslos hinaus, bis Gerlinde schloß:

[611] „Also ward Gertrudis vermählt an den edlen Herrn von Ringstetten, und Dietrich Fernbacher zog hinaus in den Kampf gegen die Ungläubigen und kam nimmer wieder.“

„Und kam nimmer wieder – nimmer!“

Hertha’s Lippen sprachen leise, wie traumverloren die Worte nach, und dabei nahmen ihre Augen wieder den seltsamen Ausdruck an wie vorhin, als sähen sie etwas, das in weiter Ferne lag, weit hinter dem Nebel und der Dämmerung, welche die Landschaft draußen zu verschleiern begann.

Es entstand ein längeres Schweigen, das Gerlinde nicht zu brechen wagte, aber endlich mahnte sie doch leise: „Hertha – ich glaube, es ist Zeit.“

Hertha sah auf, als werde sie aus einem Traume geweckt.

„Zeit – wozu?“

„Zu dem Feste, man erwartet uns.“

„Ja so – das hatte ich vergessen! Geh’ voran, Gerlinde, ich folge sogleich, ich will nur noch eine Kleinigkeit an meiner Toilette ändern. Ich bitte Dich, geh’!“

Die Aufforderung klang so bestimmt, daß das junge Mädchen ohne weiteres Zögern gehorchte, sie war aber kaum zu der Treppe gelangt, die in das untere Stockwerk führte, als ihr ein Diener entgegenkam, den der General abgesandt hatte. Excellenz ließen die junge Gräfin um ihre Gegenwart bitten, soeben sei der erste Wagen in den Schloßhof gefahren.

Gerlinde kehrte um, um selbst die Botschaft auszurichten; geräuschlos glitt ihr Fuß über den Teppich des Vorzimmers und ebenso geräuschlos öffnete sie die Thür, blieb aber betroffen auf der Schwelle stehen.

Hertha saß oder lag vielmehr in dem Armsessel am Fenster, die Hände krampfhaft in einander geschlungen, das Haupt zurückgelehnt, aber unter den geschlossenen Wimpern drängte sich Thräne um Thräne hervor, und die Brust hob und senkte sich unter einem wilden, leidenschaftlichen Schluchzen. Die junge Braut weinte, weinte so heiß und schmerzlich, wie einst das Kind geweint hatte, als die weißen Schneerosen, die man den zerstörenden kleinen Händen entrissen hatte, den Flammentod starben.

„Hertha, liebe Hertha, was ist Dir?“ rief Gerlinde erschrocken auf sie zueilend. Die Gerufene fuhr empor und ein Blitz des Zornes sprühte aus ihren Augen.

„Was willst Du? Weßhalb kommst Du zurück? Kann ich denn nicht eine Minute allein sein?“

„Ich wollte – ich kam nur, Dich zu holen,“ sagte das junge Mädchen scheu zurückweichend. „Graf Steinrück läßt Dich bitten zu kommen, die Gäste fahren bereits vor.“

Hertha erhob sich und fuhr mit dem Taschentuchs über das Gesicht. In einem Moment waren die Thränenspuren vertilgt, und die junge Gräfin trat anscheinend ganz ruhig vor den Spiegel, um noch einen prüfenden Blick auf ihre Toilette zu werfen, dann griff sie nach dem Rosenstrauß.

„Nun, so laß uns gehen!“

Sie gingen, das Atlasgewand rauschte über die Treppenstufen, und wenige Minuten später traten sie in den Empfangssalon, wo die Braut bereits mit Ungeduld erwartet wurde.

Im Schloßhofe fuhr jetzt Wagen auf Wagen vor und die Festräume begannen sich zu beleben, die Gäste trafen immer zahlreicher ein, und noch vor Ablauf einer Stunde war die ganze Gesellschaft versammelt, vor der General Steinrück nunmehr in aller Form die Verlobung seines Enkels mit der Gräfin Hertha verkündete.

Von Raoul’s Stirn war jede Wolke verschwunden, er schien heute nur Augen für seine Braut zu haben, die so schön, so stolz und siegesgewiß an seiner Seite stand und für jeden Glückwunsch, für jedes Kompliment ein Lächeln hatte. Man fand das sehr natürlich und begriff auch die strahlende Heiterkeit auf dem Antlitz des alten Grafen, dessen eigenstes Werk diese Verbindung war. Er hatte mit fester Hand zusammengefügt, was durch Geburt und Name, durch Glanz und Reichthum zusammengehörte, und es war ein so schönes, ein so glückliches Paar.


Ein trüber Oktoberhimmel lag über dem endlosen Häusermeer der Hauptstadt, das sich mit jedem Jahre weiter und mächtiger ausbreitete. In den Hauptstraßen fluthete der Verkehr wie gewöhnlich und das unaufhörliche Menschengewoge, der Lärm und das Wagengerassel hatten etwas Betäubendes für Jeden, der aus der stillen Einsamkeit der Berge kam und nun mitten in dies fluthende Leben gerieth.

Der General Graf Steinrück hatte seine Wohnung in einem der militärischen Dienstgebäude, wo ihm die sämmtlichen Räume des ersten Stockwerkes zur Verfügung standen. Die Einrichtung war eine reiche, theilweise sogar luxuriöse, soweit sie die Zimmer der Gräfin Hortense betraf; Steinrück trug in diesem Punkte dem Geschmack seiner Schwiegertochter Rechnung und ließ ihr überhaupt freie Hand in Allem, was die Repräsentation betraf, während er andererseits die Zügel seines Hauses fest in Händen hielt. Seine Stellung erlaubte ihm immerhin auf größerem Fuße zu leben, wenn auch die Einkünfte des Familiengutes nicht bedeutend waren.

Die Wohnräume des Generals waren im Gegensatz zu denen seiner Schwiegertochter sehr schmucklos eingerichtet, und das Arbeitszimmer vollends war von einer beinahe spartanischen Einfachheit. Hier herrschte kein trauliches Halbdunkel, wie in jenen Salons; hier gab es keine weichen Teppiche und orientalischen Vorhänge, sogar der künstlerische Schmuck von Gemälden und Statuen fehlte. Durch die hohen Fenster drang das Tageslicht voll und scharf herein; auf dem Schreibtische waren Papiere, Briefschaften und Bücher sorgfältig geordnet, die Möbel von hellem Eichenholz ohne jede Schnitzerei oder sonstige Verzierung, mit dunklem Leder überzogen, konnten kaum schmuckloser sein, und die Bilder an den Wänden hatten offenbar nur einen persönlichen Werth für den Besitzer, als Familienandenken oder Erinnerungszeichen. Es war ein Gemach zum Arbeiten, nicht zum behaglichen Ausruhen, und es entsprach in seiner strengen, fast nüchternen Einfachheit völlig dem Charakter seines Bewohners.

Steinrück saß am Schreibtische und sprach mit seinem Enkel, der soeben von Berkheim zurückgekehrt war, wohin er seine Braut und deren Mutter begleitet hatte. Raoul schien wirklich ein glücklicher Bräutigam zu sein; auf seinem Gesichte lag heller Sonnenschein, als er von der Reise berichtete, auch um die strengen Züge des Grafen spielte ein Lächeln; die Erfüllung seines Lieblingswunsches machte ihn weit milder und zugänglicher als sonst.

Sie hatten von dem bevorstehenden Besuch Hertha’s und ihrer Mutter, von der Vermählung gesprochen, die im nächsten Sommer stattfinden sollte, und Raoul sagte endlich: „Du wirst mich jetzt wohl fortschicken müssen, Großpapa, es ist die Stunde Deines dienstlichen Empfanges.“

„Noch nicht,“ entgegnete der General mit einem Blick auf die Uhr. „Wir haben immerhin noch eine Viertelstunde Zeit, und überdies liegt für heute nichts Besonderes vor, nur einige Meldungen und Vorstellungen jüngerer Officiere.“

Er nahm ein Blatt vom Schreibtische und überflog es, auf einmal aber verfinsterte sich sein Gesicht und halblaut murmelte er: „Ah so! Also heute!“

Raoul, der neben dem Großvater stand, hatte gleichfalls einen Blick auf die Liste geworfen und dort einen bekannten Namen gefunden.

„Lieutenant Rodenberg? Ist der zum Generalstab kommandirt?“

„Kennst Du ihn?“ fragte Steinrück, sich rasch umwendend.

„Einigermaßen, ich war im vergangenen Jahre mit den Rodenbergs zu einer Jagdpartie geladen. Es ist doch einer der Söhne des Obersten, der in W. kommandirt?“

„Nein!“ sagte der General kalt.

„Nicht? Ich glaubte, es gäbe gar keinen anderen Träger des Namens in der Armee.“

„Ich glaubte es auch und war in demselben Irrthum befangen wie Du. Ich werde Dich wohl darüber aufklären müssen, Raoul, welche Bewandtniß es mit diesem Rodenberg hat. Du bist ja durch Deine Mutter längst eingeweiht in die Familiengeschichte unseres Hauses.“

Der junge Graf stutzte und richtete einen fragenden Blick auf den Großvater.

„Ich weiß allerdings, daß dieser Name noch eine andere, peinliche Bedeutung für uns hat, aber davon kann doch hier unmöglich die Rede sein. Es ist doch nicht etwa –?“

„Louisens Sohn!“ vollendete Steinrück finster.

„Um des Himmels willen, das fehlte nur noch!“ rief Raoul in voller Bestürzung. „Taucht diese unselige Geschichte wieder [614] empor, die wir längst begraben und vergessen wähnten? Der Bube war ja davongelaufen, war gestorben und verdorben, wie es damals hieß. Wie kommt dieser Bursche, der Sohn des Abenteurers, zu einer solchen Lebensstellung?“

Der General runzelte die Stirn; in diesem Augenblick überwog bei dem alten Krieger der Korpsgeist alles Uebrige, selbst die Abneigung gegen den verleugneten und gehaßten Sohn des „Abenteurers“ trat davor zurück. Michael trug wie er den Degen an der Seite, beschimpfen ließ er ihn nicht in seiner Gegenwart.

„Mäßige Dich!“ sagte er streng. „Es handelt sich um einen Officier der Armee, einen sehr tüchtigen Officier sogar, von dem spricht man nicht in solchen Ausdrücken.“

„Aber, Großpapa, Du wirst doch zugeben, daß dieser Rodenberg uns im höchsten Grade lästig, ja noch mehr werden kann, gerade weil er Officier ist, denn das giebt ihm die Möglichkeit, unseren Kreisen zu nahen, und auf welchem Fuße sollen wir denn mit ihm verkehren? Und gerade jetzt kommt er zum Vorschein, wo meine Verlobung mit Hertha die Augen der ganzen Gesellschaft auf uns richtet! Er wird natürlich nichts Eiligeres zu thun haben, als seine Beziehungen zu uns aller Welt zu verkündigen.“

„Das bezweifle ich, sonst wäre es längst geschehen; es weiß aber bis zur Stunde Niemand darum, ich habe Erkundigungen eingezogen. Jedenfalls muß er wissen, daß wir nicht geneigt sind, diese Beziehungen anzuerkennen.“

„Gleichviel! Anerkannt oder nicht, er wird früher oder später als Enkel des Grafen Steinrück auftreten und den nöthigen Vortheil aus dieser Stellung zu ziehen wissen. Glaubst Du wirklich, daß ein bürgerlicher Officier diesem Vortheil entsagen und seine nahe Verwandtschaft mit dem kommandirenden General verschweigen wird?“

„Jedenfalls werde ich versuchen, das zu erreichen. Du hast Recht, grade jetzt muß dies Wühlen in der Vergangenheit, dies Hervorzerren alter, längst begrabener Geschichten um jeden Preis vermieden werden. Ich habe Rodenberg nur ein einziges Mal gesehen, aber wie ich ihn beurtheile, bleibt ein Appell an sein Ehrgefühl nicht vergeblich. Er wird sich einer Familie nicht aufdrängen, die ihn nun einmal nicht kennen will, und er hat mindestens ebenso viel Grund wie wir, das Andenken seines Vaters in der Dunkelheit und Vergessenheit zu lassen. Wie sich die Angelegenheit aber auch gestalten mag, Du schweigst unbedingt darüber gegen Deine Braut und deren Mutter. Sie sind durch Zufall mit Rodenberg bekannt geworden und haben ahnungslos mit ihm verkehrt.“

„Sagte ich es nicht, es ist ein Unglück, daß dieser Mensch gerade Officier ist!“ rief Raoul heftig. „In jedem anderen Lebenskreise könnte man ihn ignoriren, jetzt hat er bereits Gelegenheit gefunden, sich den Damen unseres Hauses zu nahen, und das wird in wohlberechneter Absicht geschehen sein. Selbstverständlich dürfen sie nicht erfahren, wer er ist. Wie würde die stolze Hertha mich anblicken, müßte ich mich vor ihr zu diesem Vetter bekennen! Das muß verhindert werden, koste es was es wolle, wir sind ja sicher zu jedem Opfer bereit, wenn –“

„Du vergißt immer, daß es sich jetzt um den Lieutenant Rodenberg handelt,“ unterbrach ihn der General mit voller Schärfe. „Einem Officier unserer Armee kann man sein Schweigen nicht abkaufen, man kann sich höchstens an seinen Stolz wenden. Er muß und wird begreifen, daß es keine Ehre ist, mit dem Sohne seines Vaters verwandt zu sein; wenn überhaupt etwas von ihm zu erreichen ist, so kann es nur auf diesem Wege geschehen.“

Raoul schwieg, aber seine Miene zeigte, daß er diese Ansicht nicht theilte. Zu einer weiteren Erörterung kam es nicht, denn der Erwartete wurde soeben gemeldet, und Steinrück winkte ihn eintreten zu lassen.

„Verlaß uns!“ sagte er halblaut zu seinem Enkel gewendet. „Ich will ihn allein sprechen.“

Raoul gehorchte, aber als er im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, trat Rodenberg bereits ein und sie trafen an der Thür zusammen. Michael grüßte flüchtig den ihm unbekannten Herrn, aber dieser streifte ihn nur mit einem halb feindlichen, halb verächtlichen Blicke und wollte vorübergehen, ohne weiter Notiz von ihm zu nehmen. Da aber vertrat ihm der junge Officier plötzlich den Weg und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen, ohne ein Wvrt zu sprechen, aber sein Auge und seine Haltung forderten so gebieterisch den Gegengruß, daß sich der Graf halb unwillkürlich dazu bequemte. Er neigte widerwillig das Haupt und zog sich dann zurück. Steinrück hatte die Scene, die nur einige Sekunden währte, schweigend beobachtet. So wenig er das Benehmen seines Enkels billigte, er zürnte ihm fast, daß er sich hatte zwingen lassen.

Michael trat jetzt näher, und selbst der schärfste Beobachter hätte nicht bemerken können, daß irgend ein engeres Band zwischen diesen beiden Menschen existirte. Der Untergebene stattete seine Meldung in streng vorschriftsmäßiger Weise ab, und der Vorgesetzte nahm sie in gewohnter Art entgegen, kühl, ernst und gemessen; keiner von Beiden verlor auch nur auf einen Moment die streng dienstliche Haltung. Als aber das Nöthige gesagt und beantwortet war und der junge Officier auf seine Entlassung wartete, nahm der General von Neuem das Wort.

Textdaten
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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 36, S. 629–631
Novelle – Teil 13

[629] Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, was uns Beiden von Wichtigkeit ist,“ sagte Graf Steinrück nach Erledigung der dienstlichen Angelegenheiten. „Als wir uns das erste Mal sahen, waren Zeit und Ort nicht geeignet dazu; heute sind wir ungestört. Wollen Sie mich hören?“

„Zu Befehl, Excellenz,“ lautete die kurze Antwort Michael’s.

„Ihre Haltung bei jenem Zusammentreffen hat mir gezeigt, daß Sie die Beziehungen, die zwischen uns obwalten, in ihrem ganzen Umfange kennen, und wir werden uns wohl über die Auffassung derselben von beiden Seiten verständigen müssen.“

„Ich halte es nicht für nothwendig, daß dieser Punkt überhaupt zwischen uns erörtert wird,“ sagte Michael kalt.

Der General sandte ihm einen finsteren Blick zu; er hatte für gut befunden, eine eisig ablehnende Haltung anzunehmen, um jede etwaige Vertraulichkeit bei dieser Unterredung von vornherein auszuschließen, und begegnete nun genau derselben Haltung, die fast ebenso hochmüthig war wie die seinige – hier gab es nichts zurückzuweisen.

„Aber ich halte es für nothwendig, daß wir darüber ins Klare kommen,“ erwiderte er mit scharfer Betonung. „Sie sind der Sohn der Gräfin Louise Steinrück“ (er sagte nicht: meiner Tochter). „Ich kann das selbstverständlich weder ableugnen, noch Sie hindern, diese ganz legitime Abkunft geltend zu machen. Sie haben bisher darauf verzichtet, haben die Sache sogar als Geheimniß behandelt, und das läßt mich hoffen, daß Sie selbst die Unzuträglichkeit einer Veröffentlichung einsehen –“

„Die Sie fürchten!“ ergänzte Michael.

