Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Gottbegeisterte Frauen, mit prophet. Gabe im Zustand d. Exstase
Band II A,2 (1923) S. 20732103
Sibylle (Prophetin) in der Wikipedia
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Sibyllen. Man verstand im Altertum unter dieser Bezeichnung gottbegeisterte Frauen, die in einem Zustande der Ekstase Ahnungen kommender, meist unerfreulicher und schreckhafter Ereignisse aus eigenem innerem Antriebe verkündeten, ohne befragt zu sein oder mit einem der festen Orakelsitze in Verbindung zu stehen. An der Existenz solcher literarisch nicht greifbarer Persönlichkeiten, deren Offenbarungen man sich ähnlich denen der jüdischen Propheten vorstellen mag, haben die Alten im allgemeinen nicht gezweifelt. Erschienen doch in Anbetracht der sensiblen und rezeptiven Natur des Weibes bei verschiedenen Völkern Frauen zu Mittlerinnen zwischen der Gottheit und den Menschen berufen. Morgenländische Überlieferungen von verzückten weissagenden Frauen mögen bei den Hellenen zunächst in Kleinasien besonders in der mystischen Anwandlungen zugeneigten Epoche vor Beginn des Erwachens philosophischer Spekulation Eingang gefunden haben. Denn vom Oriente aus scheint das Sibyllentum überhaupt zu den Griechen gelangt zu sein. Sprüche in Form von [2074] Weissagungen, die da und dort auftauchten, wurden dann unter dem Namen der oder einer S. verbreitet, wodurch ihr Andenken in der Folge legendarisch lebendig blieb. Manche davon enthielten Vaticinia ex eventu, so daß die S.-Prophetie scheinbar die Gewähr der Zuverlässigkeit bot. Da hiedurch ihr Ansehen mehr und mehr wuchs, erachtete man sie schließlich für wohl geeignet, sowohl für politische Zwecke wie im Dienste religiöser Propaganda und Apologetik verwendet zu werden. Und so suchte man durch solche Weissagungen, bei deren Schaffung gerne immer wieder an älteren Orakelvorrat angeknüpft wurde, bis tief ins Mittelalter hinein Einfluß auf die Bewegung der Geister zu gewinnen.

I. Allgemeines über die Sibyllen.

a) Name.

Bei dem Bestreben, das Wesen dieser Prophetie aus dem Namen der Trägerin zu deuten, sah man Σίβυλλα[1] zunächst für einen griechischen Ausdruck an. Varro in den libri rer. divin. bei Lactant. div. inst. I 6, 7 Brandt leitete, offenbar nach älterer griechischer Quelle, die Bezeichnung der sibyllinischen Bücher von dem Umstande her, quod omnes feminae vates Sibyllae sint a veteribus nuncupatae vel ab unius Delphidis nomine vel a consiliis deorum enuntiandis: σιοὺς enim deos, non θεούς, et consilium non βουλήν, sed βόλλαν (Ahrens, βούλλαν Wachsmuth) appellabant Aeolico genere sermonis itaque Sibyllam dictam esse quasi θεοβουλήν (θεοῦ βουλήν? Brandt, vgl. Serv. Aen. VI 12 Sibylla dicta est quasi σιοῦ βουλή, id est dei sententia).

Diese Erklärung ist unzulässig, da zwar unter Berücksichtigung von βόλλαν der zweite Teil des Kompositums eine Art äolischer Färbung an sich trüge, der erste aber junglakonisch wäre. Die Stammform σι – hervorgegangen aus σιο – erscheint im Spätlakonischen häufig, vgl. Kretschmer Glotta X (1920) 227, in Personennamen wie Σικλῆς Cοllitz Samml. d. griech. Dialektinschr. III b 4444, 27 Σιχάρης ebd. 4445, 43, Σιμήδης 4448, 1 auch im Appellativum σίν (= σιόν) 4444, 51.

Um eine solche Verbindung verschiedener Dialektformen in einem Namen als unstatthaft zu vermeiden, verglich Baunack Stud. a. d. Geb. d. Griech. u. d. arisch. Spr. I 1, 64 A. 2 unter Festhaltung der Ableitung von θεός und βουλή die Kurzform Θί-βο-ς = Θεόβουλος (Curtius Stud. z. griech. u. lat. Gramm. X 84) und faßte -υλλα als hypokoristisches Suffix. Allein eine Bildung Θίβυλλα ist nicht nachweisbar, und schon der älteste Gewährsmann Herakleitos gebraucht die geläufige Namensform. Auf eine absonderliche Deutung verfiel Hoffmann Rh. Mus. L (1895) 111f.; ebenso hinfällig ist Bergks Erklärungsversuch Griech. Lit.-Gesch. I 342 und Anm. 90. – Von Hesychios’ Glosse ἰβηνοί · νοεροί ausgehend, dachte Postgate Amer. Journ. of phil. III (1882) 333 an die Wurzel σιβ- = ἰβ- (mit Aufgabe des auf σ zurückgehenden Spiritus asper): so bedeute Σίβ-υλλα mit geläufigem Suffixe (wie [2075] Δέρκ-υλλα) so viel wie praesaga, ,little wise woman‘.

Aus dem Latein soll ,Sibylla‘ stammen nach einer Notiz in der Sibyllen-Theosophie: Urfassung im Cod. Mutin. gr. 126 und in dessen Abschrift Ottobon. gr. 378 (Mras Wien. Stud. XXVIII 43ff.), Auszug im Tubing. (Buresch Klaros 120, 15): diese Erklärung ging auch in die von der Theosophie abhängigen Schriften über, wie in den Prolog des jüdisch-christlichen S.-Corpus 3, 24 Rzach = 2, 29 Geffcken: Σίβυλλα δὲ Ῥωμαϊκὴ λέξις ἑρμηνευομένη προφῆτις ἤγουν μάντις, dann in das Schol. Plat. Phaidr. p. 244 B, weiteres in Ioann. Laurent. Lyd. de mens. IV 47 Wünsch (vgl. dessen praef. XXIX) und einen Anonymus bei Suidas, Maaß De Sibyll. indic. 51f. Und so hat Cuno Jahrb. f. Phil. 1878, 807 das, wie er meinte, ,echt italische‘ Wort Sibulla mit altlat. sibus = callidus bei Fest. p. 453 Lindsay (vgl. Walde Lat. etym. Worterb.² 677) osk. sipus = sciens Tab. Bant. 1, 5. 3, 14 zusammengestellt.

Indes liegt weder ein griechisches noch ein lateinisches Wort zugrunde, vielmehr werden die Griechen mit der Gestalt der Seherin auch deren Namen aus dem Oriente übernommen haben. Freilich ist auch in dieser Hinsicht keine Einigung unter den Forschern erzielt. – Gruppe Griech. Kult. u. Myth. II 675 und Griech. Mythol. u. Religionswissensch. I 927, 8 wollte den Namen als phoinikische oder aramäische Bezeichnung שְׁברּאֵל‎ (masc.) ,ergriffen von Gott‘, fassen, wogegen Nestle Berl. Phil. Wochenschr. XXIV (1904) 765 Einspruch erhob. Lewy Philol. LVII (1898) 351 sah in Σιβ- das aram. sâbâ oder sâbe·ta ,Greisin‘; daran sei das griechische Suffix -υλλα angetreten: somit bedeute der Ausdruck etwa ,Großmütterchen‘. Krauß Byzant. Ztschr. XI (1902) 122, 2 und 124 will das Wort ähnlich wie den Namen Sabbe aus Wurzel sib- oder šib- ,alt‘ erklären. Nestle a. a. O. dachte an einen Zusammenhang mit dem Namen der angeblichen Prophetin Jezabel in Thyateira, nach Ioh. Apok. II 20. – Daß man es mit einem fremden Ausdruck zu tun habe, scheint bereits der Gewährsmann des Pausanias X 12, 1 gefühlt zu haben; dort heißt es: ἣν ... ὑπὸ τῶν Λιβύων Σίβυλλαν λέγουσιν ὀνομασθῆναι, wobei man aber nicht an ein anagrammatisches Spiel mit Λίβυσσαν denken darf, wie Bouché-Leclercq Hist. de la divin. dans l’antiquité II 161.

b) Zahl der Sibyllen.

Zunächst vernehmen wir von bloß einer S.: zum erstenmale begegnet der Name in der antiken Literatur bei Herakleitos frg. 92 Diels (bei Plut. de Pyth. orac. 6 p. 397 A). Darnach reden Dichter des 5. Jhdts. von ihr. Zwar bezüglich des Euripides bestehen Zweifel (s. unten), aber Aristophanes weist wiederholt auf sie und ihre Sprüche hin, die er, wie die des Bakis, bespöttelt (so im Frieden 1095 oder 1116). Desgleichen gedenkt ihrer Platon Phaidr. 244 B, und auch im pseudoplatonischen Theages 124 D wird sie mit anderen sagenhaften Sehern zusammen genannt. Erst später wurde S. als Gattungsname verwendet (Serv. Aen. III 445 nam Sibylla appellativum est nomen), und einzelne S. treten mit besonderen [2076] Namen auf, wie Herophile, Demo, Phoito, Sabbe u. a.

Von S. in der Mehrzahl wird zum erstenmale bei Aristoteles Problem. 954 a, 36 gesprochen: Σίβυλλαι καί Βάκιδες καὶ οἱ ἔνθεοι ... πάντες, während Herakleides Pontikos περὶ χρηστηρ. frg. 96 und 97 bei Vοß De Heracl. Pont. vita et script., Rostock 1896 (FHG II 197) = frg. I und II bei Tresp D. Fragm. d. griech. Kultschriftst., Gießen 1914, 177f. von drei S. Kunde gibt; in frg. 96 (Clem. Strom. I c. 21, 108, 1 Stählin) wird die unter dem Namen Artemis angeblich nach Delphoi gekommene Φρυγία und die Erythräerin Herophile, in frg. 97 (Varro bei Lactant. div. inst. I 6, 12) die ,Hellespontia in agro Troiano nata‘ erwähnt (mit der Phrygia identiflziert von Maaß Herm. XVIII 335 A.; s. aber Rohde Psyche5.6 II 66, 1). Auch Philetas von Ephesos FHG IV 474 (Schol. Aristoph. Vög. 962) kannte, wie drei Bakiden, so drei S., die delphische, erythräische und sardische. Ebensoviele erwähnt später im Zeitalter des Nero Bocchus HRF frg. 1 Peter (bei Solin. II 18 Μ.²), und zwar nebst der Delpherin und Erythräerin die cumäische. Von vier S. wußte Alexander Polyhistor, auf den der Bericht des Paus. X 12, 1ff. vielleicht zurückgeht. Maaß De Sibyll. indic. 12ff., von der libyschen, marpessischen, der cumäischen Demo und der hebräischen Sabbe. Ähnlich spricht Aelian. var. hist. XII 35 (unter Septim. Sev.) zunächst von vier dieser Prophetinnen, der erythräischen, samischen, ägyptischen und sardischen, aber er nennt nach anderer Quelle noch sechs weitere – ὡς εἶναι τὰς πάσας δέκα –, unter denen sich die Κυμαία und Ἰουδαία befinden.

Die runde Zahl von zehn hatte lange vorher bereits Varro in seinem wichtigen S.-Katalog bei Lactant. div. inst. I 6, 8 festgelegt – ,Sibyllas decem numero fuisse‘. Dem varronischen Verzeichnis, das offenbar auf älterer, wenn auch nicht nachweisbarer, griechischer Quelle beruht, folgen, bloß in Einzelheiten abweichend, spätere Schriftsteller, und zwar die Theosophie (s. o.) und ihr Auszug im Tubingensis (Mras 80 und 78) – darnach der Anonymus im Prolog zum jüdisch-christlichen S.-Corpus, weiter Ioann. Laurent. Lydos de mens. 47 W., das Chronicon paschale 108 (I 201 Dind.), wo zu den varronischen S. die Ἑβραία und Ῥόδια hinzugetreten sind, und Isid. orig. VIII 8. Auch in dem Artikel Σίβυλλα bei Suidas findet sich Varros Liste wieder; ein zweiter Katalog aus anderer Quelle nennt die Delphis, Erythraia, Elissa, die thessalische, phrygische, cumäische und thesprotische S.

Von einer Mehrheit von S. reden außer Aristoteles auch Hermeias zu Plat. Phaidr. II 22 und Clem. Strom. I c. 21, 132, 3 Stählin, dessen ,τῶν Σιβυλλῶν τὸ πλῆθος‘ sieben Seherinnen, die nach ihrem Wohnsitze, und zwei, die mit Namen (Φυτώ und Ταραξάνδρα) bezeichnet werden, umfaßt. Vorsichtig drückt sich Tac. ann. VI 12 aus: Sibullae, seu una, seu plures fuere.

c) Sibyllenlegenden.

Zur Prophetie fühlen sich die S. durch eine höhere Macht gedrängt, die ihnen innewohnt, διὰ τὸν θεόν, wie Herakleitos sagt, als ἔνθεοι (Arist. a. a. O.), oder θεόληπτοι (Orac. Sib. XI 320), ἐκ τοῦ θεοῦ κάτοχοι (Paus. X 12, 3), s. Manetho I (V) 239 ἐν κατοχῇσι [2077] θεών; vgl. über diesen Zustand Ganschinietz o. Bd. X S. 2528. Da die Gottheit also gewissermaßen von ihnen dadurch Besitz ergriffen hat, ist ihnen Gottgemeinschaft zuteil geworden, Plin. n. h. VII 3 divinitas ... et quaedam caelitum societas nobilissima ex feminis in Sibylla fuit. Dieses Erfülltsein von Gott führt zu einem νόσημα μανικὸν ἢ ἐνθουσιαστικόν (Arist.). Die S., durch die Gottheit, welche sie erfüllt, in ekstatischen Zustand versetzt (vgl. die Schilderung Verg. Aen. VI 46ff. und Ovid. met. XIV 107 deo furibunda recepto), kündet in dieser Verzückung – Rohde Psyche5.6 II 66 – μαινομένῳ στόματι (Herakleitos frg. 92 D., vgl. Verg. Aen. VI 80 os rabidum, 102 rabida ora) die dräuende Zukunft. Immer wieder wird dieser Zustand des Entrücktseins oder Rasens – Cic. de divin. II 54, 110 – betont; in dem Gedichte bei Phleg. περὶ μακροβ. 4, 4 bezeichnet die Erythräerin sich als ,μαινομένη ... ἐνὶ θνητοῖς‘. Die jüdische S. des III. Buches unserer Sammlung nennt sich – wohl nach älterem Muster – 810 οἰστρομανής. Von innerer Glut erfüllt – Ammian. Marc. XXI 1, 11 ... Sibyllae crebro se dicunt ardere torrente vi magna flammarum – fühlt die Prophetin ihr ganzes Wesen erschüttert – Orac. Sib. II 3 πᾶν δέμας ἐκπληχθεῖσα – und erschauert unter der Geißel der Gottheit, die sie immer von neuem zur Verkündigung künftiger Geschicke antreibt, Orac. Sib. III 4 ἀλλὰ τί μοι κραδίη πάλι πάλλεται | ἠδέ γε θυμὸς τυπτόμενος μάστιγι βιάζεται ἔνδοθεν αὐδὴν | ἀγγέλλειν πῦσιν: vgl. II 3, Verg. Aen. VI 76ff. Müde erfleht sie daher öfters eine Ruhepause, Orac. Sib. III 3 ἄμ⟩παυσον βαιόν με · κέκμηκε γὰρ ἔνδοθεν ἦτορ (nachgeahmt XII 297f.) oder XI 322 ἀλλά. ἄναξ, νῦν παῦσον ἐμὴν πολυήρατον αὐδὴν | οἶστρον ἀπωσάμενος ... καὶ μανίην φοβερήν.

