Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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von Kos, berühmter Arzt der dogmatischen Schule
Band XXII,2 (1954) S. 17351743
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Praxagoras 1) von Kos, ein berühmter Arzt der dogmatischen Schule.

I. Biographisches.

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Bei Tzetzes (Chil. VII 968ff.) und in einer Hippokratesvita (vgl. H. Schöne Rh. Mus. LVIII [1903] 57) wird ein älterer P. von Kos als Schüler des Hippokrates erwähnt. Dieser muß der Großvater des jüngeren, berühmten P. von Kos sein. Galen zitiert zwar den älteren P. nirgends, aber er muß ihn gekannt haben, da er den jüngeren P. von Kos zuweilen durch den Zusatz τοῦ Νικάρχου charakterisiert (z. B. II 905, 11). Die Lebenszeit des jüngeren, berühmten P. ist um das J. 300 v. Chr. anzusetzen, denn er ist von Diokles abhängig (vgl. Wellmann Die Fragmente der sikelischen Ärzte, Berl. 1901, 11), Diokles aber wirkte nach Jägers einleuchtender Beweisführung etwa im letzten Drittel des 4. Jhdts. v. Chr. (vgl. W. Jäger Diokles von Karystos, Berl. 1938). Auch die antike Überlieferung zitiert P. durchweg nach Diokles. Galen II 905, 11 sagt zwar: καὶ μὴν Διοκλῆς ὁ Καρύστιος καὶ Πραξαγόρας ὁ Κῷος ὁ Νικάρχου μικρὸν ὕστερον Ἱπποκράτους γεγονότος, aber das μικρὸν ὕστερον ist nicht so eng im Sinn einer unmittelbaren Nachfolge zu interpretieren. Vielmehr wird die Richtigkeit unseres zeitlichen Ansatzes (ca. 300) auch noch auf andere Weise bestätigt. Nach einer brieflichen Mitteilung von Rudolf Herzog ist auf einer von ihm im Asklepieion von Kos gefundenen, noch nicht edierten Subskriptionsliste für die Einrichtung der γυμνικοὶ ἀγῶνες aus dem J. 260 v. Chr. unter dem Buchstaben Π folgendes zu lesen: [Πρα]ξαγόρας Πραξαγόρα καὶ ὑπὲρ τοῦ ὑοῦ Λεωδάμαντος. Der Vater des erwähnten Subskribenten ist P. II. der Große. Mit Hilfe dieser und anderer inschriftlicher Angaben (vgl. Syll.³ 568/69. Paton-Hicks Inscriptions of Cos, nr. 10. Herzog Riv. di filol. cl. 1942, 16f. 19f.) können wir nun folgenden Stammbaum aufstellen: Πραξαγόρας I. Blüte 360, Νίκαρχος 330, Πραξαγόρας II. der Große 300. Πραξαγόρας III. 270, Λεωδάμας 240, Διοκλῆς 210, Ξενότιμος 180. P. der Große gehört somit einem Zweig des alten koischen Fürstengeschlechtes der Asklepiaden an. Daß sein Nachruhm auch noch von späteren Generationen dieses Geschlechtes gepflegt wurde, ergibt sich daraus, daß P. um das J. 30 v. Chr. in Kos eine Statue erhielt, für die der Dichter Krinagoras von Mytilene ein Epigramm dichtete (nr. 51 der Ausgabe von Max Rubensohn Anth. Planud. IV 273; vgl. dazu Herzog Nikias und Xenophon von Kos, Hist. Ztschr. 1922. 213. 218), Als eine nicht alltägliche Persönlichkeit wird P. bezeichnet bei Rufus ed. Daremberg-Ruelle p. 220, 12: ὁ Πραξαγόρας, ἀνὴρ οὐχ ὁ τυχὼν οὔτε ἐν τοῖς κατὰ τὴν ἰατρικὴν θεωρήμασιν οὔτε ἐν τῷ ἄλλῳ βίῳ.

