Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/22

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Natur und Übernatur in Goethes „Faust“

Es gibt noch Beglückendes für ihn auf dieser Erde, die er verlassen wollte. Er fühlt es auf dem Osterspaziergang. Die Einheit, die ihm der Verstand nicht aufdeckt, er spürt sie am Herzen der Natur, spürt sie im umfriedeten Kreis schlichten Menschendaseins. Er möchte über die Welt dahinfliegen, um all ihre Schönheit in sich zu trinken, ins Leben hinabtauchen, um alles Wohl und Weh der Menschheit durchzukosten. So tritt er seine Weltfahrt an. Gemeine Lust vermag ihn nicht zu fesseln – dazu ist der Geistestrieb zu mächtig in ihm. Aber er erfährt auch den anderen Trieb und seine zerstörende Gewalt. Seine Sehnsucht nach Durchbrechung der Einsamkeit, der Enge des eigenen Seins, findet beglückende Erfüllung, als ein Menschenwesen in seiner lieblichsten Gestalt, jung und unschuldig rein, grenzenlos liebend und vertrauend sich ihm überläßt. Das Ende ist Vernichtung – die Zerstörung dieser ganzen, kleinen, friedvollen Welt.

Hier endet die Jugenddichtung, und nicht wenige begnügen sich mit diesem Fragment, abgeschreckt durch die Schwierigkeit der späteren Teile. Sind sie nicht im Verhältnis zu diesem blut- und lebensvollen Kernstück blasse Allegorie? Doch der ernsthafte Leser geht weiter, und wenn er naturalistisch eingestellt ist, sucht er im selben Sinn wie bisher weiter zu deuten.

Wie liebliche Erinnerung einst den Helden von der Schwelle des Todes ins Leben zurücklockte, so nimmt ihm heilsames Vergessen den Druck der Schuld von der Seele und läßt ihn erwachen zu einem Leben der Tat. So wenig ihn niederer Genuß fesseln konnte, so wenig lockt ihn eitler Ruhm. Ehre und Einfluß am Kaiserhof vermögen ihn nicht festzuhalten. Gewaltig zieht ihn das Ideal reiner Schönheit an. Er scheut nicht die äußerste Entsagung und Vereinsamung, um ihm auf die Spur zu kommen und es für diese Welt zu gewinnen. Freilich kann es hier noch nicht dauernder Besitz werden. Aber wer es einmal erfaßt hat, dessen Blick zieht es dauernd hinauf zum Ewigen. Es trägt ihn auf eine freie Höhe, von der aus er diese Welt und seine Aufgaben darin erkennt. Er beginnt ein Leben beharrlicher Arbeit, des Kampfes gegen die „zwecklose Kraft unbändiger Elemente“, um „vielen Millionen Räume zu eröffnen“, „auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen“. Im Vorgefühl des erreichten Ziels genießt er den höchsten Augenblick seines Lebens, zugleich der Unzerstörbarkeit seines rastlosen Wirkens gewiß, und dieser

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/22&oldid=- (Version vom 31.7.2018)