Natur und Übernatur in Goethes Faust
Die Goethe-Literatur dieses Jahres zeigt deutlich ein Ringen um eine klare Stellungnahme zu einem Geist, der wie wenige seine Zeit und die Nachwelt mitgeformt hat. Die Älteren fragen sich, was sie ihm von ihrer Bildung verdanken und welche Bedeutung für die Bildung der Jugend ihm heute noch zukommt. Drei Generationen unter den heute lebenden Katholiken zeigen eine deutlich unterschiedene Haltung.
Die Veteranen der Kulturkampfzeit neigen dazu, einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen. Ihre Aufgabe war es, Angriffe von außen abzuwehren, aber auch die Giftstoffe des Naturalismus und Rationalismus auszuscheiden, die sich in die eigenen Lebensadern der deutschen Katholiken eingeschlichen hatten. In ihren Aufgabenkreis gehört auch die Abwehr eines übertriebenen Goethekultes; sie fand ihren kraftvollsten Ausdruck wohl in A. Baumgartners großem Goethewerk.
Der Katholizismus der Kriegs- und Nachkriegszeit zeigte ein anderes Gesicht. Er war aus der Gefolgschaft gegenüber fremden Geistesrichtungen, aber auch aus einer rein negativen Abwehrhaltung ihnen gegenüber herausgetreten. Des unerschöpflichen Reichtums seiner Kirche froh bewußt, entdeckte er katholisches Geistesgut auch in andern Lagern und nahm es für sich in Anspruch. Diese Generation hat Goethe für sich entdeckt, sie wird nicht müde, auf immer neue katholische Werte in seinem Werk und in seiner Lebensgestaltung hinzuweisen. Sie stellt sich in den Dienst einer Goethe-Apologie nicht nur der älteren, sondern auch – und besonders – der jüngsten Generation gegenüber.
Denn die moderne Jugend, die Jugend von heute, soweit sie nicht [20] in alte Traditionen naiv hineingewachsen ist, sondern aus einem neuen Geist lebt, weiß mit Goethe nicht mehr viel anzufangen. Was kann Menschen, die in hartem Existenzkampf stehen, ein Mann sagen, der solche Not niemals kennen gelernt hat, der sich den „Luxus“ leisten konnte, seiner Bildung zu leben und in Fragen der künstlerischen Form letzte Lebensfragen zu sehen? Das ist nun freilich eine recht oberflächliche Sicht, und man kann es wohl verstehen, wenn diese Haltung für die Älteren schmerzlich anzusehen ist und wenn sie sich mit aller Kraft dafür einsetzen, Werte zu erhalten, von denen sie wissen, daß sie für die Gegenwart und für die Zukunft noch eine Bedeutung haben. Und man kann es begreifen, wenn sie in diesem Bemühen manchmal über das Ziel hinausschiessen und Grenzlinien verwischen, die gezogen bleiben müssen. Der Jugend die Augen zu öffnen für die großen Schöpfungen des deutschen Geistes, Ehrfurcht und Dankbarkeit dafür zu wecken, ist gewiß die erste Aufgabe. Dann aber zu klarer Stellungnahme zu kommen und zur Scheidung der Geister, das sind wir ihr ebenso sehr schuldig.
Im Dienste dieser Aufgabe möchte ich nun den Gedankenbau jenes Werkes, das man Goethes Summa genannt hat, in das Licht unseres Glaubens stellen.
Vor einigen Monaten sah ich in der Schweiz ein merkwürdiges Kirchengebäude: zwischen zwei frühgotischen Türmen eine Barockfassade, und demgemäß der Innenraum – zwei völlig verschiedene Organismen durcheinander gewachsen, sodaß man sich kaum ausdenken konnte, wie das Ganze entstanden sein mochte. An dieses Bauwerk mußte ich denken, als ich nicht lange danach wieder einmal die ganze Faustdichtung in einem Zuge durchlas. Auch hier haben wir einen doppelten Grundriß. Man kann versuchen, die beiden Bestandteile getrennt zu betrachten (nur den Grundriß, von allem Rankenwerk abgesehen), aber es wird nicht gelingen, die Trennung restlos durchzuführen, weil wir doch ein organisches Ganzes vor uns haben; und der Entstehungsprozeß ist ein geheimnisvoller. Wir wissen wohl, daß der junge Stürmer mit dem Barock- oder vielleicht richtiger Renaissancebau begann und daß der reife Meister die [21] gotischen Türme und Mauern darum legte. Aber stand nicht der ganze gotische Dom der Volkssage, ehe das Originalgenie Hand ans Werk legte, und hat nicht der Geist, der den alten Dom baute, dem Meister bei der Vollendung seines Baus die Hand geführt?