„Die mir zum Mindesten nicht erwünscht ist. Ich will ganz offen gegen Sie sein. Durch Oberst Reval werden Sie erfahren haben, daß kürzlich ein Familienfest in meinem Hause gefeiert worden ist: mein Enkel, Graf Raoul, hat sich mit der Gräfin Hertha Steinrück verlobt, die Ihnen ja wohl auch bekannt ist.“

In dem Gesichte des jungen Officiers zuckte etwas auf, freilich nur einen Moment lang, dann war es wieder verschwunden und er entgegnete anscheinend mit vollkommener Ruhe:

„Ich habe es allerdings gehört.“

„Nun wohl. Die Vermählung wird in Kurzem stattfinden, und das junge Brautpaar wird sich im Laufe dieses Winters dem Hofe und der Gesellschaft vorstellen. Diese Verbindung der beiden letzten Sprossen meines Geschlechtes legt mir doppelt die Pflicht auf, den Namen und das Wappen dieses Geschlechtes rein zu halten von jeder – Verdunkelung. Ich will Sie nicht [630] beleidigen, Lieutenant Rodenberg; aber ich darf wohl annehmen, daß Ihnen das Leben und die Vergangenheit Ihres Vaters bekannt sind?“

„Ja!“

Das Wort kam kurz und rauh von den bebenden Lippen, aber man hörte doch die innere Qual heraus.

„Es thut mir leid, dem Sohne gegenüber diesen Punkt erwähnen zu müssen, aber er läßt sich leider nicht umgehen. Sie sind ja völlig schuldlos daran, und Sie werden auch schwerlich darunter leiden. Ihr nahes Verhältniß zu dem Professor Wehlau deckt alle unbequemen Nachforschungen. Wie ich höre, gelten Sie für den Sohn seines Jugendfreundes, der in seinem Hause erzogen wurde – ein ganz vorzügliches Auskunftsmittel! Ueberdies ist Ihr Vater seit mehr als zwanzig Jahren todt und hat die letzte Zeit seines Lebens im Auslande zugebracht. Auch ist er – so viel ich weiß – nie in offenen Konflikt mit den Gesetzen gerathen.“

Schneideud scharf wie die Klinge eines Dolches war dies: So viel ich weiß! Michael war todtenbleich geworden, er antwortete nicht, aber ein unheilverkündender Blick schoß auf den Mann, der ihn so erbarmungslos folterte und der jetzt mit derselben kalten, überlegenen Ruhe fortfuhr:

„Die Sache liegt jedoch ganz anders, sobald Sie den Namen Ihrer Mutter nennen. Das wird selbstverständlich ein sehr großes Aufsehen geben, zumal in den Kreisen der Aristokratie und der Armee; es wird ein endloses Gerede entstehen, das peinlich, ja gefährlich werden kann, denn das Gerücht geht in solchen Fällen immer über die wirklichen Thatsachen hinaus, und was ein halbes Menschenalter in Vergessenheit gebracht hat, wird rücksichtslos wieder ans Tageslicht gezogen. Ich muß es Ihnen überlassen, ob Sie es ertragen können und wollen, wenn das Andenken Ihres Vaters dieser Vergessenheit entrissen wird. Was meine Stellung zu der Sache betrifft, so wende ich mich nur an Ihr Gerechtigkeitsgefühl, das Ihnen sagen wird –“

„Genug!“ unterbrach ihn der junge Officier dumpf, mit halb erstickter Stimme. „Ersparen Sie mir das Weitere, Excellenz. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß diese ganze Erörterung überflüssig ist, denn ich habe nie auch nur einen Augenblick daran gedacht, Beziehungen geltend zu machen, die ich ebenso entschieden ablehne wie Sie. Ich sollte meinen, das müßte Ihnen schvn unsere erste Begegnung gezeigt haben, wo ich die mir angebotene ,Protektion’ zurückwies. Ich sehe jetzt erst, daß sie der Preis für mein Schweigen sein sollte.“

Die Worte Michael’s waren in tiefster Bitterkeit gesprochen, und seine Hand umklammerte krampfhaft den Griff des Degens; noch wahrte er seine Selbstbeherrschung, aber es geschah offenbar nur mit dem Aufgebot der äußersten Willenskraft. Auch der General mochte das sehen und fühlen, denn er sagte mit bedeutend gemilderter Stimme: „Das ist eine ganz irrthümliche Auffassnng. Ich wiederhole Ihnen, daß ich Sie nicht beleidigen wollte.“

„Nicht?“ brach Michael mit schneidender Heftigkeit aus. „Und was ist denn diese ganze Unterredung Anderes, als eine Beleidigung vom Anfang bis zum Ende? Oder wie nennen Sie es denn, wenn man einem Sohne dergleichen über seinen Vater anzuhören giebt und ihm zugleich in dieser schonungslosen Weise klar macht, daß auch er dadurch den Anspruch auf Ehre verwirkt hat? Ich kann meinen Vater nicht vertheidigen und nicht rächen, er hat mir die Möglichkeit dazu genommen, und Sie meinen, ich litte nicht unter diesem Bewußtsein! Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fast daran zu Grunde gegangen bin, bis ich mich aufraffte, um den Kampf mit diesem Schatten zu wagen. Noch stehe ich im Anfange meiner Laufbahn, noch habe ich nichts geleistet; wenn einmal ein ganzes Leben voll ehrenhafter Arbeit und Berufserfüllnng hinter mir liegt, dann wird auch jener alte Schatten weichen. Die Menschen sind ja nicht alle so erbarmungslos wie Sie, Graf Steinrück, und sie haben, Gott sei Dank, auch nicht alle ein Wappenschild, das vor ,Verdunkelungen’ behütet werden muß!“

Der General erhob sich plötzlich; er nahm jene gebietende Haltung an, die ihm eigen war, wenn er irgend eine Anmaßung oder Ueberhebung in ihre Schranken zurückwies.

„Mäßigen Sie sich, Lieutenant Rodenberg! Sie vergessen, vor wem Sie stehen.“

„Vor meinem Großvater! Und der wird es wohl auf einige Minuten vergessen können, daß er zugleich mein General ist. Fürchten Sie nichts: es ist das erste Mal, daß ich Sie so nenne, und es wird auch das letzte Mal sein, denn für mich haftet nichts Theures und Heiliges an diesem Namen. Meine Mntter starb in Noth und Elend, in Jammer und Verzweiflung; aber sie öffnete nicht ein einziges Mal die Lippen zu einer Bitte an den, der sie und ihr Kind mit einem Worte hätte retten können – sie kannte ihren Vater!“

„Ja, sie kannte ihn!“ sagte Steinrück hart. „Als sie dem Vaterhause entfloh, um das Weib eines Abenteurers zu werden, da wußte sie, daß nunmehr jedes Band zerrissen war zwischen ihr und der Heimat, daß es keine Rückkehr und keine Versöhnung mehr gab. Will sich ihr Sohn jetzt anmaßen, die Strenge eines tiefbeleidigten Vaters zu richten?“

„Nein,“ entgegnete Michael, das Auge voll und finster auf ihn richtend. „Ich weiß, daß meine Mutter Ihnen offenen Trotz geboten, daß sie Heimat und Familie verwirkt hatte, und wenn das Herz des Vaters nicht mehr sprach, sondern nur sein Recht, so mußte er sie vielleicht verstoßen. Aber ich weiß auch, daß ihre schwerste Schuld die war, daß sie einem bürgerlichen Abenteurer folgte. Wäre es ein Standesgenosse gewesen, der verlorene und verkommene Sohn irgend einer Adelsfamilie, man hätte sie nicht so unerbittlich gerichtet, man hätte ihr im Unglück wieder die väterlichen Arme geöffnet, und ihrem Sohne würde das Andenken seines Vaters jetzt nicht wie ein Schimpf vorgehalten. Ich wäre ja doch der Erbe eines alten Nameus gewesen – alles Andere hätte man sorgfältig zugedeckt. Zum Mindesten hätte man mich nicht den Händen eines Wolfram überantwortet, in der Absicht, mich dort verkommen zu lassen!“

Die Augen des Generals sprühten, aber er gab es auf, den jungen Officier noch ferner als einen Fremden zu behandeln; er sprach jetzt im vollsten Zorne, aber er sprach zu seinem Enkel.

„Nicht weiter, Michael! Ich bin es nicht gewohnt, daß man in solchem Tone zu mir redet. Was wagst Du mir zu bieten!“

„Was ich vertreten kann, denn es ist die Wahrheit!“ erklärte Michael, den drohenden Blick fest erwidernd. „Es wäre Ihnen ein Leichtes gewesen, den verwaisten Knaben, den Sie nun einmal nicht vor Augen sehen mochten, in irgend eine ferne Erziehungsanstalt zu bringen, wo Sie nichts weiter von ihm sahen und hörten, wo er aber doch wenigstens tauglich für das Leben wurde, aber er sollte eben nicht dafür taugen. Darum wurde ich festgebannt in einem rohen und gemeinen Kreise, wo Mißhandlungen und Schimpfworte der einzige Unterricht waren, den ich empfing, wo jedes geistige Element unterdrückt, jede Anlage zertreten wurde, wo es eigens darauf angelegt war, mich zu dem rohen, blöden Buben zu machen, der sein Leben verdämmern und verdummen sollte in den Wäldern. Dann war ja die Gefahr ausgeschlossen, daß ich jemals dem edlen Steinrück’schen Kreise nahte; dann mußte ich dankbar sein, wenn man mir schließlich irgend eine Bauernexistenz gewährte! Eine fremde Hand entriß mich jenem Elend; einem Fremden danke ich die Erziehung, die Lebensstellung, in der ich jetzt vor Ihnen stehe – meinen Blutsverwandten hätte ich nur den geistigen Tod zu danken gehabt!“

Steinrück schien sprachlos zu sein über diese unerhörte Kühnheit, aber es war noch etwas Anderes, was ihm die Lippen schloß. Schon einmal, vor Jahren hatte er Aehnliches hören müssen; der Priester hatte ihm ernst und mahnend den gleichen Vorwurf gemacht. Jetzt wurde er ihm mit flammender Energie ins Gesicht geschleudert, und die Anklage kam aus dem Munde dessen, den er allerdings hatte unschädlich machen wollen durch eine „Bauernexistenz“. Graf Michael war sonst nicht der Mann, der einer Anmaßung oder Beleidigung gegenüber verstummte; hier fehlte ihm die Antwort, denn er fühlte die Wahrheit jener Vorwürfe. Wenn er sich damals seine Handlungsweise nicht völlig klar gemacht hatte, so wurde sie ihm jetzt wie in einem Spiegel gezeigt, und es war ein häßliches Bild, das dort erschien, ein Bild, welches des stolzen Grafen unwürdig war.

„Du scheinst Wolfram’s Erziehung doch nicht gänzlich vergessen zu haben,“ sagte er endlich herb. „Willst Du mir vielleicht wieder eine Scene machen, wie damals in Steinrück? Dein Aussehen ist ganz danach.“

Er hätte nichts Schlimmeres thun können als dies Andenken wachrufen. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, aber Michael’s Blut siedete noch bei der Erinnerung, welche ihn nur zu neuer Empörung aufstachelte.

„Damals nannten Sie mich Dieb!“ stieß er hervor. „Ohne Beweis, ohne Untersuchung, auf einen haltlosen Verdacht hin! [631] Jedem Ihrer Bedienten hätten Sie die Vertheidigung gestattet, Ihr Enkel aber galt Ihnen ohne Weiteres für einen Verbrecher. Ja, ich griff damals nach dem Ersten, Besten, das mir als Waffe dienen konnte; ich wußte ja nicht, daß es mein eigener Großvater war, der mir den Schimpf anthat, aber von der Stunde an, wo ich das erfuhr, da lebte in mir nur das glühende Verlangen nach Vergeltung.“

„Michael!“ fiel ihm der General drohend in die Rede. „Nicht ein Wort mehr in diesem Tone, der weder dem Chef noch dem Vater Deiner Mutter gegenüber am Platze ist. Ich verbiete es Dir, und Du wirst gehorchen!“

Wenn Graf Steinrück in dieser Art sprach, hatte er noch stets Gehorsam gefunden; hier zum ersten Male versagte die Macht seiner Persönlichkeit. Selbst Raoul, der doch wahrlich nicht zu den Furchtsamen gehörte, beugte sich vor dem Zornesblitz dieser Augen, aber Michael beugte sich nicht. Wohl zwang er sich auf jene Mahnung hin gewaltsam zur Ruhe, aber wenn seine Stimme auch kälter und beherrschter klang, sie hatte nichts von ihrer Energie verloren.

„Zu Befehl, Excellenz! Ich habe diese Unterredung nicht gesucht, sie wurde mir aufgezwungen, aber ich denke, Sie sind jetzt von der Furcht befreit, daß ich jemals einen verwandtschaftlichen Anspruch geltend machen könnte. Sie dünken sich so erhaben über die gemeine Menschenwelt, mit Ihrem uralten Stammbaum; Sie haben das einzige Glied Ihres Hauses, das dem Ahnenstolz zu trotzen wagte, mit eiserner Hand ausgestoßen und ausgestrichen aus Ihrem Leben! Aber Ihr Wappenschild steht nicht so unerreichbar hoch wie die Sonne am Himmel; es kommt vielleicht ein Tag, wo es einen Flecken trägt, den Sie nicht auslöschen können. Dann werden Sie fühlen, was es heißt, mit einem glühenden, leidenschaftlichen Ehrgefühl in der Brust die Schuld und Schmach eines Anderen büßen zu müssen, wie Sie mich jetzt das Andenken meines Vaters büßen lassen; dann werden Sie es begreifen, welch ein erbarmungsloser Richter Sie meiner Mutter gewesen sind! – Darf ich mich nun als entlassen betrachten, Excellenz?“

Er stand wieder da, in der starren Haltung des Soldaten. Der General antwortete nicht, es wehte ihn wie ein Schauer an bei diesen Worten, die fast prophetisch klangen; einen Augenblick lang tauchte Etwas vor ihm auf, noch dunkel und gestaltlos, aber wie die Ahnung eines kommenden Unheils, dann sank es wieder zurück in die Nacht. Stumm winkte er dem jungen Officier, sich zu entfernen, und dieser ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen; in der nächsten Minute schloß sich die Thür hinter ihm.

Als Steinrück allein war, begann er heftig und ruhelos im Zimmer auf- und niederzugehen, aber dabei kehrte sein Auge immer wieder zu einem Bilde zurück, das ihm gegenüber an der Wand hing, und das ihn selbst als jungen Officier darstellte. Nein, es war keine Aehnlichkeit vorhanden zwischen diesem schönen Kopf mit den edlen, regelmäßigen Linien und jenen charakteristischen, aber unschönen Zügen, nicht die geringste! Und doch waren es dieselben Augen gewesen, die dem Grafen aus jenem Antlitz entgegenflammten, doch war es seine Stimme, die er aus jenem Munde gehört hatte, und sein war auch der unbeugsame Stolz, die eiserne Energie, die den Kampf mit dem Schwersten nicht scheute – nicht in den Zügen, im Blick und in der Haltung lag die Aehnlichkeit.

Das drängte sich mit unabweisbarer Gewalt dem Manne auf, der so düster und unverwandt auf sein Jugendbild blickte. Er war empört, beleidigt, und dennoch zog Etwas durch seine Seele, das er nie gekannt und das er oft genug schmerzlich vermißt hatte bei dem Sohne und Enkel, die seinen Namen und seine Grafenkrone trugen: das Bewußtsein, daß es einen Erben seines Blutes und Charakters gab. Er hatte sich vergebens gemüht, in Raoul auch nur einen Zug davon zu entdecken, umsonst! Aber der verleugnete Sohn der verstoßenen Tochter, der als ein Fremdling von der Schwelle ging, der hatte dies Blut in den Adern, und der Großvater fühlte durch all den Haß und Kampf hindurch, daß er ein Reis war von seinem Stamme.


Professor Wehlau bewohnte im westlichen Theile der Stadt eine nicht allzu große, aber sehr hübsche Villa, an die sich ein ziemlich ausgedehnter Garten schloß, und die behagliche und geschmackvolle Einrichtung derselben zeigte, daß sich die strenge Wissenschaft keineswegs ablehnend verhielt gegen die Annehmlichkeiten des Lebens.

Der Winter war zum größten Theile vergangen, man befand sich im Anfange des März und im Freien begannen sich schon die ersten Vorboten des Frühlings zu zeigen. Im Wehlau’schen Hause aber herrschte immer noch eine etwas gewitterschwüle Temperatur: die Spannung zwischen Vater und Sohn war noch keineswegs ausgeglichen und das „Donnergewölk“, wie Hans sehr respektwidrig die Stimmung seines Vaters nannte, hing oft genug drohend über ihm. Das war auch heute der Fall, wo der junge Künstler sich im Studirzimmer des Professors befand, der wieder einmal die volle Schale seines Zornes auf den ungehorsamen Sohn ausgeschüttet hatte.

