Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Meerenge, besonders die von Chalkis
Band VI,1 (1907) S. 1281 (IA)–1283 (IA)
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Euripos (Εὔριπος). 1) Meerenge überhaupt, insbesondere diejenige von Chalkis, die schmalste Stelle des langgestreckten Meeresarmes, der Euboia vom Festlande Mittelgriecendland trennt (vgl. die Kartenskizzen zum Art. Chalkis). Dieses ‚Euboeische Meer‘ (ἡ τῶν Εὐβοέων θάλαττα Anonym. descr. Gr. 29 [‌C. Müller Geogr. gr. min. I 105]; Εὐβοϊκὸς κόλπος Anth. Pal. IX 73, 1; Euboici sinus Propert. IV 1, 114) wird durch den E. ungefähr in der Mitte seiner Erstreckung in zwei Abschnitte geteilt, den nordwestlichen, breiteren (bis 20 km) und tieferen (bis 439 m) Kanal von Atalante, welcher mit dem malischen Golf in Verbindung steht – ein tektonischer Einbruch an Verwerfungen, an denen heiße Quellen und heftige Erdbeben ihren Ursprung nehmen, – und den südöstlichen, schmaleren und seichteren (bis 73 m) Kanal von Eretria und den durch eine Einschnürung davon abgetrennten petalischen Golf, der sich zum Kykladen-Meer öffnet. Dieser ganze südliche Abschnitt des euboeischen Meeres scheint kein Einbruch, sondern eine unter das Meer getauchte Erosionsfurche zu sein. Dieser letzteren Entstehung ist sicherlich das schmale Verbindungsstück, der E. selbst, der alle Anzeichen einer vom Meere überschwemmten Flusstalstrecke an sich trägt.

Von Süden, von dem hier nur etwa 35 m tiefen Kanal von Eretria her, verengt sich das Meer zuerst bei Burzi durch zwei von beiden Ufern vorspringende flache Deltaspitzen bis auf 550 m Breite und 8 m Tiefe; dann folgt eine etwas breitere Strecke (von 7 m Tiefe) mit zahlreichen Buchten, von mäßigen Höhen eingefaßt; dann wieder eine Enge, Stená, von nur 190 m Breite und 7 m Tiefe, die zu einem runden Becken von 8–10 m Tiefe führt: dem Südhafen von Chalkis. Aus diesem leitet dann die dritte Enge, der eigentliche E., nach Norden zum Kanal von Atalante, der sich alsbald trichterförmig erweitert. Diese Enge des eigentlichen E. ist etwa 11/2 km lang, die schmalste Stelle, am südlichen Eingang, aber nur etwa 100 m lang; sie war bis vor einigen Jahren durch eine Klippe, auf der ein mittelalterliches Kastell stand, in zwei Arme geteilt, von denen der auf der festländischen Seite etwa 15 m breit und kaum 1 m tief, der auf der euboeischen Seite 18 m breit und 5 m tief war, so daß ihn mittelgroße Dampfer passieren konnten. Vor einigen Jahren sind die Klippe und das Kastell fortgesprengt und der Schiffsdurchlaß auf 30 m Breite und 8 m Tiefe gebracht worden. Er ist von hohen Ufermauern eingefaßt, so daß man auf der euboeischen Seite die Natur des Ufers nicht erkennen kann. Es ist möglich, daß die [1282] Meerenge von dieser Seite her durch eine alte künstliche Aufschüttung verschmälert ist, um die Überbrückung zu erleichtern. Zu beiden Seiten der Meerenge erheben sich Hügel aus Kreidekalk und Serpentin (Streichen quer zur Meerenge ca. Ost-West). Auf der Inselseite sind die Hügel, auf denen unmittelbar am Ufer der engsten Stelle die Stadt Chalkis erbaut ist (s. d.), niedrig und binnenwärts umgeben und vom übrigen Gebirge losgelöst durch die lelantische Ebene. Auf dem Festlande erhebt sich der Kanethos, jetzt Karababa genannte 60 m hohe Hügel, der den Zugang zur Enge beherrscht und daher seit 334 v. Chr. befestigt war und es noch heute ist. Auch er wird landeinwärts von einer kleinen Ebene umgeben (jetzt Ebene von Chalia). Der E. ist nicht nur für die griechische Küstenschiffahrt als Durchlaß von grosser Bedeutung, sondern auch als Übergangsstelle des Landverkehrs vom Festland nach Euboia. Seit 411 v. Chr. war er von einer hölzernen Brücke von zwei Plethren (ca. 60 m) Länge überspannt, die zur Zeit Alexanders d. Gr. durch Türme, Thore und Mauern befestigt wurde (Diod. XIII 47. Strab. IX 400. 403. X 447). In neuerer Zeit wird die Enge auf einer eisernen Drehbrücke überschritten. Im E. und den benachbarten Meeresteilen wurden viele Purpurschnecken gefischt (Arist. hist. an. V 13, 3).