Gercke (Rh. Mus. XLII [1887] 602) und Knaack (Herm. XXIX [1894] 474) hatten auf Grund des bekannten Verses der Theokritscholien (υἱὸς Πραξαγόραο περικλειτῆς τε Φιλίννης) vermutet, daß der Vater des Dichters Theokrit der [1736] Arzt P. von Kos gewesen sei. Das ist aber nach dem oben Gesagten unwahrscheinlich, obwohl es chronologisch gesehen möglich wäre. Der Vater Theokrits wird ein anderer P. gewesen sein, der anläßlich der Neubesiedlung von Syrakus durch Timoleon 339 von Kos herüberkam (vgl. Paton-Hicks 359 und Herzog Heilige Gesetze auf Kos, Abh. Akad. Berl. 1928, nr. 6 S. 45).

II. Schriften.

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Wenn wir von den zahlreichen Testimonia für die Lehre des P. absehen, so sind uns nur ganz wenige wörtliche Fragmente aus seinen Werken überliefert. Doch kennen wir einige seiner Schriften wenigstens dem Titel nach.

1. Φυσικά, mindestens 2 Bücher. Vgl. Gal. XVII B 838, 12. II 906, 1.

2. Eine Ἀνατομή, die wahrscheinlich mehrere Bücher umfaßte. Vgl. Schol. BD Hom. Il. XXII 325. P. war wohl neben Diokles der erste griechische Arzt, der ein besonderes Werk über Anatomie schrieb (vgl. Wellmann Die Frage der sikel. Ärzte 95f.).

3. Περὶ νούσων, mindestens 3 Bücher; vgl. Cael. Aurel. chron. morb. V cap. II und Fuchs Anecd. Graeca medica, Rh. Mus. IL [1894] 546.

4. Περὶ τῶν ἀλλοτρίων παθῶν, wenigstens 2 Bücher, erwähnt bei Cael. Aurel. acut. morb. II cap. X: P. secundo libro peregrinarum passionum.

5. Τὰ συνεδρεύοντα (sc. σημεία oder συμπτώματα), 2 Bücher umfassend, vgl. Gal. XVII B 400, 1 ff. XII 972, 4f. XVIII A 7, 15. Die συνεδρεύοντα σημεία sind Symptome, die für die Erkenntnis einer Krankheit nicht unbedingt nötig sind, aber eine größere Sicherheit der Diagnose gewährleisten; vgl. darüber Gal. XVII B 399, 13ff.

6. Τὰ ἐπιγινόμενα (sc. πάθη), 1 Buch von größerem Umfang, vgl. Gal. XVII B 400, 3. XVIII A 56, 12. 115, 5. Die ἐπιγινόμενα πάθη, die auch ἐπιφαινόμενα genannt werden, dienen vorwiegend der Prognose. So ist z. B. Husten bei Wassersucht ein ἐ. π. und als solches ein böses Vorzeichen für den Verlauf der Krankheit; vgl. darüber Gal. VIII A 56, 9ff. 115, 4ff.

7. Περὶ θεραπειῶν, ein mindestens 4 Bücher umfassendes Werk, erwähnt bei Cael. Aurel. ac. morb. II cap. VIII; chron. morb. I cap. IV u. ö. Auch Diokles hatte Π. θεραπειῶν geschrieben (vgl. Wellmann 117. 152ff.).

8. Αἴτια, πάθη, θεραπεῖαι, eine wahrscheinlich aus mehreren Büchern bestehende Schrift, erwähnt bei Cael. Aurel. ac. morb. III cap. XVII.

