Textdaten
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Autor: Oskar Justinus
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Titel: Sommerferien in Berlin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 428, 430–431
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Sommerferien in Berlin.

Von Oskar Justinus.


Dabei bleibt es also, mein Schatz!“ rief der Herr Regierungsassessor lustig und drückte seiner jungen Frau wie zur Besiegelung eines soeben gemeinsam gefaßten Entschlusses einen herzhaften Kuß auf die Lippen: „wir verleben unsere Ferien in Berlin.“

Der Entschluß war ihnen aber auch nicht ganz leicht geworden: auf dem Tische lagen verschiedene, vom Buchhändler zur Ansicht erbetene Bädeker und Grieben. – Die Pläne waren ausgezogen, und neben dem gelben aufgeschlagenen Reichskursbuche erblickte man ein Blatt Papier, über und über mit Bleistiftziffern bedeckt, schier, als gälte es, eine neue Kometenbahn zu berechnen. Gegen jedes der Reiseprojekte hatten sich gewichtige Bedenken erhoben: jene Tour hatte eines der beiden Eheleute schon einmal vor ihrer Verheirathung kennen gelernt; hier war es zu geräuschvoll und dort zu öde; hier die fremde Sprache, dort die Hôtelpreise zu ungemüthlich; von überall kamen jämmerliche Regenberichte und überall war es voll von Bekannten, denen zu entgehen ja mit zu den hygienischen Forderungen an den Sommeraufenthalt gehörte. Kurz, man einigte sich, den flüssig gestellten Betrag für das nächste Jahr zu der lange geplanten italienischen Reise zurückzulegen und den Urlaub für eine vierwöchentliche Erforschung Berlins ebenso genußreich, als zweckmäßig zu verwenden, des Berlins, das man sich noch niemals, wenigstens nicht in der Weise eines Durchreisenden angesehen, des Berlins, das man vom sicheren Port der Wohnung aus genießen konnte, und zwar nicht nur zur Sommerszeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit, des Berlins schließlich, in dem sie sicherer, als in irgend welchem Sommeraufenthalte des Erdrunds, Fidschi-Inseln und Madagaskar nicht ausgeschlossen, waren, in der Zeit der Ferien keine Bekannten zu finden.

Schnell waren Bädeker und Grieben bei Seite geschoben und Aloys Henne's „Hundert Nachmittagsausflüge“ nebst dem Fahrtableau der Stadt- und Verbindungsbahn an ihre Stelle gelegt. Bald war ein vollkommener Schlacht-Ferienreiseplan entworfen: auf eine Meerfahrt – etwa auf dem Lietzensee – sollte immer eine Alpentour folgen, etwa die Besteigung des Kreuzberges, und dazwischen eine Besichtigung des zoologischen Gartens am Tage vorgenommen werden – wie neun Zehntel aller Besucher hatte man diesen nämlich immer nur des Abends gesehen, wo die Thiere schliefen etc. Die Phantasie unserer Berlin-Reisenden erfüllte sich mit den wonnigsten Bildern, die Aussicht, nach fünfjähriger Ehe wie ein verliebtes Flitterwochenpaar im fremden Menschengewühl sich umherzutreiben, entfesselte alle Fröhlichkeit in ihren Herzen.

Aus diesen behaglichen Träumen riß sie ein ziemlich unvermitteltes Reißen an der seit langer Zeit wenig in Anspruch genommenen Klingelschnur. Beide sprangen erschrocken auf: Alles, was Interesse oder Beziehung zu ihnen hat, ist ja doch verreist; wer wagt es, Rittersmann oder Knapp, um neun Uhr Abends ihre Ruhe zu stören? Es war der Depeschenbote, der mit einer diesen Leuten eigenen Unschuldsmiene das verhängnißvolle Telegramm überbrachte:

„Komme 10.26. Schlesischen Bahnhof.  Eugen.“

Eine Zeit lang glaubten Beide, daß dieses Telegramm nur durch einen Irrthum an ihre Adresse gelangt sei, und man war [430] eben im Begriff, das Dokument, lachend über den glücklich überstandenen Schreck, dem Amte zurückzusenden, als plötzlich Herr Assessor kleinlaut und verlegen wurde und zugab, es könnte doch am Ende seine Richtigkeit damit haben. Der Unselige hatte nämlich, wie er sich jetzt dunkel zu erinnern glaubte, seinem Schulfreunde Eugen Waldmann, der eine kleine Beamtenstelle in der Nähe von Tarnowitz bekleidet, auf einen sehnsüchtigen und etwas Neid verrathenden Brief vor einigen Monaten gutmüthig zugeredet, sich doch einmal auf ein paar Tage herauszureißen, und ihm, der jeden Pfennig zu Rathe ziehen mußte, für diesen Fall angeboten, bei ihm zu wohnen. Nun hatte der Schulfreund diesen leichtfertigen Vorschlag für schweren Ernst genommen und kam – kam am ersten Abend des Urlaubs und kam so, daß der Assessor noch gerade Zeit fand, sich eilig anzukleiden und die weite Tour zum Schlesischen Bahnhof ihm zur Begrüßung entgegenzufahren.

