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Abschnitt I

gotischen Türme und Mauern darum legte. Aber stand nicht der ganze gotische Dom der Volkssage, ehe das Originalgenie Hand ans Werk legte, und hat nicht der Geist, der den alten Dom baute, dem Meister bei der Vollendung seines Baus die Hand geführt?

Wie dem auch sei – wir versuchen es zuerst mit dem Mittelbau, dem Renaissance-Faust, den wir auch den Sturm- und Drang-Faust oder den neuzeitlichen Faust nennen können. Er ist es auch, der den modernen Menschen, den Menschen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bis zu der Zeitenwende, in der wir jetzt stehen, vorwiegend anzog und beschäftigte, in dem er sich selbst wiederfand: der Urfaust, der Faust der großen Monologe und der Gretchentragödie, der Mensch mit den zwei Seelen, die ihn zu zerreißen drohen. Ein „Herr Mikrokosmos“ ist dieser Mensch, eine kleine Welt für sich: so wie er sich selbst fühlt, völlig einsam, abgeschlossen, verloren, ein Solus ipse. Keine Brücke führt von ihm zu den Herdenmenschen, den in ihrem engen Bezirk Befriedigten, in denen nichts von dem verzehrenden Feuer lodert, das er in sich spürt. Und doch drängt es ihn zu ihnen hin wie zu allem, was außer ihm ist. Er möchte die Schranken durchbrechen, die ihn in seinem engen Selbst festhalten, während er sich doch als Teil des großen Ganzen fühlt, des Makrokosmos, des lebendigen All. Er möchte durchbrechen zu diesem All, sich selbst dazu erweitern. Er hat es versucht auf dem gewöhnlichen Weg der menschlichen Erkenntnis, er hat die ganze Schulweisheit durchmessen und sie hat ihm nichts gegeben. Sie tastet von außen an den Dingen herum und zerbröckelt sie. Zum geistigen Band dringt sie nicht vor. Sie kann ihm nicht sagen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sie führt ihn so wenig ins Herz der Natur wie in den Geist vergangener Zeiten.

So hat er den Weg der Magie beschritten und wird bis zur Berührung mit der Geisterwelt geführt, aber nur, um von ihr als einer ganz andern, ihm unfaßlichen, in sich selbst zurückgeschleudert zu werden. – Gibt es nicht noch einen Weg, aus sich selbst heraus- und in die große Geisterwelt hineinzugelangen? Die irdische Hülle zu zerbrechen und frei durch das dunkle Tor des Todes hindurchzuschreiten? Die süßen Töne der Ostergesänge bewegen ihn auf der Schwelle zur Umkehr. Was gibt ihnen diese Macht? Erinnerung an ein unbegreiflich holdes Sehnen, so meint er selbst, das sie einmal in ihm weckten, an ein verlorenes Jugendglück.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/21&oldid=- (Version vom 31.7.2018)