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Abschnitt II

dem Blick des Ewigen liegen und daß er seinen Engeln befohlen hat über sie, daß sie aus dem Irren zur Klarheit geführt werde[1].

Zwei Seelen ringen in der Brust des Einsamen. Aber er steht nicht allein in diesem Kampf. Eine Macht ist neben ihm, die alles Niedere aufreizen, den Geist in Fesseln schlagen und von seinem Urquell abziehen will. Ihr Einfluß ist auf seinem ganzen Weg zu spüren. Hat er, sich selbst überlassen, als echter Adamssohn verzweifelte Anstrengungen gemacht, über seine eigenen Grenzen zu springen, so verkehrt sich in der Gegenwart des Versuchers der Schmerz über die Ohnmacht seines Geistes in den furchtbaren Fluch über alle Himmelsgaben. Er, der über alles Irdische hinausstrebte, will nun von nichts mehr wissen als den Freuden und Leiden dieser Erde, wenn auch nur, um sich immer aufs Neue von ihrer Nichtigkeit zu überzeugen. Er, dessen Wandel bisher makellos war, dem noch jetzt der Anblick der Unschuld und Reinheit mächtig ans Herz greift, läßt sich doch dazu verführen, sie mit Teufelskünsten ins Netz zu locken; er läßt das Ehr- und Pflichtgefühl, das sich gegen die falsche Zumutung des falschen Zeugnisses empört, mit höllischer Sophistik beschwichtigen. Selbst als er sich der Führung Mephistos mehr und mehr entwindet, sich Ziele steckt, die dem höllischen Gefährten nicht genehm sind – die Gewinnung Helenas, die Arbeit am Meeresstrande –, kann er ihn als Helfer nicht entbehren und befleckt dadurch immer wieder seine Unternehmungen mit Freveltaten. Ihm, den einst Glockenklänge von der Schwelle des Todes ins Leben zurückriefen, ist der Ton des Aveglöckchens widerlich.

Bei alledem ist er der Macht der Hölle nicht schutzlos preisgegeben. Können wir es als einen „Zufall“ ansehen, daß in dem Augenblick, wo er den Todestrank an die Lippen setzt, die Ostergesänge ertönen? Und sollte wirklich eine bloße Erinnerung an fromme Jugendtage die Kraft haben, ihn von dem letzten Schritt zurückzuhalten? Nein, für den Blick des Glaubens ist es Gnadenführung und Gnadenwirkung, vielleicht die Frucht jener früheren, heilig begangenen Ostertage. Wenn der fromme Kindersinn der Geliebten nach seinem Glauben fragt und ihre ahnungsvolle Seele ihn zur Trennung von dem unheimlichen Gesellen mahnt, pocht da nicht Gottes Gnade


  1. Sic im Manuskript. Ergänzung zur Verdeutlichung des Textes: „... daß er seinen Engeln befohlen hat, über sie zu wachen, daß sie aus dem Irren...“ (Anm. der Herausgeber)
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)