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Abschnitt II

schließlich sub specie aeterni betrachten: jeder große Genius ist ein Werkzeug des Allerhöchsten; ein Sprachrohr, durch das der Geist Gottes sich vernehmen lassen will, jedes reine Kunstwerk eine Offenbarung göttlicher Wahrheit in einer Sprache, die dem Menschengeist und dem Menschenherzen verständlich ist. Aber es ist dies nur genau so weit, als der Künstler sich dem Geist, der über ihm ist, überläßt, in reinem Sachgehorsam sich selbst vergessend, und nicht mit eigener Willkür dazwischen fährt.

Goethe ist wie nur irgendeiner begnadet worden mit den Augen, die die reine Schönheit schauen, mit dem Herzen, das davon zur Glut entflammt wird, mit der Gabe des Wortes, das davon zu künden weiß. Er hat das reine Ideal des Künstlertums besessen, wie es sich im Helena-Drama der Fausttragödie ausspricht. Aber niemals hat der Künstler den Menschen – auch im Sinne des Allzumenschlichen – ganz überwunden. Und vielleicht wird es nirgends deutlicher als an dem Werk, das wie kein anderes mit seinem ganzen Leben verwachsen ist, wie dem reinen Gebilde fremder Stoff sich anhängt, sodaß es nicht zum voll und rein ausgestalteten Kristall werden kann. Es wird lebenslanger, liebevoller Vertiefung bedürfen, um zu scheiden, was reines Gebilde und was fremder Stoff ist.

Wir kehren zu dem Bildungsproblem zurück, von dem wir ausgingen. Das Größte, was der deutsche Geist hervorgebracht hat, muß in der deutschen Bildung eine Stelle haben. Dazu hinführen und Ehrfurcht vor den Werken des Geistes erwecken ist eine erste Aufgabe. Dann aber: prüfet alles und das Beste behaltet! Das heißt nicht Verführung zu unreifer Kritik. Es heißt nur Bewahrung vor blinder Bewunderung, es heißt nur Mahnung daran, daß wir einen absoluten Maßstab haben, den wir niemals aus den Händen legen dürfen, und ein Wahrzeichen, an dem sich unser Weg von jedem andern Weg scheidet.

Das Wahrzeichen, das über unserer Menschenbildung steht, kann nicht ein Goethebild sein, sondern das Kreuz. Goethe sagt davon: „Wir halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, jenes Martergerüst und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr dies Schauspiel aufdrang, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, als bis das Würdigste gemein und

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Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/29&oldid=- (Version vom 31.7.2018)