Wie dem auch sei – wir versuchen es zuerst mit dem Mittelbau, dem Renaissance-Faust, den wir auch den Sturm- und Drang-Faust oder den neuzeitlichen Faust nennen können. Er ist es auch, der den modernen Menschen, den Menschen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bis zu der Zeitenwende, in der wir jetzt stehen, vorwiegend anzog und beschäftigte, in dem er sich selbst wiederfand: der Urfaust, der Faust der großen Monologe und der Gretchentragödie, der Mensch mit den zwei Seelen, die ihn zu zerreißen drohen. Ein „Herr Mikrokosmos“ ist dieser Mensch, eine kleine Welt für sich: so wie er sich selbst fühlt, völlig einsam, abgeschlossen, verloren, ein Solus ipse. Keine Brücke führt von ihm zu den Herdenmenschen, den in ihrem engen Bezirk Befriedigten, in denen nichts von dem verzehrenden Feuer lodert, das er in sich spürt. Und doch drängt es ihn zu ihnen hin wie zu allem, was außer ihm ist. Er möchte die Schranken durchbrechen, die ihn in seinem engen Selbst festhalten, während er sich doch als Teil des großen Ganzen fühlt, des Makrokosmos, des lebendigen All. Er möchte durchbrechen zu diesem All, sich selbst dazu erweitern. Er hat es versucht auf dem gewöhnlichen Weg der menschlichen Erkenntnis, er hat die ganze Schulweisheit durchmessen und sie hat ihm nichts gegeben. Sie tastet von außen an den Dingen herum und zerbröckelt sie. Zum geistigen Band dringt sie nicht vor. Sie kann ihm nicht sagen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sie führt ihn so wenig ins Herz der Natur wie in den Geist vergangener Zeiten.
So hat er den Weg der Magie beschritten und wird bis zur Berührung mit der Geisterwelt geführt, aber nur, um von ihr als einer ganz andern, ihm unfaßlichen, in sich selbst zurückgeschleudert zu werden. – Gibt es nicht noch einen Weg, aus sich selbst heraus- und in die große Geisterwelt hineinzugelangen? Die irdische Hülle zu zerbrechen und frei durch das dunkle Tor des Todes hindurchzuschreiten? Die süßen Töne der Ostergesänge bewegen ihn auf der Schwelle zur Umkehr. Was gibt ihnen diese Macht? Erinnerung an ein unbegreiflich holdes Sehnen, so meint er selbst, das sie einmal in ihm weckten, an ein verlorenes Jugendglück.
[22] Es gibt noch Beglückendes für ihn auf dieser Erde, die er verlassen wollte. Er fühlt es auf dem Osterspaziergang. Die Einheit, die ihm der Verstand nicht aufdeckt, er spürt sie am Herzen der Natur, spürt sie im umfriedeten Kreis schlichten Menschendaseins. Er möchte über die Welt dahinfliegen, um all ihre Schönheit in sich zu trinken, ins Leben hinabtauchen, um alles Wohl und Weh der Menschheit durchzukosten. So tritt er seine Weltfahrt an. Gemeine Lust vermag ihn nicht zu fesseln – dazu ist der Geistestrieb zu mächtig in ihm. Aber er erfährt auch den anderen Trieb und seine zerstörende Gewalt. Seine Sehnsucht nach Durchbrechung der Einsamkeit, der Enge des eigenen Seins, findet beglückende Erfüllung, als ein Menschenwesen in seiner lieblichsten Gestalt, jung und unschuldig rein, grenzenlos liebend und vertrauend sich ihm überläßt. Das Ende ist Vernichtung – die Zerstörung dieser ganzen, kleinen, friedvollen Welt.