Ein Phänomen hat von jeher den E. weit über seine sonstige Bedeutung hinaus bekannt gemacht: die im Laufe des Tages wiederholt in ihrer Richtung umschlagenden heftigen Strömungen. Für die Schiffahrt sind sie sehr hinderlich; können doch selbst Dampfer zur Durchfahrt nur die wenigen Minuten benützen, wenn im Momente des Umschlagens der Strömung ein kurzer Stillstand eintritt. Sowohl die Stärke der Strömung, als die Häufigkeit und die Stunden des Umschlagens wechseln für den gewöhnlichen Beobachter scheinbar regellos. Außerhalb der engsten Stelle machen sie sich nur schwach bemerkbar. Diese Erscheinung – die übrigens in schwächerer und weniger regelloser Weise vielen Meerengen des Mittelmeers eigen ist – hat schon im Altertum die Aufmerksamkeit erregt; man hatte die Ähnlichkeit mit dem Phänomen der Ebbe und Flut, aber auch die davon abweichenden Unregelmäßigkeiten erkannt und sie vergebens zu ergründen versucht (Aristot. meteor. II 8, 7. Strab. I 36. 55. IX 403. Eustath. zu Dion. perieg. 473. Lucan. V 234. Aischyl. Ag. 191. Sophokl. Ant. 1145. Euripid. Iph. Taur. 6. 7. Mela II 108. Plin. II 219. Cic. de n. d. III 10. Seneca Herc. Oet. 780. Lyd. de mens. II 11; nach einer alten Sage soll Aristoteles aus Verzweiflung darüber, daß er das Problem des E. nicht lösen konnte, gestorben sein. Procop. bell. Goth. IV 66 p. 485 Bonn. Dionys. Byz. Anaplus Bosp. Thrac., Müller Geogr. gr. min. II 16); nach der verbreitetsten Annahme, der auch Strabon folgte, wechselte die Strömung siebenmal am Tage und ebenso oft des Nachts (was tatsächlich nur zu bestimmten Zeiten der Fall ist); dagegen spricht Livius XXVIII 6, 10 von der Regellosigkeit des Wechsels und führt die Strömungen auf von den Gebirgen herabwehende Winde zurück. Erst die Beobachtungen von Babin (1678) und von Miaulis (Περὶ τῆς παλιρροίας τοῦ Εὐρίπου, Athen 1882) und die [1283] darauf begründeten Arbeiten von Forel (Compt. rend. acad. sciences LXXXIX 2 [1879] 859) und Krümmel (zusammengefasst von Krümmel in Petermanns Mitt. 1888, 331ff. und in v. Boguslawski-Krümmel Handb. d. Ozeanographie ΙΙ, Stuttg. 1887, 143ff.) haben Licht über Gang und Ursachen dieser Strömungen verbreitet. Zur Zeit der Springfluten (Voll- und Neumond) beträgt die Fluthöhe auf der Nordseite des E. bis zu 1 m, während sich auf der Südseite die Gezeiten fast gar nicht bemerkbar machen. Durch diese starken Gezeiten im Kanal von Atalante, die im Kanal von Eretria fehlen, werden also zur Zeit der Springfluten beträchtliche Unterschiede im Niveau der beiden Meeresteile hervorgebracht, welche in der Enge heftige Strömungen (bis 81/2 Knoten = 4,3 m in der Secunde) erzeugen. Diese Gezeitenströmungen wechseln naturgemäß viermal in 24 Stunden ihre Richtung. Dagegen sind auf der Südseite des E., im Kanal von Eretria, kleinere und häufigere Schwankungen des Spiegels (5–20 cm, 16 bis 20 Wellen in 24 Stunden) fast beständig vorhanden, die mit den Gezeiten nichts zu tun haben, sondern zu der Klasse der stehenden Wellen (französisch seiches) gehören, die sich vielfach in geschlossenen Wasserbecken beobachten lassen und durch irgend welche Erschütterungen (Windstösse, Erdbeben, Luftdruckunterschiede) einmal angeregt, lange Zeit fortschwingen. Diese kleinen häufigen Schwankungen haben zur Zeit der Springfluten diesen größeren Bewegungen gegenüber kaum Einfluß, werden dagegen zur Zeit der tauben Fluten (der Quadraturen) wirksam und erzeugen dann, in Kombination mit den zu dieser Zeit geringen Gezeiten der Nordseite, schwächere, aber sehr unregelmäßige Strömungen, die auch von Witterungsverhältnissen abhängen; sie wechseln von nur einmal am Tage bis zu viermal in einer Stunde (!), am häufigsten 11 bis 14-mal in 24 Stunden (vgl. Strab. a. a. O.). Daher bezeichnete man im Altertum mit ‚Euripos‘ wetterwendische Menschen oder Dinge (Diogenian. III 39).

Der Name des E., vulgär Egripos, ist seit der byzantinischen Zeit auf die Stadt Chalkis und die Insel Euboia übertragen worden; daraus wurde, mit Rücksicht auf die E. Brücke, Nigripontis, Negroponte (vgl. Tafel Thessalonica 487ff.).

Bursian Geogr. v. Griechenl. I 215. II 396. Ulrichs Reisen u. Forschungen II (Berlin 1863) 219ff. Mediterranean Pilot IV 2. ed. 1892 S. 78f.; dazu Hydrogr. Notice I 1895 S. 7.