Malerische Wanderungen durch Kurland/Groß-Wormsahten und Alschhoff

Malerische Wanderungen durch Kurland
von Ulrich von Schlippenbach
Brinckenhoff, Weg nach Ambothen, dasiges Schloß
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Groß-Wormsahten und Alschhoff



Hier will ich das Gemälde einiger Gegenden meines Vaterlandes beginnen; hier! wo mein Leben begann, wo der Rosenschimmer der Kindheit noch aus der Ferne her, wie eine lichte vorübergezogene Wolke, die Gegenstände umleuchtet; die ich erblicke; hier! wo ich in jedem Baume einen Jugendgespielen zu finden glaube, und wo jede Blume; die hier die gesegnete Erde trägt, mir eine Tochter derer zu seyn scheint, welche einst die nun schon verweste Hand geliebter Eltern im Kranze um meine Schläfe wand. Träume jener süßen Zeit schweben mir aus den Gebüschen entgegen und wiegen sich auf den Wellen des Bachs, – ach! sie machten mich einst so selig und nur das Erwachen ist traurig, ist wie eine entschwundene Rosenzeit, wo die verwelkten Blätter, die nun auf dem Boden zerstreut liegen; mehr das [4] Herz zur Wehmuth stimmen, als die wenigen Rosen, die der Sommer verschont, und die noch grünen Zweige erfreuen. Allenthalben, wo der Mann die Natur und die Welt in ihr betrachtet – da erblickt er die Gegenstände außer sich mit prüfendem Auge, da giebt es ihm fremde Gestalten, zu denen er hinstrebt, oder die er flieht; nur an dem geheiligten Orte, den die Kinderzeit mit dem Lilienstabe der Unschuld für das ganze Leben zu einem Götterhaine weihte, da hört man wie Apollo’s Priester in heiligen Lorbeerhainen noch immer Stimmen und sieht Gestalten, die keines irdischen Ursprungs sind. Da erblickt man sich immer nur selbst in der Welt umher, da findet man sich als Kind allenthalben zurück und sieht die eigene Gestalt, wie einen Schmetterling, mit schönen bunten Flügeln, über alle Blumen schweben. Da windet sich noch selbst um den Wanderstab des Greises, mit dem er still und einsam zum Grabe geht, eine frische Ranke, die zwey schöne Blüten der Freude, Phantasie und Erinnerung trägt – Die fremden Gestalten, die die Kindheit erblickt, [5] braucht sie nicht zu erhaschen, wenn sie sie liebt; nicht zu fliehen, wenn sie ihr mißfallen. Die junge Seele, die noch den ätherischen Flügelstaub trägt, den ihr die Gottheit anhauchte, als sie sie schuf, hat noch eine angeborne Kraft des Himmels, die sie wie Adam erst mit ihrem Paradiese verliert, wann die Frucht der Erkenntniß reifte. – Alle freundliche Gestalten schweben ihr selbst entgegen und umfassen sie und halten sie schmeichelud fest; doch alle unwillkmmenen Bösen fliehen sie schnell, wo nur ein trüber Blick sie trift. Die Kinderzeit ist für den Menschen der Sommermonat im höchsten Norden. Die Sonne des freudigen Daseyns geht nie unter, sondern schwebt immer um den Horizont und borgt selbst dem Monde, der endlich für die langen dunklen Nächte des Lebens aufgeht, ein freundliches mildes Licht, damit der Mensch nicht aufhöre nach dem Himmel zu blicken, um von dort die Strahlen zu erwarten. die sein Daseyn erhellen sollen, und nicht bloß die irdisch niedere Flamme nähre, die nicht lodern und nicht wärmen [6] kann, ohne daß der Rauch bittere Thränen erpreßt.

Der Leser wird es dem Verfasser gewiß im Verfolg dieser Blätter nicht zum Vorwurf machen, daß er allenthalben nicht die Gegenstände, die er bey der Wanderschaft durch einen Theil Kurlands erblickte, und seine dabey gehabten Bemerkungen und Gedanken, sondern nur immer sich selbst zeichne, und wie mancher, der seine Reise beschrieb, sich als Verfasser allenthalben im Vordergrunde und auf dem Titelblatte male. – Doch hier, nur hier bitte ich Vergebung, hier muß man mir zuweilen einen Rückblick auf mich und auf meine frühere Lebenszeit, auf die seligen Tage meiner Kindheit verzeihen. – Zu genau und innig sind sie mit der Natur, die mich hier allenthalben umgiebt, verbunden und in allen meinen Gedanken so liebevoll vereint, daß ich sie weder trennen kann noch mag.