Hier endet die Jugenddichtung, und nicht wenige begnügen sich mit diesem Fragment, abgeschreckt durch die Schwierigkeit der späteren Teile. Sind sie nicht im Verhältnis zu diesem blut- und lebensvollen Kernstück blasse Allegorie? Doch der ernsthafte Leser geht weiter, und wenn er naturalistisch eingestellt ist, sucht er im selben Sinn wie bisher weiter zu deuten.
Wie liebliche Erinnerung einst den Helden von der Schwelle des Todes ins Leben zurücklockte, so nimmt ihm heilsames Vergessen den Druck der Schuld von der Seele und läßt ihn erwachen zu einem Leben der Tat. So wenig ihn niederer Genuß fesseln konnte, so wenig lockt ihn eitler Ruhm. Ehre und Einfluß am Kaiserhof vermögen ihn nicht festzuhalten. Gewaltig zieht ihn das Ideal reiner Schönheit an. Er scheut nicht die äußerste Entsagung und Vereinsamung, um ihm auf die Spur zu kommen und es für diese Welt zu gewinnen. Freilich kann es hier noch nicht dauernder Besitz werden. Aber wer es einmal erfaßt hat, dessen Blick zieht es dauernd hinauf zum Ewigen. Es trägt ihn auf eine freie Höhe, von der aus er diese Welt und seine Aufgaben darin erkennt. Er beginnt ein Leben beharrlicher Arbeit, des Kampfes gegen die „zwecklose Kraft unbändiger Elemente“, um „vielen Millionen Räume zu eröffnen“, „auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen“. Im Vorgefühl des erreichten Ziels genießt er den höchsten Augenblick seines Lebens, zugleich der Unzerstörbarkeit seines rastlosen Wirkens gewiß, und dieser [23] Augenblick wird ihm zum Durchgang in das Reich höchsten und reinsten geistigen Seins.
Was wird bei solcher „natürlicher“ Betrachtungsweise aus dem Gefährten, der Faust auf seiner Weltfahrt zur Seite steht als Führer und Verführer bei seinen Genüssen, als Diener und Werkzeug seiner Taten? Was wird aus dem Prolog im Himmel, der den Knoten dieses Erdendramas schürzt? Was aus der Himmelsherrlichkeit, die sich dem immer Strebenden öffnet? Das Teufelsbündnis stand im Mittelpunkt der Faustsage. Es konnte unmöglich gestrichen werden, das hätte die Preisgabe des ganzen Stoffes bedeutet. Aber der moderne Leser ist ja sicher, daß der Dichter so wenig wie er selbst an die persönliche Existenz des Bösen geglaubt hat. Mephisto selbst spottet genug über das alte Gespenst des Volksglaubens. Ist nicht der Gegensatz zwischen dem Herrn und dem Widersacher, zwischen Himmel und Hölle nur eine kühne poetische Bildersprache für den Kampf der zwei Seelen in des Menschen eigener Brust, zwischen dem Geist, der rastlos wirken und ewigen Idealen entgegenstreben will, und den niederen Trieben, die ihn an den Staub fesseln, die ihn von seinen Zielen ablenken, die es dahin bringen, daß seine Taten zerstören statt aufzubauen? (Man könnte auch sagen: zwischen der höheren, auf das Ewige gerichteten Vernunft und der niederen, die nur irdischen Zwecken dient, die Wege zu flüchtigen Genüssen ebnet, die sie selbst hinterher mit kritischer Schärfe wieder vernichtet.) Aber der Geist braucht sich den Trieben nicht zu unterwerfen. Er kann ihnen „kräftig widerstehen“, und wenn er das tut, dann wandelt sich ihr Fluch zum Segen: sie sind ihm ein Anreiz zur Betätigung, sie steigern seine Kraft und werden so gezwungen, Gutes zu wirken. Mag sein, daß diese Auffassung der Lebensanschauung des Dichters ziemlich nahe kommt. Aber damit wäre noch nicht gesagt, daß sie der Tragödie letzten Sinn erschlösse.