Im Gegensatze zur Institution der Orakel dachte man sich die Tätigkeit der S. im allgemeinen nicht als einen geschäftsmäßigen Betrieb: sie antworten nicht auf Befragung, sondern nur wenn sie von der Gottheit sich innerlich angetrieben fühlen, künden sie künftige Begebenheiten. Sie weilen deshalb nicht ständig an einem Orte: wir hören von verschiedenen, oft weiten Wanderungen; so gelangte die S. Herophile bei Paus. X 12, 5 nach Samos, Klaros, Delos und Delphoi. Die Inschrift der S.-Grotte von Erythrai (s. unten) läßt sie sogar sagen v. 10 πᾶσαν ἐπὶ χθὸν' ἔβην. Den historischen Kern solcher Erzählungen mag das Auftauchen von S.-Sprüchen in der oder jener Gegend gebildet haben. Erst in jüngerer Zeit läßt sich eine gewisse Anlehnung oder Anpassung der Vorstellungen vom Sibyllentum an das Orakelwesen beobachten.

Die Gabe der Weissagung aber, und der Drang, solche zu künden, wohnt der S. inne, kaum daß sie das Licht der Welt erblickt hat. In dem Gedichte aus der S.-Grotte von Erythrai, heißt es v. 5 Κισσώτας δ' ἤνεγκεν ἐμὸν γόνον, ᾧ ἐνὶ χρησμοὺς | ἔκπε⟨σ⟩ον ὠδείνων εὐθὺ λαλοῦσα βροτοῖς. Ähnliches berichtet Proklos zu Plat. Tim. 288 E (III 160 Diehl), vgl. zu 325 E (III 282 D.): dazu Niketas Chon. III 577 Bonn.

Wie dem Sehergotte Apollon die Leier, gab man der S. ein besonderes Instrument als Attribut: nach Skamon περὶ εὑρημ. frg. 4. FHG IV [2078] 490 (Athen. XIV 637 B) war es die – nach ihrem angeblichen Erfinder (Sambyx) genannte – Sambyke, eine dreieckige Harfenart, vgl. Maux o. Bd. I A S. 2124; der Erythraia insbesondere wird in einem der Verzeichnisse bei Suidas die Erfindung eines solchen τρίγωνον εἶδος λύρας zugeschrieben, das wahrscheinlich orientalischer Herkunft ist, zumal bei Daniel 3, 5f. eine Sabekka erwähnt wird.

Daß Frauen, durch deren Mund sich nach verbreiteter Meinung die Gottheit verkündigte, eine besondere Schätzung genossen, ist selbstverständlich. Diese konnte sich unter Umständen bis zu einer Art göttlicher Verehrung steigern. So steht die S. zwischen der Gottheit und den Menschen, Proklos zu Plat. Tim. 325 E (III 282 Diehl) ἡ γάρ τοι Σίβυλλα προελθοῦσα εἰς φῶς καὶ τὴν τάξιν ἑαυτῆς καὶ ὡς ἐκ θεῶν ἤκει δεδήλωκεν ,εἰμὶ δ’ἐγὼ μέσση τε θεών‘ εἰποῦσα ,μέσση τ' ανθρώπων‘. Daß sie der Gottheit (Apollons) Dolmetsch sei, versichert die Prophetin in dem Grabepigramm bei Paus. X 12, 6 v. 1 ἅδ ’εγὼ ἁ Φοίβοιο σαφηγορίς εἰμι Σίβυλλα; ähnlich liest man in dem Gedichte aus der S.-Grotte von Erythrai v. 1 ἡ Φοίβο⟨υ π⟩ρόπολος χρησμηγόρος εἰμὶ Σίβυλλα. Der Zoll hoher Verehrung, den man den Prophetinnen darbrachte, erhält schließlich seinen Ausdruck in der Bezeichnung θεά: so heißt die Erythräerin auf einer Bronzemünze ihrer Heimatstadt bei Imhoof-Blumer Monnaies grecques S. 288 nr. 63 – ΘΕΑ ΣΙΒΥΛΛΑ.

So ragt die Gestalt der S. ins Übermenschliche empor. Unsterblich ist sie zwar nicht, aber ihre Lebensdauer übertrifft weitaus das natürliche Maß. Indem man die Ereignisse, die sie vorhergesagt haben sollte, immer weiter in die Vergangenheit zurückschob, – sie konnte dann um so mehr wirklich Geschehenes als künftig melden und dadurch größere Glaubwürdigkeit gewinnen – ergab sich die Annahme sehr langer Lebenszeit, Rohde Psyche5.6 II 66. Bei Plut. de Pyth. orac. 9 p. 397 A heißt es von ihr χιλίων ἐτῶν ἐξικνεῖται τῇ φωνῇ διὰ τὸν θεόν. Daher kam das Sprichwort auf Σιβύλλης ἀρχαιότερος Makar. VIII 61; bei Clemens Strom. I c. 21, 108, 1 Stählin heißt sie Ὀρφέως παλαιοτέρα. Auch in dem christlichen Buche Pastor des Hermas erscheint eine γυνὴ πρεσβῦτις, Vis. I 2, 2, die für die S. gehalten, dann als Ἐκκλησία gedeutet wird, Vis. II 4, 1.

Was so von der S. im allgemeinen gilt, wird auch von einzelnen dieser Prophetinnen eigens berichtet. Von der Erythräerin sagt Phlegon περὶ μακροβ. 4 (= FHG ΙΙI 610) Σίβυλλα ἡ Ἐρυθραία ἐβίωσεν ἔτη ὀλίγον ἀποδέοντα τῶν χιλίων. ὠς αὐτή φησιν ἐν τοῖς χρησμοῖς. vgl. v. 4 des dort folgenden S.-Gedichtes[2]. In dem Epigramm von Erythrai ist sie nach v. 9 bereits 900 Jahre alt: τρὶς δὲ τριηκοσίοισιν ἐγὼ ζώουσ' ἐνιαυτοῖς, daher πρεσβυγενής v. 2. – Oft wird insbesondere das hohe Alter der Cumaea hervorgehoben, wie bei [Aristot.] θαυμάσ. ἀκούσμ. 95 p. 838 a, 5 aus Timaios (Geffcken Timaios’ Geogr. d. West. 145, 30): πολυχρονιωτάτη γενομένη. Häufig gedenken [2079] der ,Greisin‘ die römischen Dichter: longaeva heißt sie bei Verg. Aen. VI 321, 628 und Lucan. V 138, anus bei Ovid. fast. IV 158, vetus bei Sil. Ital. XIII 411. Ihre lange Lebensdauer deutet an Propert. II 2, 16 etsi Cumaeae saecula vatis agat, Martial. IX 29, 3 Euboicae (= Cumaeae) ... longa Sibyllae | tempora (vgl. Stat. Silv. I 4, 126), auch Ovid. met. XIV 104 fast. IV 875 durch den Ausdruck vivax. Tausend Jahre gibt ihr Ovid. met. XIV 144ff., denn bei der Begegnung mit Aeneas ist sie nach v. 144 schon 700 Jahre alt, noch aber wird sie weitere 300 Jahre leben (nach v. 145). Schließlich schrumpft durch das Alter ihr Körper immer mehr ein – 148 consumptaque membra senecta | ad minimum redigentur onus –, so daß sie für niemanden mehr sichtbar wird; einzig ihre Stimme wird ihr bleiben – 152 nullique videnda, voce tamen noscar, vocem mihi fata relinquent.

Auch bei der Erythräerin vergeht ihr Prophetenamt nicht mit dem Tode: ihr Leib ist zwar sterblich – Gedicht bei Phlegon v. 22: σῶμα δ’ ἀεικελίως ἄταφον πρὸς μητέρος αἴης | κείσεται und Orac. Sib. VII 157f. – aber ihre Seele wird den Menschen auch weiterhin auf wunderbare Weise die Zukunft offenbaren, v. 11: ἔνθ' ἄρα μοι ψυχὴ μὲν ἐς ἠέρα πωτηθεῖσα, | πνεύματι συγκραθεῖσα, βροτῶν εἰς οὔατα πέμψει | κληδόνας ἐν πυκινοῖς αἰνίγμασιν συμπλεχθείσας. Demgemäß heißt es bei Plut. de Pyth. orac. 9 p. 398 D (darnach Clem. Strom. I c. 15, 70, 3 Stähl.) von der S. in Delphoi: τῷ δ’ἀέρι τὸ πνεῦμα συγκραθὲν ἐν φήμαις ἀεὶ φορήσεται καὶ κληδόσιν. Sie selbst habe gesungen: ,ὡς οὐδ’ ἀποθανοῦσα λήξει μαντικῆς‘. In dem sog. Gesichte im Monde (stoische Vorstellung Plut. de fac. in orbe lun. p. 921 F) leuchtete ihre Seele weissagend fort; vgl. auch de sera num. vind. p. 566 D ᾄδειν γὰρ αὐτὴν περὶ τῶν μελλόντων ἐν τῷ προσώπῳ τῆς σελήνης περιφερομένην (dazu Clem. a. a. Ο. 70, 4 Stähl.). Da man auch aus der Stellung der Mondphasen Zeichen abnehmen zu können vermeinte, wird jene seltsame Vorstellung begreiflich.

Nach gemeiner Anschauung konnte die S. gewaltige Zeiträume mit ihrem geistigen Auge überschauen. Die jüdische Prophetin des 3. Buches der Sibyllinen kennt nach v. 819f. nicht bloß die Zukunft, auch die ganze Vergangenheit wurde ihr offenbart. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermag die S. des 1. Buches nach v. 2f. zu verkünden.

Als traditionell gilt die Jungfrauschaft der S., da ihre Vereinigung mit der Gottheit diese voraussetzt, Fehrle Kultische Keuschheit 77f. Der Denkstein in der S.-Grotte von Erythrai bezeichnet die Herophile v. 10 als παρθένος οὖσ' ἀδμής (vgl. παρθένος αὐδάεσσα v. 3 des Gedichts bei Paus. X 12, 6). Von der Cumaea meldet [Aristot.] θαυμάσ. ἀκούσμ. 95 (nach Timaios, Geffcken 145, 30) ... ἣν πολυχρονιωτάτην γενομένην παρθένον διαμεῖναί φασιν, vgl. Lykophr. 1276f. παρθένου ... Σιβύλλης. Bei den römischen Dichtern findet man oft die Bezeichnung virgo, Verg. Aen. III 445. VI 45. 318. 560 virgo Cumaea Ovid. met. XIV 135 oder casta Sibylla Verg. Aen. V 735. Sil. Ital. XIII 444. Bei Tibull. II 5, 64 wünscht sie ,aeternum sit mihi virginitas‘. Das eifrige Liebeswerben Apollons (von einem [2080] ,pius amor‘ des Gottes ist die Rede bei Serv. Aen. VI 321, nach Timaios, Geffcken 146) habe sie, so erzählt Ovid. met. XIV 132ff., abgewiesen, trotz der Aussicht auf ewige Jugend, die er ihr eröffnete: sie blieb unvermählt (142 innuba permaneo). Vgl. noch Hieron. adv. Iovin. I c. 41 (p. 306): quarum (Sibyllarum) insigne virginitas est.

d) Sibyllenprophetie.

Die Kunde von der Tätigkeit der S. erstreckt sich über ein weites Gebiet: in Kleinasien sowohl wie im eigentlichen Hellas und den griechischen Kolonien des Westens sollen ihre Gestalten aufgetaucht sein, und schließlich gelangt die Kenntnis ihrer Weissagung auch nach Rom.

Da bereits Herakleitos frg. 92 Diels von der S. als etwas ganz Bekanntem redet, müssen schon frühzeitig derlei Sprüche im Schwange gewesen sein. Von ihrer Beschaffenheit gibt der Philosoph einen deutlichen Wink: mit rasendem Munde – ,μαινομένῳ στόματι‘ – künde die Seherin ,ἀγέλαστα‘, unerfreuliche Dinge, bei denen einem das Lachen vergeht, und zwar ,ἀκαλλώπιστα‘ ungeschminkt und ,ἀμύριστα‘ ungesalbt. Wie es in v. 6 des Gedichts bei Phlegon heißt, betrifft der Inhalt der Weissagung die ,βροτῶν δυσανάσχετα κήδη‘; vgl. das Epigramm von Erythrai 7f. ἄεισα | μαντοσύνας παθέων αὖθις έπεσσομένων. Aus Plut. de Pyth. orac. 9 p. 398 E werden als Gegenstand solcher Prophetie erschlossen ,πολλαὶ μὲν ἀναστάσεις καὶ μετοικισμοὶ πόλεων Ἑλληνίδων, πολλαὶ δὲ βαρβαρικῶν στρατιῶν ἐπιφάνειαι καὶ ἀναιρέσεις ἡγεμονιῶν‘. Solch bedeutsame Ereignisse gaben zunächst Veranlassung zur Schaffung von Sprüchen, indem das Geschehene als zukünftig verkündet ward. An derlei Vaticinia ex eventu[3] schloß man dann, da deren Wahrheit als erwiesen gelten konnte, andere Weissagungen an, um sie so glaubwürdig zu machen. Bezeichnend ist hiefür die Anschauung, der Philon Vita Mos. II 179 in betreff von Prophezeiungen des Moses Ausdruck gibt: ὥν τὰ μὲν ἤδη συμβέβηκε, τὰ δὲ προσδοκεῖται, ,διότι πίστις τῶν μελλόντων ἡ τῶν προγεγονότων τελείωσις‘, vgl. die Äußerungen bei Theophil. ad Autol. 2, 2 und Tertullian. apol. 20. Wiederholt wird auf die untrügliche Wahrheit der Sprüche hingewiesen, wie im S.-Gedichte bei Phlegon 3 ἀλλά γ’ ἐμῶν ἐπέων πείθεσθ’ ἀψευδέσι χρησμοῖς, oder in den jüdischen Sibyllinen III 2, 829 IV 3 XI 316.

Da der Wille der Gottheit sich in den Weissagungen kundzugeben schien, wird es begreiflich, daß auch ein Platon von der S. mit Achtung redet, wie im Phaidros p. 244 B oder Menon p. 99 C; hierauf wird bei [Iustin.] Coh. ad Graec. 37 besonders hingewiesen[4].

Aber freilich gab es schon frühe auch Ungläubige und Spötter: der ersten einer ist Aristophanes, der sich nicht bloß über Sprüche der S. und namentlich des Bakis wiederholt lustig macht, [2081] wie in den Rittern 61, sondern sie auch parοdistisch nachbildet, wie Vög. 967ff. oder Fried. 1063ff. Ähnlich verfuhr späterhin Lukianos Alex. oder Pseudomant. 11, um den Alexandros von Abonuteichos unter geschickter Benutzung sibyllinischer Wendungen und Formeln zu verspotten. Die Parodien sind zusammengestellt bei Alexandre Excurs. ad Sibyll. 140ff. und Cougny Epigr. Anth. Pal. III 524 und 529ff.

II. Die einzelnen Sibyllen.

Den größten Ruhm genoß bei den Ostgriechen die Seherin von Erythrai, im Westen die S. von Kyme (Cumae) in Campanien. Aber nebst diesen wird noch eine ganze Reihe anderer genannt, die an verschiedenen Orten lokalisiert erscheinen.

1. Um mit den echthellenischen zu beginnen, scheint trotz des Widerspruches der Erythräer die S. von Marpessos (mitunter ,Marmessos‘) in der Troas als eine der ehrwürdigsten gegolten zu haben. Diese kannte Herakleides Pont. περὶ χρηστηρ. frg. 97 Voß = II Tresp (Varro bei Lactant. div. inst. I 6, 12): octavam Hellespontiam in agro Troiano natam, vico Marmesso circa oppidum Gergithium (Gergithum Maaß), quam scribat Heraclides Ponticus Solonis et Cyri fuisse temporibus.

