Die bayerische Königstragödie

Textdaten
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Autor: Rosalie Braun-Artaria
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Titel: Die bayerische Königstragödie
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, 28, S. 458, 484–488
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die bayerische Königstragödie.

1. An der Todesstätte König Ludwig’s II.
Von R. Artaria.


Abfahrt   in Starnberg.

Schloß Berg.

Aus den lichtgrünen Wassern des Starnberger Sees ansteigend, von dichten, köstlichen Laubmassen umgeben, hebt Schloß Berg seine hellglänzenden Zinnen in den Himmel hinein – ein Aufenthalt für Glückliche, die schönste Ruhestätte eines jungen poesievollen Königs. Und heute liegt dieser König nach einem gräßlichen Ende todeskalt und starr in dem schönen Schloß; die Fahne, die sonst lustig über seinem Haupte in den blauen Himmel flatterte, hängt auf Halbmast, und Gruppen schreckensbleicher Menschen umstehen die See-Ufer, wo das Furchtbare geschah, und strömen hinauf, um zum letzten Mal den König zu sehen, der bei seinem Regierungsantritt geliebt und gefeiert war, wie wenige Herrscher. Man sah ihn so gern, den wunderschönen Jüngling, wenn er am See-Ufer entlang im Mondschein ritt und seine großen dunkeln Augen zauberhaft aus dem blassen Gesicht herausglänzten, während das reiche Lockenhaar im Winde flog.

„Wie ein Märchenprinz!“ sagten die Leute, wenn er auf seinem leichtfüßigen Roß vorüberstob und die Hufschläge fern in der Sommernacht verhallten. Und ganz leise wurde hinzugesetzt, daß der Mondschein ihn locke, daß man ihn habe wandeln sehen im Park von Berg, im Krönungsornat mit dem langen, blauen silberverbrämten Mantel und der Krone auf dem Kopf, die im Mondlicht funkelte, bald da, bald dort in den Waldschatten auf- und niedersteigend ... Aber es waren nur Wenige, die dies gesehen, und sie wagten viel dabei, denn der Park, der unter König Max Allen offen stand, war nun streng verschlossen, und wehe dem Neugierigen, der den König in seiner Märchen-Einsamkeit belauschte! Sie hat ihn immer tiefer umsponnen, die gefährliche, verführerische Einsamkeit, unheimlich wuchsen die Wahnvorstellungen in dem mehr und mehr sich umnachtenden Geist, und seit Jahren war es den Anwohnern des Sees kein Geheimniß, daß im Schloß von Berg allerhand Sonderbares und Unheimliches vorgehe.

Und doch standen in diesem Schloß für seinen Bewohner so heiter-schöne Erinnerungen! Als der unglückliche König noch ein munterer, schlanker Knabe war, fuhr er im Frühjahr mit den Eltern heraus und nahm Theil an dem fröhlichen, Allen zugänglichen Treiben auf Schloß Berg, dessen Räume nicht ausreichen wollten, alle Die zu fassen, die der gastliche König zu sich einlud. Maximilian II. war ein Freund feinen, geistigen Lebensgenusses, er hat es, wie wenige Hochgestellte, verstanden, dem Glanz des Königthums noch den schönsten Reiz menschlicher Existenz hinzuzufügen, und er verstand es auch, den Dichtern und Gelehrten, die er um sich versammelte, das Leben auf seinen Schlössern genußvoll zu gestalten.

Neigte sich die Sonne den Höhen über Possenhofen zu, so bevölkerte sich der Seespiegel vor dem Schloß mit Gondeln, oder das Dampfschiff fuhr an den Steg, um den König und seine schöne und liebenswürdige Gemahlin und das Gefolge nach der Roseninsel überzusetzen, wo eine ganz von Rosen umhegte Villa steht. Dort war auf der Terrasse ein ländliches Abendessen gerichtet, das unter Scherz und Heiterkeit verfloß, und dann, während der Mond über die Höhen heraufkam und die Sommernacht sich duftend ausbreitete, entspannen sich zwischen dem König und seinen Genossen die langen und interessanten Gespräche, die er wie Einer ihres Gleichen mit ihnen führte und die Alles berührten, was der Kreis menschlichen Wissens einschließt. Zu früh hat dieses gütige Herz aufgehört zu schlagen, zu früh vor Allem für den Sohn, der, bisher vor jeder Berührung mit der Außenwelt ängstlich gehütet, in keiner Weise für seinen schwierigen Beruf vorbereitet war. Und doch hat er in verhängnißvoller Stunde diesen Beruf königlich ausgeübt, und Deutschland wird ihm ewig Dank wissen für die männliche That, mit welcher er ihm zum Sieg und zur Wiedergeburt in schwerer Entscheidungsstunde verhalf, und die Erinnerung an ihn ewig in Ehren halten.