Über Goethes religiöse Weltanschauung ein abschließendes, eindeutiges Urteil sprechen zu wollen, schiene mir ein sehr gewagtes Unternehmen. Seine Äußerungen sind so vielfältig und widersprechend. Und vielleicht hat er das Tiefste niemals gesagt. Aber wovon der Dichter als Mensch überzeugt ist und was sich in seinem Werk ausspricht, das braucht sich keineswegs zu decken. Sobald er als Künstler schafft, ganz rein dem schöpferischen Prozeß hingegeben, steht er „unter höheren Geistes Gewalt“. Und so ist der letzte [24] Schlüssel zum Verständnis nicht der Dichter, sondern die Dichtung selbst. Diese Dichtung bietet aber dem gläubigen oder wenigstens in der christlichen Glaubenswelt bewanderten Leser noch etwas ganz anderes als die Kämpfe einer einsam ringenden Menschenseele.
Damit verlassen wir das Renaissancegebäude und treten in den gotischen Dom ein. – Es ist unverkennbar, daß rein dichterisch betrachtet der Prolog im Himmel einen ganz andern Charakter hat als etwa der Maskenzug, die klassische Walpurgisnacht oder das Helena-Drama des II. Teils. Dort haben wir eine allegorische Bildersprache, die ganz anderes meint als das, was bildhaft dargestellt ist. Hier treten wir in eine Welt realen Seins und Geschehens ein, die nicht mehr über sich hinausweist auf etwas, was „eigentlich gemeint ist“. Für den Gläubigen ist es keine fremde Welt, sondern eine, die ihm lieb und vertraut ist, in die er mit Ehrfurcht und heiliger Freude hineinschaut: die himmlischen Heerscharen, die das ewige Sanctus singen, in seinen Werken den Schöpfer preisen, hoch erhaben über menschliche Erkenntniskraft und doch unvermögend, den Unaussprechlichen zu fassen, und in der demütigen Erkenntnis ihres Unvermögens befriedet, in „süßer Sachlichkeit und beschwingtem Ernst“[1] zum Dienst des Ewigen bereit.
Ein greller Mißton zerreißt diese Harmonie: die freche Rede des Schadenstifters, der zerstörend in Gottes Schöpfung einzutreten sucht, der es wagt, vor dem Herrn zu erscheinen und ihm eine Wette anzubieten, als wäre er eine Macht neben dem Allerhöchsten, und doch wider Willen gestehen muß, daß sein Wirken nicht weiter reicht, als Gottes Zulassung es ihm bemißt. Um des Menschen Seele geht der Kampf. Himmel und Hölle ringen um sie. Wenn wir sie sehen werden in ihrer Einsamkeit und Not, nur in dunklem Drange ihres Weges bewußt, der für sie in Nacht und Nebel gehüllt ist, wenn wir Zeuge werden ihres Ringens, ihres Fallens und Wiederaufstehens, wird uns die tröstliche Gewißheit begleiten, daß sie in Gottes Hände gezeichnet ist, daß ihr Weg und Ziel sonnenklar vor [25] dem Blick des Ewigen liegen und daß er seinen Engeln befohlen hat über sie, daß sie aus dem Irren zur Klarheit geführt werde[2].
Zwei Seelen ringen in der Brust des Einsamen. Aber er steht nicht allein in diesem Kampf. Eine Macht ist neben ihm, die alles Niedere aufreizen, den Geist in Fesseln schlagen und von seinem Urquell abziehen will. Ihr Einfluß ist auf seinem ganzen Weg zu spüren. Hat er, sich selbst überlassen, als echter Adamssohn verzweifelte Anstrengungen gemacht, über seine eigenen Grenzen zu springen, so verkehrt sich in der Gegenwart des Versuchers der Schmerz über die Ohnmacht seines Geistes in den furchtbaren Fluch über alle Himmelsgaben. Er, der über alles Irdische hinausstrebte, will nun von nichts mehr wissen als den Freuden und Leiden dieser Erde, wenn auch nur, um sich immer aufs Neue von ihrer Nichtigkeit zu überzeugen. Er, dessen Wandel bisher makellos war, dem noch jetzt der Anblick der Unschuld und Reinheit mächtig ans Herz greift, läßt sich doch dazu verführen, sie mit Teufelskünsten ins Netz zu locken; er läßt das Ehr- und Pflichtgefühl, das sich gegen die falsche Zumutung des falschen Zeugnisses empört, mit höllischer Sophistik beschwichtigen. Selbst als er sich der Führung Mephistos mehr und mehr entwindet, sich Ziele steckt, die dem höllischen Gefährten nicht genehm sind – die Gewinnung Helenas, die Arbeit am Meeresstrande –, kann er ihn als Helfer nicht entbehren und befleckt dadurch immer wieder seine Unternehmungen mit Freveltaten. Ihm, den einst Glockenklänge von der Schwelle des Todes ins Leben zurückriefen, ist der Ton des Aveglöckchens widerlich.