Wir dürfen annehmen, daß P. außer diesen 8 Schriften, deren Titel uns überliefert ist, auch ein besonderes Werk Περὶ χυμῶν, verfaßt hat; denn er gehört bekanntlich zu den Ärzten, welche die hippokratische Säftelehre weiter ausgebildet haben. Vgl. Gal. V 104, 7ff. = CMG V 4, 1. 1 p. 71. 7ff. Ungewiß bleibt es aber, ob P. auch die Nahrungs- und Heilmittellehre (Diätetik und Pharmakologie) in eigenen Schriften behandelt oder sie vielleicht in das Werk Π. θεραπειῶν eingeflochten hat (vgl. Gal. VI 509 = CMG V [1737] 4, 2 p. 234, 23 und XI 795). Wenn es CMG V 10, 2. 2 p. 56, 21 heißt: ... ἐν ταῖς διαφοραῖς τῶν ὀξέων, so ist hier wohl nicht an eine Schrift des P. zu denken. Ebensowenig hat er eine Schrift Π. φυτῶν (de plantis) verfaßt, wie Fuchs irrtümlich meint (Handbuch der Geschichte der Medizin von Puchmann-Neuburger-Pagel [Jena 1902] I 276f.). Ob P. an der Bearbeitung der Κωακαὶ προγνώσεις beteiligt war, wie Kühlewein (Westermanns illustr. Monatshefte LIII (1883] 400) vermutet hat, müßte eine besondere Untersuchung ergeben. Es werden jedenfalls in den Koischen Prognosen vier von den elf Säften genannt, die P. unterschied (s. u.): 146. 352 der ‚glasartige‘, 397 der ‚salzige‘ und ‚süße‘ Auswurf, 570 der ,lauchgrüne‘ Urin.

Daß die Werke des P. noch zur Zeit Galens existierten, können wir mit einiger Sicherheit aus folgenden Stellen erschließen: Gal. V 187 (= I 143, 13 Mü.). V 898 (= scr. min. III 99, 16). II 140 (= scr. min. IIII 203, 6ff.). Galen war daher in der Lage, die Originalstellen einzusehen. Bei seinen Zitaten und Verweisen wird er aber aus praktischen Gründen zu einer Exzerptsammlung gegriffen haben, die nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet war.

Hans Hohenstein weist in seiner Dissertation über den Arzt Mnesitheos aus Athen (Berl. 1935, 47) mit Recht darauf hin, daß die Schriften dieses Arztes dem Oribasius noch vorgelegen haben müssen. Anders lassen sich die umfangreichen Exzerpte aus Mnesitheos bei Oribasius nicht erklären. Ja selbst in byzantinischer Zeit müssen die Schriften noch existiert haben, denn der Scholiast zu Oribasius kennt ihre Einteilung (vgl. CMG VI 2, 2 p. 135). Wenn nun die Schriften des Mnesitheos, der wie P. ein Schüler des Diokles von Karystos gewesen zu sein scheint, im 6. Jhdt. n. Chr. und später noch vorhanden waren, so dürfen wir es für die Werke des P. erst recht annehmen, da dieser weit berühmter als Mnesitheos war.

III. Lehre.

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Die Fragmente und Testimonia, denen wir unsere Kenntnis der Lehre des P. verdanken, stammen aus folgenden Quellen: Galen, Rufus, Athenaios (dessen Vorlage das Symposion des Empirikers Herakleides von Tarent war, vgl. Deichgräber Griech. Empir. 260), Oribasius, Anecdota Graeca (ed. Fuchs Rh. Mus. IL [1894] 532ff.), Homerscholien, Nikanderscholien, Celsus, Plinius, Caelius Aurelianus (Soran).

P. wird von Galen (XI 163, 3) und in den von Cramer und Lambecius veröffentlichten Ärztekatalogen (Anecd. Paris. I 395. bzw. Katalog der Wiener Hofbibliothek VI 1674. 151ff.) zu der logischen oder dogmatischen Schule gerechnet. Diese Bezeichnung hatten die Empiriker aufgebracht, um ihre eigene wissenschaftliche Richtung von der der früheren Ärzte abzugrenzen. Die Empiriker hatten mit ihrem Widerspruch insofern recht, als die Medizin bis auf Erasistratos herab im Vertrauen auf die schöpferische Kraft des Logos vielfach ohne genügende praktische Erfahrung auskommen zu können glaubte. So erklärt es sich, daß auch P. einerseits neben richtigen Erkenntnissen Wahrheiten vorausahnte, andererseits aber seltsamen Irrtümern verfiel.