Diese Mauern, aus denen ich jezt in eine sanfe ländliche Gegend hinausblicke, habe ich erbauen sehen, – so manche Stelle haben Thränen geliebter Eltern, die Kummer [7] oder Freude vergoß, geweiht, – auch aus diesen Blättern mag ich ihr Andenken nicht verwischen. Hat diese Erde nicht auch meine Zähren getrunken? habe ich hier nicht auch die erste Freude, wie den ersten Schmerz empfunden? Haben diese Mauern nicht meinen Klagen wiedergehallt, als ich das Liebste verlor, was die Welt für mich hatte, als hier meine Mutter, der reinste weibliche Engel starb? als ich hier meinen alten redlichen Vater zum leztenmale im Leben umarmte? O! nur jezt wünschte ich meinen Worten die Kraft des höchsten Genius und Erlaubniß meine Leser mehr mit subjectiven Gefühlen, als mit den pittoresken Objecten meines Vaterlandes unterhalten zu dürfen.

Doch mein Landschaftsgemälde, wo mir der Leser manche hier eingebrachte Figur zu verzeihen haben wird, möge beginnen. Hier für Wormsahten habe ich es mir schon ausbedungen, öfterer auf Gegenstände zurückzukommen, die kein anderes allgemeines Interesse haben, als das ein edles Herz in den Ergüssen der Gefühle eines Andern findet. –

[8] Das Ambothensche Kirchspiel, in dem die Privatgüter Groß-Wormsahten und Alschhoff liegen, hat den Vorzug vor den meisten Gegenden Kurlands (Zabeln und das Oberland in Semgallen ausgenommen), daß man hier beträchtliche Anhöhen findet, die man Berge und nicht bloß Hügel nennen darf. Groß-Wormsahten, mit seinen ansehnlichen gemauerten Gebäuden, ist von zwey Seiten durch fruchtbare angebaute Flächen, die in der Ferne Wälder begränzen, umgeben, gegen Osten und Süden indessen liegt das zwey Stock hohe und obgleich neue doch beynahe in alter gothischer Form erbaute Wohnhaus, dicht an einer schroffen tiefen Kluft, die ein klarer Mühlenbach durchfließt, wo das dem Wohnhause gegenüber liegende Ufer allmählig hinanstrebt und mit dem mannigfaltigsten Gebüsche, aus dem sich hin und wieder Eichen, große Birken und Tannen, wie Riesen, erheben, bewachsen ist. Im engen Thale, das der Bach durchschneidet, sind mehrere kleine Inseln, gleichfalls mit Gebüsch umgrünet, so daß sie sich wie Blumenkörbe mit grünbelaubtem [9] Rande über die Wellen des Baches erheben. Man übersieht in ziemlicher Strecke aus dem Wohnhause den in der tiefen Kluft fortziehenden Bach, der mehrere kleine Wasserfälle hat, und dessen sanftes Gemurmel man wie einen ernsten Festgesang der Natur vernimmt, in welches, wenn die Erde im Frühling ihr Wiegenfest feyert, und ihr die Gottheit dann ein neues schönes grünes Gewand zum Angebinde schenkt, die Chöre der Nachtigallen einfallen, – dann leuchtet das Johanniswürmchen und der Mond blickt mit getrennten Strahlen durch das Laub, und einzelne Silberflocken streut sein gebrochener Schein auf den Bach. Zuweilen rauscht ein sanfter West durch die Gipfel der großen Bäume, und trägt Blüthendüfte und Nachtigallentöne vereint in jedem Lufthauche herüber. Wie oft habe ich diese Wiegenfeste der Natur und zugleich das meinige, mit den Schlägen eines gerührten Herzens und mit Freudenthränen an der Seite meiner verewigten Mutter gefeyert. Ach! warum mußte ein Tag kommen, der mit einem Male für mein ganzes [10] Leben diese Harmonie verstimmte und diese Flitterwochen der Wonne in Charwochen verwandelte? Ach! warum mußte das Schicksal mir hier zum Geburtstage einen Trauerflor als Angebinde schenken, der nur in meinem Grabe zum lichten, bis zu einer höhern Welt hinwallenden Schleyer wird? [1]

Von dem Wohnhause führt ein Weg zum nahen Park; jezt ist dieser was meine Freuden sind, die ich in ihm so oft empfunden, nur ein Bild der Erinnerung und in seinem eigentlichen Wesen beynahe ganz zur Ruine versunken. Dieser Park, ich beschreibe ihn so wie er einst war, umfaßt in einem ziemlich ansehnlichen Raum das Thal zu beyden Seiten des Baches, die mit Laub bedeckten Höhen an demselben und ein schönes Wäldchen auf dem Berge, dem Wohnhause gegenüber. Große hohe Terrassen führen zum Bach hinab, und mehrere Brücken leiten dann in den Park. An dem Haupteingange [11] steht ein Altar von rohen Steinen, von einem Laubgewölbe wie von der Kuppel eines Tempels bedeckt, und ein Baum trägt die Inschrift.