„Sieh Dir Michael an!“ schloß er endlich seine Rede. „Der weiß, was Arbeit heißt, und der kommt auch vorwärts im Leben. Mit neunundzwanzig Jahren ist er schon Hauptmann geworden – was bist Du dagegen?“

„Ich wollte, Michael machte einmal einen grenzenlos dummen Streich!“ sagte Hans mißvergnügt, „dann brauchte ich nicht immer und ewig von seiner Vortrefflichkeit zu hören. Du siehst in dem neugebackenen Hauptmann schon den künftigen Generalfeldmarschall, der die sämmtlichen Schlachten unseres Landes gewinnt, und Deinem eigenen leiblichen Sohn, der doch zweifellos ein angehendes Genie ist, traust Du gar nichts zu. Papa, eigentlich ist das himmelschreiend.“

„Schweig’ mit Deinen Possen,“ unterbrach ihn Wehlau in übelster Laune. „Und dabei willst Du mir noch einreden, daß Du ‚fleißig‘ seist! Jawohl, was die Herren Künstler so nennen! Den halben Tag lang umherlaufen und sich amüsiren, unter dem Vorwande Studien zu machen, und während der anderen Hälfte allerhand Tollheiten in den Ateliers treiben! Dazu kommt dann die unvermeidliche Reise nach Italien, wo das Amusement mit frischen Kräften fortgesetzt wird, natürlich auch nur zum Studium! Und das heißt bei Euch arbeiten! Aber dies Leben ist gerade so recht nach Deinem Geschmack; es ist überhaupt wohl das einzige, wozu Du taugst.“

Die Vorwürfe brachten leider gar keine Wirkung hervor. Hans setzte sich wieder rittlings auf einen Stuhl und erwiderte ganz unbekümmert:

„Zanke nicht, Papa! Oder ich male Dich in Lebensgröße, schenke das Portrait der Universität und lasse mir eine Dankadresse votiren. Ich habe Dich schon längst fragen wollen, ob Du mir nicht einmal sitzen willst.“

„Das fehlte noch!“ brauste der Professor auf. „Ich verbitte es mir ernstlich, daß Du Deine Farbenkleckserei an meiner Person versuchst.“

„So sieh Dir wenigstens einmal mein Atelier an, Du hast ja noch keinen Blick auf die ‚Farbenkleckserei‘ geworfen.“

„Nein,“ grollte Wehlau. „Ich will mich nicht von Neuem ärgern: verrückte idealistische Richtung – abgeschmacktes sentimentales Zeug – höchstens einmal eine Karikatur, über die man sich dann auch wieder ärgert – etwas Anderes bringst Du nicht zu Stande, das weiß ich im Voraus. Ich will nichts sehen und hören von der ganzen Geschichte.“

„Nun, gehört hast Du doch schon davon!“ triumphirte der junge Künstler. „Als ich das Portrait meines Lehrers, des Professor Walter, im Kunstverein ausstellte, sprachen sämmtliche Zeitungen darüber, und eine derselben brachte sogar eine höchst wohlthuende Variation auf das stehende Thema von dem ‚Sohne unseres berühmten Forschers‘, sie sagte: ‚der geniale Sohn eines berühmten Vaters!‘ – gieb Acht, Papa, ich werde einst noch Deinen ganzen naturwissenschaftlichen Ruhm verdunkeln. Aber, darf ich mich jetzt beurlauben? Mir ist hoher Besuch angesagt.“

Wehlau zuckte spöttisch die Achseln.

„Das wird was Rechtes sein!“

„Bitte, die Gräfinnen Steinrück.“

„Und die kommen zu Dir?“ Der Professor maß seinen Sohn mit einem höchst erstaunten Blick.

„Natürlich! Man fängt an berühmt zu werden, man empfängt die Aristokratie in seinem Atelier, man ist ja nicht umsonst der geniale Sohn eines ausgezeichneten Vaters – willst Du mir wirklich nicht zu einem Bilde sitzen, Papa?“

„In des Kuckucks Namen, nein!“ schnaubte der Professor.

„Gut, dann male ich Dich hinterrücks, ohne Dein Wissen, und schicke Dich meuchlings auf die Ausstellung. Adieu, Papa!“

Und mit dem liebenswürdigsten Lächeln, als ob zwischen ihm und dem Vater das beste Einvernehmen herrsche, entfernte er sich. Draußen vor der Thür traf er mit Michael zusammen.

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 37, S. 645–651
Novelle – Teil 14

[645] Michael, der soeben nach Hause kam, fragte Hans, ob der Professor in seinem Studirzimmer sei.

„Ja, aber er sitzt wieder in der Donnerwolke,“ sagte Hans. „Komm doch nachher noch auf eine halbe Stunde in das Atelier, Michael; ich muß etwas an meinem Bilde ändern und brauche Dich nothwendig dazu.“

Der junge Officier sagte flüchtig zu und ging zu dem Professor, dessen finsteres Gesicht sich bei seinem Eintritt etwas aufhellte.

„Gut, daß Du kommst,“ empfing er ihn. „Ich habe mich wieder dermaßen über Hans geärgert, daß mich wirklich danach verlangt, einen vernünftigen Menschen zu sehen.“

„Was hat denn Hans schon wieder angerichtet?“

„Gar nichts richtet er an, das ist ja eben das Unglück! Ich habe ihm mit aller Strenge den Müßiggang vorgehalten, dem er sich nun schon seit fünf Monaten hingiebt und den er Arbeit zu nennen beliebt. Glaubst Du, daß das auch nur die [646] geringste Wirkung hervorgebracht hat? Narrenspossen hat er getrieben. Der Junge wird mich noch ins Grab bringen.“

„Onkel, sei nicht ungerecht,“ sagte Michael vorwurfsvoll, „Du weißt es ja, daß Hans an einem größeren Werke arbeitet, und ich versichere Dir, daß er sehr fleißig ist, aber Du verweigerst es hartnäckig, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Ich sollte meinen, er hätte Dir und uns Allen schon eine Probe seines Talentes gegeben. Das Bild des Professor Walter hat allseitige Anerkennung gefunden: es war nur eine Stimme des Lobes darüber, und die Zeitungen sprachen sogar –“

„Von dem genialen Sohn des berühmten Vaters!“ fiel ihm Wehlau grimmig in die Rede. „Kommst Du mir auch damit? Was für Beglückwünschungen habe ich schon deßwegen ausstehen müssen und was für Grobheiten habe ich den Leuten darauf gesagt! Aber es nützt nichts. Alle Welt nimmt ja Partei für den Jungen; alle Welt ist im Komplott mit ihm und amüsirt sich köstlich über den Streich, den er mir auf der Universität gespielt hat.“

„Sogar Professor Bauer, als er neulich auf der Durchreise hier war,“ schaltete Michael ein.

„Ja, das war nun vollends das Aergste. ,Kollege!‘ habe ich ihm gesagt, ‚wissen Sie denn, was mein gottloser Bube in Ihren Vorlesungen getrieben hat? Karikirt hat er Sie und das ganze Auditorium! Eine Skizze hat er gezeichnet, auf der Sie, zum Sprechen ähnlich, angethan mit allen Attributen der Naturwissenschaft, die vier Elemente in einem Hexenkessel zusammenrühren, während Ihre Studenten das Feuer schüren.‘ Was giebt mir der Mann zur Antwort? ‚Ich weiß, bester Kollege, ich weiß! Ich habe das Bild sogar gesehen, und es ist bei allem Uebermuth so genial hingeworfen, daß ich herzlich gelacht und meinem fahnenflüchtigen Schüler verziehen habe – machen Sie es auch so!‘“

„Du solltest den Rath befolgen, Onkel, das wäre wirklich das Beste. Uebrigens wollte ich Dich nur begrüßen; ich muß jetzt zu Hans in das Atelier.“

„In das Atelier!“ spottete ihm der Professor nach. „Es mag eine schöne Wirthschaft da drinnen sein. Ich wollte, der Gartenpavillon wäre stockfinster, oder das Wasser liefe von den Wänden, dann würde der Herr Maler es schon bleiben lassen, darin zu pinseln. Jetzt hat er sich häuslich dort niedergelassen, mir gerade vor der Nase, als ob sich das von selbst verstände. Nun, so geh’ Du denn meinetwegen in das ,Atelier’! Die große Sehenswürdigkeit wird ja sogar von der Aristokratie in Augenschein genommen, aber ich setze keinen Fuß hinein; das sage ich Euch.“

Er wandte sich grollend wieder zu seinen Büchern, und Michael, der aus Erfahrung wußte, daß es das Beste war, wenn man ihn in solcher Stimmung allein ließ, ging zu seinem Freunde.

Der Pavillon, wo der junge Künstler seine vorläufig noch sehr bescheidene Arbeitsstätte aufgeschlagen hatte, lag am Ende des Gartens. Er enthielt nur einen einzigen, aber genügend großen Raum; man hatte hier ein Fenster verdeckt, dort eins erweitert, hatte ein Oberlicht hergestellt und auf diese Weise das Atelier hergestellt, das dem Professor ein Dorn im Auge war, um so mehr, als er gar nicht um Erlaubniß gefragt wurde.

Hans befolgte dem Vater gegenüber stets die gleiche Taktik; er widersprach ihm niemals offen, und das „Jawohl, Papa!“ war eine stehende Redensart bei ihm. Dabei that er aber in aller Gemüthsruhe regelmäßig das Gegentheil von dem, was der Vater verlangte, und in der That war es die einzig richtige Art, den cholerischen alten Herrn zu behandeln.

Wehlau hatte seinem Sohne in schroffster Weise die Mittel zu einem eigenen Atelier versagt, und Hans, der noch keine eigenen Einnahmen besaß, mußte sich fügen, aber er ergriff noch an demselben Tage Besitz von dem Gartenpavillon, ließ Maurer und Zimmerleute kommen, ließ Alles genau nach seiner Angabe einrichten und legte dem Vater, der soeben von einer kleinen Reise zurückkehrte, die Rechnung auf den Arbeitstisch. Der Professor war natürlich außer sich darüber, erklärte, er dulde dergleichen nicht auf seinem Grund und Boden, und schaute das Atelier tagtäglich mit wüthenden Blicken an, aber er bezahlte die Rechnung, und Hans hatte wieder einmal seinen Willen durchgesetzt.

Augenblicklich stand der junge Künstler vor seiner Staffelei und malte an einem größeren Bilde, während Michael ihm gegenüber mit verschränkten Armen an einem Eckpfeiler lehnte. Die Unterhaltung schien ins Stocken gerathen zu sein, denn es vergingen wohl an zehn Minuten, ohne daß Einer der Beiden ein Wort sprach, plötzlich aber hielt Hans mit seiner Arbeit inne und sagte: „Höre, Michael – Du gefällst mir gar nicht!“

Michael schien ganz vergessen zu haben, daß er seinem Freunde als Modell diente. Es lag etwas von der alten Knabenträumerei in seinem Blick und etwas von der alten Starrheit in seinen Zügen. Beim Klange der Stimme fuhr er wie erwachend auf.

„Ich? Weßhalb nicht?“

„Da haben wir es! Du schreckst auf wie ein Nachtwandler, den man anruft. Woran hast Du denn eigentlich gedacht? Du bist der richtige Hans Träumer geworden, seit wir aus den Bergen zurück sind; ich erkenne Dich gar nicht mehr wieder.“

Der junge Hauptmann fuhr mit der Hand über die Stirn und erzwang ein Lächeln.

„Ich glaube, mir fehlt der Waffendienst; vielleicht habe ich mich auch etwas überarbeitet in den letzten Monaten.“

„Wahrscheinlich! Du bist ja ein wahrer Arbeitsfanatiker, was mein Fehler nun grade nicht ist. Jetzt aber thue mir den Gefallen und mache ein anderes Gesicht, diese melancholische Miene kann ich nicht brauchen.“

„Wie soll ich denn aussehen?“

„Möglichst wüthend! So etwa wie mein Papa aussieht, wenn er sich auf zweihundert Schritt Entfernung mein Atelier anschaut, aber großartiger, heroischer! Du kannst doch so aussehen, das weiß ich. Ich quäle mich nun schon seit Wochen, um den rechten Ausdruck zu finden, aber es will nicht glücken. Ich muß ihn in der Wirklichkeit suchen, und Du mußt ihn mir schaffen.“

„Ich begreife nicht, weßhalb Du so hartnäckig darauf bestehst, grade meinen Kopf zu benutzen,“ sagte Michael unmuthig. „Er paßt nun einmal nicht zu einem Idealbilde, und es ist ja auch ein ganz anderes Gesicht, was Du da auf die Leinwand gebracht hast.“

„Das verstehst Du nicht,“ erklärte Hans überlegen. „Dein Kopf ist mir mehr werth als das beste Modell. Natürlich soll es kein Portrait werden, aber was ich von Deinen Zügen brauchen kann, das habe ich auch auf dem Bilde. Nur der Ausdruck, die Augen – da fehlt es! Ich wollte, ich könnte Dir einmal einen grenzenlosen Aerger bereiten, Dich über irgend etwas in Wuth bringen, daß Du dies Etwas gleich zehnmalhunderttausend Klafter tief in den Abgrund schmettern möchtest, wie Dein Namensvetter da den Gottseibeiuns – dann wäre mir geholfen!“

„Das ist ja ein recht uneigennütziger Wunsch. Leider wird er nicht in Erfüllung gehen, denn ich bin gar nicht in der Stimmung, mich zu ärgern.“

„Nein, Du bist in einer höchst langweiligen Stimmung und machst das entsprechende Gesicht dazu; wir müssen es für heute aufgeben. Schade, ich hätte meinem Erzengel gern noch einen charakteristischen Zug gegeben, da er heute doch vor dem erlauchten Geschlecht paradiren soll, dessen Schutzpatron er ist.“

Er legte mit einem Seufzer Pinsel und Palette nieder, Michael aber war bei den letzten Worten aufmerksam geworden.

„Vor wem soll das Bild paradiren?“ fragte er rasch.

„Vor der Gräfin Steinrück und ihrer Tochter – was hast Du denn?“

„Nichts, ich wundere mich nur, daß sie in Dein Atelier kommen. Hast Du sie eingeladen?“

„Nicht geradezu, aber es machte sich so gesprächsweise. Ich traf die Damen gestern bei Frau von Reval, sie fragten nach meinen Arbeiten; der Gegenstand schien sie zu interessiren, und da wurde mir der heutige Besuch zugesagt. Ich wittere so etwas von einem Auftrag für die Patronatskirche, und das wäre mir sehr erwünscht. Dann könnte ich meinem Papa beweisen, daß meine Farbenkleckserei auch einen praktischen Erfolg hat, bis jetzt hält er sie immer noch für Spielerei. – Willst Du etwa schon wieder fort?“

„Gewiß, ich denke, Du brauchst mich nicht mehr.“

„Nein, aber ich habe der Gräfin, die sich nach Dir erkundigte, gesagt, Du seiest um diese Zeit stets zu Haus und würdest Dir ein Vergnügen daraus machen, sie zu begrüßen.“

Michael’s Stirn verfinsterte sich; einige Sekunden lang schien er mit sich zu kämpfen, dann sagte er kalt:

„Dann muß ich freilich bleiben.“

„Wenn Du Dein unverantwortliches Benehmen vom Sommer einigermaßen wieder gutmachen willst, allerdings. Gräfin Hertha hat es Dir entschieden übelgenommen; ich sah es deutlich, als von Dir die Rede war. Sie war übrigens gestern auffallend ernst und verstimmt.“

[647] „Die glückliche Braut?“

Die Frage klang wie herber Spott. Hans beachtete das nicht, sondern sagte leichthin: „Nun, was ihr künftiges Glück betrifft, so möchte ich gerade keine Bürgschaft dafür übernehmen. Wenn der alte General glaubt, seinen Enkel durch diese Heirath zu bändigen und in Schranken zu halten, so irrt er sich gründlich.“

„Wie so? Was weißt Du von jenem Treiben?“ fragte Michael gespannt.

„Nun, ich höre wenigstens genug davon. Als angehender Künstler wird man ja in alle möglichen Kreise gezogen, und dort bin ich auch einige Male dem jungen Grafen begegnet. Eine bestrickende Persönlichkeit ist er, das ist nicht zu leugnen, genial, ritterlich liebenswürdig, aber ich fürchte – da sind die Damen schon! Soeben fährt ihr Wagen vor, das nennt man pünktlich.“

Er hatte einen Blick durch das Fenster geworfen; vor dem Eingangsthor hielt in der That ein Wagen, aus dem die Gräfin Steinrück und ihre Tochter stiegen. Hans eilte ihnen entgegen in den Garten, und nach einigen Minuten traten die Damen, von dem jungen Künstler geleitet, in das Atelier.

Hauptmann Rodenberg hatte seit jenem Zusammentreffen in Sankt Michael die Damen nicht wieder gesehen, obgleich sie sich schon seit sechs Wochen in der Stadt befanden, aber sie verkehrten fast ausschließlich in den Kreisen der hohen Aristokratie. Die Gräfin erwiderte seine Begrüßung mit gewohnter Liebenswürdigkeit. Sie machte ihm sein Fernbleiben von Schloß Steinrück, trotz ihrer ausdrücklichen Einladung, nicht mehr zum Vorwurf, seit sie in einem Gespräch mit dem General in Erfahrung gebracht hatte, daß der junge Officier, aus irgend einem Grunde, seinem Chef nicht genehm sei. Er wußte das wahrscheinlich, und dadurch erklärte sich ja seine Zurückhaltung hinreichend; die zartfühlende Frau aber fand sich nunmehr veranlaßt, ihn mit verdoppelter Freundlichkeit zu behandeln.