In den bangen Augusttagen 1870 klopften hier in Berg rastlos die telegraphischen Apparate, eine Siegesnachricht um die andere verbreitete sich vom Schloß aus um den See, und endlich hallte er wider von der großen Kunde des 2. September, und des Königs Wagen wurde, wo er sich zeigte, jubelnd umringt.

Das sind Erinnerungen, die sich heute mit Macht aufdrängen, aber sie sind nicht die einzigen, die an Schloß Berg haften. Vor 200 Jahren hielt dort und in Starnberg Kurfürst Ferdinand Maria Hof mit seiner prachtliebenden Gemahlin Adelheid, und damals hatte der See eine Glanzzeit, die von der unserigen kaum wieder erreicht ist. Wo heute das große Dampfschiff „Bavaria“ kreuzt, schwamm einst in stolzer Majestät das kurfürstliche Prachtschiff „Bucentaur“, hochragend und goldstrahlend wie die Fahrzeuge der Dogen von Venedig. Ein Fries von Tritonen, Nereïden und Sirenen umschlang das ganze Schiff, am Vorderende ragte Neptun empor, am Hinterende Minerva, im Halbrund lief eine Galerie für Trompeter und Pauker, 16 Feldstücke gaben weithin dröhnende Salven ab und ein Geschwader von Gondeln und Lastschiffen voll geputzter Leute zog rechts und links und hinterher, den fürstlichen Herrschaften das Geleite gebend. Doch Alles wandelt und wechselt. Der „Bucentaur“ ist längst dahin, eine einzige Laterne nur blieb erhalten von all der Pracht. Der See gerieth in Vergessenheit und war Anfangs des Jahrhunderts, wo Tegernsee in Flor kam nur den Wenigsten bekannt. Von den vierziger Jahren an aber entdeckten ihn die Künstler wieder, kam er in Aufnahme, und heute umgiebt ihn ein Kranz von Dörfern und Villen, die Tausenden Genuß und Erholung bieten.

Ueber dem Seegelände aber stehen hoch und klar die leuchtenden Alpengipfel, und sie werden ruhig und unverändert stehen, wenn längst keine Spur mehr übrig ist, weder von dem idyllischen Glück an den Ufern des Sees, noch von dem furchtbaren Leid, welches heute, von Schloß Berg ausgehend, jedes Herz aufs Tiefste erschüttert.


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II.

Das grausige Pfingstfest – so mag vielleicht einmal die bayerische Geschichte jene Junitage des Jahres 1886 bezeichnen, in welchen das Leben eines Königs ein Ende fand, wie es jammervoller und erschütternder kaum gedacht werden kann. War es doch, als ob der Weltgeist für einen Augenblick einen Abgrund aufgerissen hätte, schwarz und unermeßlich tief, um aus demselben ein riesenhaftes finsteres Gespenst emporsteigen zu lassen, das mit seinen schattenhaften Armen nach einem Herrscher griff, der umnachteten Geistes auf der Höhe seines Thrones stand. Und mit diesen schattenhaften Armen ihn umklammernd, zog es ihn hinunter in jenen Abgrund, schweigend und erbarmungslos. Aber nicht ihn allein, sondern mit ihm zugleich den treuen und edlen Wächter, den Priester hilfreicher Wissenschaft, der sein Hüter und Schirmer sein wollte. Darin liegt das furchtbar Ergreifende, daß hier nicht allein der hoffnungslose Wahnsinn, sondern mit ihm zugleich der klare Menschenverstand in die Nacht des Todes versinken mußte!