Ähnliches berichten die von Varro abhängigen S.-Kataloge. Diese Seherin wird gemeiniglich Ἑλλησποντία genannt; in der Osterchronik wird nur von der Τρῳάς gesprochen, während sie bei Ioann. Laurent. Lyd. wegen der Nähe des Städtchens Gergis Γεργιθία heißt. Auf die Landschaft Troas weist auch Arrian. frg. 64 (FHG III 598 = Eustath. Il. II 814), wonach Σίβυλλα ἡ μάντις ein Sproß des Dardanos und der Teukrostochter Neso gewesen sei. Von besonderer Bedeutung ist der Bericht des Paus. X 12, 3, bezw. seiner Quelle Alexander Polyhistor (Maaß 4), der ein für die Geschichte der marpessischen S. wichtiges Epigramm bewahrt hat:

εἰμὶ δ’ἐγὼ γεγαυῖα μέσον θνητοῦ τε θεᾶς τε
νύμφης ἀθανάτης, πατρὸς δ’ ἐκ κητοφάγοιο,
μητρόθεν Ἰδογενής · πατρὶς δέ μοί ἐστιν ἐρυθρὴ
Μάρπησσος, μητρὸς ἱερή · ποταμὸς δ' Ἀιδωνεύς
.

Darnach galt die im Gebiete von Marpessos waltende S. als die Tochter eines sterblichen Mannes, wohl eines Fischers, der sich vom Fange der κήτη der See nährt – weder Dindorfs σιτοφάγοιο noch Corssens καρποφάγοιο ist notwendig – und einer unsterblichen Nymphe des Ida[5]. Die Bezeichnung von Marpessos als έρυθρή rührt von der rötlichen Erde des Landstrichs, Paus. a. a. Ο. 4 ὑπέρυθρος δὲ πᾶσα ἡ περὶ Μάρπησσον γή, ferner Steph. Byz. s. Μερμησσός, der wohl auf Demetrios von Skepsis beruht, frg. 66 Gaede (Haupt Opusc. II 58): ἦν γὰρ καὶ ἡ πόλις αὐτοῖς (den Bewohnern des Gebietes) ἐρυθρὰ τῷ χρώματι. In dem dürren und rissigen Boden – der γῆ αὐχμώδης – versickerte das Flüßchen Aidoneus: da es seinen Weg in die Tiefe nahm, mag es den an den Herrn der Unterwelt gemahnenden Namen erhalten haben. Über die [2082] Örtlichkeiten R. Kiepert Gergis und Marpessos in der Troas, Klio IX (1909) 10ff.

Die Ansprüche aber der Marpessier auf die S. wollten die Erythräer nicht gelten lassen: es entspann sich eine literarische Fehde, die wir noch gut verfolgen können. Um das erwähnte Epigramm in ihrem Sinne ausdeuten zu können, strichen die letzteren unter Hinweis auf die lokalen Verhältnisse den Schlußvers (Paus. ebd. 7). Es ließ sich dann das letzte Wort von v. 3 als Eigennamen Ἐρυθρή fassen. Diese Namensform kommt tatsächlich wiederholt vor, wie bei Vell. Paterc. I 4, 3 oder Strab. XIV 32 p. 644, so daß man die Analogien von Θήβη Ἀθήνη (Hom. Od. VII 80) Μυκήνη (Od. XXI 108) u. a. nicht heranzuziehen braucht. Den Ausdruck ἰδογενής aber mußten die Erythräer anders deuten: ,(von mütterlicher Seite) dem Walde entstammt‘, d. h. die Mutter ward als Waldnymphe gedacht. Man nahm dann ἴδη im Sinne von ,τῶν χωρίων τὰ δασέα‘, mit Gestrüpp oder Wald bedeckte Höhe, was an sich zulässig ist. Mit dieser Auffassung stimmt Suidas s. Σίβυλλα Ἐρυθραία ... Ἐρυθραία παρὰ τὸ τεχθῆναι ἐν χωρίῳ τῶν Ἐρυθρῶν, ὃ προσηγορεύετο ‚βάτοι‘; ein Ausdruck, der jenem ‚ἴδη‘ entspricht, Maaß 28.

Auf die Legende, wonach eine Beziehung oder gar Identität zwischen der erythräischen S. (Herophile) und der marpessischen Seherin bestand, die dann auch mit demselben Namen Herophile belegt wurde Paus. X 12, 5. Mart. Cap. II 159[6], weist Tibull. II 5, 67 quidquid Marpesia dixit Herophile, vgl. Steph. Byz. s. Μερμησσός πόλις Τρωική, ἀφ' ἦς ἡ Ἐρυθραία Σίβυλλα.

Gleichwohl wird man die Meinung der Erythräer nicht als berechtigt ansehen können. Die Tradition von einer troischen S. geht, wie erwähnt, mindestens auf Herakleides Pontikos zurück. Der vierte Vers des Epigramms sieht nun kaum nach einem Zusatz aus. Wäre es glaublich, daß die Bewohner einer späterhin sehr herabgekommenen Ortschaft, – Paus. X 12, 4 spricht bereits von den ἐρείπια des fast verödeten Marpessos – wenn sie sich nicht auf gute alte Überlieferung stützen konnten, ihre Ansprüche gegenüber einer Stadt wie Erythrai geltend gemacht hätten? Anderseits erwecken die fast leidenschaftlichen Beteuerungen ihrer Gegner, die auch in dem Gedichte der S.-Grotte (s. unten) 3 πατρὶς δ'οὐκ ἄλλη, μούνη δέ μοί ἐστιν Ἐρυθραί Ausdruck finden, den Verdacht, als sei ihr Widerspruch eben nicht allzu fest begründet gewesen, vgl. Klausen Aen. u. d. Pen. I 236. Bergk Griech. Litgesch. I 344, 94.

Hingegen verfocht Maaß 24ff. und Herm. XVIII (1883) 327ff. die u. a. von Diels Sibyll. Blätt. 94, 1 geteilte Ansicht, die Existenz der troischen S. sei nur dem Lokalpatriotismus des Demetrios von Skepsis zuzuschreiben, auf dem des Pausanias Bericht fuße (bei Gaede frg. 65). Er hält sie deshalb für eine Dublette der Erythräerin, deren Namen sie erborgt habe; der v. 4 des Gedichtes aber sei von Demetrios selbst hinzugefügt. Diese Meinung ist kaum wahrscheinlich; mit Recht hat sie weder bei Buchholz in [2083] Roschers Myth. Lex. IV 793 noch bei Corssen 9 Anklang gefunden.

Betreffs der S. auf troischem Gebiete scheint eine Tradition bestanden zu haben, wonach sie dem Aineias und den Seinen vor der Einschiffung glückverheißende Kunde gab (Tibull. a. a. O.). Diese will Robert Herm. XXII (1887) 454ff. durch eine kleine Gruppe pompeianischer Gemälde (Sogliano Giorn. d. scavi di Pompei N. S. II 433) bestätigt sehen. Aineias erscheint mit Anchises und Askanios in einem Apollonheiligtum als Orakelsuchende vor einer jugendlichen weiblichen Gestalt, in welcher die Seherin von Marpessos zu erkennen sei.

In Mißverständnis des Sachverhaltes hat Dionysios von Halikarnass I 55, 4 den Wohnsitz der ,Erythraia‘ mit dem unweit des Ida belegenen Marpessos kombinierend, eine Gemeinde Erythrai in die Nähe des Ida verlegt. Diels 95 A., der für ,ἐν Έρυθραῖς σχεδὸν τῆς Ἴδης‘, den Dionysios entlastend, ἐν ἐρυθρᾷ ⟨χώρᾳ⟩ σχεδίῳ τῆς Ἴδης liest, sieht in dieser S. die marpessische.

Auch in einer anderen Stadt der Troas, in Alexandreia, soll die Herophile von Marpessos geweilt haben und ,νεωκόρος τοῦ Ἀπόλλωνος τοῦ Σμινθέως‘ gewesen sein, Paus. X 12, 5. Von Wert ist die hier beigefügte Bemerkung, sie hätte über den Traum der Hekabe und dessen Erfüllung geweissagt, [Apollod.] III 148 W. Schol. Eur. Androm. 293. Das deutet auf ein Zusammenfließen einzelner S.-Gestalten mit Kassandra hin, deren Sehergabe, wenn Proklos Chrestom. (Hom. Op. V p. 103, 2 Allen) Richtiges mitteilt, schon in den Kyprien erwähnt war. Wie man deren Prophetien nicht glaubte, so heißt es ähnlich von der Herophile in dem Gedichte bei Phlegon περὶ μακροβ. 4 v. 5 καὶ ἄπιστα λέγουσα; ja nach Angaben einiger soll – bei Suid. s. v. – die Φρυγία geradezu auch Kassandra genannt worden sein (s. unten).

Bei der Stadt, im Haine des Smintheus, zeigte man ein Grabmal der S., Paus. X 12, 6, dessen Inschrift (auch bei Preger Inscr. Gr. metr. ex script. coll. nr. 32) so lautete:

ἅδ’ ἐγὼ ἁ Φοίβοιο σαφηγορίς εἰμι Σίβυλλα.
     τῷδ' ὑπὸ λαϊνέῳ σάματι κευθομένα.
παρθένος αὐδάεσσα τὸ πρίν, νῦν δ'αἰὲν ἄνανδος,
     μοῗρᾳ ὑπὸ στιβαρᾷ τάνδε λαχοῦσα πέδαν.
ἀλλὰ πέλας Νύμφαιοι καὶ Ἑρμῇ τῷδ' ὑπόκειμαι
     μοῖραν ἔχουσα κάτω τᾶς τότ' ἀνακτορίας.

Das Schlußwort in v. 2 ist von Meineke aus hsl. πυθομένα hergestellt.

In der Nähe standen ein Hermesmal – Ἑρμῆς λίθου τετράγωνον σχήμα – und Nymphenstatuen, eine Quelle sprudelte zur Linken: das Ganze war einigermaßen ähnlich der Anlage der S.-Grotte von Erythrai.

Da Marpessos bei dem Städtchen Gergis lag – zu unterscheiden von dem weinberühmten Gergithion in der Lampsakene, Strab. XIII 19 p. 589 – R. Kiepert 13 –, das unter Attalos von Pergamon einging, ist die dortige S., wie erwähnt, auch als Γεργιθία bezeichnet worden, und zwar, abgesehen von einzelnen auf Varro fußenden Berichten, namentlich von Phlegon frg. 2 der Olympiades FHG III 604 (bei Steph. Byz. s. Γέργις) ... τὸ θηλυκὸν Γεργιθία, ἀφ' οὗ Γεργιθία ἡ χρησμολόγος Σίβυλλα. ἥτις καὶ ἐτετύπωτο ἐν τῷ [2084] νομίσματι τῶν Γεργιθίων αὐτή τε καὶ ἡ Σφίγξ, ὡς Φλέγων ἐν Ὀλυμπιάδι πρώτῃ.

Diese Nachricht wird durch ältere Münzen von Gergis, vom 4. Jhdt. an, bestätigt. Die Hauptseite von Silberstücken dieser Art zeigt einen weiblichen Kopf mit Lorbeerkranz, während auf dem Revers eine sitzende Sphinx mit der Umschrift ΓΕΡ dargestellt ist, Catal. of the greek coins des Brit. Mus., Troas 55, 1. 2 Taf. X 12. Auf Bronzen etwas jüngerer Zeit sieht man das Bild der Prophetin mit apollinischem Hauptschmuck, einem Lorbeerkranze, und mit schwerer Halskette und Ohrringen, während auf dem Revers wiederum die Sphinx erscheint; ebd. 55, 6 Taf. X 15 und Imhoof-Blumer Ztschr. f. Numism: XX 279 Taf. X 17; dazu Head HN² 545.

Nach der obengenannten Quelle soll sich auch ,ἐν τῷ ἱερῷ τοῦ Γεργιθίου Ἀπόλλωνος‘ die Ruhestätte der S. befunden haben, eine Analogie zu der obenerwähnten Legende von dem Grabe der Seherin im heiligen Bezirke des Smintheus bei Alexandreia Troas.

2. Als die weitaus berühmteste der griechischen S. galt die von Erythrai, welche in unseren Quellen denselben Namen (Herophile) führt, wie die marpessische oder hellespontische, vgl. Sittig o. Bd. VIII S. 1103f. Auch ihrer gedenkt schon Herakleides περὶ χρηστηρ. frg. 96 Voß = I Tresp: ἔστι δὲ καὶ ἄλλη Ἐρυθραία Ἡροφίλη καλουμένη. Ein weiter nicht bekannter einheimischer Lokalhistoriker Apollodoros von Erythrai, FHG IV 309 – Varro bei Lactant. div. inst. I 6, 9 – trat für ihre Zugehörigkeit zu dieser Stadt ein: ... quam Apollodorus Erythraeus adfirmet suam fuisse civem, vgl. Lactant. de ira dei 22. 6 Apollodorus quidem ut de civi ac populari sua gloriatur. Ohne strikten Beweis hat ihn Maaß 28 vor Eratosthenes gesetzt, der ihn als Quelle benutzt habe; vgl. dagegen Mras Wien. Stud. XXIX (1907) 45. – Eine Nachricht bei Strab. XIV 34 p. 645 bezeugt die Abkunft einer der alten S. aus Erythrai.

Bei Hieronymus (Euseb. Werke VII 89, 5 Helm) wird ihre Zeit mit Eumelos um 744 angesetzt: Eumelus Corinthius versificator agnoscitur et Sibylla Erythraea.

Über die Bedeutung dieser S. äußert sich Lactant. div. inst. I 6, 14 unter Bezugnahme auf Fenestellas Bericht (HRF frg. 18 Peter) über die Gesandtschaft nach Erythrai also: ... Erythraea, quae celebrior inter ceteras (Sibyllas) ac nobilior habetur. Und ähnlich de ira dei 22, 5: hi omnes (plurimi et maximi auctores) – er nennt von Griechen Aristonikos und Apollodoros von Erythrai, von Römern Varro und Fenestella – praecipuam et nobilem praeter ceteras Erythraeam fuisse commemorant: außerdem vgl. besonders Cic. de divin. I 18. 34. Bocchus HRF frg. 1 Peter bei Solin. II 18 Momms.² (wo Herophile mit Maaß 2, 2 für Herophilen zu lesen): weiter Plut. de Pyth. orac. 14 p. 401 B und Paus. X 12. 1ff. Als wichtiges Dokument ist die im J. 1891 aufgefundene Inschrift der sibyllinischen Quellgrotte von Erythrai hinzugekommen, auf die näher einzugehen ist.