„Wir haben uns lange nicht gesehen,“ sagte sie, ihm die Hand reichend, „und unser letztes Zusammensein in Sankt Michael wurde ja leider durch das Unwohlsein meiner Tochter gestört. Es war sehr unvorsichtig von Hertha, bei dem aufsteigenden Gewitter im Freien zu bleiben und dann den Rückweg im vollen Sturme zu machen; ein Glück, daß wenigstens der Regen in die Thäler niederging, ohne uns zu erreichen, sonst hätte die Erkältung schlimmere Folgen gehabt.“

Michael drückte seine Lippen auf die dargereichte Hand und verneigte sich vor der jungen Gräfin, die damals den ersten besten Vorwand ergriffen hatte, um einem Zusammensein zu entgehen, das nach der stattgehabten Scene für beide Theile unmöglich gewesen wäre. Nur für einen Augenblick hatte er sie nach derselben wiedergesehen, als sie mit ihrer Mutter in den Wagen gestiegen war, und er sich von Beiden verabschiedete. Jetzt aber fiel sie rasch ein: „Es war gar nicht von Bedeutung, Mama; ich bat Dich nur, die Abreise zu beschleunigen, weil ich Deine Aengstlichkeit kenne.“

„Du warst immerhin noch einige Tage unwohl,“ bemerkte die Mutter. „Ich bin überzeugt, daß Lieutenant Rodenberg, oder vielmehr –“ sie warf einen Blick auf seine Uniform. „Sie sind ja indessen befördert worden, wie ich sehe. Ich gratulire, Herr Hauptmann.“

„Seit vierzehn Tagen trägt er diese neue Würde,“ sagte Hans. „Ich habe mir bereits die Gunst erbeten, den künftigen General malen zu dürfen, sobald er im Besitz dieser Charge ist.“

Die Gräfin lächelte. „Nun, wer weiß! Es scheint ziemlich schnell vorwärts zu gehen mit der Karriere des Herrn Hauptmanns. Auch bei uns hat sich inzwischen ein Ereigniß vollzogen, von dem Sie wohl schon gehört haben werden – meine Tochter ist Braut geworden.“

„Ich weiß!“ Michael wandte sich zu Hertha, deren Augen jetzt zum ersten Male den seinigen begegneten. Er war gezwungen, einen Glückwunsch zu ihrer Verlobung auszusprechen; aber wenn sie irgend ein Zeichen der Erregung erwartet hatte, etwas von jenem blitzähnlichen Aufflammen, das bisweilen so verrätherisch aus seiner Kälte und Zurückhaltung hervorbrach, so täuschte sie sich. Seine Verbeugung war ebenso kühl und höflich wie sein Glückwunsch, den er ganz in der herkömmlichen Form abstattete. Er hätte ihn der fremdesten Dame nicht artiger und – gleichgültiger sagen können.

„Gräfin Hertha ist heute einmal wieder unglaublich hochmÜthig!“ dachte Hans, als er die Miene sah, mit der jener Glückwunsch in Empfang genommen wurde. Er führte die Damen jetzt zu dem Gemälde, das den Hauptplatz im Atelier einnahm, aber erst theilweise vollendet war. Die lebensgroße Gestalt des Erzengels hob sich mächtig und wirkungsvoll von der Leinwand ab; nur das Antlitz schien noch nicht fertig zu sein und bedurfte jedenfalls noch einer weiteren Ausführung, während der Kopf des Satans erst skizzirt war. Trotzdem ließ das Bild schon jetzt die Kühnheit und Großartigkeit des Entwurfes, die packende Kraft der Darstellung im vollsten Umfange erkennen, und der junge Künstler konnte zufrieden sein mit dem Eindruck, den sein Werk machte.

Hertha, die zuerst vor das Gemälde trat, zuckte leicht zusammen, und ein fragender, verwunderter Blick traf den Maler, während die Gräfin, die ihr unmittelbar folgte, in lebhafter Ueberraschung rief: „Das ist ja – nein, Hauptmann Rodenberg ist es nicht, aber Sie haben Ihrem Erzengel eine auffallende Aehnlichkeit mit ihm gegeben.“

„Sehr natürlich, da er mir dazu Modell gestanden hat,“ sagte Hans lachend. „Ich habe freilich nur das Charakteristische an seinem Kopfe benutzt, aber das ist wie geschaffen für den Vorwurf.“

Die Gräfin schien ganz hingerissen von dem Bilde und geizte nicht mit ihrem Lobe. Hertha fand den Entwurf genial, die Komposition großartig, die Farbenwirknng herrlich, aber während sie alles Mögliche bemerkte und bewunderte, schien das Gesicht Sankt Michael’s allein nicht ihren Beifall zu finden; sie äußerte auch nicht ein einziges Wort darüber.

Hans machte mit vollendeter Liebenswürdigkeit den Führer und Erklärer in seinem Atelier, da die Damen auch seine anderen Arbeiten zu sehen wünschten. Er hatte soeben einen Karton herbeigeholt, der seitwärts an der Wand lehnte, hatte ihn aufgestellt und bemühte sich nun, ihm die rechte Beleuchtung zu geben. Die Gräfin öffnete inzwischen eine ziemlich umfangreiche Mappe, die seitwärts auf einem Tischchen lag und eine Anzahl von Skizzen und Studien enthielt. Es war die Ausbeute, die der junge Maler von seinem letzten Ausfluge im Herbste mitgebracht hatte: kecke Jäger- und Bauerngestalten in der Gebirgstracht, hier und da ein hübscher Mädchenkopf, ein nur skizzirtes, aber trotzdem sprechend ähnliches Portrait des Pfarrers von Sankt Michael, dazwischen wieder einzelne Wald- und Bergpartien, aber Alles so frisch und lebendig hingeworfen, daß die Gräfin mit immer steigendem Vergnügen ein Blatt nach dem anderen umwandte. Auf einmal aber bemerkte Hans ihre Beschäftigung und kam so eilfertig herbeigestürzt, als gelte es, seine Mappe vor einem Attentat zu bewahren.

„Erlauben Sie, Frau Gräfin – die Mappe liegt äußerst unbequem – ich werde Ihnen die Skizzen selbst vorlegen,“ sagte er hastig, schob mit ebensoviel Eifer wie Artigkeit einen Sessel heran und begann in der That die einzelnen Blätter vorzulegen. Dabei nahm er aber, anscheinend ganz zufällig, eins derselben heraus und legte es bei Seite.

„Soll ich diese Zeichnung nicht sehen?“ fragte die Dame, die mit einem flüchtigen Blick die Umrisse eines weiblichen Kopfes erhascht hatte.

„O, das ist nicht der Mühe werth! Ein bloßer Studienkopf, eine ganz verfehlte Arbeit,“ versicherte der junge Künstler, aber dabei stieg ihm die helle Röthe in das Gesicht. Die Gräfin drohte scherzend mit dem Finger.

„Sieh da, Herr Hans Wehlau scheint seine Geheimnisse zu haben. Wer weiß, was sich da in den Bergen angesponnen hat!“

Hans vertheidigte sich lachend gegen den Vorwurf; als aber die Mappe durchgesehen war und die Gräfin sich dem Karton zuwandte, fand er doch für gut, die „verfehlte Arbeit“ rasch hinter einem Vorhange verschwinden zu lassen, wo sie vor fremden Blicken sicher war.

Hertha stand noch vor dem Gemälde und neben ihr Michael. Er machte diesmal keinen Versuch, sich ihrer Nähe zu entziehen, sondern blieb mit vollkommener Gelassenheit an seinem Platze und sprach von dem Talente und den Aussichten seines Freundes, von der Absicht desselben, sich an der Konkurrenz für ein großes Wandgemälde im historischen Stil zu betheiligen, und von den bereits entworfenen Skizzen dazu. Die zwanglose Richtung, die er damit dem Gespräche gab, war der jungen Gräfin allerdings willkommen, brachte sie aber doch ein wenig aus der Fassung. Sie, die vollendete Weltdame, hätte kaum so vollständig den leichten Gesellschaftston wiedergefunden nach – nach jener Stunde in Sankt Michael.

[650] „Ich gestehe Ihnen offen, daß diese Leistung des Herrn Wehlau mich überrascht hat,“ sagte sie halblaut. „Wir kannten sein Talent bisher nur von der liebenswürdigen, aber oberflächlichen Seite; die Skizzen und Karikaturen, die er damals im Bade zeichnete, sprühten von Uebermuth, wie er selbst. Ich hätte ihm nicht die Kraft und Energie zugetraut, die sich in diesem Werke ausspricht.“

„Und er hat es doch beinahe spielend hingeworfen,“ entgegnete Rodenberg. „Hans ist eine jener glücklichen Naturen, die Alles, selbst das Höchste, fast ohne Mühe erreichen. Zu allen den äußeren und inneren Gaben hat ihm ein gütiges Geschick nun auch noch dieses Talent in die Wiege gelegt, das ihn weit über das Alltagsleben hinaushebt.“

„Ein gütiges Geschick, gewiß! Beneiden Sie Ihren Freund um diese Gaben?“

„Nein, ich wüßte sie vielleicht nicht einmal ganz zu schätzen, denn für mich hat nur das Erkämpfte, Eroberte den vollen Werth. Hans mit seinem ewig heiteren, sonnigen Charakter ist so recht für das Glück und den Genuß des Lebens geschaffen: ich bin mehr auf den Sturm und Kampf dieses Lebens gestellt – Jedem das Seine!“

Hertha blickte auf das Gemälde, das auch eine Scene von Sturm und Kampf darstellte. Sie wußte es, daß der Mann da neben ihr kämpfen konnte, nicht bloß gegen einen äußeren Feind, auch gegen sich selbst, wenn es Noth that; sie hatte es ja gesehen, wie jede Fiber an ihm bebte in stürmischer Leidenschaft, und jetzt stand er so ruhig und gelassen an ihrer Seite, und kein einziges jener verrätherischen Zeichen, die sie nur zu gut kannte, strafte diese Ruhe Lügen. Ihre unmittelbare Nähe schien gar keine Wirkung mehr auf ihn auszuüben.

„Wählen Sie den Kampf aus Neigung?“ fragte sie, halb spottend. „Ich glaube, Sie sind sehr ehrgeizig, Hauptmann Rodenberg “

„Vielleicht! Zum Mindesten will ich empor, und wer nicht gleich im Anfange das höchste Ziel im Auge hat, der wird es nie erreichen. Ich werde freilich nicht so von den Verhältnissen gehoben und getragen wie Hans, aber es ist auch etwas werth, ganz auf die eigene Kraft gestellt zu sein, hinauszutreten auf den Plan mit dem Bewußtsein: Du hast Niemand als Dich selbst, aber Du gehörst auch Niemandem als Dir selber.“

So ruhig die Worte gesprochen wurden, sie hatten einen eisernen Klang, und sie wurden verstanden. Hertha schlug das Auge plötzlich auf und heftete es auf den Sprechenden, aber es blitzte wie Zorn in diesen schönen Augen.

„Und Sie glauben das durchführen zu können? Würde Ihnen der Ehrgeiz in der That Alles ersetzen?“

„Ja!“ sagte Michael kalt und fest. „Das Einzige, was ich mit hinausnehme in die Zukunft, ist die Dankbarkeit gegen den Mann, der mir ein zweiter Vater war, und die Freundschaft für seinen Sohn – in allem Uebrigen habe ich mir freie Bahn geschaffen.“

Die Lippen der jungen Gräfin zuckten, aber sie richtete sich mit ihrem ganzen Stolze empor.

„Dazu wünsche ich Jhnen Glück, Herr Hauptmann – Sie werden Karriere machen, daran zweifle ich nicht.“

Sie wandte ihm den Rücken und trat zu ihrer Mutter; aber während sie gleichfalls den Karton betrachtete und lebhaft und ausführlich mit dem jungen Maler darüber sprach, weilten ihre Gedanken immer noch bei jenem Gespräche. Deutlicher konnte man es ihr nicht sagen, daß man Sieger geblieben war, und die Ueberzeugung davon drängte sich ihr mit einer seltsamen, unerklärlichen Empfindung auf. Freilich, er wollte ja seine Liebe niederzwingen und vernichten – das schien ihm überraschend schnell gelungen zu sein!

Die Gräfin machte jetzt Anstalt aufzubrechen, und Michael verabschiedete sich von den Damen, die Hans bis zum Wagen begleitete. Als er zurückkam, hatte er nichts Eiligeres zu thun, als die „verfehlte Arbeit“ aus ihrem Versteck zu erlösen und sie mit der größten Sorgfalt in eine andere Mappe zu legen, die er verschloß.

„Das wäre eine schöne Geschichte gewesen, wenn die Gräfin das Bild entdeckt hätte,“ sagte er. „Sie würde sofort ihr Pathenkind erkannt haben, und mit der Herrlichkeit Hans Wehlau Wehlenberg’s auf Forschungstein wäre es aus gewesen. Er lebte fortan nicht mehr als ritterbürtig in den Erinnerungen der Ebersburg.“

„Wen stellt das Bild denn dar?“ fragte Michael, der wie in Gedanken verloren auf und nieder ging.

„Gerlinde von Eberstein. Ich habe sie aus der Erinnerung gezeichnet. Du weißt ja von meinem Abenteuer auf der Ebersburg und meiner Standeserhöhung. Es ist merkwürdig: ich kann die Erinnerung an das kleine Dornröschen nicht los werden, das mir so lächerlich und zugleich so lieblich erschien; es drängt sich zwischen mich und jede andere Gestalt. Sogar vorhin, in Gegenwart der schönen goldhaarigen Märchenfee, tauchte mir immer wieder das holde Gesichtchen mit den dunklen Augen auf, die so träumend in eine längst versunkene Welt schauen. Ich finde übrigens, daß mit Gräfin Hertha eine Veränderung vorgegangen ist, seit sie Braut ist. Seitdem umgiebt sie eine gewisse Gletscheratmosphäre, die gar nichts Bräutliches hat. Das ist das gewöhnliche Ergebniß solcher Konvenienzverbindungen, wo von einer etwaigen Neigung gar keine Rede ist. Auch Graf Raoul scheint nicht viel für seine schöne Verlobte zu fühlen, wenigstens treibt er es toller und wilder als je, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn er nicht in ganz anderen Banden läge.“

Michael blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.

„Jetzt schon? Im Angesichte seiner Braut – das wäre gemein!“

Hans sah verwundert auf bei dem dumpfen, drohenden Tone.

„Das klang ja förmlich tragisch. Kennst Dn denn überhaupt den jungen Grafen?“

„Ich sah ihn zuerst bei dem General, und seitdem sind wir noch verschiedene Male zusammengetroffen. Ich war aber genöthigt, ihm in der nachdrücklichsten Weise klar zu machen, daß er es mit einem Officier zu thun hat, der sich nöthigenfalls mit dem Degen in der Hand die Rücksicht erzwingt, die man ihm versagen möchte. Er scheint das auch endlich begriffen zu haben.“

In dem Auge des jungen Malers blitzte Etwas auf, und während er es scharf und fest auf seinen Freund heftete, nahm er, scheinbar ganz absichtslos, Pinsel und Palette wieder auf und begann von Neuem zu malen.

„Das wundert mich, Graf Raoul mag seinen Ahnenstolz besitzen, gewöhnlichen Standeshochmuth habe ich aber nie bei ihm bemerkt. Er muß irgend Etwas gegen Dich haben.“

„Oder ich gegen ihn? Ich glaube, wir wissen es Beide, wie wir mit einander stehen!“

„Aha, jetzt kommt es!“ murmelte Hans ganz leise, aber triumphirend, während er einen Pinselstrich nach dem anderen zog; dabei setzte er aber ruhig das Gespräch fort.

„Nun, ich habe den Grafen nur von der liebenswürdigen Seite kennen gelernt. Was aber seine Verlobung betrifft, so weiß man ja allgemein, daß sie einzig das Werk des Großvaters ist. Seine Excellenz befahlen, und der Enkel beugte sich dem allerhöchsten Willen.“

„Um so erbärmlicher!“ brauste Rodenberg auf. „Wer zwang ihn denn, zu gehorchen? Warum weigerte er sich nicht? Aber dieser vielgepriesene, geniale Steinrück mit all seiner Ritterlichkeit ist doch nur ein Feigling, wenn es sich um den moralischen Muth handelt!“

Es sprach ein so leidenschaftlicher, unbezähmbarer Haß aus den Worten, daß Hans aufhorchte. Aber mit dem ganzen Egoismus des Künstlers, der nur sein Werk im Auge hat und dem alles Andere daneben verschwindet, fragte und forschte er nicht, wie sein Freund zu dieser wilden Gereiztheit kam. Er sah ihn nur unverwandt an und zog dann wieder Strich auf Strich auf der Leinwand.