Blättern wir nur ein halbes Menschenalter zurück im Buch der Geschichte! Auf dem bayerischen Throne saß König Maximilian, ein edler und gütiger Fürst, ein Pfleger der Wissenschaften und Künste, der immer nur das Beste seines Volkes wollte. Zwei Söhne, Ludwig und Otto, hatte ihm Königin Maria geschenkt, die Prinzessin aus dem Hause Hohenzollern. Es waren blühende Knaben, die Hoffnung und der Stolz des Landes: Ludwig, der künftige König, eine ernste und träumerische Erscheinung; der jüngere Otto blond und von lebhaftem Ausdrucke. Kronprinz Ludwig ward streng und gewissenhaft erzogen, und obgleich er als Knabe schon von starkem Eigenwillen beseelt war, mußte er sich dieser Zucht fügen. Doch seine glühende Einbildungskraft fand Nahrung und Anregung genug in der prachtvollen Natur, in welcher er seine Jugendsommer zubringen durfte: in den Bergschlössern zu Berchtesgaden und Hohenschwangau. Da sah man ihn oft, wie einen Märchenprinzen, in grünem Sammetröckchen auf einem feuerigen arabischen Hengst durch die Wälder jagen, so rasch, daß ihm seine Diener kaum zu folgen vermochten.

Allgemeine Menschenscheu war schon früh ein Grundzug seines Wesens, obschon er von berückender Liebenswürdigkeit gegen jene Leute sein konnte, die seiner Laune gerade gefielen. Es ist heute sonnenklar, daß jenes Traumkönigthum, welches später des vierzigjährigen Mannes Verderben ward, in dem Knaben schon keimte und mit ihm großwuchs: Als Jüngling von 19 Jahren sollte er eine Universität beziehen, um dort Staatswissenschaften zu studiren. Der Aufenthalt in der Fremde, der Umgang mit Altersgenossen, die Lehren staatsmännischer Pflichten und Rechte hätten gewiß einen günstigen Einflnß auf sein künftiges Leben genommen; aber ein böses Geschick wollte ihm diesen Schatz an Lebenserfahrung nicht vergönnen. Denn in den Märztagen des Jahres 1864 starb König Maximilian nach kurzer Krankheit, und Ludwig bestieg den Thron von Bayern. Als er, während kein Auge ohne Thränen blieb, hinter dem Sarge seines vielbeklagten Vaters dahinschritt, eine hochgewachsene Jünglingsgestalt von apollinischer Grazie, wahrhaft königlich in Blick und Haltung: damals jauchzten ihm alle Herzen zu. Nicht seinem Lande allein, ganz Europa erschien der jugendschöne Bayernkönig als eine Idealgestalt ohne Gleichen. Alles drängte sich bewundernd in seinen Weg; in die aufrichtige Freude an seiner hoffnungweckenden Erscheinung mischte sich zudringliche Spekulation unedler Schmeichelei.

König Ludwig begann seine Regierung in einer Weise, die alle jene Hoffnungen, welche man von ihm gehegt hatte, voll zu berechtigen schien. Als er den Königseid auf die Verfassung geschworen hatte, sprach er zur Staatsrathsversammlung die schönen Worte: „Groß ist und schwer die mir gewordene Aufgabe. Ich baue auf Gott, daß er mir Licht und Kraft schicke, sie zu erfüllen. Treu dem Eide, den ich soeben geleistet, und im Geiste unserer durch fast ein halbes Jahrhundert bewährten Verfassung will ich regieren. Meines geliebten Bayernvolkes Wohlfahrt und Deutschlands Größe seien die Zielpunkte meines Strebens!“

Er ließ sich sofort jeden Tag durch die Minister persönlich Vortrag über die Regierungsgeschäfte halten und gab damit den Anfang zu einer völlig verfassungsmäßigen Regierung. Aber seine Freude an den Staatsgeschäften währte nicht lange. Nach wenigen Monaten schon zeigte sich an ihm jener Hang zur Einsamkeit, der dann im Laufe der Jahre immer mächtiger und verhängnißvoller ward. Und wohl mögen deßhalb die Irrenärzte im Rechte sein, wenn sie behaupten, daß schon vor zwanzig Jahren die ersten leisen Andeutungen seelischer Störung sich geregt hätten. Jene schreckliche Gewalt, deren Schattenarme den König in sein letztes Verhängniß hinunterzogen: kaum vernehmlich pochte sie schon an die Thüren der Münchener Residenz, noch ehe Ludwig den Thron seiner Väter bestiegen hatte.