[1738]

1. Physiologie.

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In der Physiologie ist P. ein entschiedener Verfechter der hippokratischen Säftelehre, die er weiter ausbildete (Gal. scr. min. III 192, 9. 203, 6ff. Π. Ἱππ. καὶ Πλ. δογμ. ed. Mü. p. 688, 10ff. CMG V 4, 1. 1 p. 71, 7). Er unterscheidet (nach Gal. scr. min. III 203, 6ff.) 11 Säfte (mit dem Blut). Rufus (ed. Daremberg-Ruelle p. 165, 14ff.) zählt 11 Säfte (ohne das Blut) auf; es sind folgende: der süße (γλυκύς), der gleichmäßig gemischte (ἰσόκρατος), der glasartige (ὑαλοειδής), der saure (ὀξύς), der laugige (νιτρώδης), der salzige (ἁλυκός), der bittere (πικρός), der lauchgrüne (πρασοειδής), der eidotterartige (λεκιθώδης), der kratzende (ξυστικός), der feststehende (στάσιμος). Vgl. auch Gal. VII 124. 6. 137, 15. 347. 11. 634, 16. VIII 81, 15ff. 176, 5ff. CMG V 10, 2. 2 p. 106, 20, sowie CMG V 4, 2 p. 112, 25 und p. 234, 1, wo es heißt: Φυλότιμος μὲν οὖν οἴεται παχὺν καὶ κολλώδη καὶ ψυχρὸν ἐξ ἁπάσης μάζης γεννᾶσθαι χυμόν, ὃν αὐτός τε καὶ ὁ διδάσκαλος αὐτοῦ Πραξαγόρας ‚ὑαλώδη‘ καλοῦσι (vgl. ferner p. 398, 1ff.). Nach Gal. CMG V 4, 2 p. 374, 20 nannte P. den ἁλυκός (oder ἁλμυρός) χυμός auch νιτρώδης, woraus sich vielleicht die dem Bericht des Rufus widersprechende Mitteilung Galens erklärt, P. habe 11 Säfte mit dem Blut unterschieden (s. o.). Die Säfte entstehen in den Adern aus der durch die Wärme veränderten Nahrung, und zwar Blut, wenn die Nahrung eine συμμετρία aufweist, die übrigen Säfte, wenn in den Bestandteilen der Speisen eine ἀμετρία vorherrscht (Gal. scr. min. III 186. 10ff.). Das Warme trägt also zur Bildung der Säfte bei und konstituiert zugleich mit den übrigen drei Elementarqualitäten die Körper der Lebewesen (Gal. scr. min. III 181, 11ff.). In der jeweiligen Beschaffenheit der χυμοί liegen die Ursachen für Gesundheit und Krankheit (Gal. XIV 699, 1f.).

P. vertrat als erster das Dogma, daß die Arterien keinerlei Säfte, sondern nur Pneuma enthalten (Gal. VIII 941, 11 ff. 950, 11ff.). Das Pneuma, das durch die Atmung dem Körper zugeführt wird, dient der Ernährung der Seele (des ψυχικὸν πνεῦμα, vgl. Gal. Π. χρείας ἀναπνοῆς ed. Noll, Diss. Marb. 1911, p. 1. 11 und 10. 14), die Seele hat ihren Sitz im Herzen (Athen. XV 687 e. f). Die Arterien ‚schlagen‘ aus sich heraus (Gal. Π. Ἱππ. καὶ Πλ. δογμ. ed. Mü. p. 552. 16ff. und VIII 702, 14); jede wahrnehmbare Bewegung der Arterien bezeichnet P. als σφυγμός (Gal. VIII 498, 7), Die Wärme κατὰ φύσιν des Körpers ist nach P. nicht ἔμφυτον ,eingeboren‘, sondern ἔπίκτητον ,hinzuerworben‘ (Gal. VII 614, 8ff.). Dazu steht freilich die Angabe Galens scr. min. III 181. 11ff. (s. o.) in einem gewissen Widerspruch.

Die Nieren sind ὄργανα διακριτικὰ τῶν οὔρων (Gal. scr. min. III 122, 22ff.).

Die Verdauung hat P. wahrscheinlich als ein Verfaulen der Speisen aufgefaßt (vgl. Celsus prohoem. 20).

Das Sperma wird aus dem ganzen Körper ausgeschieden, nicht nur aus dem Gehirn und dem Rückenmark (vgl. Ps.-Gal. XIX 449, 14 und Diels Dox. p. 233).