Frau Assessor eilt in die Küche, das Dienstmädchen kommt und geht, und in aller Eile wird für den Gast ein warmes Abendbrot präparirt, was recht zeitgemäß war: denn der gute Schulfreund brachte einen Hunger mit, als hätte er in demselben direkt bei den Wölfen des angrenzenden Rußlands Unterricht genommen. Er brachte außerdem noch Etwas mit, dessen man sich längst in dem kinderlosen Hause unseres Paares entwöhnt hatte: Lärm und Unordnung. Er war ja natürlich hauptsächlich bei seinem Freunde eingekehrt, um alte Schulbankreminiscenzen auszutauschen, freilich meistens solche, an deren Exhumirung dem Herrn Assessor recht wenig gelegen war und für deren Humor er längst das Verständniß verloren hatte. Die Wände hallten wider von dem Gewieher des Gastes, der sich da hinten an der Grenze seine Burschikosität wie in Wickersheimer Flüssigkeit unverändert frisch erhalten hatte; alle Stuben bedeckten sich mit Cigarrenstummeln, Stöcken und Hemdkragen; Sofas und Teppiche wurden zum Ruheplatz seiner nägelbeschlagenen Stiefel oder trugen deren Spuren. Frau Assessor leistete Bewunderungswürdiges, um dem Gaste das Leben in Berlin recht behaglich zu machen, und schloß sich nicht einmal aus, als unter Leitung eines gleich am zweiten Tage ausfindig gemachten in Berlin angesessenen weiteren Schulfreundes, der nun auch immer mit eingeladen und freigehalten werden mußte, die ausgedehntesten Bierreisen unternommen wurden, deren Resultate dem Gastfreunde mehr am Herzen zu liegen schienen, als der Besuch von Museen und Sammlungen. Dieser stürzte in der That von Begierde zu Genuß, fand es überall wonnig, beglückwünschte ein über das andere Mal den Assessor um seines lieben „gemütlichen" Weibchens willen und wurde schließlich, als der Präklusivtermin des Retourbillets heranrückte, wenn er auf die Trennung zu sprechen kam, derart sentimental, daß unseren Freunden nichts Anderes übrig blieb, als ihm zuzureden, dieses verfallen zu lassen und den Aufenthalt noch um einige Tage zu verlängern. Das geschah denn auch, und als der Schulfreund aus Tarnowitz auf das vom Assessor gekaufte neue Billet, unter dem Komitat einer ganzen Reihe neu gewonnener Freunde, überfließend vor Dankbarkeit, die Augen vom Weinen und vom Weine glänzend, ins Koupé stieg und das karrirte Taschentuch zum Abschiede flattern ließ, da wollten sie schier auch vor Dankbarkeit überfließen, daß sie nun endlich frei und ledig heimkehren konnten – obwohl der dritte Theil des Urlaubs glücklich oder vielmehr unglücklich verflossen war.

„Doch mit des Geschickes Mächten
Ist kein ew’ger Bund zu flechten,
Und das Unglück schreitet schnell.“

Als sie in ihre Wohuung eintraten, bedeutete sie das Dienstmädchen, daß eine Dame auf Frau Assessor schon nahe an ein Stündchen wartete; nichts Gutes ahnend öffnet diese die Thür und fliegt direkt in die Arme der Pensionsfreundin. Trudchen, glücklich in der Provinz verheirathet, hatte eine Reise zur Konsultation eines Frauenarztes in Berlin unternommen, hier aber erst erfahren, daß dieser verreist und nicht vor nächster Woche zurückzuerwarten war. Fremd und unbekannt in der ungeheuren Stadt, von Niemand verstanden und gepflegt, nervös von dem Geräusch in den Straßen und eine Feindin des Hôtellebens, wo der Mensch zur Nummer herabsinkt, habe sie sich der Adresse ihrer geliebten Freundin erinnert, und sie sei glücklich, daß diese nicht auch, wie die anderen, verreist sei. Sie täuschte sich in dieser nicht, Frau Assessor glaubt den Wink verstehen zu müssen, und nach kurzer Konsultation mit dem Gemahl wird das Gepäck vom Bahnhof geholt und das Zimmer des Schulfreundes für den neuen Besuch hergerichtet. Die Nervosität des Gastes ist übrigens nicht danach angethan, ihre Genußfähigkeit im geringsten herabzusetzen: sie läßt sich freilich immer sehr bitten und bringt ein Opfer nach dem andern, aber wer kann so liebenswürdiger Gastfreundschaft widerstehen, und diese Fahrten im offenen Wagen durch Thiergarten und Grunewald sind an und für sich so erquickend wie eine Kur; die Abende an der Oberspree, im Ausstellungspark sind nicht zu theuer erkauft, wenn man auch den folgenden Tag immer bis zur Mittagszeit Ruhe hält, zumal ja die gute Freundin neben dem Bett sitzend ihr plaudernd Gesellschaft leistet. Der nervöse Ton, das Opfern, die verlorenen Vormittage würden den armen Assessor, der zu Gunsten des Besuches längst sein Privatzimmerchen geopfert, nicht nur aus dem Kabinett, sondern auch aus dem Häuschen gebracht haben, hätte er nicht seine Separatbeschäftigung gefunden. Auf der Bildfläche war nämlich eines Tages der alte Sanitätsrath Wassermann, aus dem Kreisstädtchen, wo man früher amtirt hatte, erschienen. Derselbe hatte seine Gemahlin, zu seiner Erholung, ins Bad geschickt, wollte sich hier einmal für die langjährige Theaterkarenzzeit schadlos halten, in den Tragödien sich gruseln, in den Possen herzlich auslachen: vor allem aber unter der Fuhrung eines jüngeren, Eingeborenen all die Stätten aufsuchen, an welche ihn Jugenderinnerungen banden, und überhaupt – das erste Mal seit zwanzig Jahren, daß er ohne Gattin reist – ein wenig „durchgehen“. Der Herr hinkt zwar und hat keinen Zahn mehr im Munde, ist aber dennoch ein recht unternehmender Vokativus, und das Erste, um was er seinen Führer, nachdem er ihn von seiner Frau ausgebeten hat, inquirirt, ist Kroll und Orpheum: er zeigt für die ganzen Gestalten lebender Otympierinnen ein unzweifelhaft höheres Interesse, als für die Bruchstücke der pergamenischen Götterjungfrauen. Alle Morgen muß der Herr Assessor – der Respekt verlangt das schon so – bei dem alten Herrn im Hôtel antreten, und nachdem er hier Zeuge gewesen, wie alle Toilettenkünste der Neuzeit aus ihm eine halbwegs promenadenfähige Erscheinung zuwege gebracht, wird die Rundreise angetreten durch das Reich der Langeweile.