Und als der jugendliche König noch in demselben Jahre den großen Meister Richard Wagner nach München berief und seine volle Herrschergunst ihm zuwandte; als dann die Münchener Hofbühne, auf die unmittelbarste Anregung des Königs hin, zu einer der glänzendsten Pflanzstätten hoher Kunstziele ward: da hätte ein vorahnendes Gemüth wieder und wieder jene unheimlich pochende Gespensterhand vernehmen können. Es hätte sie hören können mitten zwischen den rauschenden Klängen der Musik, im Lichtermeer des Hoftheaters wie in den einsamen Gemächern des ruhelos gewordenen Fürsten.

Es ist bekannt, daß der Aufenthalt Richard Wagner’s in München nicht lange währte. Die großen Pläne, mit welchen sich der König zu Gunsten Wagner’s trug, gingen nicht in Erfüllung. Ein neues Theater, hoch auf dem östlichen Isarufer, zu welchem eine neue Prachtstraße hinanführen sollte, war damals die Lieblingsidee des Königs. Semper, der geniale Architekt, sollte diese Bauten ausführen. Aber einem großen Theile der öffentlichen Meinung in München verursachte die lebhafte Neigung des Königs für Richard Wagner Besorgniß, wohl auch Neid. Es mißfiel, daß der König seine Gunst so ausschließlich dem einen Manne und seinen Zielen zuwandte, daß er ihm so fürstliche Mittel spendete; schließlich verbreitete sich sogar die Beschuldigung, daß Wagner sich in Staatsangelegenheiten mische. Der König gab dem Drucke der öffentlichen Meinung nach und entließ den Tonkünstler aus München, ohne ihm jedoch sein Wohlwollen zu entziehen. Nach Briefen, die aus jener Zeit vom König geschrieben wurden, war es ihm unsäglich schmerzlich, den Mann entlassen zu müssen, den er so hoch verehrte und der seinerseits eines so begeisterten Fürsten so dringend bedurfte, um seine künstlerischen Pläne zu verwirklichen.

Seit dem Abgang Wagner’s von München ward Ludwig’s Menschenscheu immer deutlicher bemerkbar. Zunächst zwar blieb noch Schloß Berg am Starnberger See sein Lieblingsaufenthalt. Es ward ihm nicht schwer, von hier aus tiefer in die Einsamkeit zu flüchten. Er war ein vorzüglicher und leidenschaftlicher Reiter,

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König Ludwig II. von Bayern.
Originalzeichnung von R. E. Kepler.

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So kam das Jahr 1866 und der deutsche Bruderkrieg. Ueber die politische Gesinnung des Königs während jenes Krieges ist wenig bekannt geworden. Ob mit oder ohne seine innere Zustimmung – jedenfalls folgte er damals der öffentlichen Meinung seines Landes und den Rathschlägen seines Ministeriums.

Als nach jenem Kriege der Friede geschlossen war, da schien es noch einmal, als ob die Pflichten des Staatslebens und die Liebe seines Volkes den König auf eine lichte, freie, glückliche Bahn herausführen könnten aus seiner Verschlossenheit. Denn geradezu in Entzücken versetzte er sein Volk, als er eine Reise durch sein Land antrat und in den bayerischen Städten durch seine Schönheit und durch eine unvergleichliche Liebenswürdigkeit alle Herzen eroberte. Es waren Wochen voll ungetrübten Glanzes, Wochen jubelnder Begeisterung.

Sie kehrten nicht wieder.

In der Münchener Hofburg saß unsichtbar jener schreckhafte Schatten und harrte der Wiederkehr seines Opfers.

Und abermals machte der König unbewußt einen Versuch, jenem Schatten zu entrinnen. Er verlobte sich im Jahre 1867 mit Prinzessin Sophie, einer Tochter des Herzogs Max in Bayern. In weiteren Kreisen erregte diese Verlobung Freude, weil man hoffte, die Ehe würde den König mit dem Volke, mit seiner Residenz, mit seinem Hofe in nähere Berührung bringen. Mancher aber mochte schon damals zweifeln, daß der König diesen Schritt mit jener Erfahrung und in jener glücklichen Seelenstimmung gethan habe, die zum Gedeihen dieses Verhältnisses nöthig war.

Die Zweifler hatten Recht. Mochten die beiden fürstlichen Verlobten, oder nur eins von ihnen zu der Erkenntniß gekommen sein, daß sie nicht für einander paßten; oder mochte irgend ein romanhaftes Ereigniß zwischen sie getreten sein: gewiß ist, daß die Verlobung noch in demselben Jahre gelöst wurde, in welchem sie geschlossen worden war. Die ehemalige Verlobte des Königs ist heute Herzogin von Alençon. Für den König aber war die Liebe seit jener Zeit ein verschlossenes Buch, ein verschlossenes Glück.