2. Anatomie.

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Nach Gal. II 900, 14ff. zeigte P. (wie fast alle alten Ärzte) in der Anatomie wenig Sorgfalt. Doch [1739] lautet Galens Urteil an anderer Stelle (Π. Ἱππ. καὶ Πλ. δογμ. ed. Mü. p. 143, 13ff.) wesentlich günstiger (vgl. auch CMG V 9, 1 p. 69, 30ff. und VII 584, 1ff. K.).

Das Gehirn hielt P. für einen Anhang des Rückenmarks (Gal. Π. χρείας μορίων, ed. Helmreich I 487, 3ff.). Diese Auffassung mag darin begründet sein, daß P. das Herz als Zentralorgan des Körpers und Sitz der Seele ansah (s. o.). Vom Herzen gehen auch die Nerven aus, denn die Nerven sind nichts anderes als die feinsten Verzweigungen der Arterien (Gal. Π. Ἱππ. καὶ Πλ. δογμάτων ed. Mü. p. 143, 13ff. 148, 4ff.). Gegen diesen Irrtum wandte sich heftig Galen. Doch ist wohl P. hierin nicht originell, sondern hat das Dogma von Diokles übernommen (vgl. Wellmann Die Fragmente der sikel. Ärzte 11ff.). Logische Spekulation mußte hier mangelnde Beobachtung ersetzen.

Die von der Leber ausgehende, nach den Nieren hin sich teilende Vene nannte er κοίλη φλέψ, die Arterie am Rückenmark παχεῖα ἀρτηρία (Rufus ed. Dar.-Ruelle p. 161, 4ff. 163, 3).

Die zitzenförmigen Auswüchse der Gebärmutter nannte P. κόλποι (Gal. II 890, 15ff.). Als κοτυληδόνες bezeichnete er die Mündungen der Venen in die Gebärmutter (Gal. II 906, 1ff. XVII B 838, 12ff. Vgl. darüber E. D. Baumann Janus 1937, 169ff.).

Die Muskeln des ἐπιγάστριον bewirken u. a. die von P. so genannte κατάληψις πνεύματος (Gal. Π. χρείας μορίων ed. Helmr. I 295, 9).

Die anatomischen Anschauungen des P. von der κιονίς, der φάρυγξ, dem στόμαχος und der ἐπιγλωσσίς kennen wir aus einem wörtlich erhaltenen Fragment seiner Ἀνατομή (Schol. BD Hom. Il. XXII 325).

3. Pathologie und Therapie.

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Als Anhänger der Humoralpathologie sieht P. die Ursachen der Krankheiten in einem Übermaß oder einer Verderbnis der einzelnen Safte. Eine große Rolle scheint dabei der ‚kalte‘ ‚glasartige‘ Schleim gespielt zu haben (vgl. Gal. VII 124, 6. 137, 15. 347, 11. 634, 16. VIII 81, 15. 176, 5. CMG V 10, 2. 2 p. 106. 20. V 9, 2 p. 49, 22).

Bei Diagnose und Prognose unterschied P. συνεδρεύοντα und ἐπιγινόμενα σημεῖα (Gal. XVII B 399, 13ff. XVIII A 7, 15. 56, 9ff. 115, 4. XII 972, 3; zur Sache s. o. unter Schriften nr. 5 u. 6).

Bei der Prognose beobachtete er die Kräfte des Patienten, die Schwere der Krankheit und den Eintritt der ἀκμή (Gal. IX 728, 7ff.). Er vertrat den Grundsatz, daß während der Behandlung eines erkrankten Körperteils der ganze Körper berücksichtigt werden müsse (Gal. X 260, 10ff.).

Das Fieber erklärte P. als eine Fäulnis der Säfte (Gal. X 101, 8ff.) und bezeichnete die akuten Fieber mit besonderen Namen (φρενιτικοί, ληθαργικοί, ἰκτερικοί, vgl Gal. CMG V 10, 2. 2 p. 56, 19).

Beobachtung des Urins bei Blasenleiden im Anschluß an Hippokrates und Diokles erwähnt Galen CMG V 4, 1. 1 p. 90, 13ff.