Auf dieses Denkmal beziehen sich die Arbeiten von S. Reinach Le sanctuaire de la Sibylle d’Erythrée. Rev. d. étud. grècq. IV (1891) 276ff., ferner Homolle Bull. hell. XV (1891) 682ff. [2085] Buresch Die sibyllinische Quellgrotte in Erythrae, Athen. Mitt. XVII (1892) 16ff., und besonders Corssen Die erythraeische Sibylle, ebd. XXXVIII (1913) 1ff. Es fanden sich Überreste einer künstlich aufgemauerten Grotte mit wichtigen Aufzeichnungen. Aus einer auf Blöcken, von denen nicht alle erhalten sind, eingemeißelten Inschrift erfährt man, daß ein Bürger der Stadt eine Bauanlage mit Sicherung einer daselbst sprudelnden Quelle (Brunnenhaus?) hergestellt oder erneuert habe, und zwar zu Ehren der Demeter, der Kaiser Μ. Aurelius Antoninus und L. Aurelius Verus sowie der eigenen Vaterstadt. Statuen, von denen die Basen mit Inschriften Νύμφη Ναΐς und Ἀγαθῆι τύχη ⟨Σίβυλ⟩λα νύμφης καὶ Θεοδώρου ⟨Ἐ⟩ρυθραία noch vorhanden sind, dienten dem Bau zum Schmucke. Das wichtigste Fundstück aber bildet ein als Türpfosten verwendeter großer Stein mit einer 8 Disticha umfassenden Inschrift, die ihrer Bedeutung wegen hier angeführt sei:

ἡ Φοίβο⟨υ π⟩ρόπολος χρησμηγόρος εἰμὶ Σίβυλλα,
      νύμφης Ναϊάδος πρεσβυγενής θυγάτηρ ·
πατρὶς δ'οὐκ ἄλλη, μούνη δέ μοί έστιν Ἐρυθραί.
      καὶ Θεόδωρος ἔφυ θνητὸς ἐμοὶ γενέτης.
5
Κισσώτας δ’ ἤνεγκεν ἐμὸν γόνον, ὧι ἔνι χρησμοὺς
      ἔκπε⟨σ⟩ον ὠδείνων εὐθὺ λαλοῦσα βροτοῖς.
τῆιδε δ’ ἐφεζομένη πέτρηι θνητοῖσιν ἄεισα
      μαντοσύνας παθέων αὖθις ἐπεσσομένων.
τρὶς δὲ τριηκοσίοισιν ἐγὼ ζώουσ’ ἐνιαυτοῖς
10
      παρθένος οὖσ’ ἀδμὴς πᾶσαν ἐπὶ χθόν' ἔβην.
αὖθις δ' ἐνθάδ’ ἐγώ γε φίληι πὰρ τῆιδέ γε πέτρηι
      ἧμαι νῦν ἀγανοῖς ὕδασι τερπομένη.
χαίρω δ' ὅττι χρόνος μοι ἐπήλυθεν ἤδη ἀληθής,
      ὧι ποτ' ἀνανθήσειν αὖθις ἔφην Ἐρυθράς.
15
πᾶσαν δ’ εὐνομίην ἕξειν πλοῦτόν τ' ἀρετήν τε
     πάτρην ἐς φιλίην βάντι νέωι Ἐρύθρωι.

Da die Anlage aus der Zeit des Zusammenwirkens der beiden erwähnten Kaiser (161–169) stammt, sah in dem am Schlusse erwähnten νέος Ἔρυθρος schon Reinach den L. Verus, der gegenüber dem bei Paus. VII 3, 7 oder Diodor. V 79, 84 genannten Stadtgründer, dem Ἔρυθρος κτίστης der Münzen – Head HN² 579 – gewissermaßen als der Neubegründer ihrer Wohlfahrt gedacht ist. Nach Hist. aug. Iul. Ver. 6, 9 weilte der Kaiser im J. 162, als er seinen Weg zur parthischen Front nahm, in den berühmten Städten Kleinasiens, wobei er auch Erythrai besucht haben mag; um 162 wäre also die Bauanlage anzusetzen. Übrigens hat man es wahrscheinlich bloß mit einer Neuherstellung zu tun, wobei, wie Corssen erkannte, zu dem älteren, offenbar zwölf Verse umfassenden Gedichte die zwei letzten Distichen, die den hohen Besuch betreffen, hinzugefügt wurden. Eine spätere Erneuerung der Baulichkeiten bezeugt ein von dem zweiten Türpfosten stammender Stein, den schon Le Bas (Asie min. 58) gefunden hatte. Die Inschrift, auch bei Kaibel Epigr. Graec. ex lap. conl. 1075, Buresch 33. sowie Corssen 5 veröffentlicht, zeigt eine stilistisch und metrisch ganz verwahrloste Form, die Curtius und Sauppe Abh. d. Götting. Ges. d. Wiss. VIII (1858/9) 161 ohne Berechtigung besser zu gestalten versuchten.

Der Name der Erythraia Ἡροφίλη weist auf einen Zusammenhang mit Ἥρα. Die Ἥρα τελεία genoß in der ionischen Stadt einen Kult. Diels [2086] Sibyll. Blätt. 33, 1. Hingegen enthält der Name keinerlei Beziehung zur Mantik. Der Versuch E. Hollmanns Rh. Mus. L (1895) 112, ihn als ,Totensühnerin‘ zu deuten, ist nicht ernst zu nehmen.

Daß die Bewohner von Erythrai mit Ungestüm ihre Ansprüche auf die S. Herophile geltend machten (Paus. X 12, 7), ist schon oben dargelegt worden. Auch das Gedicht der S.-Grotte enthält eine unverkennbare polemische Tendenz: speziell der v. 3 richtet sich scharf gegen die Beibehaltung von v. 4 des Vierzeilers bei Paus. X 12, 3, den die Erythräer getilgt wissen wollten.

Außer dem Widerspiel dieser Polemik erfahren wir aber aus dem genannten Gedichte noch einiges mehr: Die S. weissagt – gleich nach ihrer Geburt, ein bereits erwähnter Sagenzug – auf einem Felsen sitzend; so sieht man sie auf dem Revers der obengenannten Bronzemünze von Erythrai bei Imhoof-Blumer Monn. grecq. (1883) 288 nr. 63 dargestellt – abgebildet im Catal. of the greek coins des Brit. Mus., Ionia Taf. XXXVIII 10, darnach bei Buchholz in Roschers Myth. Lex. IV 798, vgl. Head HN² 579. – Von Interesse ist ferner der mit dem Wesen des Sibyllentums zusammenhängende Hinweis auf die weiten Wanderungen der Seherin. Ähnlich weiß Paus. X 12, 1 u. 5 betreffs der Herophile, die bald als Marpesserin, bald als Erythräerin galt, manches über ihren Aufenthalt in der Fremde zu berichten. So sei sie in Delphoi, Delos, Klaros erschienen und habe einen großen Teil ihres Lebens in Samos verbracht. Man wird diese Erzählungen in der Weise aufzufassen haben, daß an den betreffenden Orten zu gewisser Zeit Sprüche auftauchten, die man auf eine S. bezog. Buchholz a. a. O. 793f. will aus den Berichten über derlei Wanderungen bezw. über das Verweilen in einer bestimmten Stadt auf einen S.-Kult daselbst schließen.

Der Erythraia schrieb ihr Landsmann Apollodoros die Verkündigung eines besonderen Ereignisses zu nach Varro bei Lactant. div. inst. I 6, 9 camque Grais Ilium petentibus vaticinatam et perituram esse Troiam et Homerum mendacia scripturum. Er wird damit etwas, was naturgemäß zunächst der in der Troas lokalisierten S. zugekommen wäre, die er nicht gelten ließ, auf die heimische übertragen haben[7]. Da nun im ältesten jüdischen Buch der Orac. Sib. III 419ff. gleichfalls von dem ψευδογράφος πρέσβυς, Homer, als Nachahmer der S. zu lesen ist, vermutete Mras Wien. Stud. XXIX (1907) 45, es habe jener Apollodoros, dessen Zeit wir nicht kennen, auf die erwähnte Stelle Bezug genommen. Doch kann seine Mitteilung ebensogut auf älterer griechischer Quelle beruhen, wie dies zweifellos betreffs der Verse des jüdischen Sibyllisten gilt, vgl. [2087] Geffcken N. Jahrb. f. d. class. Altert. XV 1912, 595.

Das angeblich der Erythraia zugehörige Bruchstück bei Phlegon περὶ μακροβ. 4 = FHG III 610 führt die Seherin redend ein. Sie spricht zunächst von der Art ihrer Weissagung, um dann zu melden, daß sie aus Neid und Mitleid durch Apollons Pfeil den Tod finden werde. Gleichwohl vergehe ihre Prophetie nicht. Von ihres unbestatteten Leibes Blut getränkt werde die Erde reichen Graswuchs sprießen lassen; hiedurch genährt würden die Tiere, welche die Überreste ihres Körpers verzehrten, den Keim der Weissagung in sich aufnehmend, den Sterblichen die Zukunft offenbaren (Eingeweideschau und Vogelflug). Daß man es mit einem erst hellenistischer Zeit angehörigen Gedichte zu tun hat, verrät nicht bloß das sprachliche Gewand – wie die junge Form φθονέσας oder der Ausdruck πτεροείμονες –, sondern auch der rationalistische Inhalt, der die Art des Euhemeros nicht verkennen läßt, vgl. Μras 39ff.

Mit der Herophile brachte Knaack Festg. f. Susemihl 1898, 78ff. im Anschluß an eine Bemerkung Tümpels (s. o. Bd. I S. 2746) die Heldin des hellespontischen Liebesidylls Hero in Zusammenhang, indem er in ihrem Namen das Hypokoristikon zu Ἡροφίλη sah und in den beiden Gestalten gewisse gemeinsame Züge erkennen wollte. Den vorgetragenen Ansichten kann man sich indes keineswegs anschließen. Gute Einwände erhob Ehwald Berl. phil. Wochenschr. 1898, 907f.

Die Tradition des Sibyllentums machte sich in Erythrai auch noch zur Zeit Alexanders d. Gr. geltend. Nach dem Zeugnisse des Kallisthenes Script. rer. Alex. Μ. frg. 36 Μ. bei Strab. XVII 43 p. 814 weissagte daselbst Athenais περὶ τῆς εὐγενείας Ἀλεξάνδρου, eine ,Seherin‘, die mit der erythräischen S. in Vergleich gestellt wird: καὶ γὰρ ταύτην ὁμοίαν γενέσθαι τῇ παλαιᾷ Σιβύλλῃ τῇ Ἐρυθραίᾳ, vgl. Strab. XIV 34 p. 645 κατ’ Ἀλέξανδρον δὲ ἄλλη ἧν τὸν αὐτὸν τρόπον μαντική καλούμενη Ἀθηναΐς, ἐκ τῆς αὐτῆς πόλεως (Erythrai); hierzu Kampers Alex. d. Gr. u. die Idee d. Weltimperiums in Prophetie u. Sage 173.

3. Auch die Insel Samos galt als wenigstens zeitweilige Wohnstätte einer S. Dort soll nach Paus. X 12, 5 die Herophile einen großen Teil ihres Lebens verbracht haben[8]. Hingegen gedachte einer selbständigen samischen S. Eratosthenes in den Chronographiai – Knaack o. Bd. VI S. 382 – nach Varro bei Lactant. div. inst. I 6, 9: sextam Samiam, de qua scribat Eratosthenes in antiquis annalibus Samiorum repperisse se scriptum. Es hätte also der genannte Gelehrte alte ὧροι Σαμίων benutzt: Müller FHG IV 287 dachte an die des Aethlios von Samos, s. Schwartz o. Bd. I S. 699. Als den Namen dieser Seherin nennt uns die Theosophie Φοιτώ: diese – offenbar ursprüngliche – Form hat Lachmann auch bei Tibull. II 5, 68 aus hsl. Phoebo hergestellt. Der Name, mit φοῖτος ,Umherschwärmen, Rasen‘ zusammenhängend, paßt gut auf eine verzückte Prophetin. In jüngeren Berichten, wie bei Clem. Alex. Strom. I c. 21, 132, 1 St., im Schol. [2088] Plat. Phaidr. 244 B und in einem der Indices bei Suidas (in Rasur auch bei Ioann. Laurent. Lyd. de mens. IV 47 W.), steht infolge hellenistischer Aussprache des Diphthongen bereits Φυτώ geschrieben, was auch im ,Prolog‘ überliefert ist. Die letztere Namensform wollte übrigens Diels Sibyll. Blätt. 53 A. durch Beziehung auf die Kultsphäre der Demeter erklären. – Die Bemerkung bei Isid. orig. VIII 8: sexta Samia, quae Phemonoe dicta est, a Samo insula, unde fuit cognominata hat schon Maaß 50 richtig beurteilt, indem er die Herkunft des Relativsätzchens aus Serv. Aen. III 445 nachwies.

Eine chronologische Notiz betreffs der samischen S. gibt Hieronymus zum J. 712 v. Chr., Euseb. VII p. 91, 13 Helm: Sibylla, quae et ⟨H⟩erofila in Samo insignis habetur, vgl. aber auch zum J. 666 p. 94, 12.

Von dieser Seherin erzählt Val. Max. I 5 ext. 1 eine Anekdote: Die Samier hätten den Bewohnern von Priene, die ihre Hilfe gegen die Karer erbaten, ,adrogantia instincti pro classe et exercitu Sibullam ... derisus gratia‘ geschickt. Diese durch den Zusammenhang sowohl wie durch die Epitome des Iulius Paris durchaus gesicherte Lesung hätte Buchholz 801 nicht wieder durch die – von Pighius infolge falscher Auffassung der im Bernensis u. a. vorliegenden Form symbulam eingeführte – Lesart cymbulam ersetzen sollen, zumal Alexandre Excurs. ad Sibyll. 36f. längst den richtigen Sachverhalt auseinandergesetzt hat. Die Geschichte erinnert an die Erzählung von der Sendung des Tyrtaios, Maaß 61, 22. Bouche-Leclercq II 176.

Neben der S. von Marpessos, Erythrai und Samos erscheinen andere im Gebiete Kleinasiens lokalisierte als recht abgeblaßte Gestalten.

4. Eine solche ist die Seherin von Klaros bei Kolophon. Nach dem Gewährsmann des Paus. X 12, 5 wäre auch sie identisch mit Herophile, die dort ebenfalls erschienen sei. Bei Suidas wird eine Σίβυλλα Κολοφωνία, mit dem besonderen Namen Λάμπουσα erwähnt: sie gilt als Sproß des Sehers Kalchas, der nach dem troischen Kriege dem Mythos zufolge in jene Stadt gelangt sei, vgl. Bouche-Leclercq II 175f. In dieser Prophetin sieht Immisch Klaros, Jahrb. f. Phil. Suppl. XVII (1890) 144ff. keine bloße Erfindung, indem er meint, die Gestalt der Priesterin eines dortigen alten Sonnenkultes hätte späterhin den Typus der ionischen S. von Erythrai und Samos angenommen. Nach der Verarbeitung des thebanischen Sagenstoffes in Asien habe diese klarisch-kolophonische Seherin den Namen der Thebanerin Manto erhalten, Immisch in Roschers Myth. Lex. II 2328.

5. Eine phrygische S. ließ, wie schon bemerkt, Herakleides Pont. frag. 96 Voß = frg. I Tresp unter dem Namen Artemis in Delphoi erscheinen. Nach der oben erwähnten Theosophie hätte diese Seherin viel früher gewirkt als die hellespontische, während sie Varro zu Ankyra weissagen ließ, bei Lactant. div. inst. I 6, 12 nonam Phrygiam, quae vaticinata sit Ancyrae. Vielleicht gab es eine dunkle Tradition von einer in Phrygien tätigen, aber von der marpessischen oder hellespontischen unabhängigen S. In dem (auf Hesychios beruhenden) Index bei Suidas werden [2089] ihr verschiedene Namen beigelegt: Σίβυλλα Φρυγία ἡ κληθεῖσα ὑπὸ τινων Σάρυσις, ὑπὸ δέ τινων Κασσάνδρα, ἄλλων δὲ Ταραξάνδρα; der letztere Name liegt auch bei Clem. Alex. Strom. I c. 21, 132, 1 Stähl. vor. In ihm sah Alexandre Excurs. ad Sibyll. 29 ebenso eine Variante für Kassandra, wie Alexandra bei Lykophron. Manchem mochte angesichts des trüben Inhaltes der Weissagung Kassandra, Priamos’ Tochter, in ihrem ‚dämonischen Seelenzwang‘ (Rohde Psyche5.6 II 69) als eine S. erscheinen, so daß man an ihren Namen anknüpfte. – Den seltsamen Namen Σάρυσις wollte Maaß durch Ἄρτεμις ersetzt wissen.