Und immer deutlicher und deutlicher vernimmt nunmehr die Umgebung des Königs das Pochen jenes unsichtbaren Grausens am Leben des Monarchen. Anfangs klingt es bloß wie ein etwas befremdender Ton, wie ein flüchtiges Räthsel; mit den Jahren immer vernehmbarer und schreckhafter.

Noch erschienen die Seltsamkeiten des Königs als bloße Liebhabereien. Mit vollem staatsmännischen Bewußtsein noch vertauschte er das Ministerium von der Pfordten gegen das Ministerium Hohenlohe, welches den durch die Schöpfung des norddeutschen Bundes geänderten deutschen Verhältnissen gerecht ward. So sehr er schon damals die Einsamkeit liebte, fanden doch ab und zu hervorragende Männer Audienz bei ihm. Dann vernahm man aus seinem Munde Aussprüche, welche vom edelsten Gedankenfluge, von politischem Scharfblick und patriotischen Zielen Zeugniß gaben. Als im Jahre 1870 die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit auftauchte, stellte sich der König mit Entschiedenheit auf die Seite seines gelehrten Freundes Döllinger. Und nach der Kriegserklärung Frankreichs an Preußen stand Ludwig rückhaltlos mit seinen Bundesgenossen für die Ehre Deutschlands und Bayerns ein.

Damals war’s, wo zum letzten Mal die Volksstimme mit begeisterter Mahnung an das Ohr des Monarchen drang. Es war am 17. Juli Nachmittags. Der König war von Berg nach München gekommen. Als es bekannt geworden war, daß er sich für die Theilnahme am Kriege entschieden hatte, beschloß man in München, ihm die freudige Zustimmung der Bevölkerung kundzugeben. Tausende und aber Tausende sammelten sich Nachmittags unter den Fenstern der Residenz an. Als der König am Fenster erschien, trat ein Mann aus der Menge vor auf die Terrasse der Feldherrnhalle und brachte ein Hoch auf den König aus. Und brausender, tausendstimmiger Jubel drang aus der dichtgescharten Masse wie ein Sturmgebet zum König empor.

Es war sein größter Tag.

Denn als nach Monden gewaltigen blutigen Ringens der fränkische Feind darniedergezwungen war und König Ludwig seinem ehrwürdigen Bundesgenossen die Kaiserkrone antrug, geschah diese deutsche That schon nicht mehr in freier Begeisterung. Hinter dem Könige stand das unsichtbare Schreckgespenst seines Lebens und ließ ihn jene That verzögern, die ihm für ewige Zeiten einen ruhmvollen Platz in der deutschen Geschichte gesichert hätte. Und als der Friede geschlossen war und das siegreiche bayerische Heer in die Mauern seiner Hauptstadt einzog mit seinen zerscharteten Waffen, da scholl wohl noch stürmischer und jauchzender die Volksstimme durch die Gassen. Aber der beste Theil ihres Jubels galt den treuen Soldaten und ihrem heldenmüthigen Feldherrn, nicht mehr dem Könige, der verdüstert an der Spitze der Armee ritt.

Seit jenem Tage ward er ein Irrender für sein Volk. Es begann jenes Traumkönigthum, welches durch fünfzehn lange Jahre einen Kreis von Sagen um das Haupt des unsichtbar gewordenen Herrschers spann. Fünfzehn Jahre lang kannte das bayerische Volk seinen Fürsten fast nur aus dem Munde des Gerüchtes.

In der Hauptstadt sah man ihn zuletzt nur noch während weniger Wochen im Winter. Und da nur im Vorüberfliegen. Wohl sammelten sich in der Abenddämmerung die Leute vor dem Thore der Residenz, das gegen fünf Uhr sich aufthat, um ein Viergespann zu entsenden, welches in hastigem Laufe den vereinsamten Fürsten in die Baumgänge des englischen Gartens hinunterführte. Aber von jener begeisterten Liebe, die einst dem jugendlichen Monarchen zugejauchzt hatte, war wenig mehr vorhanden. Ungern sah man das Heer von Gendarmen, welches den Park während der Spazierfahrt des Königs besetzt hielt; das gutmüthige Volk von München fühlte sich gekränkt durch dieses übertriebene Mißtrauen. Dafür schwirrten, anfangs bloß geflüstert, dann lauter und immer lauter, unglaubliche Gerüchte von Mund zu Mund. Zuerst erzählte man sich bloß von überreichen Geschenken, mit welchen der König seine Günstlinge überhäufte; dann von seltsamen und immer seltsameren Launen, die ihn beherrschten. Man vernahm von Freundschaftsbündnissen, die er schloß und wieder auflöste, von seinen geheimnißvollen Theatervorstellungen, seinen einsamen Maskeraden, seinen Inkognitoreisen; und endlich wurden alle die anderen Gerüchte überwältigt von den Berichten über die märchenhaften Bauwerke des Königs.