Wie fast alle Dogmatiker kennt und schätzt P. die Bedeutung des Aderlasses in der Therapie (Gal. XI 163, 3. 169, 2ff. Cael. Aurel. chr. morb. II cap. XIII).

Therapeutisch wandte er auch oft das Erbrechen [1740] an (Gal. CMG V 4, 2 p. 122, 9ff. 123, 13). Vgl. unten.

Über die Bedeutung des Fastens hat P. eingehend geschrieben (Gal. XI 177, 12).

Nach P. ist der Puls (σφυγμός) nicht wesensmäßig, sondern nur der Stärke nach verschieden vom Beben (παλμός), Zucken (σπασμός) und Zittern (τρόμος). Alle vier sind πάθη der Arterien (Gal. VII 584, 1ff. 598, 11. 605, 1ff. VIII 723, 9ff. Rufus ed. Dar.-Ruelle p. 220, 5). Gegen diese Lehre wandte sich sein Schüler Herophilos in einer Schrift Π. σφυγμῶν (Gal. VIII 723, 9ff.).

Eine Vorstellung von der speziellen Pathologie und Therapie des P. vermitteln uns zahlreiche Testimonia. Ich beschränke mich auf die Aufzählung des Wesentlichen mit Quellenangaben (Fuchs = R. Fuchs Anecdota medica Graeca, Rh. Mus. IL [1894] 540ff.; vgl. auch Rh. Mus. LVIII [1903] 70ff. — Caelius Aurelianus in der Ausgabe von Haller):

01. Phrenitis, eine Entzündung des Herzens durch Schleim (Fuchs 540). Nach Cael. Aurel. ac. morb. I cap. XII hat P. keine Therapie angegeben.

02. Epilepsie entsteht bei Verstopfung der παχεῖα ἀρτηρία durch Schleim, der das vom Herzen kommende Seelenpneuma absperrt (Fuchs 541/2). Therapie bei Cael. Aurel. chr. morb. I cap. IV überliefert.

03. Apoplexie (Schlagfluß); die pathologischen Erscheinungen ähnlich wie bei Epilepsie (Fuchs 542); vgl. u. Paralysis.

04. Pleuritis, nach P. eine Entzündung der Lungenspitzen. Auch Euriphon, Euenor, Phylotimos und Herophilos haben diese seltsame Ansicht vertreten. Die Begründung findet man bei Cael. Aurel. ac. m. II cap. XVI, die Prophylaxe bzw. Therapie ebendort II cap. XXI.

05. Die Peripneumonie ist dagegen eine Entzündung der dem Rückenmark benachbarten Teile der Lunge (Fuchs 545 und Cael. Aur. ac. m. II cap. XXVIII). Die Therapie ist dieselbe wie bei Pleuritis (Cael. Aur. ac. m. II cap. XXIX).

06. Heißhunger (βούλιμος) entsteht aus einer Abkühlung des Blutes (Fuchs 546, dort auch die Therapie angegeben).

07. Ileus. Die Ursache ist eine Verstopfung des τυφλὸν ἔντερον (Fuchs 547). Therapie bei Cael. Aur ac. m. III cap. XVII: U, a. Klystiere, bestimmte Getränke, Erbrechen bis zum Kotbrechen, Aderlaß, Einblasen von Luft in den Darm, Pressen des τυφλὸν ἔντερον. Wenn alles nichts half, schnitt er den Leib auf, holte den Kot heraus und nähte die Wunde wieder zu. Über den sog. χόρδαψος vgl. Cael. Aur. ebendort. Nach Plin. n. h. XX 26. 52 gab er auch Rettich (raphanos) und Knoblauch (alium).

08. Manie, verursacht durch eine Geschwulst des Herzens (Fuchs 548).

09. Melancholie. Die Ursache ist nach P. (und Diokles) schwarze Galle, die sich um das Herz angesammelt hat (Fuchs 549).

010. Paralysis, verursacht durch kalten Schleim, der sich in den vom Herzen kommenden Arterien ansammelt (Fuchs 550). Wie Cael. [1741] Aur. ac. m. III cap. V berichtet, hat P. zwischen Paralysis und Apoplexie keinen wesentlichen Unterschied gemacht. Er verordnete besonders Erbrechen (Cael. Aur. chr. m. II cap. I).