Bei alledem ist er der Macht der Hölle nicht schutzlos preisgegeben. Können wir es als einen „Zufall“ ansehen, daß in dem Augenblick, wo er den Todestrank an die Lippen setzt, die Ostergesänge ertönen? Und sollte wirklich eine bloße Erinnerung an fromme Jugendtage die Kraft haben, ihn von dem letzten Schritt zurückzuhalten? Nein, für den Blick des Glaubens ist es Gnadenführung und Gnadenwirkung, vielleicht die Frucht jener früheren, heilig begangenen Ostertage. Wenn der fromme Kindersinn der Geliebten nach seinem Glauben fragt und ihre ahnungsvolle Seele ihn zur Trennung von dem unheimlichen Gesellen mahnt, pocht da nicht Gottes Gnade [26] mächtig an sein Herz? Ist sie es nicht, die mitten im Hexentreiben der Walpurgisnacht das bleiche Bild der Verlassenen vor ihm erscheinen läßt und ihn zu ihrer Rettung antreibt? Machtvoll tut sie sich in der Seele der Verurteilten kund, die sich von dem Geliebten losreißt und den Weg der Buße und des Todes wählt, in der Stimme des Engels, der ihre Rettung verkündet. Vermag sie ihn jetzt noch nicht von dem Gefährten zu trennen, so wird sie doch unaufhaltsam weiterwirken. Von jetzt an wird er sich nicht mehr einfach führen lassen, sondern nach eigenen, nach hohen Zielen Ausschau halten, nach solchen, die der Geist der Verneinung nicht zu fassen vermag.
Das Los der Seele ist kein mechanisches Ergebnis ihrer widerstreitenden Kräfte; sie ist auch kein Spielball im Kampf zwischen Himmel und Hölle. Er wählte in Freiheit selbst seinen Weg, eben dadurch dem Irren ausgesetzt. Kraft seiner Freiheit glaubt er sich den Durchbruch in eine höhere Welt erzwingen zu können, und ein freier Entschluß läßt ihn auf der Schwelle umkehren. So hoch gilt ihm die Freiheit, daß er als Anfang alles Seins die Tat setzt. In freier Entscheidung schließt er den Pakt mit dem Teufel, gibt seinen Einflüsterungen nach, als sein besseres Selbst ihn Gretchens Nähe fliehen heißt, zwingt ihn andererseits, mit ihm zu ihrer Rettung zur Stadt zurückzueilen. Sein freier Wille ist es wiederum, wenn er mit dem Gefährten flieht, statt mit ihr den Bußweg zu gehen. Frei entschließt er sich, dem Schaudern der Natur zum Trotz, zu den „Müttern“ hinabzusteigen, um das Bild der höchsten Schönheit zu finden und sie auf diese Welt heraufzubeschwören. Frei entscheidet er sich zum Kampf mit den Elementen in mühevoller Arbeit. Und Mephisto selbst muß ihm schließlich bezeugen, daß er ihm kräftig widerstanden hat. Eben dieses rastlose Streben des freien Geistes ist nach dem Gesang der himmlischen Chöre die Vorbedingung seiner Rettung: Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.