6. Kaum wahrnehmbar sind die Spuren einer Σαρδιανή, die Philetas von Ephesos FHG IV 474 (Schol. Aristoph. Vög. 962) und Aelian. var. hist. XII 35 erwähnen. Diese Bezeichnung steht vielleicht der Nachricht des Nikolaos von Damaskos frg. 67 (FHG III 406) nicht ganz ferne, wonach Kyros die S. Herophile aus Ephesos zu sich berief: die Geschichte von Kroisos auf dem Scheiterhaufen, bei der sie dort eine Rolle spielt, geht bei Nikolaos in Sardes vor sich, vgl. Bouche-Leclereq II 178f.

7. Einer angeblichen rhodischen S. wird erst in späteren Quellen, bei Suidas und in der Osterchronik gedacht. Was es mit ihr für eine Bewandtnis hat, erscheint kaum fraglich. Es gab manche Weissagungen, die sich auf die Geschicke von Rhodos bezogen, vgl. Pausan. II 7, 1. Orac. Sib. IV 101. VIII 160 (VII 1): aus solchen offenkundig auf ältere Sprüche zurückgehenden Stellen konnte sich leicht die Meinung ergeben, sie rührten von einer rhodischen Seherin her.

8. Von den auf dem europäisch-hellenischen Festlande lokalisierten S. ist vor allem die delphische zu nennen. Es ist an sich nicht zu verwundern, daß man mit dem uralten Sitze apollinischer Seherweisheit, die ja auch durch den Mund einer Frau, der Priesterin Pythias, verkündigt ward, eine S. in Beziehung brachte. Herakleides Pont. frg. 96 Voß = I Tresp läßt eine solche namens Artemis aus Phrygien dahin gelangen. Offenbar hat sie als identisch zu gelten mit der bei Philetas von Ephesos FHG IV 474 erwähnten, die sich Apollons Schwester genannt habe, und zwar ,διὰ ποιήσεως‘, womit das Gedicht gemeint ist, dessen Eingang Clem. Strom. I c. 21, 108, 2 Stähl. bewahrte:

ὦ Δελφοί, θεράποντες ἑκηβόλου Ἀπόλλωνος.
ἦλθον ἐγὼ χρήσουσα Διὸς νόον αἰγιόχοιο
αὐτοκασιγνήτῳ κεχολωμένη Ἀπόλλωνι.

Ähnlich heißt es bei Paus. X 12, 2, die in Delphoi erschienene Herophile hätte sich ,ἐν τοῖς ἔπεσιν‘ als Artemis und auch als Ἀπόλλωνος γυνὴ γαμετή, τότε δὲ ἀδελφὴ καὶ αὖθις θυγάτηρ bezeichnet; auch hier ist also ein Hinweis auf jenes ποίημα zu erkennen. Während durch diese Verwandtschaftswörter die enge Beziehung der S. zu dem Sehergotte ausgedrückt wird, der von ihr Besitz ergriffen hat, ist andrerseits aus dem Wortlaute (κεχολωμένη) sichtlich eine scharfe Rivalität gegenüber dem Apollonorakel zu entnehmen. Die Gegnerschaft sibyllinischer Weissagung und delphischer Orakelsprüche mochte eine ausgesprochene sein; lesen wir doch in dem Gedichte bei Phlegon περὶ [2090] μακροβ. c. 4 v. 7 καὶ τότε μοι φθονέσας Λητοῦς ἐρικυδέος υἱὸς μαντοσύνης ... also vom Neide des Apollon, der einer der Beweggründe ist, warum er sie mit seinem Pfeile tötet. Keinesfalls wird die Priesterschaft von Delphoi von der S.-Prophetie wegen der Konkurrenz erbaut gewesen sein; vgl. auch Geffcken N. Jahrb. f. d. class. Alt. XV 1912, 594.

Wenn bei Plut. de Pyth. orac. 9 p. 398 C berichtet wird, die Seherin sei vom Helikon herbeigekommen ὑπὸ τῶν Μουσῶν τραφεῖσα, so soll damit auf ihre Erleuchtung und Begeisterung hingewiesen werden. Ebenda liest man, sie habe auf einem Felsen ,κατὰ τὸ βουλευτήριον‘ sitzend geweissagt; hierzu vgl. Homolle Bull. hell. XVII 613.

Wenig wahrscheinlich ist Buchhοlz’ Annahme 799 (vgl. 794), es sei ein älteres S.-Orakel durch den pythischen Dienst verdrängt worden, da weder die historischen Quellen noch auch die griechische Dichtung, soweit sie auf die Begründung des delphischen Seherheiligtums Bezug nimmt, hiervon eine Andeutung geben, vgl. Hom. Il. IX 405. Hom. Hymn. Apoll. Pyth. 210ff. Aischyl. Eum. 1ff. (Erzählung der Pythias von der Einsetzung des Orakels).

Von der delphischen S. sprach auch Chrysippos περὶ μαντικῆς, Stoic. vet. frg. II 348 (nr. 1216) Arnim, nach Varro bei Lactant. div. inst. I 6, 9: tertiam Delphida, de qua Chrysippus loquatur in eo libro, quem de divinatione conposuit. In einzelnen von Varro abhängigen Berichten gilt diese S. schon als in Delphoi geboren, so in der Theosophie, wo sie als ,τρίτη Δελφὶς ἡ ἐν Δελφοῖς τεχθείσα‘ bezeichnet wird, ,περὶ ἧς εἶπε Χρύσιππος ἐν τῷ περὶ θεότητος βιβλίῳ‘ (falsche Übersetzung von Varros ,de divinatione‘).

9. Von einer Σίβυλλα Θετταλή ist die Rede außer der bloßen Nennung bei Clem. Alex. Strom. I c. 21, 132, 1 St. – der ebenda auch eine Μακέτις, also makedonische S. erwähnt – in dem auf Hesychios beruhenden Kataloge bei Suidas: Σίβυλλα Θετταλὴ ἡ κληθεῖσα καὶ Μαντώ, ἀπόγονος Τειρεσίου. Damit ist also die Seherin Manto gemeint, die gemäß dem kyklischen Epos Epigonoi frg. 4 (Hom. Oper. V 116 Allen) nach Thebens Einnahme als Siegesbeute nach Delphoi gelangt wäre, Schol. Apoll. Rhod. A 308. Die Bezeichnung ,thessalische S.‘ erklärt Diodor. IV 66. Des Teiresias Tochter – hier heißt sie Daphne, vgl. Waser o. Bd. IV S. 2140 Nr. 7 – sei ob ihrer Seherkunst ‚Sibylle‘ zubenannt worden. Auf sie wurde auch die sonst auf Herophile bezogene Nachricht übertragen, Homer habe durch manches, was er ihrer Prophetie entnahm, seine Dichtungen geschmückt.

10. Mit dem Namen einer S. belegte man gelegentlich eine thesprotische Seherin, Θεσπρωτίς bei Clem. Strom. I c. 21, 132, 1 St. und in dem obengenannten Verzeichnisse bei Suidas. Vielleicht steht sie in einer Beziehung zu der bei Paus. X 12, 10 angeführten Phaennis, die angeblich fürstlichen Geblütes – θυγάτηρ βασιλεύσαντος άνδρός – im Gebiete der epeirotischen Völkerschaft der Chaonen göttliche Weissagungen verkündet habe, ähnlich wie die Πέλειαι in Dodona: doch fügt der Perieget hinzu (mit Bezug auf beide): Σίβυλλαι δὲ ὑπὸ ἀνθρώπων οὐκ ἐκλήθησαν. Bei Zosim. II 36, 2, der ein, wie es scheint, [2091] aus zwei verschiedenen Sprüchen zusammengeschweißtes längeres Stück im Stile der S.-Orakel (Mendelssohn in der Zosimosausg. 93 A.) auf sie oder die Erythraia bezieht, liegt mit kleiner Variante des Hypokoristikons die Namensform Phaenno vor. Bei Paus. X 15, 3 werden ihr gutgebaute Verse über den Galatereinbruch in Kleinasien zugeschrieben.

11. Reichlich fließen die Nachrichten über die S., als deren Wohnsitz die älteste der hellenischen Kolonien in Großgriechenland, das campanische Kyme (Cumae) galt. Sie genoß im Altertum einen Ruf, der demjenigen der Erythräerin nicht allzu sehr nachstand. Die genannte Stadt ward nach Strab. V p. 243 von Chalkis und Kyme auf Euboia aus begründet: Κύμη Χαλκιδέων καὶ Κυμαίων παλαιότατον κτίσμα, von Chalkidiern nach Thuk. VI 4, 5 (Vell. Paterc. I 4, 1), nachdem zuerst, wie Liv. VIII 22 meldet, die dem Festlande gegenüberliegenden Inseln besiedelt worden waren, vgl. das sibyllinische Orakel bei Phlegon περὶ θαυμασ. 10 v. 53–56 und hierzu Diels Sibyll. Blätt. 98. Nur aus Lokalpatriotismus scheint Ephoros, auf den die Angabe bei [Skymnos] 236f., Cumae sei zuerst durch Χαλκιδεῖς, dann durch Αἰολεῖς besiedelt worden, zurückgeht, an einen Zusammenhang der Gründung mit seiner eigenen Vaterstadt, dem in der kleinasiatischen Aiolis belegenen Kyme gedacht zu haben. – Die römischen Dichter bezeichnen die cumäische Seherin des öfteren als Euboica – Martial. IX 30. Stat. Silv. I 2, 177. IV 3, 24 (vgl. Verg. Aen. VI 2, 42. Ovid. met. XIV 155) –, die S.-Orakel aber als Euboicum carmen, wie Ovid. fast. IV 257, VI 210 oder Chalcidicum carmen Stat. Silv. V 3, 182.

Von dieser S. soll der nicht weiter bekannte einheimische Schriftsteller Hyperochos in seinen Κυμαῑκά FHG IV 434 (vgl. Jacoby o. Bd. IX S. 321) bei Paus. X 12, 8 berichtet haben (vorsichtig drückt sich über die Autorschaft des Werkes aus Athen. XII 528 d: ὥς φησιν Ύπέροχος ἢ ὁ ποιήσας τὰ εἰς αὐτὸν ἀναφερόμενα Κυμαῑκά). Nach ihm hieß sie Δημώ, wohl Hypokoristikon für Δημοφίλη, da im varronischen Katalog gesagt wird (Lactant. div. inst. I 6, 18): septimam Cumanam nomine Amaltheam (der Name auch bei Tibull. II 5, 67), quae ab aliis Herophile vel Demophile nominetur. Einzelne Gelehrte wollten dem Namen Δημώ eine besondere Bedeutung zuerkennen, wie Diels 53 A., der darin eine Bezugnahme auf Δημήτηρ (‚Freundin der Demeter‘) sah. – Der andere bei Varro erwähnte Name Herophile beruht natürlich auf der Identifizierung mit der berühmten Erythräerin, wodurch ein bestimmter Zusammenhang des ost- und westhellenischen Sibyllentums ersichtlich gemacht werden sollte. Übrigens ist das Vorhandensein einer, wenn auch späten, Variante nicht ganz zu übersehen: die Theosophie des Mutin. u. Ottob. bietet nämlich die Form Ἱεροφίλη, die bei Ioann. Laurent. Lyd. de mens. IV 47 (hier ἱεροφύλη) und bei Suidas wiederkehrt; hieraus konnte durch Verlust des anlautenden Vokals leicht ἐροφίλη werden, das im Prolog des Anonymus zu den Orac. Sibyll. und im Scholion zu Plat. Phaidr. (ἐρωφίλη) vorliegt. – Die Wahl des Namens Amaltheia für die Cumäerin läßt sich kaum in überzeugender Weise erklären, da ein Zusammenhang mit der Nymphe [2092] gleichen Namens, die Zeus pflegte (Bouché-Leclercq II 160), nicht erweisbar ist. – In der Theosophie und einem Teile der von ihr abhängigen Berichte (Prolog, Schol. Plat.) erscheint außerdem der Name Taraxandra, dem wir schon bei der phrygischen S. begegneten. Sonst liegt noch bei [Aristot.] θαυμάσ. ἀκούσμ. p. 838 a 5 (aus Timaios, vgl. Müllenhoff Deutsche Altertumsk. I 468. Geffcken Timaios’ Geogr. d. West. 145, 32) die Bezeichnung ,Melankraira‘ vor, welche Diels 123, 1 auf die dunkle Farbe eines κάλυμμα der S. beziehen wollte. – Einen sonst unbekannten Namen gibt der Cumaea Verg. Aen. VI 36: Deiphobe Glauci, vgl. Kern o. Bd. IV S. 2404. Dort ist sie also Tochter des weissagenden Meerdämons Glaukos[9], s. Weicker Art. Glaukos Nr. 8. 9, o. Bd. VII S. 1408ff., der nach Ovid. met. XIV 35f. 69f. auch von der in der Nähe von Cumae hausenden Κίρκη geliebt wurde, Serv. Aen. III 420. Hygin. fab. 199. Seinen Namen wollte Bleek voreilig in die Orac. Sibyll. III 815 einführen, indem er für das fehlerhaft überlieferte Κίρκης καὶ γνωστοῖο (s. unten) πατρός zu schreiben vorschlug: καὶ Γλαύκοιο πατρός.

Ein Gewebe von mancherlei Sagen knüpft an die cumäische S. an. Zunächst steht sie der Erythräerin nahe, deren Namen Herophile ihr einige gaben, ja sie gilt als diese selbst, die von Erythrai herübergekommen sei, um in Cumae ihre weissagende Tätigkeit fortzusetzen; solches berichtete Timaios a. a. O.[10]. Es mochten aus Erythrai S.-Sprüche nach Cumae gelangt sein: dies will jene Erzählung zum Ausdruck bringen. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch die Notiz bei Serv. Aen. VI 36: ducitur tamen Varro, – der sich fragt, ,a qua sint fata Romana (die sibyllinischen Schicksalsbücher) conscripta‘ – ut Erythraeam credat scripsisse ... Auf solchen Überlieferungen wie auf eigener poetischer Erfindung beruht die Darstellung Ovid. met. XIV 136ff. Darnach erhielt die S. von Apollon, der in Liebe zu ihr entbrannt ist, so viel Lebensjahre zugesichert, als ein Klumpen Sand Körner enthalte. Nach Serv. Aen. VI 321 (aus Timaios, bei Geffcken 146, 4), wo von dem ,pius amor' des Gottes die Rede ist, gesteht er es unter der Bedingung zu, daß sie ‚Erythraeam, in qua habitabat, insulam‘ verlasse und erythräische Erde nimmer schaue. So sei sie nach Cumae gezogen: illic defecta corporis viribus vitam in sola voce retinuit. Auf die Kunde hiervon hätten ihre früheren Landsleute aus Erbarmen oder Mißgunst ihr einen mit erythräischer Erde gesiegelten Brief gesandt: kaum daß sie diesen erblickte, habe sie ihr Ende gefunden.