011. Atrophie wird hervorgerufen durch eine Stagnierung der Säfte in den Adern (Fuchs 552).

012. Entzündung der Leber wird bewirkt durch ein Stagnieren und Faulen der Säfte (Fuchs 553). Therapie bei Cael. Aur. chr. m. III cap. IV.

013. Gelbsucht (ἴκτερος), verursacht durch Abkühlung der Körperwärme und -säfte (Fuchs 554).

014. Wassersucht (ὕδρωψ) geht letzten Endes auf eine Abkühlung der Hohlvenen und ihrer Umgebung zurück (Fuchs 555/6). Über die Therapie des P. berichtet Cael. Aur. chr. m. III cap. VIII (besonders schweiß- und harntreibende Mittel).

015. Bei Lethargie (Schlafsucht) verordnete P. u. a. Gerstenschleim und Klystiere; vgl. die ausführlich beschriebene Therapie bei Cael. Aur. ac. m. II cap. VIII. Eine ähnliche Krankheit ist die sog. κατάληψις κωματώδης (Cael. Aur. ac. m. II cap. X).

016. Halsentzündung (συνάγχη) kurierte P. durch Klystiere, Aderlaß, Hervorrufen von Schweiß, Erbrechen, er schnitt das Zäpfchen (uva) ein und bestrich es mit Pech (Cael. Aur. ac. m. III cap. IV).

017. Starrkrampf (τέτανος) heilte er mit Dämpfen, Klystieren und Erbrechen (Cael. Aur. ac. m. III cap. VIII).

018. Phthisis, Therapie bei Cael. Aur. chr. m. cap. XIV.

019. Erkrankung der Milz, Therapie bei Cael. Aur. chr. m. III cap. IV.

020. Ruhr (δυσεντερία); über deren Pathologie gibt uns ein kurzes wörtliches Fragment Auskunft bei Gal. XVIII A 7, 15ff. Über die Therapie vgl. Cael. Aur. chr. m. IV cap. VI. Nach Plin. n. h. XX 66 gab P. auch Lattich (lactuca).

021. Podagra, darüber schrieb P. im 3. Buch Π. νούσων, (vgl. Cael. Aur. chr. m. V cap. II).

022. Zwei Geschwüre, von P. τέρμινθος und φύγεθρον genannt, werden beschrieben bei Oribasius (aus Rufus) CMG VI 2, 1 p. 132, 19 und 133, 14.

23. Elephantiasis (Aussatz); Pathologie bei Oribasius (aus Rufus) CMG VI 2, 1 p. 184, 22.

4. Diätetik und Pharmakologie.

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P. brachte (neben Hippokrates und Chrysippos) die von Herodikos begründete Diätetik zu einem gewissen Abschluß (Porphyr. schol. Hom. Il. XI 515). Er schrieb ausführlicher als Diokles über die Nahrungsmittel, und zwar auf der Grundlage seiner Säftelehre (Gal. CMG V 4, 2 p. 234, 1 ff. 23ff. 374, 11ff.). Gal. scr. min. III p. 85, 19ff. wird P. unter den alten Ärzten aufgezählt, die in der Gymnastik erfahren waren.

Seine Ansicht von der medizinischen Wirkung des süßen Weines und der Bekömmlichkeit des Wassers vermittelt uns Athen. I 32 d. II 41 a. 46 d; ferner, welche Säfte der Genuß von Äpfeln zur Folge hat, ebd. III 81 c.

[1742] Über den Gebrauch der Heilmittel scheint P. vieles in seiner Schrift Περὶ θεραπειῶν gebracht zu haben (vgl. Gal. XI 795, 8ff.). Wenige Einzelheiten erfahren wir aus den Scholien zu den Alexipharmaka des Nikander von Kolophon (ed. Schneider; vgl. auch Georg Wentzel Die Göttinger Scholien zu Nikanders Alexipharmaka, Abh. d. Ges. d. Wiss. Gött. 38. Bd., 1892): 312 über die giftige Wirkung des Stierblutes. 398 P. ) meinte, das tödlich wirkende Gift Φαρικόν sei benannt nach seinem Erfinder, einem gewissen Kreter Pharikos. 588 Aus Rohr bereitete P. ein Heilmittel gegen Krötengift.