„Ich glaube, es wäre dem Grafen übel bekommen, wenn er einen Widerstand versucht hätte,“ warf er hin. „Der General soll in seinem Hause ebenso strenge Mannszucht halten wie unter seinen Soldaten und nicht den geringsten Widerspruch dulden. Du kennst ja Deinen eisernen Chef. Möchtest Du es versuchen, vor ihn hinzutreten und ihm ein offenes Nein zu sagen?“

„Ich habe ihm wohl noch mehr gesagt, als ein bloßes Nein.“

„Du – dem General?“

Hans war so erstaunt, daß er einen Augenblick die Arbeit ruhen ließ, Michael aber vergaß alle Vorsicht, er ließ sich von seiner Erregung fortreißen.

„Dem General Graf Steinrück – ja! Er wollte mich auch zwingen mit seinem Herrscherblick, er gebot mir auch Schweigen mit jenem Gebietertone, dem sich Alles beugt, aber ich schwieg nicht. Er sollte und mußte von meinen Lippen hören, was er wohl noch niemals in seinem Leben vernommen hat. Ich schleuderte es ihm rücksichtslos in das Antlitz, und er hat [651] mich angehört! Jetzt sind wir freilich zu Ende mit einander, aber er weiß es nun, was mir sein Name und seine Grafenkrone gelten, weiß, daß ich ihn und sein ganzes Geschlecht –“

„Zehnmalhunderttausend Klafter tief in den Abgrund schmettern möchte – endlich!“ brach der junge Künstler triumphirend aus, der soeben noch einige letzte Pinselstriche gemacht hatte. „Bravo, Michael! Jetzt kannst Du wieder gemüthlich werden, jetzt habe ich es!“

„Was hast Du?“ fragte Michael betroffen.

„Den Ausdruck, den Flammenblitz des Auges, nach dem ich so lange suchte. Du warst unvergleichlich in Deiner Empörung – Sankt Michael, wie er leibt und lebt!“

Rodenberg schien jetzt erst zu fühlen, wie weit er sich hatte fortreißen lassen, er biß sich auf die Lippen.

„Also Du hast mich kaltblütig studirt während der ganzen Zeit? Hans, das ist unverzeihlich!“

„Möglich, aber es war nothwendig. Sieh Dir doch einmal das Bild an, was jetzt aus der Stirn und den Augen geworden ist. Mit wenigen Pinselstrichen habe ich es getroffen.“

Michael trat, noch immer gereizt und unmuthig, vor die Staffelei; auch ihn schien die Veränderung an dem Gemälde zu überraschen, aber ehe er noch eine Bemerkung darüber aussprechen konnte, legte Hans den Arm um seine Schulter und sagte, plötzlich ernst werdend:

„Und nun beichte einmal, was ist das zwischen Dir und den Steinrück? Warum hassest Du den Grafen Raoul, was giebt Dir das Recht, dem General, Deinem Chef, solche Dinge ins Gesicht zu sagen? Da liegt irgend Etwas, was Du mir verschwiegen hast.“

Rodenberg gab keine Antwort, sondern wandte sich finster ab.

„Verdiene ich Dein Vertrauen nicht?“ fragte Hans vorwurfsvoll. „Ich habe niemals ein Geheimniß vor Dir gehabt und darf wohl das Gleiche fordern. In welchem Verhältniß stehst Du zu diesem Steinrück?“

Es folgte eine kurze Pause, dann sagte Michael kalt und fest:

„In demselben Verhältniß wie Graf Raoul.“

Hans sah ihn starr und völlig verständnißlos an; er glaubte nicht recht gehört zu haben.

„Was soll das heißen? Der General –?“

„Ist der Vater meiner Mutter – sie hieß Louise Steinrück!“

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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 38, S. 665–668
Novelle – Teil 15

[665] Der März zeigte sich diesmal von einer sehr unfreundlichen Seite. Nachdem er mit einigen schönen sonnigen Tagen eingezogen war, hüllte er die Stadt wochenlang in einen grauen Nebel und Regenmantel; im Freien starben die ersten Knospen vor Kälte und Nässe, und hinter den Fenstern blickten die Menschen verdrießlich in den Lenzmonat, der seinem Namen so wenig Ehre machte.

Es war an einem jener Regennachmittage, als Graf Raoul Steinrück die Treppe eines Hauses in dem vornehmeren Stadttheil emporstieg und im ersten Stockwerk die Klingel zog. Er mußte dem Diener, der ihm die Thür öffnete, wohl genau bekannt sein, denn dieser verneigte sich auf die Frage, ob Herr de Clermont zu Haus sei, nur bejahend und ließ den Besuch ohne jede Anmeldung ein.

Der junge Graf trat in den Salon, der trotz seiner eleganten Einrichtung doch die Behaglichkeit vermissen ließ. Alles was die Mode forderte, war vorhanden, dagegen fehlte Alles und Jedes, was auf ein persönliches Verhältniß der Bewohner zu den Räumen deutete. Es war eine jener Einrichtungen, die ewig auf der Wanderung sind, die für einen längeren oder kürzeren Aufenthalt zur Verfügung gestellt werden, um dann nach einiger Zeit wieder andere Räume zu füllen und anderen Personen zu dienen.

Beim Eintritt des Grafen wandte sich ein junger Mann, der am Fenster gestanden hatte, rasch um und kam ihm mit lebhafter Begrüßung entgegen.

„Da bist Du ja, Raoul! Wir hatten heute schon darauf verzichtet Dich zu sehen.“

„Ich habe nur eine halbe Stunde Zeit,“ versetzte Raoul, der Hut und Ueberrock bereits draußen abgelegt hatte und sich jetzt in einen Sessel warf, mit einer Zwanglosigkeit, die verrieth, daß er hier völlig zu Hause war. „Ich komme direkt aus dem Ministerium.“

„Und da hat der künftige Staatslenker natürlich üble Laune mitgebracht,“ sagte Clermont lachend. „Wichtige Regierungsgeschäfte – dagegen muß sich Unsereiner freilich bescheiden.“

Die Unterhaltung wurde in französischer Sprache geführt. Henri de Clermont war vielleicht einige Jahre älter als Graf Steinrück, eine schlanke, elegante Erscheinung, die etwas ungemein Gewinnendes hatte; nur stand die harmlose Liebenswürdigkeit seines Wesens nicht recht im Einklange mit dem scharfem Blick der dunklen Augen, die an das Beobachten gewöhnt zu sein schienen. Sie hafteten auch jetzt forschend auf dem Gesichte Raoul’s, der unmuthig erwiderte:

„Staatslenker – Regierungsgeschäfte – ja wohl! Wenn Du nur wüßtest, durch welch eine endlose Wüste von Trockenheit und Langeweile man sich da erst hindurcharbeiten muß! Seit einem [666] vollen Jahre bin ich nun im Ministerium und werde noch immer mit den unbedeutendsten, erbärmlichsten Kleinigkeiten geplagt. Ein Graf Steinrück gilt unserem Chef grade so viel wie der erste beste seiner bürgerlichen Beamten, ja vielleicht noch weniger, wenn Jener zufällig eine größere Arbeitskraft hat. Da heißt es, von der Pike auf dienen.“

„Ja, man ist bei Euch sehr gründlich in solchen Dingen,“ sagte Clermont ironisch. „Bei uns pflegt es schneller zu gehen, wenn man Namen und Verbindung hat. Also man vertraut Dir noch immer nichts Wichtiges an?“

„Nein!“ Raoul’s Blick flog ungeduldig nach der Thür, die in die inneren Räume – führte, als erwarte er dort etwas. „Höchstens einmal eine Uebergabe oder Abschrift bei Vertrauenssachen, wo Name und Stellung des Betreffenden die Bürgschaft für sein Schweigen geben – und das kann noch Jahre währen!“

„Wenn Du es aushältst! Denkst Du denn im Staatsdienste zu bleiben?“

Der junge Graf sah erstaunt auf.

„Gewiß, was denn sonst?“

„Eine seltsame Frage für Jemand, der im Begriff steht, eine der reichsten Erbinnen zu heirathen. Du kannst ja künftig als souveräner Herr auf Deinen Gütern leben. Wie ich Dich kenne, würdest Du das freilich nicht ertragen: Du brauchst das Leben, die Gesellschaft, das Wogen und Treiben der Großstadt. Nun, so laß Dich doch der Gesandtschaft in Paris attachiren, wie es einst Dein Vater that. Das kann ja nicht schwer zu erreichen sein, wenn man die Hebel an der richtigen Stelle einsetzt, und Deiner Mutter erfüllst Du jedenfalls einen Lieblingswunsch damit.“

„Und mein Großvater? Er würde es nun und nimmermehr zugeben.“

„Wenn er gefragt wird, gewiß nicht, aber seine Macht reicht doch nur so weit, wie seine Vormundschaft über Deine künftige Gemahlin. Das Testament weist ja wohl Bestimmungen darüber auf. Wann wird Gräfin Hertha mündig?“

„An ihrem zwanzigsten Geburtstage, im nächsten Herbst.“

„Nun wohl, dann hast Du doch nichts mehr zu fragen, als höchstens nach den Wünschen Deiner jungen Frau, und die wird sich sicher nicht weigern, mit Dir in der Hauptstadt Europas, im Mittelpunkt des Glanzes zu leben. Ein etwaiger Einspruch des Generals kommt nicht mehr in Betracht für Dich und sie.“

„Du kennst meinen Großvater nicht,“ sagte Raoul finster. „Er wird selbst dann noch seine Autorität behaupten, und ich – wird denn Madame de Nérac heute gar nicht sichtbar?“

„Sie ist noch bei der Toilette, wir fahren zu einem Diner. Wo wirst Du denn heute Abend sein?“

„Bei meiner Braut.“

„Und das sagst Du mit einer solchen Miene?“ spottete Clermont. „Alle Welt beneidet Dich ja um die glänzende Partie, und mit Recht. Gräfin Hertha ist schön, reich und –“

„Kalt wie Eis!“ ergänzte Raoul bitter. „Ich kann Dir versichern, daß ich nicht so beneidenswerth bin, wie man glaubt.“

„Ja, in der Launenhaftigkeit scheint die junge Gräfin allerdings etwas zu leisten. Das ist nun einmal das Vorrecht schöner Frauen.“

„Wenn es nur Launen wären – das ist mir nichts Neues, das lag von jeher in ihrer Art. Aber seit unserer Verlobung hat sie einen Ton angenommen, ist sie von einer Unnahbarkeit, die meine Geduld auf die äußerste Probe stellt. Lange halte ich das nicht mehr aus.“

Es sprach in der That die äußerste Gereiztheit aus diesen Worten, Clermont zuckte gleichmüthig die Achseln.

„Wer von uns kann ganz nach seiner Neigung wählen? Ich kann es auch nicht, wenn ich früher oder später zu einer Verbindung schreite, und meine Schwester wurde mit sechzehn Jahren an einen Mann vermählt, der bereits in den Fünfzigen stand. Man beugt sich eben der Nothwendigkeit.“

Raoul hörte die letzten Worte kaum; sein Blick bewachte noch immer ungeduldig die Thür, und plötzlich fuhr er empor, denn diese Thür öffnete sich und ein Seidenkleid rauschte über die Schwelle.

Die Dame, welche jetzt eintrat, eine schmächtige, mittelgroße, aber ungemein graziöse Gestalt, war nicht mehr in der ersten Jugendblüthe; sie mochte schon am Ausgange der Zwanzig stehen. Das Gesicht konnte nicht schön, vielleicht nicht einmal hübsch genannt werden, aber es hatte einen eigenthümlichen, pikanten Reiz. Das schwarze Haar, das in kurzen, krausen Locken den Kopf umgab, ließ diesen jugendlicher erscheinen, als er in der That war; die dunklen Augen hatten etwas Weiches, Verschleiertes, und doch konnten sie blitzähnlich aufsprühen, wie in dem Augenblick, wo sie auf den jungen Grafen fielen. Man fragte sich vergebens, welcher Zauber denn eigentlich in diesen völlig unregelmäßigen und nicht einmal edlen Zügen liege, aber er war nun einmal vorhanden, und wenn sich das Antlitz vollends beim Sprechen belebte, erschien es geistvoll und interessant in jeder Linie.

Raoul hatte sich rasch erhoben und war der jungen Frau entgegengeeilt, deren Hand er an seine Lippen zog.

„Ich komme heute nur im Fluge,“ sagte er. „Ich wollte Sie doch wenigstens begrüßen, da ich von Henri höre, daß Sie im Begriff sind, auszufahren.“

„O, wir haben immerhin noch eine halbe Stunde Zeit,“ versicherte Frau von Nérac mit einem Blick auf die Uhr. „Sie sehen ja, Henri ist noch nicht einmal im Gesellschaftsanzuge.“

„Es wird aber wohl Zeit sein, daß ich auch Toilette mache,“ fiel Clermont ein. „Du entschuldigst, Raoul, ich bin sogleich wieder da.“

Er verließ das Zimmer, und Raoul schien durchaus nichts dagegen zu haben, daß er mit der Schwester seines Freundes allein blieb. Er nahm ihr gegenüber Platz, und schon in der nächsten Minute waren Beide in ein äußerst lebhaftes Gespräch vertieft, welches sich im Grunde um gleichgültige und alltägliche Dinge drehte und aus dem doch eine Fülle von Witz, von Geist und Uebermuth wie ein Raketenfeuer aufsprühte. Frau von Nérac schien Meisterin in diesem Tone zu sein, und der junge Graf zeigte sich ihr darin völlig gewachsen. Die Wolke, die vorhin auf seiner Stirn lag, war bis auf die letzte Spur verschwunden; er lebte und webte jetzt in seinem Elemente.

Auf einmal aber nahm die Unterhaltung eine andere Wendung. Raoul erwähnte zufällig Schloß Steinrück, und der Name rief sofort ein halb spöttisches, halb boshaftes Lächeln auf die Lippen der jungen Frau.

„Ah, das Schloß in den Bergen!“ sagte sie nachlässig. „Henri und ich hätten es gern kennen gelernt, leider verhinderte die – Erkrankung der Frau Gräfin unseren beabsichtigten Besuch.“

„Meine Mutter leidet öfter an diesen Nervenzufällen, die ganz plötzlich eintreten und sehr angreifend sind,“ erklärte Raoul, rasch seine Verlegenheit bemeisternd. „Sie raubten ihr auch diesmal das Vergnügen, so liebe Gäste bei sich zu sehen.“

Frau von Nérac lächelte wieder, unendlich liebenswürdig und unendlich boshaft.

„Ich fürchte nur, daß diese Gäste selbst den ,Nervenanfall‘ hervorgerufen haben!“

„Gnädige Frau!“

„Oder vielleicht auch der General. Jedenfalls waren wir die unschuldige Ursache davon.“

„Sie lassen mich noch immer den unglücklichen Vorfall büßen,“ sagte Raoul gepreßt. „Henri thut das nicht; er kennt die schwierige Stellung, in der ich und meine Mutter uns befinden, und trägt ihr Rechnung.“

„Das thue ich gleichfalls, ich habe die Gräfin trotzdem aufgesucht. Wir mußten uns freilich auf einige flüchtige Besuche beschränken, denn der Herr General fand sich auch später nicht zu einer Einladung veranlaßt. Seine Excellenz scheinen ein sehr absoluter Herrscher zu sein und haben jedenfalls einen sehr gehorsamen Enkel.“

„Was bleibt mir denn Anderes übrig, als zu gehorchen!“ rief Raoul mit unterdrückter Heftigkeit „Meine Mutter hat Recht; sie wie ich stehen unter einem eisernen Willen, der gewohnt ist, rücksichtslos Alles zu beugen und zu brechen, was sich nicht beugen will. Wenn Sie wüßten, wie demüthigend es ist, immer noch bevormundet, examinirt, ausgescholten zu werden wie ein Knabe – ich habe es satt und übersatt!“

Er war in voller Erregung aufgesprungen, während Frau von Nérac, graziös zurückgelehnt, mit ihrem Fächer spielte und jetzt mit vollkommener Ruhe sagte:

„Nun, das wird ja ein Ende nehmen mit Ihrer Vermählung.“

„Ja – mit meiner Vexmählung!“ wiederholte der Graf langsam.

[667] „Wie elegisch das klingt! Nehmen Sie sich in Acht, daß Gräfin Hertha diesen Ton nicht hört, sie könnte ihn sonst übelnehmen!“

Raoul antwortete nicht, aber er trat an den Sessel der jungen Frau und beugte sich zu ihr nieder.

„Heloise!“

Das Wort klang halb vorwurfsvoll, halb flehend, schien aber nicht verstanden zu werden, denn sie sah wie erstaunt zu ihm auf.