Rundet sich damit Goethes Lebensdichtung zum katholischen Weltbild, tritt er an die Seite Dantes und Calderons? Es scheint fast, als wäre alles Nötige vorhanden: der Mensch, mit natürlichem Drange dem höchsten Ziel entgegenstrebend, aber von niedern Trieben aufgehalten und abgelenkt, böse und gute Geister an seiner Seite, er frei wählend dazwischen und damit der Gnadenhilfe von oben sich entgegenbemühend? Und doch wird jeder, der mit unbefangenem [27] und unverbildetem katholischen Sinn an die Dichtung herantritt, deutlich spüren, daß hier etwas Wesentliches fehlt, er wird der Lösung des Dichters den Glauben versagen. Die lieblichen Chöre des Schlußbildes haben nichts von der biblischen Kraft der Erzengelhymnen im Prolog. Eher erinnern sie an die Gesänge, mit denen Mephistos dienende Geister Faust in Schlummer singen, an die Elfenlieder, die ihm die Reue aus der Seele schmeicheln. Sie möchten unsere Sinne betören und uns Unmögliches glaubhaft machen.
„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ – das ist eine Scheinwahrheit, wenn dieses Streben nicht formal und material bestimmt ist, wenn es nicht Streben nach dem Guten selbst um seiner selbst willen ist. Fausts Geist ist von seinem Urquell abgelenkt worden, er hat sich in freier Entscheidung vom höchsten Gut abgewendet und hat niemals eine Rückwendung vollzogen. Ja, er scheint sich in seinen letzten Lebenstagen und Augenblicken entschiedener als je ganz auf das Irdische zu beschränken und dem Ewigkeitssehnen seiner Jugend den Rücken zu kehren, er scheint wie von einem Tätigkeitsfieber ergriffen, das ihn treibt, sein Lebenswerk zum Abschluß zu bringen. Und wenn er unter dem Anhauch der Sorge erblindet, so will uns das – trotz seiner eigenen Versicherung, daß in seinem Inneren helles Licht leuchtet – wie ein Symbol jener geistigen Verblendung dünken, die den letzten Dingen zu entgehen sucht, indem sie die Augen davor schließt.
Wie sollen wir glauben, daß dieser Geist, der sich selbstherrlich auf die eigene Kraft stellt, zu den „reuig Zarten“ gehöre, bei denen die Liebe von oben Eingang finden, die sie reinigend durchdringen, als Ziel ihres Sehnens emporziehen und schließlich beseligend ganz in sich bergen kann?
Es hat nur den Anschein, als kämen Natur, Freiheit und Gnade in Goethes Lebensdichtung zu ihrem Recht. Die Freiheit wird nicht angewendet um der Gnade entgegenzustreben und die Pforten zu öffnen, die Gnade soll mechanisch ihr Werk verrichten, den, der sich gegen sie verschlossen hat, ergreifen und emportragen, ohne daß er den Berg der Läuterung zu ersteigen braucht. Dieser Berg heißt Kalvaria und auf ihm hochragend das Kreuz, jenes Zeichen, dem Goethe ausgewichen ist und das doch für alle Ewigkeit als der einzige Weg von der Erde zum Himmel aufgerichtet ist. Das Zeichen, das zu klarer Scheidung und Entscheidung auffordert.
´ [28] Wir haben nicht zu urteilen über den Menschen Goethe, über seinen Glauben, über das, was zwischen ihm und dem Herrn vorging in jenen Augenblicken, die über des Menschen Ewigkeit entscheiden. Das sind Geheimnisse Gottes, in die kein Menschenauge hineinschaut. Wir stehen vor des größten deutschen Dichters größter Dichtung und fragen uns: können wir dieses Werk der deutschen Jugend und dem deutschen Volk in die Hände legen und sagen: nehmt es hin, nehmt es in euch auf, laßt euch ganz durchdringen von dem Geist, der darin lebt und daraus spricht; es ist das Beste, das wir euch zu bieten haben, es ist das Eine, das nottut? Wir blicken auf zum Bild des Gekreuzigten und sagen: Nein.