Als Wohnsitz der S. in Cumae ward nach [Aristot.] θαυμάσ. ἀκούσμ. (= Timaios, Geffcken 145, 28) ein θάλαμος κατάγειος gezeigt, vgl. Lykophr. 1276ff. Ein ἄντρον συνηρεφές erwähnt Ioann. Laurent. Lyd. de mens. IV 47 W. Eine Schilderung der Behausung der S. (die von Babylon nach Cumae gekommen sei, vgl. Orac. Sib. III 809) wird nach Autopsie bei [Iustin.] Cohort. ad [2093] Graec. 37 gegeben: ... αὐτοὶ ... ἐθεασάμεθα ... ἐν τῇ πόλει γενόμενοι καὶ τινα τόπον, ἐν ᾧ βασιλικὴν μεγίστην ἐξ ἑνὸς ἐξεσμένην λίθου ἔγνωμεν, πρᾶγμα μέγιστον καὶ παντὸς θαύματος ἄξιον. Es wäre also eine in den gewachsenen Felsen gehauene Halle, eine Art künstlicher Grotte gewesen, über deren Einrichtung der Verfasser nach den Erklärungen der Fremdenführer anschaulich berichtet; vgl. damit die bei Verg. Aen. VI 42 vorliegende Bezeichnung excisum Euboicae latus ingens rupis in antrum. Diese Grotte ist am Fuße des Hügels zu denken, der die Akropolis Cumaes und den Apollontempel trug (rupe sub ima Verg. Aen. VI 443). Er ist gegenwärtig von zum Teil verschütteten Stollen, Gängen und Höhlen durchfurcht, Beloch Campanien, Berlin 1879, 160f. Chiappelli L’antro della Sibilla di Cuma descr. nel IV sec. d. Cr., Atti d. r. aceadem. di scienze mor. e pol. di Napoli XXXI (1900). Vgl. auch Nissen Ital. Landeskde., Berlin 1902, II 2, 725ff. Norden Verg. Aen. B. VI (1903) 132ff., der 133 auf Analoga anderer Grotten als Weissagestätten hinweist. Corssen D. Sibylle im 6. Buch der Aeneis, Sokrates I (1913) 2ff. Noch im 6. Jhdt. entwirft Agath. I 10 eine Schilderung der Grotte und auch Prokop. bell. Goth. I 14, 3 kennt die Tradition. Man zeigte dort auch ein ehernes Behältnis mit Überresten der S. [Iustin.] a. a. Ο. φακόν τινα ἐκ χαλκοῦ κατεσκευασμένον, ἐν ᾧ τὰ λείψανα αυτῆς σῴζεσθαι ἔλεγον. Eine Variante dieser Mitteilung liegt bei Paus. X 12, 8 vor, der von einer λίθου ὑδρία οὐ μεγάλη redet, in welcher jene Überbleibsel ruhten.

So ward die S. von Cumae als eigene Individualität aufgefaßt, vgl. Bouche-Leclercq II 186. Ihre Sprüche sollen nach Varro bei Serv. Aen. III 444 (vgl. zu VI 74) auf Palmblättern aufgezeichnet worden sein: vielleicht liegt in dieser Nachricht eine Bezugnahme auf eine Palme im apollinischen Heiligtum, wo die S. weilte, wie Diels 56, 4 vermutete.

Für die Legende vom Verkaufe der sibyllinischen Bücher, die das Erscheinen der Sprüche in Rom mit romantischem Schimmer umkleidet, bildet Varro bei Lactant. a. a. O. die Hauptquelle; nur kleine Abweichungen ergeben sich aus den jüngeren Berichten. Dies gilt bezüglich der Person des Königs, der die Bücher übernimmt: statt Tarquinius Priscus (Varro) wird – bei Dion. Hal. IV 62, 2. Plin. n. h. XIII 13, 88 (man beachte aber XXXIV 11). Gell. n. A. I 19 (mit Berufung auf antiqui annales). Solin. II 17 Μ.² und Cass. Dio II frg. 11 B. (= Zonar. ann. VII 11) – Superbus genannt. Livius schweigt über diese Sache, Serv. Aen. VI 72 begnügt sich mit dem bloßen Namen Tarquinius. – Als Überbringerin wird in einem Teile der Überlieferung eine fremde alte Frau, nicht ausdrücklich die S. von Cumae erwähnt. Sie heißt Amaltheia (wie einer der Namen bei Varro lautet) bei Gellius, Servius und Ioann. Laurent. Lyd.

Ob die Cumäer selbst das Andenken ihrer S. durch Anbringen ihres Bildnisses auf den Stadtmünzen ehrten, ist nicht ausgemacht. Denn der weibliche Kopf auf Silberstücken der Stadt aus dem 5. Jhdt. braucht nicht, wie Head HN² 37, allerdings zweifelnd, vermutet, derjenige der S. zu sein, da er keine charakteristischen Merkmale [2094] ausweist. Hingegen ist das auf den römischen Denaren des L. Manlius Torquatus bei Babelon Monn. de la republ. Rom. II 180 unter nr. 11 und 12 innerhalb eines Lorbeerkranzes dargestellte treffliche Bildnis mit der Unterschrift SIBVLLA als das der Cumaea anzusprechen; sie erscheint hier mit Efeu bekränzt. Ein Vorfahr des prägenden L. Manlius mag, wie Babelon vermutete, dem Collegium sacris faciundis angehört haben, worauf der Dreifuß auf dem Revers hinwiese. Auch die Deutung des Frauenkopfes auf einem Denar des T. Carisius (ebd. I 316 nr. 10) als eines S.-Bildes wird zutreffen, da auf dem Revers die Darstellung einer (rätselaufgebenden) Sphinx erscheint, die auf griechischen Münzen mit S.-Bildnissen in Beziehung steht.

Wenn gelegentlich von einer lucanischen S. gesprochen wird – Suidas im ersten Index: ἄλλοι Λευκανὴν ... ἐδόξασαν – so ist damit die Cumaea gemeint: [Aristot.] θαυμάσ. ἀκούσμ. a. a. O. (aus Timaios bei Geffcken 145, 33): τοῦτον δὲ τὸν τόπον (Cumae) λέγεται κυριεύεσθαι ὑπὸ Λευκονών.

Der Ruhm der Seherin des campanischen Kyme mag bei den Bewohnern der äolischen Stadt gleichen Namens, zumal ihr heimischer Geschichtschreiber Ephoros sie, wie erwähnt, für die Mutterstadt jener erklärte, den Wunsch rege gemacht haben, ebenso wie die nicht allzu weit entfernten Orte Gergis und Erythrai als Wohnsitz einer S. zu gelten. Denn wir stoßen auf wenngleich schwache Spuren einer solchen Überlieferung. Auf eine Fiktion dieser Art weist zunächst Petronius c. 48, wo Trimalchio, der als junger Mensch aus Kleinasien nach Italien gelangt sein will (c. 75). von der S. erzählt: Sibyllam quidem Cumis ego ipse oculis meis vidi in ampulla pendere et cum illi pueri dicerent ,Σίβυλλα, τί θέλεις;‘ respondebat illa ,ἀποθανεῖν θέλω‘. Daß sich dieses Geschichtchen auf die kleinasiatische Stadt Kyme bezieht, ist durch Bücheler Rh. Mus. LVII (1902) 327 wahrscheinlich gemacht worden trotz der Widerrede Friedländers Petron. cen. Trimalch.² (1906) 278. Es besteht vielleicht, nach Munckers Vermutung, ein Zusammenhang mit Ampelius lib. mem. 8, 16: †argyro est fanum Veneris super mare ...: ibi e columna pendet cavea ferrea rotunda, in qua conclusa Sibylla dicitur. Betreffs des verderbten Eingangswortes vgl. Corssen Athen. Mitt. XXXVIII 22, welcher darin den verstümmelten Namen eines Vorortes von Kyme erkennen will; an Erythrai dachten Rοhde Rh. Mus. XXXII (1877) 638ff. und Kleine Schrift. I Vorr. XVI, A. 1 sowie Maaß 31, 77; Argyronii liest Bürchner o. Bd. VI 583.

Vielleicht steht mit der S.-Tradition vom äolischen Kyme auch der Umstand im Zusammenhang, daß gelegentlich auf den Münzen dieser Stadt ein S.-Bildnis begegnet: so auf einer Bronze bei Imhoof-Blumer Ztschr. f. Numism. XX 279f. nr. 32 aus der Zeit der Antonine mit der Beischrift CIBYΛΛA – daneben der Name der prägenden Gemeinde ΚΥΜΑΙΩΝ –: hierin wird man eine Persönlichkeit sehen dürfen, die, wenn auch nicht mit gutem Rechte, als einheimische Berühmtheit galt – analog dem Gebrauche, heroisierte Personen der Ehre des Bildnisses auf den Münzen ihrer Heimat teilhaftig werden zu lassen [2095] (wie z. B. Sappho in Mytilene und Eresos, Alkaios und Pittakos in Mytilene, Herakleitos in Ephesos). Imhοof freilich möchte jene S. als ,erythräisch-gergithische‘ oder ,samische‘ deuten. Auf einem zweiten älteren Stücke, ebd. nr. 31 Taf. X 15, aus der Zeit der Flavier, ist in dem weiblichen Brustbilde mit Tänie – die Rechte hält einen Lorbeerzweig – gleichfalls eine S. zu erblicken, wenn auch der Name nicht ausdrücklich beigeschrieben steht.

12. Von der Cumaea wird bei Varro die kimmerische S. unterschieden; die ,Cimmeria in Italia‘ gilt ihm als quarta, die Cumana als septima (Lactant. div. inst. I 6, 9f.). Von jener hatte nach seiner Versicherung schon Naevius ,in libris belli Punici‘ = FPR p. 46 B. natürlich bei Erwähnung der Begegnung des Aeneas mit der S. gesprochen und auch Calpurnius Piso habe ,in annalibus‘ = HRF inc. sed. frg. 41 Peter ihrer gedacht. Ihr Sitz war bei den Kimmeriern, die Ephoros an den Avernersee verlegte, bei Strab. V 5 p. 244, indem er die Homerstelle, die sie betrifft, Od. XI 15f., eigenartig erklärte; vgl. Fest. s. Cimmeri 37 Lindsay: ... quales fuerunt inter Baius et Cumas in ea regione, in qua convallis satis eminenti iugo circumducta est, quae neque matutino neque vespertino tempore sole contingitur (Serv. Aen. VI 107); von einem Cimmerium oppidum in dieser Gegend zwischen dem Lucriner- und Avernersee spricht Plin. n. h. III 9. Nach Aurel. Vict. de orig. gent. Rom. 10 – unter Berufung auf Acilius Glabrio und Calpurnius Piso – habe Aeneas in oppido quod vocatur Cimbarionis – d. i. das oppidum Cimmerium – die S. befragen wollen. Daselbst befand sich ein μαντεῖον χθόνιον (Totenorakel), da am Avernersee der Eingang in die Unterwelt gedacht war, Ephoros bei Strab. V 5 p. 244, vgl. Norden 117. Da auch an der Südseite des Sees eine Grotte besteht, die nicht mit der unterhalb der Akropolis von Cumae zu verwechseln ist (Beloch Campan. 171) – den heutigen Reisenden wird sie als die eigentliche Stätte der S. gezeigt –, ist mit Corssen Sokrates I 9ff. zwischen den beiden Orakelsitzen und Seherinnen wohl zu unterscheiden. Naevius erzählte von der Befragung der kimmerischen S. durch Aeneas, Vergil verknüpfte den Dienst der Erdgöttin am Avernersee, die mit der Hekate identifiziert wurde (Norden 117f.), und des Apollon in Cumae, indem er den Aeneas sich an die cumäische S. wenden läßt, welche vor allem als sagenhafte Überbringerin der sibyllinischen Bücher nach Rom im Gedenken des Volkes lebte. Aber unter dem Einflusse des Naevius verzichtete er, wie Corssen 15f. trefflich ausführte, nicht ganz auf die Legende vom Totenorakel am Avernersee, weshalb ihm die S., wenn auch nicht vorzugsweise, immerhin zugleich als Triviae sacerdos, als Hekatepriesterin, gilt. Eine Kultgemeinschaft des Dienstes der alten Erdgöttin (= Hekate) und des durch die Kolonisten neu hinzugekommenen Gottes Apollon nimmt Norden 118 an.

13. Bei Clem. Strom. I c. 21, 108, 3 Stählin wird eine italische S. besonderer Art angeführt: ἐῶ δὲ τὴν Αἰγυπτίαν καὶ τὴν Ἰταλήν, ἣ τὸ ἐν Ῥώμῃ Κάρμαλον ᾤκησεν, ἧς υἱὸς Εὔανδρος ὁ τὸ ἐν Ῥώμῃ τοῦ Πανὸς ἱερὸν τὸ Λουπέρκιον καλούμενον κτίσας. Hier ist eine Kombination [2096] mit einer angeblich weissagenden italischen Gottheit, der Carmenta (s. Aust o. Bd. III S. 1594f.), erfolgt, die nach Liv. I 7, 8 schon ante Sibyllae in Italiam adventum bei den Bewohnern des Landes in hohen Ehren stand. Mit kleinen Varianten ist jene Notiz in der Theosophietradition an die Erwähnung der τετάρτη – ἡ Ἰταλική, ἡ ἐν Κιμμερίῳ τῆς Ἰταλίας – unberechtigterweise angeschlossen worden.

14. Ähnlich ist in der von Varro an letzter Stelle (Lactant. div. inst. I 6, 12) angeführten Tiburs, nomine Albunea, ,quae Tiburi colatur ut dea iuxta ripas amnis Anienis‘, eine italische Gottheit, eine Quellnymphe, zu sehen (Verg. Aen. VII 82. Horat. carm. I 7, 12), auf die man das Wesen einer S. übertrug: man kann in ihr einen Ableger der cumäischen S. erblicken. Bei Serv. Aen. VII 83 wird ihr Name Albunea ab aquae qualitate hergeleitet und durch die griechische Bezeichnung Leukothea wiedergegeben; Verg. a. a. O. Tibull. II 5, 69, vgl. Wissowa o. Bd. I S. 1337. Aus der griechischen Namensform Ἀλβουναία ist in der Theosophie des Mutinensis Ἀμμυναῖα geworden, in älterer Vorlage mag Ἀμμουναία gestanden sein. Wegen des Anklingens an den ägyptischen Gottesnamen Ἄμμων scheint unter Streichung der Τιβουρτία am Schlusse des S.-Katalogs in der Tübinger Theosophie c. 75 (121 B.) beigefügt worden zu sein: ἡ Αἰγυπτία, ᾗ οὔνομα Ἀβουναία (so), vgl. Mras 55. Im ausgehenden Altertum und im Mittelalter gewann der Name der angeblichen tiburtinischen S. besonderes Gewicht, indem ihr Weissagungen unterlegt wurden, die große Bedeutung erlangten; hierüber Sackur Sibyll. Text. u. Forsch. 125ff.

15. Im ersten Index bei Suidas begegnet auch die Bezeichnung Σικελή. Daß auf der Insel Sizilien sibyllinische Sprüche bekannt waren, erhellt aus dem Umstande, daß die Senatskommission nach dem Capitolbrande auch von dorther solche zu beschaffen suchte, Tacit. ann. VI 12. Nach Solin. II 17 Μ.² gab es in Lilybaeum ein Grab der Cumaea: huius sepulcrum in Sicilia adhuc manet (hieraus Isidor. orig. VIII 8, 5), vgl. V 7 Lilybitano Lilybaeum oppidum decus est Sibyllae sepulcro. Heute noch zeigt man dort eine Grotta della Sibilla mit einer von den Einheimischen sehr geschätzten Quelle bei der Kirche S. Giovanni Battista nächst Marsala.

