Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Bestimmungen bzgl. Vormundschaft beim Tod des Vaters
Band VI,1 (1907) S. 224225
Bildergalerie im Original
Register VI,1 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|VI,1|224|225|Ἐπίτροπος|[[REAutor]]|RE:Ἐπίτροπος}}        

Ἐπίτροπος. Aus der allgemeinen Bedeutung Verwalter (Demosth. XXVII 19) entwickelt sich die spezielle, Vormund Minderjähriger nach dem Tode des Vaters. Zumeist wurde dieser von dem Vater letztwillig bestellt (ὑπὸ τοῦ πατρὸς καταλελειμμένος, Lys. frg. 75, 1. 43 Sch. XXXII 5. Demosth. XXXVI 22. XXXVIII 10. XXXVI 8. Plat. Alk. I 104 b. Diog. Laert. V 12 und für Ephesos Dittenberger Syll.² 510, 56). Andernfalls ging die Vormundschaft auf die nächsten Verwandten des Vaters über, gesetzlich in Syrakus, Plat. epist. VII 345 d, vielleicht auch in Athen, Isai. I 9. V 10. Lys. X 5. Arg. Isai. X, in Sparta, Paus. III 5, 7. Thuk. I 132, nur in Ephesos a. O. scheint für diesen Fall Wahl durch das Volk eingetreten zu sein. In Athen hatte sich der Vormund beim Archon zu melden (ἐπίτροπον αὑτὸν ἰγγράψαι), Vorzugsstreitigkeiten wurden gerichtlich entschieden (εἰς ἐπιτροπῆς διαδικασίαν), und in Ermangelung solcher Ansprüche schritt der Archon auf Antrag zur Bestellung eines Vormunds (εἰς ἐπιτροπῆς κατάστασιν, Arist. resp. Ath. 56, 6). Für die Rednerzeit unzutreffend ist, was Diog. Laert. I 56 berichtet, Solon habe verboten, daß der Vormund die Mutter der Waisen heirate und daß zum Vormund bestellt werde, wer nach etwaigem Tod der Waisen Erbe sei. Im Gegenteil vermacht öfters geradezu ein Sterbender seine Frau einem Freunde und bestellt ihn zugleich zum Vormund seiner Kinder, Demosth. XXVII 5. XXXVI 8. LVIII 31. Charondas dagegen hatte für Thurioi angeordnet, daß die Vermögensverwaltung in den Händen der väterlichen, die Erziehung der Kinder in denen der mütterlichen Verwandten liegen solle, Diod. XII 15, und Plat.Leg. XI 924 b läßt mangels letztwilliger Verfügung je zwei Vormünder von väterlicher und mütterlicher Seite durch die Behörde bestellen, dazu einen fünften aus dem Freundeskreise. Eine Frau als Vormund erscheint in Erythrai im 3. Jhdt., allerdings mit ihrem κύριος zur Seite, Dittenberger Syll.² 600, 122. Und in Mylasa (Karien) kommt es vor, daß der verreiste Vater eines Mädchens in seiner Eigenschaft als κύριος durch ἐπίτροποι (nahe Verwandte) vertreten wird, Le Bas-Waddington III 1, 145. In Athen erwies der Vormund namens der Mündel dem Verstorbenen die Totenehren, Isai. 1 10, sorgte für Unterhalt der Witwe und Kinder aus dem hinterlassenen Vermögen, Harp. s. σῖτος. Bekker Anekd. I 238, verfügte, wenn die Mutter das Haus des Gatten verließ, über Unterbringung der Mündel, Plat. Prot. 320 a. Lys. XXXII 8. Aisch. I 42, und verwaltete das Vermögen entweder selbst Lys. a. O. Isai. IX 28. Demosth. XXXVIII 7, gemaß etwaigen letztwilligen Bestimmungen, Demosth. XLV 37. XXVII 40. XXVIII 5, oder er trug unter Einreichung eines Inventars (ἀπογραφή Isai. XI 34) beim Archon auf Verpachtung des Vermögens an, der diese vor Gericht vornahm (Isai. VI 36. Arist. resp. Ath. 56, 7), um über Einreden gleich entscheiden zu lassen. Der Vormund durfte es auch selbst pachten, Isai. a. O. Dittenberger Syll.² 510, 53. In jedem Falle war für [225] die Pacht hypothekarische Sicherheit zu bestellen (s. Ἂποτίμημα). Über die Verwaltung gab es gesetzliche Vorschriften, Lys. XXXII 23. Demosth. XXVII 58, die jedoch selbst überseeische Handelsunternehmungen nicht untersagt zu haben scheinen, Lys. XXXII 25. Von allen Leiturgien waren die Minderjährigen befreit, aber der εἰσφορά unterworfen, Lys. XXXII 24. Demosth. XIV 16. Die Oberaufsicht hatte in Athen der ἄρχων mit selbständiger Strafbefugnis, Demosth. XLIII 75. Außerdem stand während der Vormundschaft jedem beliebigen gegen den Vormund die Eisangelie ὀρφανῶν κακώσεως und die Phasis οἴκοθ ὀρφανικοῦ κακώσεως zu, von denen erstere die Person, die zweite das Vermögen der Mündel schützen soll, Arist. resp. Ath. 56, 6. Harp. s. φάσις. Die erste war für den Kläger völlig gefahrlos, beide waren für den Beklagten schätzbar, konnten also neben der Geldstrafe eine Ehrenstrafe eintragen, auch Enthebung von der Vormundschaft zur Folge haben, Isai. XI 31. Nach Beendigung derselben hat der Vormund Rechnung zu legen. Lys. XXXII 25, und kann binnen fünf Jahren, Demosth. XXXVIII 17, von dem Mündel durch die Privatklage ἐπιτροπῆς belangt werden (Harp. s. καρποῦ δίκη). Mehrere Vormünder hafteten nach Verhältnis, Demosth. XXVII 29. Daß es neben dem Archon in Athen noch besondere ὀρφανοφύλακες gegeben habe, [Xen.] Vect. II 7, ist nicht wahrscheinlich, da wir gar nichts von ihnen hören. Anderwärts gab es ὀρφανοδικασταί in Gortyn, XII 21. 25, συνορφανισταί in Ephesos, Dittenberger Syll.² 510, 29; vgl. auch die νομοφύλακες bei Plat. leg. XI 924 c. Lipsius Att. Proz. 549. Schulthess Vormundschaft nach attischem Recht, 1886. Hermann-Thalheim Rechtsaltertümer⁴ 14.