Dieses Werk gehört zu den wenigen ganz großen Menschheitsdichtungen, weil es die große Frage der Menschheit, die Frage nach Sündenfall und Erlösung, in ihrer ganzen Tiefe und Weite und Schwere aus der Fülle des Menschenlebens heraus sich entrollen läßt. Aber sie beantwortet diese Frage mit einer blendenden Scheinlösung. Das große Werk ist, wenn wir versuchen, es als den gotischen Dom zu nehmen, den die Eingangshalle verspricht, ein gewaltiger Torso. Nehmen wir es als Ganzes, so wie es sich darstellt, wenn wir alle seine Teile durchwandern, so ist es kein einfacher Organismus, sondern zwei Grundrisse von völlig verschiedenem Charakter durchdringen sich: das, was wir als Renaissancebau und als gotischen Dom bezeichneten. Es liegt nicht nur an der Willkür oder der subjektiven Einstellung des Beschauers, wenn es einmal als Tragödie des modernen, des neuzeitlichen Menschen und zugleich als Selbstbekenntnis des Menschen Goethe erscheint und von der andern Seite als das große Menschheitsdrama schlechthin. Beides steckt darin und keiner der beiden Grundrisse hat den andern zu überwinden und zu verdrängen versucht, und schließlich ist das Ganze als ein Notbau zum Abschluß gebracht worden. Man kann es als individuelle Bekenntnisdichtung nehmen und verfolgen, wie das Werden und die Wandlungen des Menschen Goethe sich darin niedergeschlagen haben. Man kann es als Symbol des deutschen Geisteslebens nehmen: wie der große Dom des geschlossenen mittelalterlichen Weltbildes durchbrochen wurde in der Zeitenwende der Renaissance, wie ein verzweifeltes Suchen und Ringen an die Stelle des Stehens auf Felsengrund trat, und schließlich statt des Ringens um Ewigkeitsfragen eine Beschränkung auf greifbare, praktische Ziele. Man kann es [29] schließlich sub specie aeterni betrachten: jeder große Genius ist ein Werkzeug des Allerhöchsten; ein Sprachrohr, durch das der Geist Gottes sich vernehmen lassen will, jedes reine Kunstwerk eine Offenbarung göttlicher Wahrheit in einer Sprache, die dem Menschengeist und dem Menschenherzen verständlich ist. Aber es ist dies nur genau so weit, als der Künstler sich dem Geist, der über ihm ist, überläßt, in reinem Sachgehorsam sich selbst vergessend, und nicht mit eigener Willkür dazwischen fährt.
Goethe ist wie nur irgendeiner begnadet worden mit den Augen, die die reine Schönheit schauen, mit dem Herzen, das davon zur Glut entflammt wird, mit der Gabe des Wortes, das davon zu künden weiß. Er hat das reine Ideal des Künstlertums besessen, wie es sich im Helena-Drama der Fausttragödie ausspricht. Aber niemals hat der Künstler den Menschen – auch im Sinne des Allzumenschlichen – ganz überwunden. Und vielleicht wird es nirgends deutlicher als an dem Werk, das wie kein anderes mit seinem ganzen Leben verwachsen ist, wie dem reinen Gebilde fremder Stoff sich anhängt, sodaß es nicht zum voll und rein ausgestalteten Kristall werden kann. Es wird lebenslanger, liebevoller Vertiefung bedürfen, um zu scheiden, was reines Gebilde und was fremder Stoff ist.
Wir kehren zu dem Bildungsproblem zurück, von dem wir ausgingen. Das Größte, was der deutsche Geist hervorgebracht hat, muß in der deutschen Bildung eine Stelle haben. Dazu hinführen und Ehrfurcht vor den Werken des Geistes erwecken ist eine erste Aufgabe. Dann aber: prüfet alles und das Beste behaltet! Das heißt nicht Verführung zu unreifer Kritik. Es heißt nur Bewahrung vor blinder Bewunderung, es heißt nur Mahnung daran, daß wir einen absoluten Maßstab haben, den wir niemals aus den Händen legen dürfen, und ein Wahrzeichen, an dem sich unser Weg von jedem andern Weg scheidet.