16. Auf fremde Gebiete weisen andere in den uns überlieferten Verzeichnissen genannte S., Gebilde meist jüngerer Zeit: zunächst die libysche, die Varro (Lactant. div. inst. I 6, 8) anführt: secundam Libyssam, cuius meminerit Euripides in Lamiae prologo. Nach Paus. X 12, 1 ward eine weissagende Tochter des Zeus und der von Poseidon erzeugten Lamia von den Libyern S. genannt (ὑπὸ τῶν Λιβύων Σίβυλλαν λέγουσιν ὀνομασθῆναι). Ob es ein euripideisches Stück ,Lamia‘ gegeben hat, ist höchst zweifelhaft. Elmsley zu Eurip. Med. 71. v. Wilamowitz Anal. Eurip. 159. Nauck TGF² S. 506. Da auch aus dem Bruchstück 922 N.², wo der Λαμία Λιβυστική gedacht wird, Näheres nicht zu entnehmen ist, wissen wir nicht, ob und inwiefern Euripides sich etwa über jene angebliche libysche Seherin geäußert; vgl. auch Μ. Mayer Arch. Ztg. XLIII (1886) 126. 21. [2097]

17. Von einer persischen S. spricht Varro gleich im Eingange des S.-Katalogs bei Lactant. div. inst. I 6, 8: primam fuisse de Persis, cuius mentionem fecerit Nicanor (Script. rer. Alex. Magn. 152 Μ.), qui res gestas Alexandri Macedonis scripsit. Auch bei Isid. orig. VIII 8, 3 wird die Perserin für sich genannt. Die übrigen – im Wesen sonst gleichfalls mit Varro übereinstimmenden Verzeichnisse – fassen jedoch die Persis mit der Chaldaia (Χαλδαία ἡ καὶ Περσίς) bzw. mit der Hebraia in eins zusammen, was Bousset Ztschr. f. d. neutestam. Wissensch. (Preuschen) III 1902, 33 auf eine ältere Nebenquelle zurückführte. Gelegentlich blieb dann auch, wie in dem Platonscholion, der Name der Περσίς weg. Man hat natürlich kein Recht, die Chaldäerin oder Hebräerin ohne weiteres mit der Perserin für identisch zu erklären. Entsprechend seiner Auffassung über die Bedeutung von Orac. Sib. III 814 ἐξ Ἐρυθρῆς γεγαυῖαν (siehe unten) hat Mras Wien. Stud. XXIX (1907) 48f. sich für die Gleichsetzung der Perserin mit der babylonisch-chaldäischen S. ausgesprochen; da er die Stelle mit der Ἐρυθρὰ θάλασσα in Zusammenhang bringt, sei der Name ,persische Sibylle‘ geographisch zu erklären, insofern die Landschaft Persis an das Rote Meer grenzt. Indes mochten, wie Athenaïs nach Kallisthenes’ Bericht von der göttlichen Abkunft Alexanders sprach, auch andere ‚Seherinnen‘ seine Taten verherrlichen: noch in unserem S.-Corpus wollen Bousset a. a. O. 37 und besonders Kampers Alex. d. Gr. u. die Idee des Weltimperiums 174 an verschiedenen Stellen, wie III 381ff. (XI 195ff.). IV 86f.; 102, 145. VIII 164 u. s., Reste eines Alexandervaticiniums erkennen, das die Glückszeit für Asien nach der Besiegung der Perser verkündete. Eine wirklich persisch fühlende S. würde sich freilich dem Eroberer gegenüber feindselig verhalten haben, weshalb Geffcken Kompos. u. Entstehungsz. d. Orac.-Sibyll. 3 die v. III 381ff., wo von den Wunden und Schlägen, die Asien und Europa durch den angeblichen Kroniden Alexander sowie die Diadochen verursacht wurden, die Rede ist, auf eine solche bezieht.

18. Von besonderer Wichtigkeit sind die Nachrichten über die chaldäische und hebräische S., und zwar zunächst bei Paus. X 12, 9 und in der Theosophie sowie den davon abhängigen Schriften. Der Perieget spricht von einer γυνὴ χρησμολόγος παρὰ Ἑβραίοις τοῖς ὑπὲρ τῆς Παλαιστίνης, ὄνομα δὲ αὐτῇ Σάββη, während die andere Quelle, worin bereits die Verknüpfung mit der Περσίς vorliegt, besagt: πρώτη οὖν ἡ Χαλδαία ἥγουν ἡ Περσὶς ἡ κυρίῳ ὀνόματι καλουμένη Σαμβήθη, ἐκ τοῦ γένους οὖσα τοῦ μακαριωτάτου Νῶε. Ursprünglich scheint die ‚Seherin bei den Hebräern‘ und die ,chaldäische Sibylle‘ nicht als identisch gedacht gewesen zu sein, vgl. Schürer Gesch. d. jüd. Volk. im Zeitalter Jesu Christi III⁴ 560; einzelne der von der Theosophie abhängigen Berichte setzen bereits beide gleich, wie Ioann. Laur. Lyd. s. ο. (Χαλδαία ἡ καὶ προός τινων Ἑβραία ὀνομαζομένη), fast ebenso ein Katalog bei Suidas.

Der eigentliche Name dieser Seherin hatte nach der Annahme Susemihls Gesch. d. alex. Lit. II 641 A. vielleicht einst im ersten Epilog des [2098] ältesten jüdischen Orakelbuches III 809ff. gestanden (wegen Lactant. div. inst. I 6, 13); Blaß bei Kautzsch D. Apokryph. u. Pseudepigr. d. alt. Testam. II 181 meint, der Name (‚jedenfalls Sambethe‘) sei mit den nach III 811 verlorenen Versen ausgefallen (den Namen und auch noch eine Bezugnahme auf Berossos hält für absichtlich ausgebrochen Geffcken Komp. 4), während Lieger Sib. Hebraea, Jahresber. d. Obergymn. z. d. Schotten, Wien 1906, 24 ihn in das Exordium des Buches verlegte, dem, wie schon Larocque meinte, der jetzt am Schlusse des Buches stehende zweite Epilog v. 819ff. angehört hätte.

Die beiden überlieferten Namen dieser S., über welche auch die Auseinandersetzungen von Beer o. Bd. I A S. 2119 und Greßmann ebd. 1563f. zu vergleichen sind, Σαμβήθη und Σάββη, gehören augenscheinlich zusammen. Wie Schulze Kuhns Ztschr. f. vergl. Sprachf. XXXIII (1895) 378 ausführte, ist der Wechsel von β mit μβ bei Übertragung orientalischer Namen ins Griechische etwas Gewöhnliches. Neben dem Namen des paganisierten Judengottes Σαβαθικός auf Inschriften aus Lydien bei Keil und v. Premerstein Ber. über eine zweite Reise in Lydien, Denkschr. d. Wien. Akad. 1911 II 117f. findet sich auf einer Inschrift aus Naukratis bei Petrie-Gardner Naukratis II 68 nr. 15 ἐν σ⟩υνόδῳ Σαμβαθικῇ; der jüdische Name Σαμβαθαῖος bei Wilcken Griech. Ostraka II nr. 1507 und Σαμβαταῖος ebd. 1508 ist derselbe wie Σαββαθαῖος (Esdr. II 10, 5 Σαββαθαῒ); so steht auch neben der Form Σαββατισταί – Verehrer des θεὸς Σαββατιστής – auf einer kilikischen Inschrift bei Hicks Journ. hell. stud. XII (1891) 233 nr. 16, auf einer zweiten Σαμβατισταί ebd. 236 nr. 17; letztere nachgeprüft von Wilhelm Reis. in Kilik., Denkschr. d. Wien. Akad. phil.-hist. Cl. XLIV 1896, 67, vgl. Greßmann o. Bd. I A S. 1560f. Zu Σαμβήθη (Σαμβάθη) bildet Σάββη ebenso eine hypokoristische Kürzung, wie sie in Σα⟩μβᾶς für das erwähnte Σαμβαθαῖος auf dem Ostrakon bei Wilcken II nr. 1503 vorliegt (beide Bezeichnungen gehen auf dieselbe Persönlichkeit, einen jüdischen Steuerpächter). Vermutungsweise nahm Schulze für den Namen Sabbe, den Ewald Abh. d. Gött. Ges. d. Wiss. VIII (1859) 84 A. als ,Sibylle des Sabbats‘ deuten wollte, einen Zusammenhang mit einer einheimischen (semitischen?) Gottheit an, die zu Thyateira in Lydien im Σαμβαθεῖον ihren Kult hatte, das in einer nach Keil-Premerstein 118 leider nicht mehr auffindbaren Grabschrift CIG II 3509 erwähnt wird: ... πρὸς τῷ Σαμβαθείῳ ἐν τῷ Χαλδαίου (?) περιβόλῳ. An eine Beziehung zu einem synkretistischen (halb jüdischen und halb heidnischen) Kultverein dachte Schürer III⁴ 562, 136. Derselbe Gelehrte hat (Theol. Abh. f. C. v. Weizsäcker 1892, 56) die γυνὴ Ἰεζάβελ, die sich nach Joh. Apok. II 20 für eine προφῆτις ausgab und das Volk von Thyateira zu Götzendienst und Unzucht verführte, mit dem Kulte im Sambatheion und mit der Sambethe in Verbindung gebracht. An diese Annahme knüpft Greßmann 1563 die Folgerung, es sei Ἰεζάβελ als ein Ersatz für Sambethe anzusehen, die eine Göttin der Weissagung und Unzucht gewesen wäre. Auch andere Erklärungen des Namens sind versucht worden. So führt ihn Lewy Phil. LVII (1898) [2099] 57 auf aramäisches sâbâ – sâbe e = ,Greisin, Großmutter‘ zurück, Krauß Byzant. Ztschr. XI (1902) 121 verwies auf den eines Nachkommen (Enkels) des Noah, Σαβαθά, Genes. 10, 7 und Chron. I 1, 9; daher hieße es auch von der Sambethe, sie stamme aus Noahs Geschlecht. Beer 2121 erklärt den Namen Sabbe als ,die vom Sabbatflusse‘, in dessen Nähe angeblich das verbannte Israel weilte. Damit könnte aber dann nur der ,im Osten‘ belegene ,Sabbatfluß‘ gemeint sein, der im Alexanderroman vorkam (Pfister Rh. Mus. LXVI 1911, 463 und A. 2), nicht der phönikische Σαββατικός, dessen Plin. n. h. XXXI 2 und Ioseph. bell. Iud. VII 5, 1 gedenken.

In späterer Zeit weckte diese Namensform die Erinnerung an die biblische Königin von Saba, die aus Arabien gekommen sein soll, um, da sie sich selbst durch Wissen und Klugheit auszeichnete, die Weisheit Salomos zu erproben, nach Kön. III 10, 1f. (Evang. Matth. XII 42. Luc. XI 31). Vgl. über diese Geschichte Tkac o. Bd. I A S. 1500f. Und so erscheint die Königin von Saba in byzantinischen Chroniken und mittelalterlichen Prophetien, zuweilen in Verbindung mit anderen Sagenzügen, geradezu als S. Wie Vogt in Paul-Braunes Beitr. z. Gesch. d. deutsch. Sprache u. Litter. VI (1877) 90 vermutete, mag zu dieser Auffassung ihre Lobpreisung Gottes an der erwähnten Stelle (Kön. III) beigetragen haben, die man als eine Verkündigung des einen und wahren Gottes in vorchristlicher Zeit auffassen konnte. So liest man bei Georg. Monach. Chron. I 200, 13 de Boor: καὶ βασίλισσα Σαβά, ἥτις ἐλέγετο Σίβυλλα παρ’ Ἕλλησιν (d. i. den heidnischen Griechen), vgl. Kedrenos 95 A l 166 Bekker, dann Onom. sacr. 184, 61 Lagarde: Σαβὰ ἡ βασίλισσα Αἰθιοπίας, ἣν καλοῦσιν τὰ ἔθνη Σίβυλλαν, Glykas Annal. II 183 Σοβὰ ἔθνος Αἰθιοπικόν · τούτων ἐβασίλευσεν ἡ θαυμαστὴ ἐκείνη Σίβυλλα. Hierzu Alexandre Excurs. ad Sibyll. 84f. Hertz D. Rätsel d. Königin von Saba, Ztschr. f. deutsch. Altert. XXVII (1883) 19f. Krauß D. Königin von Saba in d. byzant. Chroniken, Byzant. Ztschr. XI (1902) 120ff. Nestle Zur Königin von Saba als Sibylle ebd. XIII (1904) 492f. Jeanne Lucien Herr Rev. archeolog. s. IV t. XXIII (1914) 18.

Von der Sabbe, der γυνὴ χρησμολόγος παρὰ Ἑραίοις, heißt es nun bei Paus. a. a. O. weiter: Βηρόσσου δὲ εἶναι πατρὸς καὶ Ἐρυμάνθης μητρός φασι Σάββην. οἱ δὲ αὐτὴν Βαβυλωνίαν, ἕτεροι δὲ Σίβυλλαν καλοῦσιν Αἰγυπτίαν; bestimmter noch redet [Iustin.] Cohort. ad Graec. 37, 3 ταύτην (τὴν Σίβυλλαν) δὲ ἐκ μὲν Βαβυλώνος ὡρμῆσθαί φασι, Βηρωσσοῦ τοῦ τὴν Χαλδαϊκὴν ἱστορίαν γράψαντος θυγατέρα οὖσαν. Der armenische Historiker Moses von Chorene I 56 weist (lat. Übers. bei Langlois Collect. des hist. de l’Arménie II 59), bevor er vom Kampfe der Kroniden und Titanen nach Orac. Sib. III 105ff. erzählt, auf die ,dilecta mea ceterisque voracior Sibylla Berosiana‘ als Quelle hin. Der Zusammenhang zwischen diesen Berichten und einer Stelle unseres dem 2. vorchristlichen Jahrhundert entstammenden jüdischen S.-Buches III liegt auf der Hand. Die S. sagt von sich 809 ταῦτά τοι Ἀσσυρίης Βαβυλώνoς (Opsopoeus, Βαβυλώνια Codd.) τείχεα μακρὰ | οἰστρομανὴς προλιποῦσα .., sie sei aus Babylons Mauern gekommen, fügt aber hinzu – 813f. καὶ καλέσουσι [2100] βροτοί με καθ' Ἑλλάδα πατρίδος ἄλλης | ἐξ Ἐρυθρῆς[11] γεγαυῖαν ἀναιδέα –, man werde sie in Hellas als aus einem anderen Lande entsprossen, als die unverschämte Erythräerin bezeichnen; anderen wieder werde sie als die lügenhafte Tochter der Kirke (= die Cumaea) und eines unbekannten Vaters gelten: 814 οἵ δέ με Κίρκης μητρὸς κἀγνώστοιο (v. Gutschmid, vgl. Rzach S.-Ber. Akad. Wien, phil.-hist. Cl. Bd. 156 Abh. 3, 18, καὶ γνωστοῖο Codd., καὶ Γνωστοῖο Lücke und Hilgenfeld, was sich angeblich ,auf höhere mit der Prophetie verbundene Erkenntnis beziehe‘) πατρὸς φήσουσι Σίβυλλαν | ψεύστειραν: allein durch die Erfüllung ihrer Weissagungen werde sie sich als die wahre Seherin des großen Gottes erweisen. Auf diese Stelle nimmt Lactantius Bezug, div. inst. I 6, 13 ... Erythraeae, quae et nomen suum verum carmini inseruit et Erythraeam, se nominatuiri praelocuta est, cum esset orta Babylone.

Wie ist nun die Bezugnahme auf Babylon zu verstehen? Es liegt nahe, darin den Hinweis auf eine babylonisch-chaldäische Tradition zu vermuten, zumal sich die Notizen über ‚Berossos’ Tochter‘ damit gut in Einklang bringen ließen. Doch darf man sich nicht zu weitgehenden Folgerungen verleiten lassen, wie sie von einzelnen Forschern vorgetragen wurden.