Vergeblich sucht ihr Freunde hier den Schmuck,
Ist euch Natur nicht ohne Kunst genug?

Zuerst gelangt man über eine von rundem Holze gezimmerte Brücke zu einer kleinen Insel, wo im Frühlinge eine zahllose Menge Veilchen blühen. Eine andere Brücke führt aus der Insel in einen labyrinthischen Gang, wo nur Rasenbänke und Schatten zu finden sind, nur ich – ich finde mehr; ach! da trägt eine Erle die Namen meiner Eltern und den meinigen. Beynahe unkenntlich sind die Züge. Sind solche Einschnitte in junge Bäume nicht das wahre Bild der Erinnerungen der Kindheit? Sie verwachsen zwar, die Züge, die ehmals weiß und zierlich erschienen und werden braun und narbigt, aber sie vergehen nie ganz und sind für Schmerz und Kummer ein süßes Andenken. Die Freuden des Mannes sind wie der Streif, den ein segelndes Schiff in die Fluth [12] schneidet, von der nächsten stürzenden Welle begraben. Der Kummer dagegen schlägt ihm seine Inschriften in Stein; denn des Menschen Herz gleicht der Art von Steinen, die anfangs weich und weiß gefunden wurden, aber in freyer Luft zum Felsen erhärten. Einige Schritte weiter wird dieses Bild versinnlicht; am Abhange des Berges, dem man sich, wenn man den labyrinthischen Pfad verfolgt, nähert, gelangt man ohnweit einem geraden den Berg hinanführenden Weg, zu einem großen, an den Berg sich lehnenden Stein, der wie am Eingange einer Grabhöhle zu ruhen scheint. Bruchstücke einer Grabschrift schimmern unter dem Moose hervor. Einer hohen schönen Eiche vorbey, am Abhange der Höhe, führt nun ein schlängelder Weg abermals in dunkle Erlenschatten , wo nur eine Schaukel auf einem kleinen freyen Grasplatze steht; dann über Steinstufen tritt man den Pfad, den Berg hinauf an, bis man sich an einem über die Spitzen des Gebüsches hervorragenden Obelisk befindet, der nur die Inschrift trägt: „Der 18. May 1798.“ jener schreckliche [13] Geburtstag, an dem meine Mutter starb. Von hier führt ein gerader Gang zu einem in den Berg eingegrabenen Sitze, von Nußgesträuchen rund umschattet und dann weiter (schon hat man die Höhe erreicht) zu angenehmen kleinen Wiesen, allenthalben von verschiedenem Gebüsch umgeben. Ein kleines Tannenwäldchen habe ich hier wachsen sehen, jedes Bäumchen ist mein Zeitgenosse, – mit welcher Trauer habe ich hier einige umgehauen gefunden! Ein Baum, den man erwachsen sah, ist ein rührendeS Zeitmaß unsers Lebens, jedes Jahr sezt sich eine Lage mehr an seinem Stamm an, und eine Linie ist für unsern Sarg gewonnen; jedes Jahr fällt seine Blüthe, sein Laub und seine Frucht, und mit jedem Jahre kommen wir der Herbstzeit näher, wo vielleicht derselbe Baum, der unser Zeitgenosse war, auf unser Grab den Keim streut, der einst zum Baume erwachsen in unser verwestes Herz die Wurzel senken soll. Durch Wiesen und Gebüsch, wo die Aussicht auf den Hof, auf das benachbarte Gut Niekratzen und selbst nach Osten über einen hohen Wald nach [14] einem Schrundenschen, zwey Meilen entfernten Beyhofe, sehr angenehm und abwechselnd ist, kann man hier eines Spazierganges von ohngefähr ein paar Wersten, selbst bis zum Hofe Niekratzen hin, genießen. Doch ich führe meinen Leser einen schmalen Pfad zurück, am steilen Ufer des Baches hinab. In einer ringsum von der Höhe umschlossenen Kluft, erblickt man eine kleine Siedeley; der Vorsprung von runden mit Rinde bekleideten Stämmen trägt am Eingange die Inschrift aus dem Virgil:

Rura mihi et rigui placeant in vallibus amnes,
Flumina amem silvasque inglorius.