Das Wahrzeichen, das über unserer Menschenbildung steht, kann nicht ein Goethebild sein, sondern das Kreuz. Goethe sagt davon: „Wir halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, jenes Martergerüst und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr dies Schauspiel aufdrang, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, als bis das Würdigste gemein und [30] abgeschmackt erscheint“[3]. Man darf sich die Mahnung ernstlich zu Herzen nehmen, mit dem Heiligsten nicht zu spielen und zu tändeln. Aber Goethes eigentümliche Stellung zum Zeichen unserer Erlösung bedarf doch noch genauerer Prüfung. Sie scheint mir ganz tief mit seiner innersten Haltung zur Welt und zum Christentum zusammenzuhängen. Wie er das Kreuz verhüllen möchte, so hat er für die Idee „Sünde“ und „Reue“ keinen Raum.
Die katholischen Goetheverehrer, die sich bemühen, recht ins Licht zu stellen, was uns mit ihm verbindet, weisen mit Recht darauf hin, mit welch tiefer Ehrfurcht er zeit seines Lebens vor Gottes Schöpfung gestanden hat. Jedes Ding war ihm Auswirkung einer ewigen Idee, vergängliches Gleichnis eines Unvergänglichen. Mit liebendem Blick hat er jedes Gebilde der Natur umfaßt, bestrebt, die reine Idee herauszuschauen und nachzugestalten. Er sieht gleichsam die Natur, wie sie aus Gottes Händen hervorging. Unverträglich ist ihm der Gedanke, daß durch diese Gotteswelt ein unheilbarer Riß hindurchgehen sollte. Wohl kennt er die Schuld und ihren lastenden Druck auf der Menschenseele, aber sie erscheint eher als Schicksal denn als Sünde: „Ihr führt ins Leben ihn hinein, ihr laßt den Armen schuldig werden“! Und seine ehrfürchtige Liebe zur gottgeschaffenen und von Gottes Odem belebten Welt läßt ihn daran glauben, daß sie die Heilkräfte in sich selbst tragen müsse.
Eduard Spranger hat in einem seinen Aufsatz im Inselalmanach auf das Goethejahr 1932 darauf hingewiesen, daß in der Faustdichtung neben der Tragödie des Mannes, der von Stufe zu Stufe zu Formen immer höheren Strebens emporsteigt, ein Paralleldrama in Ansätzen zu finden sei: ein Stufen reich von immer höheren Formen der Liebe, die sich in den weiblichen Gestalten verkörpern, bis zur höchsten und reinsten: der erbarmenden und erlösenden Liebe, die im Bilde der Jungfrau-Mutter-Königin erscheint. Das geheimnisvolle „Das Ewigweibliche zieht uns hinan“ würde also dahin zu deuten sein, daß in das Wesen der Frau erlösende Kräfte gelegt sind. Ein Gedanke von erhabener und herzbewegender Schönheit, der eine heilige Verantwortung auf uns legt. Er darf uns aber nicht blind machen gegen die harte Tatsache, daß der Riß der Erbsünde durch die ganze Schöpfung und durch die weibliche wie durch die männliche [31] Natur geht und daß erst durch die Erlösung die Natur der Frau ihre Reinheit und ihre Heilkraft gewinnt. So groß und erhaben sich im Schlußbild der Faustdichtung die Gemeinschaft der Heiligen vor uns enthüllt, das ewige Urbild zu dem vergänglichen Gleichnis menschlichen Gemeinschaftslebens[4], so lieblich und beglückend die erbarmende und erlösende Liebe in der Gestalt der Himmelskönigin und der sie umschwebenden heiligen Büßerinnen: sie alle sind kraftlos aus sich selbst, sie vermögen nichts anderes als die Ströme der Gnade weiterzuleiten, die am Stamm des Kreuzes entspringen: aus dem geöffneten Herzen des Erlösers, das unsere Sünden durchstachen.
- ↑ So hat es H. CONRAD-MARTIUS in ihren Metaphysischen Gesprächen ausgedrückt. (Halle 1921)
- ↑ Sic im Manuskript. Ergänzung zur Verdeutlichung des Textes: „... daß er seinen Engeln befohlen hat, über sie zu wachen, daß sie aus dem Irren...“ (Anm. der Herausgeber)
- ↑ Wilhelm Meisters Wanderjahre, II 2.
- ↑ So hat es H. HEFELE in seinem schönen Buch Goethes Faust (Stuttgart 1931) gedeutet.