Das Größte aber, das Schrecklichste, was man vernehmen konnte, vernahm nur er selbst und seine nächste Umgebung: das Herannahen des Wahnsinns, der immer dräuender an die Königsschlösser pochte.

Je tiefer der Geist des Monarchen umnachtet ward, um so mehr rückte er sein Leben aus dem Tage in die Nacht hinüber. Die Stuude, in welcher er zur Ruhe ging, wanderte allmählich von Mitternacht immer weiter vor bis zum hellen Morgen. Es war, als könne er das Licht der Sonne nicht mehr ertragen. Und je unnatürlicher diese Lebensweise sich gestaltete, um so kleiner ward der Kreis von achtbaren Männern, mit welchen er noch in Berührung kam. Die letzten Rathgeber, welche noch die Wahrheit anzudeuten wagten, stieß er auch von sich; Lakaien und Stallknechte wurden seine zitternden Gespielen; aller Verkehr mit der Regierung geschah nur mehr schriftlich.

Mit wahrhaft bewunderungswürdiger Pünktlichkeit und Ruhe that während dieser langen Jahre die Staatsmaschine ihren Dienst. Wenn jemals die konstitutionelle Monarchie eine Feuerprobe zu bestehen hatte, so war es in Bayern während der letzten Regierungsjahre Lndwig’s II. der Fall. Pflichttreu und unerschüttert arbeitete der Beamtenorganismus vom Premierminister bis hinunter znm letzten Gerichtsboten. Der Staatshaushalt blieb fest und geordnet; wichtige Gesetze wurden geschaffen; das Verhältniß Bayerns zum Reiche gestaltete sich in bester Weise, und selbst heftige innere Parteikämpfe erschütterten nichts an den Grundfesten des Staatswesens. Und – was diesem Staatswesen wohl am meisten Ehre macht – so nahe die Versuchung gelegen wäre, daß Schmeichler und gewissenlose Streber in die Nähe des Königs und in sein [487] Vertrauen sich geschlichen hätten, um sich einen ungebührlichen Einfluß auf das Staatswesen zu verschaffen: es geschah nichts von dem. Als der König endlich selbst anfing, untergeordnete Personen mit wichtigen Aufträgen zu betrauen, verhallten diese Aufträge wirkungslos, sobald sie den regelmäßigen Gang des Staatswesens zu stören drohten.

Was den unglücklichen König noch am längsten mit der Welt, mit dem Geiste seiner Zeit im Zusammenhange hielt, war seine Liebe zur Kunst. Noch im letzten Jahre seiner Regierung führten ihn seine nächtlichen Theatervorstellungen nach München; die Pläne zu seinen Bauten brachten ihn mit künstlerischen Fragen immer wieder in belebende Berührung. Diese Saite seines Geistes blieb hell und schwungvoll bis zu seinem Untergange. War auch in seinen Prachtschlössern Vieles nur Ausgeburt wechselnder Laune, vieles Andere bloß provisorisch, auf die Wirkung des Augenblicks berechnet: ein fein geschulter Geschmack zeigt sich unzweifelhaft in diesen Schöpfungen. Aber wieviel von ihnen wird erhalten bleiben? Einige dieser Schlösser sind allen Wetterstürmen des Hochgebirges ausgesetzt, wie der Linderhof und der Märchenbau auf dem Schachen. Das fluchbeladene Schloß zu Herrenchiemsee, das so viele Millionen verschlang, ist unvollendet und wird es wohl bleiben. Nur die romanische Königsburg Neuschwanstein scheint gewaltig genug, um die Stürme der Zeit überdauern zu können; aber auch an ihrem Felsenfundamente nagen schon unterirdische Naturkräfte.