Ganz allgemein erkennt Krauß Byzant. Ztschr. XI (1902) 124 den Grund der Anknüpfung an den Chaldäer Berossos darin, daß das Sibyllentum überhaupt orientalisch-chaldäischen Ursprungs sei. Lange vorher hatte Ewald a. a. O. 83f. in der ,Tochter des Berossos‘ eine sagenhafte Umschreibung für die Benutzung von dessen chaldäischer Geschichte durch die S. vermutet. Unter der Annahme, daß Berossos eine S. als Autorität für persisch-jüdische Traditionen angeführt hatte, meinte v. Gutschmid Beitr. z. Gesch. d. alten Orients (1858) 50f., sie hieße deshalb seine Tochter, weil ihre ganze Existenz eben nur auf dem Zeugnisse des Geschichtschreibers beruhe: also werde ihm die ‚Vaterschaft‘ d. i. die Erdichtung dieser S. imputiert. Die Bedenken gegen diese Ansicht faßte Μοntzka Klio II 361ff. gut zusammen, aber seine eigene Meinung, hinter der ,Sibylle‘ stecke etwa der Titel eines – freilich nirgends erwähnten – Werkes des chaldäischen Priesters, weshalb man später (Ioseph. ant. Iud. X 2) von einer Prophetengabe des Berossos gesprochen habe, ist bloße Hypothese. – Eine wirkliche chaldäische Vorgängerin der jüdischen S. unseres 3. Buches, die sich deshalb als Babylonierin (III 809f.) ausgebe, setzte Gruppe an, Die griech. Kulte u. Myth. (1887) I 679ff., und zwar [2101] unter Berufung auf den seiner Ansicht nach nicht auf der Schilderung des 3. Buches beruhenden Bericht des Alexander Polyhistor FHG II 502f. Im Anschlusse an chaldäische, etwa durch Berossos vermittelte Theologie habe ein Grieche ein S.-Gedicht verfaßt, aus dem ganze Versreihen in das 3. Buch gelangt seien. Zudem finde sich der Sagenzug III 97ff. – Einsturz des Babelturms durch Sturmwind – in der biblischen Darstellung nicht, weshalb auch Wandinger II 756 die Erzählung auf heidnische Quelle beziehen wollte. Für die Existenz einer babylonischen literarisch tätigen S. trat dann weiter ein Geffcken Die babylon. Sib., Nachr. d. Götting. Ges. d. Wiss. phil.-hist. Cl. 1900, 88ff. und Bousset Ztschr. f. d. neutestam. Wissensch. u. d. Kunde d. Urchristentums (Preuschen) III [1902] 23ff., ferner Realenc. f. prot. Theol. XVIII³ (1906) 268 und Relig. d. Judent.² 562. Danach hätte eine bald nach Alexanders d. Gr. Tode tätige hellenistisch-chaldäische S. in einem synkretistischen Gedichte die Vorlage für die Turmbau- und Titanenerzählung im 3. Buche und für den jetzt im 1. Buche des Corpus enthaltenen Flutbericht geboten.

Für die Entscheidung der Frage ist Alexander Polyhistor nicht von Belang, da seine Mitteilungen doch nur auf Orac. Sib. III 97ff. selbst beruhen, vgl. besonders Mras Wien. Stud. XXIX (1907) 25ff. Schürer III⁴ 584. Die Vielheit der θεοί bei Alexander (vgl. Ioseph. ant. Iud. I 4, 3 Abydenos FHG IV 282) entspricht – gegenüber dem monotheistischen ἀθάνατος III 101 des Sibyllisten – seinem religiösen Standpunkt und braucht nicht eigens durch die ,babylonische‘ Quelle veranlaßt zu sein. Ebensowenig gilt das von dem Sagenzug betreffend den Fall des Babelturmes; dieser ist zwar der Genesis fremd, aber in dem äthiopisch erhaltenen vorherodianischen Buche der Jubiläen (= λεπτή Γένεσις) X 26 wird der Vorgang in derselben Weise wie beim Sibyllisten geschildert, s. Littmann bei Kautzsch D. Apokr. und Pseudepigr. d. alt Test. II 59; 27: ,und Gott schickte einen heftigen Wind gegen den Turm und zerstörte ihn auf der Erde‘. Zudem hat sich eine ‚babylonische‘ Turmbaulegende bislang nicht gefunden, Jeremias Das alte Testam. im Lichte des alt. Orients (1904) 131 und bei Roscher III 54.

Hingegen ist eine andere, bereits von Bousset angedeutete Spur babylonischer Überlieferung für die beregte Frage von Wert. In dem Flutberichte des 1. Buches, der wahrscheinlich auf einem vor III 97 ausgebrochenen Abschnitt des Textes beruht, finden sich tatsächlich Motive aus einer anderweitig als babylonisch bekannten Version (Izdubarepos), die Berossos in seiner chaldäischen Geschichte benutzt haben kann. Durch die Übernahme seiner Erzählung in den ehemaligen Eingang des 3. Buches erklärt sich dann genugsam die Erwähnung Babylons III 809 und in den damit zusammenhängenden Nachrichten, ohne daß man genötigt wäre, an die literarische Tätigkeit einer besonderen ‚babylonischen‘ (babylonisch-hellenistischen) S. zu glauben; vgl. den Art. Sibyllinische Orakel Cc9.

Die in der Theosophie und den von ihr abhängigen Quellen enthaltene Genealogie der Sambethe (ἐκ τοῦ γένους οὖσα τοῦ μακαριωτάτου Νῶε) steht mit der III 827 vorliegenden Angabe [2102] τοῦ (Noah) μὲν ἐγὼ νύμφη καὶ αἵματος αὐτοῦ ἐτύχθην in Beziehung. Als Noahs Schwiegertochter (νύμφη) bezeichnet sich auch die jüdische S. des 1. Buches 288ff. Dieses Verwandtschaftsverhältnis sucht im Anschlusse an die von Krauß Byzant. Ztschr. XI 1902, 121 aufgestellte Beziehung der Sambethe zu dem Enkel Noahs Σαβαθά Greßmann o. Bd. I A S. 1564 so zu deuten, daß er annimmt, die jüdischen Σαββατισταί hätten den Gott Σαββατιστής mit jenem Σαβαθά gleichgestellt, den er als Mann der Σαμβάθη auffaßt: so habe letztere als Noahs Schwiegerkind gelten können. Eine Illustration hierzu darf man vielleicht in der bekannten Darstellung auf Bronzemünzen von Apameia Kibotos in Phrygien erblicken, die unter Septimius Severus, Macrinus und Philippus geschlagen sind. Einer jüdisch beeinflußten Lokaltradition entsprechend (Usener Sintflutsagen 48f. Jeremias a. a. O. 131. Bousset Rel. d. Judent.² 560ff.) erscheint auf der Rückseite dieser Münzen die Arche Noahs (Beischrift Nωε), worin ein Mann und eine Frau mit wallendem Schleier, wohl Sambethe, nicht aber Noahs weiter nicht bekannte Gattin (Maaß 41. Gruppe 677, 3) sichtbar wird; daneben ist die Landung dargestellt, dieselben Figuren vorwärtsschreitend, mit zum Gebet emporgehobener Rechten. Eine Abbildung des Pariser Exemplars aus Severus’ Zeit bei Head HN² 667. Hill Handb. of greek and rom. coins 170f., 28. Usener 48. Jeremias a. a. O. Sallet-Regling D. antik. Münzen (Berlin 1909) 64; ein Stück aus der Zeit des Philippus abgebildet bei Macdonald Catal. of greek coins in the Hunter. coll. (Glasgow 1901) II 480 nr. 21 Plat. LVI 16.

19. Eine Σίβυλλα Αἰγυπτία unterscheidet Aelian. var. hist. XII 35 von der Ἰουδαία. Aber weder diese Notiz noch die lakonische Erwähnung bei Clem. Strom. I c. 21, 108, 1 Stählin ermöglicht eine bestimmte Vorstellung von ihr. Wenn die γυνὴ χρησμολόγος παρὰ Ἑβραίοις bei Pausanias auch als Αἰγυπτία bezeichnet wird, so deutet dies vielleicht auf den Umstand, daß das älteste jüdische S.-Buch von Ägypten ausging. In der Osterchronik, wo die Erythraia mit Ägypten in Beziehung gebracht wird (I 201 B.), ist der Ausdruck ἐν Αἰγύπτῳ längst als Zusatz der aus Eusebios stammenden Notiz erkannt, Alexandre Excurs. ad Sibyll. 80. Wenn aber dieser Gelehrte einen Anklang an ägyptische Beziehungen der S. in Orac. Sib. V 52f. τείρομαι ἡ τριτάλαινα κακὴν φάτιν ἐν φρεσὶ θέσθαι | Ἴσιδος ἡ γνωστή, καὶ χρησμῶν ἔνθεον ὕμνον bemerken wollte – er übersetzt soror Isidis und fand an Blaß bei Kautzsch a. a. O. II 206 einen Nachfolger –, so liegt hier eine offenkundige Korruptel vor: aller Wahrscheinlichkeit nach trifft Geffckens Vorschlag Ἶσι, θεὸν γνώσῃ[12] das Richtige. Übrigens fühlte schon Ewald 98, jenes angebliche Ἴσιδος ἡ γνωστή sei eine ‚ganz freie Dichtung‘, da vorher wohl niemand an eine ägyptische S. gedacht habe. Bouché-Leclercq II 192 sah in ihr seltsamerweise ,une contrefaçon alexandrine de la Sibylle Libyenne‘. [2103]

Wichtigere Literatur. Klausen Aeneas u. die Penaten I 203ff., Hamburg-Gotha 1839. Alexandre Excursus ad Sibyllina, Paris 1856. Lüken D. sibyll. Weissagungen, ihr Ursprung u. ihr Zusammenhang mit den afterproph. Darstellungen christlicher Zeit, Würzburg 1877. Maaß De Sibyllarum indicibus, Berlin 1879. Bouche-Leclercq Histoire de la divination dans l’antiquité II 133ff., Paris 1880. Blaß D. sibyll. Orakel, bei Kautzsch D. Apokryph. u. Pseudepigr. d. alt. Testam. II 177ff., Tübingen 1900. Geffcken Die Sibylle, Preuß. Jahrb. CVI 193ff., Berlin 1901. Stützle Die Sibyllen u. Sibyllinen I, Ellwangen 1904 (Progr.). Bousset Sibyllen u. Sibyllin. Bücher in Herzog-Haucks Realencycl. f. protest. Theol. u. Kirche³ XVIII 265ff. 1906. Mras E. neuentdeckte Sibyllentheosophie, Wien. Stud. XXVIII (1906) 43ff. Schürer Gesch. d. jüd. Volkes im Zeitalter Jesu Christi⁴ III 555ff., Leipzig 1909. Rohde Psyche5.6 II 63ff., Tüb. 1910. Buchholz Art. ‚Sibylla‘ in Roschers Myth. Lex. IV (1910) 790ff. Stählin bei Christ-Schmid Gesch. d. griech. Litter.5 II 1, 464ff., München 1911. Geffcken Das Christentum im Kampf u. Ausgleich mit d. griech.-röm. Welt 32ff., Leipzig-Berlin 1920.

Über die einzelnen S.: Μaaß Tibullische Sagen, Herm. XVIII (1883) 327ff. Robert D. Sibylle von Marpessos, Herm. XXII (1887) 454. Corssen D. erythräische Sibylle, Ath. Mitt. XXXVIII (1913) 1ff. Immisch Klaros, Jahrb. für Phil., Suppl.-Bd. XVII (1890) 144ff. Diels Sibyllinische Blätter, Berlin 1890. Norden Vergil. Aen. Buch VI, bes. 117 und 132ff., Leipzig 1903. Corssen Die Sibylle im sechsten Buch der Aeneis, Sokrates I (1913) 1ff. v. Gutschmid Beitr. z. Gesch. d. alt. Orients, Leipzig 1858, 50ff. Gruppe D. griech. Kulte u. Mythen in ihren Bezieh. zu d. oriental. Relig., Leipzig 1887, I 675ff. Geffcken D. babyl. Sibylle, Nachr. d. Götting. Ges. d. Wissensch. phil.-hist. Cl. 1900, 88ff. Bousset D. Bezieh. d. ältest. jüdisch. Sibylle zur chaldäischen, Ztschr. f. d. neutestam. Wissensch. u. Kunde des Urchristentums III (1902) 23ff. Mras Babylon. u. erythräische Sibylle, Wien. Stud. XXIX (1907) 25ff. Lieger Quaest. Sibyll. II (Sib. Hebraea), Jahresber. d. Obergymn. zu den Schotten, Wien 1906. Lieger Die jüdische Sibylle, ebd., Wien 1908. Hertz D. Rätsel d. Königin von Saba. Ztschr. f. deutsch. Altert. XXVII (1883) 19ff. Krauß Die Königin von Saba in den byzant. Chroniken, Byzant. Ztschr. XI (1902) 120ff. Nestle Zur Königin von Saba als Sibylle, ebd. XIII (1904) 492ff.

  1. In der Schreibung Σίβιλλα erscheint das Wort als gewöhnlicher Personenname verwendet CIA II 835, 54, vgl. Bechtel Die att. Frauennamen 67.
  2. Über diese Altersangabe vgl. Roscher Verh. d. sächs. Ges. d. Wiss. phil.-hist. Cl. B. 61 S. 43 A. 39.
  3. Solche erscheinen auch in anderen Dichtungen frühe, wie Aisch. Prom. 366ff., wo der Aetnaausbruch von 479/8 (Marm. Par. 67) vorausverkündigt wird, vgl. Staehlin Das Motiv der Mantik im antiken Drama, Gießen 1912, 19.
  4. Seltsamerweise schweigt Herodot, der so gerne Orakel heranzieht, von der S. gänzlich.
  5. Von einer Nymphe und einem sterblichen Manne (Theodoros) stammt gleichermaßen die S. Erythraea nach v. 2 und 4 des Gedichts aus der erythr. Grotte, s. unten.
  6. Bei Martianus Capella ist die troische Prophetin zu einer Herophila Troiana Marmensi (Marpessi Maaß) filia geworden.
  7. Bocchus HRF frg. 1 Peter (bei Solin. II 18 Μ.² (darnach Isid. orig. VIII 8, 4) berichtet Ähnliches von der delphischen S., die er von der Erythräerin unterscheidet: Delphicam autem Sibyllam ante Troiana bella vaticinatam Bocchus autumat, cuius plurimos versus operi suo Homerum inseruisse manifestat. Bei Diodor. IV 66, 6 ist diese Prophetie auf Daphne, Teiresias’ Tochter, bezogen, welche die Epigonen als Siegesbeute nach Delphoi gebracht hätten.
  8. Hierin sah Bouché-Leclercq II 176 ein Zugeständnis derer, die den Samiern eine einheimische S. mißgönnten.
  9. Oder ward der Name seiner ebenfalls weissagenden Tochter auf die cumäische S. übertragen, Maaß Comm. mythogr., Greifswald 1886/7, XV f.
  10. Vgl. Mart. Cap. II 40 Symmachia ... quae Erythraea progenita etiam Cumis est vaticinata.
  11. Wandinger bei Kraus. Realencykl. d. christl. Altertums (1886) II 755 und namentlich Μras Wien. Stud. XXIX 31ff. wollte hier eine Bezugnahme auf die Ἐρυθρὰ θάλασσα (vgl. Schol. Dionys. perieg. 714) sehen = vom Roten Meere (den Euphratmündungen) her; Zustimmung fand dieser Gedanke bei Höfer in Roschers Myth. Lex. IV 265; er ist jedoch (mit Schürer III⁴ 584) im Hinblicke auf den Zusammenhang der Stelle abzulehnen, so sehr man sonst mit den Ausführungen von Μras, welcher die reale Existenz einer ‚babylonischen Sibylle‘ in Abrede stellt, einverstanden sein muß.
  12. Über den Begrif des θεὸν γιγνώσκειν vgl. Norden Agnostos Theos 87ff.
[Rzach. ]