IV. Schüler.

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Zu den Schülern des P. gehören Phylotimos, Pleistonikos, Xenophon von Kos, Herophilos und im gewissen Sinn auch Erasistratos. Von diesen haben sich die drei ersten sehr eng an die Lehre ihres Meisters angeschlossen, besonders Phylotimos (Gal. CMG V 4, 2 p. 234, 23ff.), der wohl auch der Nachfolger in der Leitung der koischen Schule wurde; jedenfalls wird er von Galen oft unmittelbar mit P. zusammen genannt (z. B. VII 124, 7. 138, 1. 614, 10; s. Diller o. Bd. XX S. 1030).

Ganz im Schatten des P. lebte und wirkte auch Pleistonikos, der vielleicht dem koischen Adel der Herakliden angehörte (s. Bardong o. Bd. XXI S. 210).

Über Xenophon von Kos vgl. Erot. frg. 33 (p. 108, 19 Nachm.) und Orib. CMG VI 2, 2 p. 132, 19ff., sowie Wellmann Herm. XXXV (1900) 370. 381. Ein anderer Xenophon von Kos, aber aus der Familie des P.-Schülers stammend, ist der Tac. ann. XII 61. 67 erwähnte Leibarzt des Kaisers Claudius (vgl. R. Herzog Nikias und Xenophon von Kos, Hist. Ztschr. Bd. CXXV 189ff.).

Herophilos von Chalkedon ist derjenige Schüler des P., der am meisten über seinen Lehrer hinausgewachsen ist und sich zu einer selbständigen wissenschaftlichen Persönlichkeit entwickelt hat. Zwar ist auch er der hippokratischen Humoralpathologie treu geblieben (Gal. V 685. XIV 699. Cels. praef. 15), aber eine eingehendere Beschäftigung mit der Anatomie veranlaßte ihn, grundlegende Irrtümer des P. zu bekämpfen. Vor allem erkannte er richtig den Ursprung der Nerven, die er νεῦρα αἰσθητικά nannte, aus Rückenmark und Gehirn (Rufus de appell. part. c. h. II 17). Der Puls ist die Schlagkraft der Arterien und daher wesensmäßig verschieden von παλμός, σπασμός und τρόμος; (als πάθη τῶν μυῶν), was P. geleugnet hatte (Gal. VII 584. 594. VIII 716). Außerdem vertrat er wohl, im Gegensatz zu P., die Ansicht, daß die Arterien Blut und nicht Pneuma führen; jedenfalls scheint Galen diese Ansicht bei Herophilos vorauszusetzen. Siehe Gossen o. Bd. VIII S. 1104ff., wo allerdings die Angabe, daß Herophilos bei P. dem Älteren gelernt habe, auf einem Irrtum beruht (vgl. o. unter I).

Erasistratos, der in erster Linie Schüler des jüngeren Chrysipp von Knidos war (Gal. XI 171. Wellmann o. Bd. VI S. 333ff.), dürfte insofern von P. beeinflußt sein, als er entschieden die Lehre vertrat, die Arterien enthielten nicht Blut, sondern Pneuma (Gal. IV 471. 664. 671). Zu dieser eigenartigen Lehre vgl. auch die Ausführungen [1743] von H. Diels über das physikalische System des Straton, S.-Ber. Akad Berl. 1893, 104.

Anhänger des P. nannten sich Πραξαγόρειοι (nach Gal. scr. min. II 95, 6).

V. Literatur.

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Sprengel-Rosenbaum Gesch. d. Medizin I 471ff. Hecker Gesch. d. Heilkunde I 218. Puschmann Handbuch d. Gesch. d. Medizin, hrsg. v. Neuburger u. Pagel, Jena 1902, I 276ff. Susemihl I 777ff. Car. Gottl. Kühn Commentationes I—III de Praxagora Coo, Lips. 1820. E. D. Baumann Praxagoras von Kos, Janus 1937, 167ff. W. Jäger Diokles v. Karystos, Berl. 1938, 225ff.