Und während der König an diesen Schlössern baut, von welchen zwei für großes glänzendes Hofleben berechnet sind, faßt ihn selbst sein schauerliches Geschick immer mächtiger an. Der Verkehr mit Menschen wird ihm nach und nach geradezu schrecklich; fürchterliche Wahnvorstellungen und Gesichte quälen ihn. Die aberwitzigsten Pläne schießen durch sein krankes Gehirn. Er faßt Selbstmordgedanken; er äußert die Absicht, sein Land zu verkaufen und ein neues mit absolutem Regiment zu gründen; er wünscht, seine Residenz und sein Volk zerstören zu können. Ueberschwängliche Liebe und glühender Haß gegen einzelne Personen wechseln stürmisch in dem schwer erkrankten Gemüth. Die Minister bezeichnet er mit gräßlichen Schimpfworten; die Diener werden aufs Schwerste wegen geringfügiger Fehler mißhandelt, ein Kammerlakai darf ein Jahr lang nur mit schwarzer Gesichtsmaske vor dem König erscheinen. Aufträge, Geld zu beschaffen, ergehen überallhin, während die Verlegenheiten der Kabinetskasse immer größere werden. Und zuletzt erläßt der verzweifelnde Monarch Todesurtheile nach allen Seiten; er verurtheilt seine Minister, seine Lakaien, die ihn bedienenden Soldaten zum Tode. Er selbst wird geradezu ein Phantom, unsichtbar und unfaßbar. Die dringendsten Vorstellungen der Minister läßt er unbeantwortet; er eilt, wie von Furien gepeitscht, von einem seiner Bergschlösser zum anderen und trägt sich dabei doch immer wieder mit Entwürfen zu neuen Prachtbauten. Und während seine Todes- und Verbannungsurtheile unvollstreckt bleiben, streut er immer noch Geld und Geschenke mit vollen Händen aus.

So waren die Zustände unhaltbar geworden. Es mußte Aenderung geschaffen werden. Mit schwerem Herzen entschloß sich der Oheim des Königs, Prinz Luitpold, zur entscheidenden That. Man sandte eine Staatskommission nach Hohenschwangau zum Könige; und Tags darauf, am 10. Juni 1886, erließ Prinz Luitpold eine Proklamation, in welcher er dem bayerischen Volke bekannt gab, daß er die Regentschaft für den schwer erkrankten König übernehme. Tief bewegt, aber nicht unvorbereitet, und überzeugt von der unerbittlichen Nothwendigkeit dieses Schrittes nahm man in München die Proklamation auf. Anders gestalteten sich die Dinge in Hohenschwangau. Ihr Verlauf ist allgemein bekannt. Der Widerstand des kranken Königs wurde gebrochen und seine Uebersiedelnng nach dem Schlosse Berg bewirkt.

Und nun folgen die Ereignisse in schauerlicher Schnelligkeit. Stunde um Stunde verrinnt, während das schnaubende Viergespann den König hinausführt ins Flachland, zu den vergitterten Gemächern, die man auf Schloß Berg für den entthronten Monarchen bereit hält. Gegen Mittag empfängt ihn der grüne Park am Starnberger See. Der Tag vergeht ruhig; ebenso die Nacht. Am Pfingstsonntag Vormittags macht der König mit dem Irrenarzte Direktor v. Gudden einen Spaziergang im Park und führt denselben zu einer laubumschatteten Bank unweit des Ufers. Wärter halten sich in ehrerbietiger Entfernung. Dann speist der König allein zu Mittag; mit abgestumpften Messern, da ihm alle schneidigen Werkzeuge aus dem Wege geräumt sind.

