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Abschnitt I

Augenblick wird ihm zum Durchgang in das Reich höchsten und reinsten geistigen Seins.

Was wird bei solcher „natürlicher“ Betrachtungsweise aus dem Gefährten, der Faust auf seiner Weltfahrt zur Seite steht als Führer und Verführer bei seinen Genüssen, als Diener und Werkzeug seiner Taten? Was wird aus dem Prolog im Himmel, der den Knoten dieses Erdendramas schürzt? Was aus der Himmelsherrlichkeit, die sich dem immer Strebenden öffnet? Das Teufelsbündnis stand im Mittelpunkt der Faustsage. Es konnte unmöglich gestrichen werden, das hätte die Preisgabe des ganzen Stoffes bedeutet. Aber der moderne Leser ist ja sicher, daß der Dichter so wenig wie er selbst an die persönliche Existenz des Bösen geglaubt hat. Mephisto selbst spottet genug über das alte Gespenst des Volksglaubens. Ist nicht der Gegensatz zwischen dem Herrn und dem Widersacher, zwischen Himmel und Hölle nur eine kühne poetische Bildersprache für den Kampf der zwei Seelen in des Menschen eigener Brust, zwischen dem Geist, der rastlos wirken und ewigen Idealen entgegenstreben will, und den niederen Trieben, die ihn an den Staub fesseln, die ihn von seinen Zielen ablenken, die es dahin bringen, daß seine Taten zerstören statt aufzubauen? (Man könnte auch sagen: zwischen der höheren, auf das Ewige gerichteten Vernunft und der niederen, die nur irdischen Zwecken dient, die Wege zu flüchtigen Genüssen ebnet, die sie selbst hinterher mit kritischer Schärfe wieder vernichtet.) Aber der Geist braucht sich den Trieben nicht zu unterwerfen. Er kann ihnen „kräftig widerstehen“, und wenn er das tut, dann wandelt sich ihr Fluch zum Segen: sie sind ihm ein Anreiz zur Betätigung, sie steigern seine Kraft und werden so gezwungen, Gutes zu wirken. Mag sein, daß diese Auffassung der Lebensanschauung des Dichters ziemlich nahe kommt. Aber damit wäre noch nicht gesagt, daß sie der Tragödie letzten Sinn erschlösse.

Über Goethes religiöse Weltanschauung ein abschließendes, eindeutiges Urteil sprechen zu wollen, schiene mir ein sehr gewagtes Unternehmen. Seine Äußerungen sind so vielfältig und widersprechend. Und vielleicht hat er das Tiefste niemals gesagt. Aber wovon der Dichter als Mensch überzeugt ist und was sich in seinem Werk ausspricht, das braucht sich keineswegs zu decken. Sobald er als Künstler schafft, ganz rein dem schöpferischen Prozeß hingegeben, steht er „unter höheren Geistes Gewalt“. Und so ist der letzte

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)