„Nun?“

„Sie wissen es doch am besten, was mir diese Verbindung ist, zu der ich von meiner Mutter gedrängt, überredet wurde, die ich jetzt schon als eine Fessel empfinde, noch ehe sie geschlossen ist.“

„Und die Sie trotzdem schließen werden.“

„Das ist noch die Frage!“

In Heloisens dunklen Augen sprühte es wieder blitzartig, dann aber senkte sie die Wimpern und schien angelegentlich die Zeichnung ihres Fächers zu studiren, während sie in leichtem Tone sagte:

„Wollen Sie etwa eine Rebellion versuchen? Das würde einen Sturm ohne Gleichen in Ihrer Familie geben, und die allerhöchste Ungnade wäre Ihnen gewiß.“

„Was frage ich darnach, wenn mir nur ein Glück verheißen wird!“ brach Raoul leidenschaftlich aus. „Um diesen Preis trotze ich selbst dem Zorne meines Großvaters. Ich glaubte es ja überwinden, vergessen zu können, als Hertha meine Braut wurde; da kam ich zurück, da sah ich Sie wieder, Heloise, und da fühlte ich, daß der alte Bann mich festhielt und ewig festhalten wird. – Sie schweigen? Haben Sie wirklich keine Antwort für mich?“

Sein Auge suchte das ihrige und fand es auch endlich; jetzt war der Blick der jungen Frau wieder weich und verschleiert, und ebenso weich klang ihre Stimme, als sie halblaut sagte: „Sie sind ein Thor, Raoul!“

„Nennen Sie es Thorheit, wenn man glücklich zu sein verlangt?“ rief er aufflammend. „Sie sind Wittwe, Heloise, Sie sind frei, und wenn –“

Er konnte nicht vollenden, denn in demselben Augenblicke wurde die Thür etwas geräuschvoll geöffnet und Clermont trat wieder ein. Er schien weder das hastige Auffahren seines Freundes, noch den unwilligen Blick, den die Schwester ihm zusandte, zu bemerken, sondern rief im harmlosesten, heitersten Tone:

„Da bin ich! Nun können wir noch eine Viertelstunde plaudern, Raoul.“

Das Gesicht des jungen Grafen verrieth, wie unwillkommen ihm diese Unterbrechung war, und in der übelsten Laune entgegnete er:

„Ich habe leider keine Minute mehr übrig, ich sagte es Dir ja, daß ich nur im Fluge herkam. Gnädige Frau –“

Er wandte sich wieder an Heloise und schien noch eine leise Frage an sie richten zu wollen, aber plötzlich trat Clermont zwischen Beide und legte scherzend, aber doch mit einem gewissen Nachdruck die Hand auf den Arm seiner Schwester.

„Nun, wenn Du solche Eile hast, wollen wir Dich nicht halten, nicht wahr, Heloise? Auf morgen denn!“

„Auf morgen!“ wiederholte Raoul, ihm flüchtig die Hand reichend; er schien keine Lust zu haben, den Freund zum Vertrauten zu machen, sondern verabschiedete sich in gewohnter Weise und ging, wenn auch mit sichtbarer Verstimmung. Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, so wandte sich die junge Frau mit sehr ungnädiger Miene zu ihrem Bruder: „Du kamst sehr ungelegen, Henri!“

„Das sah ich,“ versetzte er ruhig. „Ich hielt es aber für Zeit, der Scene ein Ende zu machen, denn Du warst im Begriff, sie ernsthaft zu nehmen.“

Heloise warf mit trotziger Entschiedenheit den Kopf zurück.

„Und wenn ich das nun thäte! Würdest Du mich vielleicht hindern?“

„Nein, aber ich würde Dir klar machen, daß Du im Begriff bist, eine grenzenlose Thorheit zu begehen; weiter bedarf es hoffentlich nichts, um Dich zur Vernunft zu bringen.“

„Meinst Du? Du könntest Dich doch irren,“ sagte sie triumphirend. „Du unterschätzest meine Macht über Raoul. Ein Wort von mir, und er zerreißt seine Verlobung und bietet seiner ganzen Familie Trotz.“

„Und was dann?“

Die kühle, scharfe Frage machte dem Triumphe der jungen Frau ein Ende, sie blickte betroffen den Bruder an, der mit vollkommener Gelassenheit fortfuhr: „Dn kennst den General. Glaubst Du, daß er seinem Enkel jemals einen solchen Schritt verzeihen, daß er eine Verbindung mit Dir auch nur zulassen würde? Und gegen seinen Willen kann sich Raoul überhaupt nicht vermählen, da er gänzlich von ihm abhängt.“

„Er ist der Erbe seines Großvaters, und dieser steht bereits in den Siebzigen –“

„Ist aber eine eiserne Natur, mit einer stählernen Gesundheit,“ fiel Clermont ein. „Er kann noch zehn Jahre leben, und Du bist doch nicht thöricht genug, Dir einzubilden, daß Raoul’s Leidenschaft oder Deine Jugend so lange Stand hält? Du bist volle fünf Jahre älter als er.“

Frau von Nérac preßte heftig ihren Fächer zusammen.

„Henri, Deine Rücksichtslosigkeit übersteigt bisweilen alle Begriffe!“

„Es thut mir leid, aber ich kann Dir die Wahrheit nicht ersparen. Du kannst nicht mehr auf die Zukunft rechnen, dafür muß die Gegenwart wahrgenommen werden. In wenigen Jahren hast Du überhaupt nicht mehr zu wählen.“

Heloise antwortete nicht, aber sie nahm eine äußerst gereizte Miene an. Die Erörterung beleidigte sie augenscheinlich, Clermont nahm jedoch keine Notiz davon; er behielt seine kühle überlegene Ruhe.

„Und gesetzt auch, Raoul käme bald, käme jetzt schon in den Besitz seines Erbes, er wäre dennoch keine Partie für Dich. Dem General erlaubt das hohe Einkommen seiner Charge auf anständigem Fuße zu leben, das fällt bei seinem Enkel fort. Schloß Steinrück ist ein Luxusbesitz, der vielleicht noch Zuschuß erfordert, jedenfalls nichts einbringt, und was das Majorat mit den großen Herrschaften betrifft, an welches Du wahrscheinlich denkst, so gehört es der süddeutschen Linie. Die norddeutschen Vettern wußten recht gut, warum sie sämmtlich in den Staats- und Armeedienst traten. Das Familiengut reicht allenfalls hin, einen braven Landedelmann zu ernähren, der mit Weib und Kind zeitlebens auf seiner Scholle sitzt und sich selbst mit der Bewirthschaftung plagt. Aber Du und Raoul in einer solchen Lage – es wäre wirklich zum Lachen! Ueberdies liegt mir sehr viel daran, daß er vorläufig noch auf gutem Fuße mit dem General bleibt; durch ihn allein haben wir Fühlung mit dem Steinrück’schen Hause.“

„Das wäre viel leichter durch den Marquis de Montigny zu erreichen,“ sagte Heloise, noch immer in gereiztem Tone. „Er ist ja kürzlich an die hiesige Gesandtschaft versetzt worden und verkehrt selbstverständlich im Hause seiner Schwester.“

„Gewiß, aber Du irrst sehr, wenn Du glaubst, der stolze Montigny würde sich mit solchen Dingen abgeben. Er behandelt mich schon mit einer Nachlässigkeit, einer Nichtachtung, die mir oft genug das Blut ins Antlitz treibt. Er würde eher seine Stellung opfern, als sich herablassen – genug davon! Ich denke, Du siehst es jetzt selbst ein, daß Raoul’s Verhältnisse Deinen Ansprüchen auch nicht entfernt gewachsen sind; Du hast an der Seite Nérac’s bewiesen, wie weit diese Ansprüche gehen.“

„Konnte ich dafür, daß er sein Vermögen bis auf den letzten Rest verschwendete?“

„Nun, Du hast ihm redlich dabei geholfen, wir wollen das nicht weiter erörtern. Die Thatsache ist, daß wir ohne jedes Vermögen sind, und daß Du auf eine glänzende Partie angewiesen bist. Dein Roman mit Raoul muß eben ein Roman bleiben, und Du würdest sehr unklug handeln, wenn Du ihn zu einem Bruche mit seiner Braut triebest. So lange der General lebt, ist eine Verbindung zwischen Euch überhaupt eine Unmöglichkeit, später Wäre sie eine Thorheit. Bedenke das und sei vernünftig!“

„Was giebt es denn?“ fragte die junge Frau, sich ungeduldig umwendend, da in diesem Augenblick der Diener mit einer Karte eintrat. „Wir sind im Begriff auszufahren und können keinen Besuch annehmen.“

„Es ist ein Herr von der Gesandtschaft, er wünscht Herrn de Clermont nur auf einige Minuten zu sprechen,“ entschuldigte sich der Diener.

„Ah, das ist etwas Anderes,“ sagte Henri rasch, indem er die Karte nahm; plötzlich aber stutzte er und reichte sie seiner Schwester, die ebenfalls einen erstaunten Blick darauf warf.

[668] „Montigny? Er kommt zu Dir? Du sagtest ja soeben –“

„Ja, ich begreife es auch nicht, es muß irgend etwas Besonderes sein, was ihn herführt. Verlaß uns nur einige Minuten, Heloise, ich muß ihn empfangen.“

Die junge Frau zog sich zurück, und Clermont gab dem Diener einen Wink, den Besuch einzulassen, der gleich darauf erschien.

Der Marquis de Montigny war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, eine vornehme Erscheinung, in stolzer Haltung, der freilich gerade in diesem Augenblick eine kalte, etwas absichtliche Gemessenheit zeigte; trotzdem kam ihm Henri mit der größten Liebenswürdigkeit entgegen.

„Ah, Herr Marquis, ich bin sehr erfreut, daß ich endlich das Vergnügen habe, Sie bei mir begrüßen zu dürfen. Darf ich bitten –“

Er lud ihn mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen; aber Montigny blieb stehen und entgegnete kühl: „Sie sind jedenfalls erstaunt, mich hier zu sehen, Herr von Clermont.“

„Das nicht, unsere Beziehungen als Standesgenossen und Landsleute –“

„Sind nur sehr allgemeiner Natur,“ fiel ihm der Marquis schroff in die Rede. „Es ist eine durchaus persönliche Angelegenheit, die mich zu Ihnen führt. Ich wünschte nicht, sie auf der Gesandtschaft zu erledigen.“

Der Ton war in der That sehr nachlässig. Clermont preßte die Lippen zusammen, und ein drohender Blick schoß auf den Mann, der es wagte, ihn in seinem eigenen Hause so nichtachtend zu behandeln, aber er schwieg und erwartete das Weitere.

„Ich bin soeben meinem Neffen begegnet,“ nahm Jener wieder das Wort. „Er kam jedenfalls von Ihnen.“

„Gewiß, er hat uns soeben verlassen.“

„Und Graf Steinrück verkehrt täglich in Ihrem Hause, wie ich höre?“

„Allerdings, wir sind eng befreundet.“

„Wirklich?“ fragte der Marquis kalt. „Nun, Raoul ist jung und unerfahren; Ihnen aber möchte ich doch zu bedenken geben, daß diese ,Freundschaft‘ schwerlich der Mühe lohnen wird. Einem jungen, noch ganz unbedeutenden Beamten im Ministerium werden keine Staatsgeheimnisse anvertraut, man ist hier sehr vorsichtig in solchen Dingen.“

„Herr Marquis!“ fuhr Clermont mit voller Heftigkeit auf.

„Herr von Clermont?“

„Ich habe schon öfter Gelegenheit gehabt, mich über den Ton zu beklagen, den Sie für gut finden mir gegenüber anzuschlagen. Ich bitte um eine Aenderung desselben.“

Montigny zuckte die Achseln.

„Ich wüßte nicht, daß ich vor der Gesellschaft die nöthigen Rücksichten gegen Sie vergessen hätte. Jetzt sind wir unter vier Augen, und da erlauben Sie mir wohl, offen zu sein. Ich habe erst kürzlich von den Beziehungen des Grafen Steinrück zu Ihrem Hause erfahren und weiß nicht, in wie fern Frau von Nérac daran betheiligt ist. Dem sei nun wie ihm wolle. Sie werden es begreifen, wenn ich die Bitte – oder vielmehr die Forderung – ausspreche, daß bei den Zwecken, die Sie Beide verfolgen, der Graf aus dem Spiele bleibt. Suchen Sie sich andere Persönlichkeiten dazu, als den Sohn der Gräfin Hortense und den Neffen des Marquis de Montigny.“

Clermont war todtenbleich geworden: seine Hand ballte sich und seine Stimme klang heiser, als er entgegnete:

„Sie scheinen zu vergessen, daß wir Standesgenossen sind. Mein Name ist alt und edel wie der Ihrige, und ich fordere Achtung für denselben.“

Montigny trat einen Schritt zurück und sah ihn von oben bis unten an, dann sagte er schneidend:

„Ich achte Ihren Namen, Herr von Clermont – nicht Ihr Geschäft!“

Henri machte eine Bewegung, als wolle er sich auf den Beleidiger stürzen; mit halberstickter Stimme stieß er hervor:

„Das ist zuviel! Sie werden mir Genugthuung geben!“

„Nein!“ sagte Montigny mit derselben eisigen Ruhe, wie vorhin.

„So werde ich Sie zu zwingen wissen –“

„Ich rathe Ihnen, das nicht zu thun,“ fiel der Marquis drohend ein, „Sie würden mich sonst zwingen zu erklären, weßhalb ich Ihnen die Genugthuung weigere. Das würde Sie in der Gesellschaft unmöglich machen und mir eine Verantwortung auferlegen, die ich nur im äußersten Nothfall tragen würde. Ich wiederhole meine Forderung; wird sie nicht erfüllt, so öffne ich meiner Schwester und ihrem Sohne die Augen – ich denke, Sie lassen es nicht darauf ankommen!“

Er neigte das Haupt, so stolz und verächtlich, daß der Gruß füglich für eine neue Beleidigung gelten konnte; dann wandte er sich um und ging. – Clermont stand unbeweglich und sah ihm nach. Sein ganzer Körper bebte in mühsam unterdrückter Wuth, und halblaut murmelte er: „Das sollst Du mir büßen!“

Textdaten
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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 39, S. 685–690
Novelle – Teil 16

[685] Das Reval’sche Haus bildete eine Art Mittelpunkt für die Geselligkeit der Hauptstadt, der gern und vielfach aufgesucht wurde. Man fand dort stets einen auserlesenen Kreis, in welchem neben dem Geburtsadel auch die Geistesaristokratie zahlreich vertreten war. Der Oberst und seine Gemahlin setzten ihren Stolz darein, die bedeutendsten Persönlichkeiten der Kunst und Wissenschaft zu den Freunden ihres Hauses zu zählen, und ihr Reichthum erlaubte ihnen, die Gastfreundschaft in großartigem Maßstabe zu üben.

Am heutigen Abend versammelte eine größere Festlichkeit noch einmal am Schluß des Winters den ganzen Freundes- und Bekanntenkreis. Sie gestaltete sich hier, in den weitläufigen, prachtvollen Räumen um vieles glänzender, als in dem verhältnißmäßig einfachen Sommersitze zu Elmsdorf, und auch die Gäste waren weit zahlreicher. Die Gesellschaft wogte durch die lichterfüllten Zimmer und Säle; man begrüßte sich; man lachte und plauderte. Auf den Festlichkeiten des Reval’schen Hauses lag immer eine besonders heitere, angeregte Stimmung. Das zeigte sich auch heute, und unter all den unbedeutenden und gleichgültigen Erscheinungen, die jede größere Versammlung aufweist, erblickte man auch manche schöne Frauengestalt, manchen ernsten bedeutenden Männerkopf. Es hatte sich in der That Alles zusammengefunden, was irgendwie auf Bedeutung Anspruch machen konnte.

General Steinrück, den eine langjährige Freundschaft mit dem Oberst verband, war mit seiner ganzen Familie erschienen, und man hatte auch die Aufmerksamkeit gehabt, den Bruder der Gräfin Hortense, den Marquis von Montigny einzuladen.

Selbst Professor Wehlau, der sonst die großen Gesellschaften nicht liebte und sich ihnen soviel wie möglich entzog, hatte diesmal eine Ausnahme gemacht und war mit seinen beiden Söhnen gekommen. Hans blieb jedoch vorläufig noch unsichtbar, er stellte die lebenden Bilder, die einen Theil des Festes ausmachten, und hatte die Regie der Vorstellung übernommen, während Michael seine Theilnahme daran bestimmt verweigert hatte und nur als einfacher Gast erschien.

„Auf ein Wort, lieber Rodenberg!“ sagte der Oberst halblaut, indem er den Hauptmann auf einen Augenblick bei Seite zog. „Haben Sie [686] sich dem General gegenüber irgend etwas zu Schulden kommen lassen?“

„Nein, Herr Oberst,“ entgegnete Michael mit vollkommener Ruhe.

„Nicht? Es fiel mir auf, daß er an Ihnen vorüber ging, ohne auch nur ein einziges Wort an Sie zu richten, mit einer sehr kühlen Erwiderung Ihres allerdings sehr gemessenen Grußes. Es ist also wirklich nichts vorgefallen?“

„Durchaus nichts. Ich habe den General ja überhaupt nur einmal gesprochen, als ich mich bei ihm meldete, und ihn dann nur hin und wieder bei dienstlichen Veranlassungen gesehen; weßhalb sollte er mir besondere Rücksicht erweisen?“

„Weil er Sie und Ihre Leistungen kennt. Er sprach sich lobend darüber aus, noch ehe er Sie persönlich kannte, und überdies weiß ich, daß meine Empfehlung bei ihm ins Gewicht fällt. Trotzdem hat er während des ganzen Winters so gut wie gar keine Notiz von Ihnen genommen, sogar die Einladung, mit der er sonst die ihm vorgestellten Officiere beehrt, ist unterblieben, und wenn ich das Gespräch auf Sie bringe, sucht er entschieden abzulenken – mir ist das unerklärlich!“

„Die Erklärung wird wohl darin liegen, daß ich nicht das Glück habe, Seiner Excellenz zu gefallen,“ sagte Michael achselzuckend, doch der Oberst schüttelte den Kopf.