Der Arzt ist höchlich zufrieden. Er telegraphirt nach München: „Hier geht Alles wunderbar gut!“ Umsonst warnt ihn die Umgebung des Königs, der scheinbaren Ruhe desselben nicht zu trauen. Vergebens bittet ihn der Assistenzarzt um Vorsicht. Wie am Abend der König den Spaziergang zu wiederholen wünscht, begleitet ihn v. Gudden abermals. Wärter werden den Beiden vom Assistenzarzt nachgeschickt; aber der Direktor, vertrauend auf seine Körperkraft und auf die geistige Macht, die er seit dreißig Jahren Geisteskranken gegenüber ausgeübt hat, winkt den Wärtern, sich zu entfernen. So kann das Entsetzliche geschehen, ohne daß ein Auge zusieht. Ein Schleier, schwarz wie die tiefste Nacht, liegt auf dem, was folgt. Die Spuren beider Männer führen in den See; sie lassen auf einen Kampf zwischen dem König und seinem Arzte schließen, in welchem der Erstere siegreich blieb. Und danach findet man in später Nacht, nach dreistündigem Suchen Beide todt, wenige Schritte von einander entfernt, im See, an einer bloß vier Fuß tiefen Stelle. Ob der König in den See geeilt war, um den Tod zu suchen, oder um als guter Schwimmer durch das Wasser zu entfliehen, wird wohl ewig unenträthselt bleiben. Sicher ist nur und unzweifelhaft, daß der Arzt ihm nacheilte und ein Opfer seiner Berufstreue ward, aber auch ein Opfer jener edlen Humanität, die es ihm zum Grundsatz gemacht hatte, seine Kranken so wenig wie möglich zu belästigen und ihrer Freiheit zu berauben.

Während man im Park noch sucht und sucht, sinkt die Nacht über die Landschaft herein. Eine schauerliche Nacht! Regenschweres schwarzes Gewölk wälzt sich über die finstre Seefläche; am Ufer ächzen die hohen Bäume, und unruhig plätschern die Wellen an den fahlen Strand. Lichter irren gespenstig durch das nachtdunkle Buschwerk und werfen verlornen Schimmer in den See hinaus. Da draußen aber, zwischen dem Gewölk und der Wasserfläche ist es, als entfernte sich langsam ein breiter grausiger Schatten. Das Unnennbare, das den König zwanzig Jahre lang verfolgt hatte im einsamen Bergwald wie in den glanzdurchleuchteten Sälen seiner Residenz, das ihn Nachts aus dem Schlafe gepocht, das ihm mit seinem schreckhaften Blicke den Gedanken verwirrt, mit seinem Abgrundhauche die Seele vergiftet hatte: es hat endlich sein Werk vollbracht!

Ein Wehruf drang durch ein ganzes Volk. Und ganz Europa sandte seine Kränze an den Sarg des Herrschers, der einst in so strahlender Schönheit und Jugend seine Laufbahn begonnen und nun still und stumm im königlichen Schlosse aufgebahrt lag. Am Sonnabend den 19. Juni zog das endlose Trauergeleit durch die Straßen Münchens. Vereine, Korporationen und Schulen eröffneten den Zug, ihnen folgte der Klerus; dann fünfundzwanzig Gugelmänner[1] in der historischen schwarzen Tracht mit weißen brennenden Kerzen. Hinter dem Wagen, der die Königsleiche in die düstere Gruft der Michaelskirche brachte, schritt durch das lautlos starrende Volk der Oheim des todten Königs, der jetzige Reichsverweser von Bayern. Und hinter diesem folgten der Kronprinz des Deutschen Reiches an der Seite des Kronprinzen von Oesterreich und andere Vertreter fürstlicher Häuser. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit der Kronprinz des Deutschen Reiches durch die jauchzenden Straßen von München dem Könige sein siegreiches Heer zugeführt hat – jetzt geleitete er den Todten zum Heere der Todten.

Wie aber die Gruft den einstigen König aufgenommen hat und Wagen auf Wagen das Trauergeleit wieder von dannen führt, sieht das immer noch stumm die Kirche umstehende Volk eine schwarze Gewitterwolke über dem hohen Kirchendach. Und kaum sind die Trauergesänge verstummt, so öffnet sich die Wetterwolke; eine ganze Feuergarbe von Blitzen zuckt über Kirche und Stadt hin, und ein einziger grausiger Krach erschüttert die lautlose Menge. – Damit ist das Verhängniß eines Königs zu Ende.


  1. Nach einer alten Verordnung gehen beim Begräbnisse eines Mitgliedes des bayerischen Königshauses 24 Männer in der Gugel mit dem königl. Wappen und doppelt brennenden weißen Kerzen, ein fünfundzwanzigster aber mit dem Bildnisse des h. Georg vor dem Sarge. Die Gugel bedeutet eine Kapuzentracht, welche nur Oeffnungen für die Augen und die Lichter enthält. Anfangs wurde sie von Mönchen getragen, zuletzt war sie bei Processionen, Bitt- und Bußgängen in Gebrauch.




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Aufbahrung der Leiche König Ludwig’s II. in der alten Hofkapelle zu München.
Originalzeichnung von H. Albrecht.