Fast weinend vor Wuth und Aerger über das verlorene zweite Drittel der Ferien setzt sich unser abgehetztes Ehepaar zum ersten Mal nach drei Wochen wieder allein zum Mittagessen nieder, als eine wohlbekannte kreischende Stimme und ein Gewirr von Tönen ihnen das Blut in den Adern erstarren macht. „Gott sei Dank, daß sie da sind; hier herein, Gepäckträger stellen Sie nur Alles über einander; vorwärts, Kinder!“ und im nächsten Augenblick steht Tante Amélie aus Belzig, um sie herum im Thürrahmen einige Neffen und Nichten, im Reisekostüm, lustig vor ihnen da. Die gute Allerweltstante hatte den lange gehegten Herzenswunsch einiger ihrer Lieblinge durch diese Reise nach Berlin zu der Jubiläumsausstellung erfüllt. Das Unterbringen, hatte sie gleich erklärt, würde bei den vielen lieben Verwandten keine Schwierigkeiten bieten, und es bot auch in der That keine – wenigstens nicht für sie, obwohl alle Verwandten ansnahmslos, als ob sie eine Ahnung des zugedachten Ueberfalls gehabt, das Feld geräumt hatten. Aber Tante Amélie ist ja so gemüthlich und die Kinder so gar nicht verwöhnt oder anspruchsvoll, und Alles ist so sehr zufriedengestellt mit den Zimmern und Betten, welche ihnen die bedrängten Gastgeber zur Verfügung stellen, während diese selbst irgendwo – im Waschkorb kampiren. Das Lager und die Verpflegung ist ja auch Nebensache; die Hauptsache ist „das gemüthliche Zusammensein“ mit den lieben Menschen, von Tagesanbruch bis zur Nacht und die Kenntnißnahme von Allem, was in Berlin zu sehen und zu hören ist, unter ihrer sachverständigen Leitung. So geht der Zug, selbst einer Hagenbeckschen Karavane vergleichbar, von Lokal zu Lokal, durch Menschengewühl und idyllische Einsamkeiten, Alles sehend, Alles zur Kenntniß nehmend: der gute liebe Neffe, wie ein Kornak voran, an seinem Arm die kolossale Tante – die treue Nichte „wehrend den Knaben, lehrend die Mädchen“ im Nachtrab.

Am vorletzten Tage des Urlaubs verläßt auch diese Heuschreckenwolke das Weichbild Berlins. Mit dem nächsten Zuge dampft unser schwergeprüftes Paar nach – Wildpark, um wenigstens Einen Tag nach seiner Neigung, allein mit der Natur zu verleben: denn Beide sind in einer so hochgradigen Nervosität, daß [431] sie, wenn der Wind an die Fenster weht, zusammenschrecken, in der Meinung: es könnte ein Ferienbesuch sein. Der eine Tag genügt, sie wieder zu erfrischen, und mit wehmüthigem Humor blicken sie noch einmal zurück nach dem Casamicciola ihrer Ferienträume. Der Aufenthalt in Berlin hat ihnen mehr gekostet, als eine Reise nach dem Pyramidenlande.

Künftighin aber, das erheben sie zum festen Entschluß, wollen sie mit dem Glockenschlage des Urlaubsbeginnes das Weichbild hinter sich lassen – namentlich in solchen Jahren, wo in Berlin etwas Besonderes zu sehen – und das Jahr soll noch geboren werden im Schoße der Zeiten, in welchem dies nicht der Fall ist.