„Der General hat keine Launen, und es wäre auch das erste Mal, daß er sich ungerecht zeigte gegen einen Officier, von dessen Tüchtigkeit er überzeugt ist. Sie müssen durchaus etwas versehen haben.“

Rodenberg schwieg; er wollte lieber einen derartigen Vorwurf tragen, als noch länger dieser peinlichen Erörterung Stand halten; zum Glück wurde der Oberst jetzt von anderer Seite in Anspruch genommen und gab ihn frei.

Inzwischen begrüßte Professor Wehlau die Gräfin Steinrück, die er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, und wurde von ihr mit großer Freundlichkeit empfangen. Sie vergaß es nicht, daß er sich damals, bei dem Tode ihres Gatten, mitten aus einer wichtigen und dringenden Arbeit gerissen hatte, um an das Sterbebett des Grafen zu eilen. Auf seine Erkundigung nach ihrem Befinden klagte sie über ihre zunehmende Kränklichkeit und ließ den Wunsch durchblicken, seinen Rath in Anspruch zu nehmen, obwohl sie wußte, daß er sich längst von der ärztlichen Thätigkeit zurückgezogen hatte. Der Professor kam ihr artig entgegen mit der Erklärung, daß er ihr gegenüber stets eine Ausnahme mache und ganz zu ihrer Verfügung stehe, und Beide waren im besten Einvernehmen, als die Dame unglücklicher Weise ein verfängliches Thema berührte.

„Ich habe mich für morgen bei Ihrem Sohne angemeldet,“ sagte sie. „Wie ich von ihm höre, ist sein großes Bild fast ganz vollendet und soll in der nächsten Woche ausgestellt werden. Ich möchte es aber vorher noch einmal allein im Atelier sehen, da es doch bereits mein Eigenthum ist. Sie wissen das vermuthlich?“

„Ja,“ entgegnete lakonisch der Professor, dessen gute Laune sofort dahin war. Hans hatte ihm bereits triumphirend verkündigt, daß sein Werk noch auf der Staffelei verkauft sei, und zwar an die Gräfin Steinrück, die jetzt unbefangen fragte:

„Nun, und was sagen Sie denn zu diesem Werke unseres jungen Künstlers?“

„Gar nichts! Ich habe es noch nicht angesehen,“ gab Wehlau schroff zur Antwort.

„Wie? Das Atelier liegt ja doch im Garten Ihres Hauses.“

„Leider! Aber ich habe noch keinen Fuß hineingesetzt und werde es auch nicht thun.“

„Noch immer so unversöhnlich?“ fragte die Gräfin vorwurfsvoll. „Ich gebe ja zu, daß der Streich, den Ihr Sohn Ihnen gespielt hat, ein wenig arg und übermüthig war; aber Sie müssen sich doch nun wohl selbst überzeugt haben, daß eine derartig begabte und veranlagte Natur für die kalte, ernste Wissenschaft nicht geschaffen ist.“

„Da haben Sie Recht, Frau Gräfin!“ fiel der Professor mit einem sehr herben Tone ein. „Der Junge taugt zu nichts Ernstem und Vernünftigem, so mag er denn meinetwegen Maler werden!“

„Denken Sie so niedrig von der Kunst? Ich dächte, sie wäre der Wissenschaft ebenbürtig.“

Wehlau zuckte die Achseln mit dem ganzen Hochmuth des Gelehrten, der überhaupt keinen Beruf dem seinen ebenbürtig hält, und dem die Kunst mehr oder minder für eine Spielerei gilt.

„Nun ja, es ist recht hübsch, Bilder in seinen Salons zu haben, das leugne ich gar nicht, und Sie haben ja in Berkheim eine ganze Galerie davon. Da wird wohl auch diese neueste Errungenschaft noch Platz finden.“

Die Gräfin sah ihn befremdet an.

„Sie scheinen den Gegenstand des Gemäldes nicht zu kennen, es ist ja für die Kirche in Sankt Michael bestimmt.“

„Für die Kirche?“ fragte Wehlau befremdet.

„Gewiß, da es ein Heiligenbild ist.“

Jetzt fuhr der Professor in die Höhe.

„Was? Mein Sohn malt Heiligenbilder?“

„Allerdings! Hat er Ihnen denn nie davon gesprochen?“

„Er wird sich hüten! Und Michael hat mir auch keine Silbe davon gesagt, trotzdem er zweifellos um die Geschichte weiß.“

„Das ist wohl nicht anders möglich, denn Hauptmann Rodenberg hat Modell dazu gestanden.“

„Nun, das mag ein schöner Heiliger geworden sein!“ brach der Professor mit grimmigem Lachen aus. „Der Michael paßt auch gerade dazu! Sind die Jungen denn alle Beide verrückt geworden? – Entschuldigen Sie, Frau Gräfin, ich fühle, daß ich grob werde, aber das übersteigt alle Begriffe, das ist – darüber muß ich mir Gewißheit holen!“

Er machte eine kurze Verbeugung und schoß davon, so eilig, daß er fast eine junge Dame streifte, die halb verborgen in der Fensternische, hinter dem Sitze der Gräfin stand und ihm ganz erschrocken nachblickte.

„Kommst Du endlich zum Vorschein, Gerlinde?“ fragte die Gräfin, sich umwendend. „Kind, was soll daraus werden, wenn Du Dich beim Eintritt in die Gesellschaft sofort hinter die Fenstervorhänge flüchtest! Du hättest eine der Berühmtheiten der Residenz kennen gelernt, wenn Du Dich nur gezeigt hättest.“

Das junge Mädchen war in der That erst in diesem Augenblick hervorgetreten und fragte nun schüchtern:

„Dieser grimmige Herr, der die Heiligenbilder nicht leiden kann –?“

„Ist einer der ersten Forscher der Gegenwart, eine gefeierte Größe der Wissenschaft, und deßhalb muß man ihm schon einige Schroffheit hingehen lassen; er ist überhaupt eine etwas cholerische Natur.“

Gerlinde blickte noch immer ängstlich dem Professor nach. In der Unterredung, die sie mit angehört hatte, war kein Name genannt worden, der sie hätte aufklären können, und es kam auch jetzt nicht dazu; denn soeben wurde das Zeichen zum Beginn der Vorstellung gegeben, und die ganze Gesellschaft fluthete nach dem Saale, wo sich die Bühne befand.

Hans Wehlau bedeckte sich an dem heutigen Abende mit Ruhm. Die Bilder, die er, nicht nach vorhandenen Gemälden, sondern nach seinen eigenen Ideen, an allbekannte Sagen oder Dichtungen anknüpfend, gestellt hatte, machten seinem Künstlertalent alle Ehre. Jedes einzelne war eine Schöpfung an sich, und so oft sich der Vorhang hob, gab es eine neue Ueberraschung.

Der eigentliche Triumph des Abends fiel jedoch der Gräfin Hertha Steinrück zu, die im reichsten phantastischen Kostüm als Loreley auf einem Felsen thronte. Hans wußte sehr gut, warum er dies Bild als letztes gewählt hatte und die junge Gräfin allein in dem Rahmen erscheinen ließ, ohne ihr irgend einen Gefährten zu geben. Ein Ah! der Bewunderung ging wie ein Rauschen durch die Zuschauermenge bei diesem Anblick, der Alles, was man bisher gesehen hatte, in den Schatten stellte. Es war in der That, als sei die Gestalt der Sage lebendig geworden mit ihrem ganzen berückenden Zauber.

Sogar Professor Wehlau vergaß für einige Minuten seinen Aerger, den er während der ganzen Vorstellung hatte aufsparen müssen, und war nur Anschauen und Bewunderung; als aber nun der Vorhang gefallen war und der jugendliche Regisseur mit sämmtlichen Mitwirkenden im Saale erschien, da wallte ihm die Galle wieder auf, und er versuchte seines Sprößlings habhaft zu werden. Das war jedoch nicht so leicht; denn Hans war der allgemein Gesuchte, Unentbehrliche; Hans wurde von allen Seiten mit Lob und Schmeicheleien überhäuft; er theilte den Triumph [687] des Abends mit der Gräfin Hertha. Es verging fast eine Viertelstunde, ehe es dem Professor gelang, sich seiner zu bemächtigen.

„Ich habe mit Dir zu sprechen,“ sagte er mit unheilverkündender Miene und schleppte den jungen Mann in dieselbe Fensternische, wo vorhin Fräulein Gerlinde von Eberstein gestanden hatte.

„Mit Vergnügen, Papa,“ versetzte Hans, der selbst vor Vergnügen strahlte. Das erhöhte noch den Aerger des Professors, der sich nicht lange mit der Vorrede aufhielt, sondern sofort auf das Ziel losging.

„Ist es wahr, was die Gräfin mir soeben mittheilt, daß das Bild, welches Du gemalt hast, ein Heiligenbild ist?“

„Ja wohl, Papa,“ bestätigte der junge Künstler harmlos.

„Und es ist auch wahr, daß Michael Dir dazu Modell gestanden hat?“

„Ja wohl, Papa!“

„Also doch! Habt Ihr denn alle Beide den Verstand verloren? Michael als Heiliger! Das wird eine schöne Karikatur geworden sein.“

„Im Gegentheil, er nimmt sich höchst imponirend aus als zürnender Erzengel. Das Bild stellt nämlich Sankt Michael dar –-“

„Meinetwegen den Satan!“ unterbrach ihn Wehlau ingrimmig.

„Der ist auch dabei, sogar in Lebensgröße. Aber was geht Dich denn eigentlich der Gegenstand meines Bildes an?“

„Was es mich angeht?“ fuhr der Professor auf, der Mühe hatte, den gedämpften Ton beizubehalten, den die Rücksicht auf die Gesellschaft erforderte. „Du kennst doch meine Stellung der kirchlichen Partei gegenüber. Du weißt, daß ich deßwegen von den Priestern in Acht und Bann gethan bin, und jetzt malst Du Heiligenbilder für ihre Kirchen? Das leide ich nicht; das dulde ich nicht, ich verbiete es Dir!“

„Das kannst Du nicht, Papa,“ sagte Hans kaltblütig. „Das Bild ist Eigenthum der Gräfin und überdies schon in Sankt Michael angekündigt.“

„Wo es natürlich mit allem nur möglichen kirchlichen Pomp installirt wird.“

„Ja wohl, Papa, am Sankt Michaelsfeste.“

„Hans, Du bringst mich um mit Deinem: Ja wohl, Papa! Am Michaelsfeste also, wo das ganze Gebirgsvolk zusammenströmt – das wird ja immer schöner! Die klerikalen Zeitungen werden sich natürlich der Sache bemächtigen; sie werden spaltenlange Berichte bringen über die Procession, die Messe, die Andächtigen, und mitten darin fortwährend den Namen Hans Wehlau, meinen Namen.“

„Bitte, das ist mein Name,“ entgegnete der junge Künstler mit Nachdruck.

„Ich wollte, ich hätte Dich Pankratius oder Blasius taufen lassen, damit die Welt doch einen Unterschied machte!“ rief der Professor verzweiflungsvoll.

„Papa, warum bist Du eigentlich so wüthend?“ fragte Hans mit Seelenruhe. „Im Grunde müßtest Du mir doch dankbar sein, wenn ich mich der schönen Aufgabe widme, Dich mit Deinen Gegnern zu versöhnen, und überdies ist das Bild gar kein Heiligenbild im gewöhnlichen Sinne. Es ist der Kampf des Lichtes mit der Finsterniß. Ich habe mir unter dem Erzengel natürlich die Aufklärung, die Wissenschaft gedacht, und unter dem Satan den Aberglauben. Das ist ganz Dein Fall, Papa, das ist eigentlich nur die Verherrlichung Deiner Lehre. Ich könnte das Bild in der Universität, in Deinem Auditorium aufhängen; denn es ist Dir so recht aus der Seele gemalt. Ich hoffe, Du bist mir dankbar dafür und –“

„Junge, hör’ auf, Du bringst mich noch ins Grab!“ stöhnte der Professor, dem ganz schwül wurde bei dieser wunderbaren Beweisführung.

„Bewahre! Wir werden noch höchst vergnügt mit einander leben. Aber jetzt entschuldige mich, ich muß wieder in den Saal.“

Und damit kehrte der junge Mann ganz unbekümmert wieder in die Gesellschaft zurück und schickte sich an, Michael aufzusuchen. –

In einem kleinen Kabinett, das unmittelbar an den Saal grenzte, aber augenblicklich völlig leer war, saß Fräulein von Eberstein ganz einsam und verlassen. Als der Vorhang gefallen war und die Gesellschaft wieder durch einander wogte, wurde die Gräfin Steinrück von allen Seiten in Anspruch genommen. Jeder hatte ihr ein Kompliment oder eine Schmeichelei über ihre schöne Tochter zu sagen, und dabei wurde Gerlinde von ihrer Beschützerin getrennt. Zaghaft und völlig fremd in diesem Kreise, hatte sie sich in das Nebenzimmer geflüchtet und wartete nun hier geduldig, bis man sich ihrer erinnerte.

Das junge Mädchen befand sich erst seit acht Tagen in der Stadt. Der Freiherr hatte endlich dem Wunsche der Gräfin und ihrer wiederholten Vorstellung nachgegeben, daß man Gerlinde doch einmal in die Welt einführen, ihr doch wenigstens die Möglichkeit geben müsse, eine standesmäßige Partie zu machen. Die letztere Rücksicht trug denn auch endlich den Sieg davon über die Hartnäckigkeit des Vaters, dem sein leidender Zustand doch öfter den Gedanken an den Tod nahe legte. Er wußte sehr gut, daß in diesem Falle Berkheim die einzige Zuflucht seines verlassenen Kindes war, und so gütig und liebevoll die Gräfin es auch ausgesprochen hatte, daß sie nach der Vermählung ihrer Tochter Gerlinde als einen Ersatz dafür betrachten würde, so sträubte sich doch der Stolz des alten Eberstein gegen diese, wenn auch in zartester Form angebotene Gnade.

Aus diesem Grunde wäre ihm eine standesmäßige Partie für seine Tochter sehr erwünscht gewesen. Der Begriff „standesgemäß“ lag für ihn natürlich einzig in einer möglichst langen und möglichst glänzenden Ahnentafel des künftigen Schwiegersohnes, und die streng aristokratischen Grundsätze der Steinrück’schen Familie beruhigten ihn in dieser Hinsicht vollkommen. Er ließ Gerlinde daher noch einmal den ganzen Stammbaum und die gesammte Hauschronik aufsagen, ermahnte sie, nie zu vergessen, daß sie aus dem zehnten Jahrhundert stamme, und ließ sie mit der Kammerfrau, welche die Gräfin gesandt hatte, nach der Hauptstadt abreisen, wo sie noch einige Wochen mit der gräflichen Familie verweilen und dann dieselbe nach Berkheim begleiten sollte.

Das kleine Burgfräulein hatte natürlich keine Ahnung von diesen Zukunftsplänen und war nur halb widerstrebend dem Rufe gefolgt. Das glänzende Wogen und Treiben der Gesellschaft, in welches sie schon damals bei dem kurzen Besuche in Steinrück einen Blick gethan hatte, und das ihr hier nun vollends aufging, beängstigte sie mehr, als es sie erfreute. So saß sie denn auch jetzt scheu und ängstlich, wie ein verscheuchtes Vögelchen, auf dem Eckdivan und war froh, einige Minuten allein zu sein.

Da wurde die Portière, die den Eingang halb verhüllte, rasch zurückgeschoben, ein junger Mann, der Jemand zu suchen schien, warf einen flüchtigen Blick in das Kabinett, blieb aber plötzlich wie angewurzelt stehen.

„Fräulein von Eberstein!“

Gerlinde schrak zusammen beim Klange dieser Stimme; jetzt erkannte auch sie den Eintretenden.

„Herr von Wehlau Wehlenberg!“

Hans war bereits an ihrer Seite. Er hatte keine Ahnung von ihrem Hiersein, von ihrer Anwesenheit in der Stadt überhaupt; seine Regiepflichten hielten ihn auf der Bühne fest, und als er den Saal betrat, hatte Gerlinde ihn bereits verlassen. Das Wiedersehen war eine Ueberraschung für beide Theile, aber keine unangenehme: das verriethen die leuchtenden Augen des jungen Mannes und das rosig erglühende Gesicht des kleinen Burgfräuleins.

