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Natur und Übernatur in Goethes „Faust“

in alte Traditionen naiv hineingewachsen ist, sondern aus einem neuen Geist lebt, weiß mit Goethe nicht mehr viel anzufangen. Was kann Menschen, die in hartem Existenzkampf stehen, ein Mann sagen, der solche Not niemals kennen gelernt hat, der sich den „Luxus“ leisten konnte, seiner Bildung zu leben und in Fragen der künstlerischen Form letzte Lebensfragen zu sehen? Das ist nun freilich eine recht oberflächliche Sicht, und man kann es wohl verstehen, wenn diese Haltung für die Älteren schmerzlich anzusehen ist und wenn sie sich mit aller Kraft dafür einsetzen, Werte zu erhalten, von denen sie wissen, daß sie für die Gegenwart und für die Zukunft noch eine Bedeutung haben. Und man kann es begreifen, wenn sie in diesem Bemühen manchmal über das Ziel hinausschiessen und Grenzlinien verwischen, die gezogen bleiben müssen. Der Jugend die Augen zu öffnen für die großen Schöpfungen des deutschen Geistes, Ehrfurcht und Dankbarkeit dafür zu wecken, ist gewiß die erste Aufgabe. Dann aber zu klarer Stellungnahme zu kommen und zur Scheidung der Geister, das sind wir ihr ebenso sehr schuldig.

Im Dienste dieser Aufgabe möchte ich nun den Gedankenbau jenes Werkes, das man Goethes Summa genannt hat, in das Licht unseres Glaubens stellen.


I

Vor einigen Monaten sah ich in der Schweiz ein merkwürdiges Kirchengebäude: zwischen zwei frühgotischen Türmen eine Barockfassade, und demgemäß der Innenraum – zwei völlig verschiedene Organismen durcheinander gewachsen, sodaß man sich kaum ausdenken konnte, wie das Ganze entstanden sein mochte. An dieses Bauwerk mußte ich denken, als ich nicht lange danach wieder einmal die ganze Faustdichtung in einem Zuge durchlas. Auch hier haben wir einen doppelten Grundriß. Man kann versuchen, die beiden Bestandteile getrennt zu betrachten (nur den Grundriß, von allem Rankenwerk abgesehen), aber es wird nicht gelingen, die Trennung restlos durchzuführen, weil wir doch ein organisches Ganzes vor uns haben; und der Entstehungsprozeß ist ein geheimnisvoller. Wir wissen wohl, daß der junge Stürmer mit dem Barock- oder vielleicht richtiger Renaissancebau begann und daß der reife Meister die

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Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/20&oldid=- (Version vom 31.7.2018)