„Ich glaubte Sie fern von hier, in Ihren heimischen Bergen,“ sagte Hans, während er schleunigst an ihrer Seite Platz nahm. „Wie geht es Ihrem Herrn Vater?“

„Der arme Papa ist in diesem Winter sehr leidend gewesen,“ berichtete Gerlinde. „Aber als das Frühjahr nahte, hat er sich wieder erholt, so daß ich ohne Besorgniß reisen konnte.“

„Und Muckerl? Wie befindet sich Muckerl?“

Die Nachrichten über Muckerl’s Befinden lauteten durchaus günstig; Muckerl war lustig und übermüthig wie damals im Herbst, und seine junge Herrin verlor bei der Erzählung etwas von der anfänglichen Befangenheit; sie war so froh, von der Heimat sprechen zu können, und Hans störte sie darin nicht, seine Augen hafteten unverwandt auf ihrem Antlitz.

Er hatte soeben erst Gräfin Hertha gesehen im vollsten, siegreichen Glanze ihrer Schönheit, und sein Künstlerauge hatte sich förmlich berauscht an diesem Anblick. Hier sah er nur ein zartes, kindliches Wesen, das sich nicht entfernt mit jener Schönheit messen konnte, und dessen sanfte, braune Rehaugen halb scheu, [688] halb zutraulich zu ihm empor blickten. Trotzdem erschien ihm das kleine Dornröschen heute unsagbar lieblich in dem Anzuge von leichtem, zartrosigem Stoff, der nur mit einzelnen Gewinden von Heckenrosen geschmückt war und wie eine duftige Wolke die zierliche Gestalt umfloß. Dieselben rosigen Blüthen schimmerten auch in dem dunklen Haar, das eben so einfach geordnet war wie früher. Auf der ganzen Erscheinung lag etwas von der thauigen Frische einer Rosenknospe, die eben erst anfängt, sich dem Lichte zu erschließen.

„Und wie gefällt es Ihnen bei uns?“ fragte Hans jetzt, als das junge Mädchen schwieg. „Nicht wahr, das Leben der Großstadt hat etwas Berauschendes, Blendendes für Jeden, der es zum ersten Male kennen lernt?“

Gerlinde schüttelte das Köpfchen und sah vor sich nieder.

„Es gefällt mir gar nicht,“ gestand sie. „Ich wäre weit lieber daheim bei meinem Papa und bei meinem Muckerl. Hier bin ich so fremd und verlassen unter all den fremden Menschen; sie verstehen mich gar nicht, und ich verstehe sie auch nicht.“

„Das werden Sie schon lernen,“ tröstete der junge Mann.

Aber sie blieb bei ihrem Kopfschütteln. Das arme Kind hatte doch jetzt ein dunkles Bewußtsein seiner Lächerlichkeit und klagte in beweglichem Tone:

„Hier kümmern sie sich so wenig um ihre Stammbäume; Niemand weiß, daß wir aus dem zehnten Jahrhundert stammen und unser Geschlecht das allerälteste ist. Wenn ich davon spreche, dann sagt Hertha: Gerlinde, hör’ auf, Du machst Dich lächerlich! und die Tante sagt: Mein Kind, das paßt nicht hierher! und Graf Raoul lächelt in einer so verletzenden Weise! Ich weiß es jetzt, er macht sich nur lustig über mich. Herr von Wehlau Wehlenberg, nicht wahr, Sie finden das nicht lächerlich? Sie haben ja ein so lebhaft entwickeltes Standesgefühl, wie mein Papa sagt.“

Dem Ritter von Forschungstein wurde es doch etwas heiß bei diesem Appell an sein Standesgefühl. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er jetzt seinen Uebermuth werde büßen müssen, denn sobald man in die Gesellschaft zurückkehrte und Gerlinde seinen Namen nannte, wurde sie aufgeklärt. Es gab nur ein Mittel, dem zuvorzukommen: er mußte es selbst thun.

„Wir haben in allen Adelsbüchern nachgeschlagen und haben auch endlich Ihr Geschlecht gefunden,“ fuhr die junge Dame wichtig fort, und urplötzlich wieder in den Chronistenstil verfallend, begann sie die betreffende Stelle aufzusagen:

„Die Herren von Wehlenberg, ein altes reichsfreiherrliches Geschlecht, seit dem Jahre sechszehnhundertunddreiundvierzig ansäßig in der Mark und reich begütert in den verschiedenen Provinzen, das derzeitige Haupt der Familie Freiherr Friedrich von Wehlenberg auf Bernewitz“ – hier brach sie ebenso urplötzlich ab und setzte betrübt hinzu: „Den Forschungstein haben wir aber nicht gefunden.“

„Den konnten Sie auch nicht finden, denn er existirt nicht,“ sagte Hans, der jetzt seinen Entschluß gefaßt hatte. „Sie und Ihr Herr Vater sind in einem Irrthum befangen, den ich allerdings verschuldet habe. Ich theilte Ihnen schon bei unserem ersten Zusammentreffen mit, daß ich ein Künstler sei.“

Gerlinde nickte ernsthaft.

„Ich habe es meinem Papa erzählt; er meint aber, das sei sehr unpassend für einen Mann von altem Adel.“

„Ich bin aber gar nicht von altem Adel, nicht einmal von neuem.“

Gerlinde sah ganz erschrocken aus und rückte eiligst seitwärts. Der junge Mann bemerkte das, und seine Stimme gewann einen Anflug von Bitterkeit, als er weiter sprach:

„Ich habe Ihnen eine Beichte abzulegen, gnädiges Fräulein, und um Verzeihung für eine Täuschung zu bitten, die eigentlich nur der Nothwehr entsprang. Ich kam an jenem Abende verirrt und durchnäßt nach der Ebersburg; es war weit und breit kein anderes Obdach aufzufinden; die Dunkelheit brach herein und der Herr Baron versagte mir den Einlaß, weil ich nicht ‚von Familie‘ war, wie er sich ausdrückte. Mir blieb nur die Wahl, wieder in das Unwetter hinauszugehen oder mich selbst in den Adelsstand zu erheben, und ich wählte das Letztere. Jetzt aber bin ich Ihnen die Wahrheit schuldig: ich heiße einfach Hans Wehlau, ohne jedes mittelalterliche Beiwerk, und bin meines Zeichens Maler; mein Vater ist Professor an der hiesigen Universität, und wir sind Beide bürgerlich vom Scheitel bis zur Sohle.“

Die Wirkung dieser Worte war eine niederschmetternde; das kleine Burgfräulein saß starr und steif da, wie gelähmt vor Entsetzen, und blickte den bürgerlichen Hans Wehlau an, der ihr so Fürchterliches berichtete. Endlich gewann sie die Sprache wieder, sie faltete die Hände und sagte mit einem tiefen Seufzer:

„Das ist schrecklich!“

Hans erhob sich und machte ihr eine sehr gemessene Verbeugung.

„Ich bekenne mich im vollsten Maße schuldig, aber ich glaubte doch nicht, daß die Wahrheit Sie so erschrecken würde. Jedenfalls habe ich nunmehr in Ihren Augen jede Bedeutung verloren und komme wohl Ihrem Wunsche zuvor, wenn ich Sie verlasse. Leben Sie wohl, Fräulein von Eberstein!“

Er wandte sich zum Gehen; jetzt aber fuhr Gerlinde auf und machte eine Bewegung, als wolle sie ihn zurückhalten.

„Herr Wehlau!“

Er blieb stehen. „Gnädiges Fräulein?“

„Sind Sie nicht ein ganz klein wenig verwandt mit dem Freiherrn Friedrich Wehlenberg auf Bernewitz? Ich meine – nur eine ganz entfernte Verwandtschaft?“

„Auch nicht die allerentfernteste. Ich erfand in der Eile einen Namen, der ähnlich wie der meinige klang, und wußte nicht einmal, daß er in Wirklichkeit existirte.“

„Dann vergiebt es Ihnen mein Papa niemals!“ brach Gerlinde verzweiflungsvoll aus. „Sie dürfen nie wieder nach der Ebersburg kommen.“

„Wünschen Sie denn jetzt noch, daß ich dahin komme?“ fragte Hans.

Sie schwieg, aber die hellen Thränen standen in ihren Augen, und das entwaffnete die Gereiztheit des jungen Mannes. Was konnte denn das arme Kind dafür, daß man es mit diesen Lächerlichkeiten genährt und erzogen hatte? Er kam langsam wieder näher und fragte halblaut:

„Sind Sie mir auch so böse wegen des tollen Streiches? Er war nicht so schlimm gemeint.“

Gerlinde antwortete nicht, aber sie ließ es geschehen, daß er leise ihre herabhängende Hand faßte, und sie hörte auch zu, als er in dem gleichen Tone fortfuhr:

„Herr von Eberstein hängt noch fest an den Traditionen seines Hauses, ich weiß es, und von ihm kann man auch nicht verlangen, daß er im Alter das aufgiebt, was ihm der Inhalt seines Lebens gewesen ist; er gehört nun einmal mit Leib und Seele der Vergangenheit. Aber Sie, mein Fräulein, sollen erst in dies Leben eintreten, und im neunzehnten Jahrhundert muß man mit dem Zeitgeist rechnen und die Dinge nehmen, wie sie sind. Erinnern Sie sich dessen, was ich Ihnen damals auf der Burgterrasse sagte?“

„Ja,“ war die kaum hörbare Antwort.

Hans beugte sich zu ihr nieder; seine Stimme hatte wieder den warmen, innigen Klang, den Gerlinde noch von jener sonnigen Morgenstunde her kannte.

„Auch um Sie haben Vorurtheile und Traditionen eine Dornenhecke gezogen, die riesengroß aufgewachsen ist. Wollen Sie das ganze Leben darin verträumen? Vielleicht kommt bald die Zeit, wo Sie wählen müssen zwischen einer todten Vergangenheit und der hellen, sonnigen Zukunft – wählen Sie recht!“

Er zog die kleine bebende Hand, die noch immer in der seinigen lag, an seine Lippen, und es dauerte ziemlich lange, ehe er sie wieder frei gab; dann verneigte er sich und verließ das Gemach.

Die Gräfin Steinrück befand sich im Gespräch mit Herrn von Montigny, als Gerlinde endlich wieder an ihrer Seite erschien. Der Marquis sprach seine Freude über die Verlobung seines Neffen aus, und es schien ihm Ernst damit zu sein, eben so wie mit der Bewunderung der jungen Braut, deren Anblick ihn heute wie jeden Anderen hingerissen hatte. Er wußte dieser Bewunderung den schmeichelhaftesten Ausdruck zu leihen. Als er sich endlich verabschiedete, um seine Schwester aufzusuchen, wandte sich die Gräfin zu dem jungen Mädchen:

„Wo bist Du denn so lange gewesen, mein Kind?“ fragte sie. „Ich hatte Dich ganz aus den Augen verloren; vermuthlich hast Du wieder einsam in irgend einem Winkel gesessen. Wirst Du es denn nie lernen, Dich in der Gesellschaft zu bewegen wie die anderen jungen Mädchen?“

[690] Sie blickte mitleidig auf ihre Schutzbefohlene, die sonst dergleichen Vorwürfe schüchtern und schweigsam hinzunehmen pflegte; heute aber öffnete Fräulein Gerlinde die Lippen und that zur Verwunderung der Gräfin den weisheitsvollen Ausspruch:

„Ja, liebe Tante, ich werde es lernen, denn im neunzehnten Jahrhundert muß man dem Zeitgeist Rechnung tragen und die Dinge nehmen, wie sie sind!“ –

Der Marquis von Montigny hatte inzwischen seine Schwester gesucht und gefunden. Sie saß in einem der Nebenzimmer und war in lebhaftem Geplauder mit Frau von Nérac begriffen, während Henri von Clermont eben so lebhaft daran theilnahm. Er schien die beiden Damen vortrefflich zu unterhalten, und sie lachten eben über eine seiner Bemerkungen, als Montigny herantrat.

„Da bist Du ja, Leon!“ rief ihm die Gräfin heiter entgegen. „Ich brauche Dir wohl unsere Landsleute nicht erst vorzustellen, Du kennst sie jedenfalls schon von der Gesandtschaft her.“

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Clermont’s Auge sprühte einen Moment lang im wildesten Hasse, dann aber verneigte er sich höflich; Montigny bewahrte seine kühle vornehme Ruhe, als er den Gruß zurückgab und gelassen sagte:

„Jawohl – wir kennen einander!“

Er wandte sich zu Frau von Nérac, um auch sie zu begrüßen; es geschah mit vollendeter Artigkeit, aber trotzdem mußte etwas darin liegen, was die junge Frau verletzte, denn auch ihr Auge flammte auf, obwohl zugleich das liebenswürdigste Lächeln um ihre Lippen spielte.

„Gewiß kennen wir uns,“ wiederholte sie. „Wir hatten sogar vorgestern das Vergnügen, den Herrn Marquis bei uns zu sehen.“

„Wie, Leon, das hast Du ja gar nicht erwähnt, als ich gestern von Frau von Nérac sprach,“ sagte Hortense unbefangen.

„Ich hatte nicht das Glück, die gnädige Frau zu sehen,“ versetzte Montigny mit einer Kälte, die sogar seiner Schwester auffiel. „Allerdings galt mein Besuch ihrem Bruder, mit dem ich mich über eine Angelegenheit von Wichtigkeit zu verständigen wünschte. Sie haben meine Bitte doch nicht vergessen, Herr von Clermont?“

Die Hand Henri’s vergrub sich krampfhaft in die Polster des Sessels, an dem er stand, aber er erwiderte anscheinend ruhig:

„Nein, Herr Marquis – solche Dinge vergißt man nicht.“

„Das ist mir lieb. Ich darf also darauf rechnen, daß die Sache in der besprochenen Weise erledigt wird. – Darf ich Dich bitten, Hortense? Man geht soeben zum Büffett.“

Er bot seiner Schwester den Arm, verneigte sich leicht gegen Frau von Nérac und führte die Gräfin fort. Als sie das Zimmer verließen, beugte sich Henri zu der jungen Frau nieder und sagte in einem Flüstertöne, dem man die heftige Erregung anhörte:

„Was fällt Dir ein, Heloise? Du weißt es ja, weßhalb Montigny kam, Du hast ja im Nebenzimmer die ganze Unterredung mit angehört; wie konntest Du es wagen, das zu erwähnen!“

Die Lippen Heloisen’s kräuselten sich verächtlich, aber auch ihre Stimme sank zum Flüstern herab, als sie erwiderte:

„Du scheinst diesen Montigny sehr zu fürchten.“

„Und Du bist tollkühn genug, ihn zu reizen. Ich dächte, Du hättest seine Worte so gut verstanden wie ich, und Du kennst seine Drohungen –“

„Die er nicht ausführen wird.“

Henri warf einen Blick umher, das Zimmer war leer geworden, Alles brach zum Büffett auf. Trotzdem behielt er den gedämpften Ton bei, als er weiter sprach:

„Vergißt Du, daß wir in seinen Händen sind? Er braucht in der That nur ein Wort zu sprechen –“

„Er darf es aber nicht sprechen; es könnte ihm theuer zu stehen kommen. Wenn man uns preisgiebt, giebt man sich selber preis und enthüllt Dinge, die geheim zu halten man alle Ursache hat. Du bist ein Thor, Henri, Dich durch solche Drohungen schrecken zu lassen. Montigny muß schweigen, er setzt seine eigene Stellung aufs Spiel, wenn er die unserige angreift. Man würde ihm eine derartige Enthüllung nie vergeben.“

„Gleichviel, so kann er uns beim Gesandten gefährlich werden und dort unsere Stellung untergraben, sie ist ohnehin unsicher genug. Wir müssen wenigstens scheinbar nachgeben und vorläufig auf die Besuche Raoul’s verzichten.“

„Glaubst Du, daß er darauf verzichten wird?“ fragte Heloise mit leisem Hohne.

„Das steht bei Dir. Du brauchst nur eine Scene herbeizuführen, die ihn auf einige Zeit fern hält, und Du wirst das thun.“

„Auf Befehl des Herrn von Montigny – nein!“

„Heloise, nimm Vernunft an! Du mußt hier Deine persönliche Empfindlichkeit unterordnen, ich gebe Dir das Beispiel dazu.“

„Ja, nur allzusehr! Ich hätte mir trotz alledem das nicht sagen lassen, was Montigny Dir sagte und was Du – hinnahmst.“

„Glaubst Du, daß es ihm geschenkt ist?“ fragte Clermont finster. „Ich warte meine Zeit ab. Wir werden noch abrechnen mit einander. – Doch jetzt komm zur Gesellschaft; es fällt auf, wenn wir uns so isoliren. Und noch eins! Der junge Wehlau wird Dir seinen Adoptivbruder vorstellen, den Hauptmann Rodenberg.“

„So?“ sagte Heloise gleichgültig, indem sie sich erhob und den Arm ihres Bruders nahm, der mit Betonung hinzusetzte:

„Vom Generalstab!“

„Ah so!“

„Sieh zu, daß Du ihn bestimmst, Wehlau zu begleiten, wenn dieser zu uns kommt – ich rechne auf Dich, Heloise.“

Die Geschwister traten Arm in Arm in den Büffettsaal, wo jetzt die ganze Gesellschaft versammelt war.

Es folgt: Teil II