Ein Gärtchen stößt an das Haus, in dessen Mitte ein kleiner Rasenaltar[WS 1] steht, ehmals um Blumenvasen darauf zu stellen bestimmt. Die Blumen mußten hier, wie die aus meinem Leben, weichen, als an ihrer Stelle sich eine Urne mit der Umschrift „der besten Mutter“ erhob. Hinter dem inwendig und auswendig mit Rinde bekleideten Häuschen geht eine Steintreppe den Berg hinauf; ein Kreuz und eine Tafel [15] mit der Inschrift aus Klopstocks Ode an Gott:

Ein stiller Schauer deiner Allgegenwart
Erschüttert Gott mich; sanfter erbebt mein Herz,
Und mein Gebein; ich fühl, ich fühl es,
Daß du auch hier, wo ich weine, Gott bist!

bezeichnen den Betplatz des Eremiten. Ein Schattengewölbe deckt hier einen Altar und einen Sitz von Steinen. Nur auf der Westseite ist die Aussicht nach dem Hofe auf den Bach, der dem Eingange der kleinen Siedeley vorbeyfließt, und auf die gegenüber liegenden Wiesen und Höhen frey und lieblich. Habe ich hier nicht meine Kniee wund gelegen, als ich um Erhaltung des Lebens meiner Mutter flehte? Nachtigallen lockte mein Jammer näher, da ich hier klagte, als sie gestorben war, als wollten sie mich trösten mit den Flötentönen ihres Liedes. Der wilde Schmerz verscheuchte sie, ich wollte keine Lieder voll leiser Wehmuth – den wüthendsten Orkan hätte ich lieber brausen hören, hätte gewünscht, daß er alle Bäume zerstört und das Häuschen zu meinen Füßen zertrümmert hätte. Die Thränen eines geliebten [16] Weibes, damals nur wenig Wochen die Meinige, schmeichelten den Trost der Wehmuth wieder in mein Herz. Auch ich hatte wieder Zähren und nur diese versöhnten mich allmählig mit der Natur und der Welt.

Von meines Lebens Heiligthümern scheiden
Gebot des Schicksals ernster Wille mir.
Hier blieb das Bild von meinen Freuden
Und auch das Bild des Kummers hier.

Der erste Strahl vom hehren Sonnenlichte
Fiel auf den Säugling hier herab;
Der erste Blick vom Mutterangesichte,
Den segnend mir die Liebe gab.

Hier war’s, wo ich die ersten Blumen pflückte,
Zum erstenmal an der Geliebten Hand;
Wo innig die Natur mein Herz entzückte
Und ihrer Schönheit Reiz empfand.

Doch war’s auch hier, an dieser heilgen Stelle,
Wo meine erste Thräne sank;
Zum erstemnal am Blumenrand der Quelle
Mein Herz mit Schmerz und Kummer rang.

Was eines Menschen Brust erfasset im Gefühle
Schwebt hier im stillen Hayn empor;
Des Mannes Gram, der Kindheit, süße Spiele,
All was ich liebte und verlor.

Lebt wohl ihr Wiesen und ihr meine Bäume,
Ich kehre nimmer euch zurück,
Seyd noch der Segen meiner süßten Träume,
Wie ehmals meiner Kindheit Glück.

[17]

Leb wohl, o Hüttchen! wo des Frühlings Blüthen
Ich froh im kleinen Gärtchen fand,
Bis endlich, ach! die Rosen, die hier glühten,
Der Gram um eine Urne wand.

Auf ewig, ewig bin ich euch geschieden,
Ihr Zeugen von des Jünglings Glück.
Ich ließ euch viel – ließ euch der Jugend Frieden
Und meiner Eltern Grab zurück.

Was ich im Anschauen dieses Thales, dieser Gebüsche und dieses klaren Baches, das ich alles nun nicht mehr mein nenne, empfand, als ich es vielleicht zum lezten Male sah – o! mit welchen schwachen Tönen nur hallte es obiges Lied nach. Doch die Beruhigung habe ich, das Wohl der redlichen Bewohner jener Fluren einem edlen, fühlenden Manne vertraut zu haben. Sie liebten mich, und auf den herzlichen Kuß meiner Bauern, auf ihre Thränen, als ich Abschied von ihnen nahm, bin ich stolzer, als hätte mich ein Monarch an sein Herz gedrückt. –

Ich führe den Leser noch einmal ins Wohnhaus zurück, ihm die Spuren des merkwürdigen Wetterstrahls zu zeigen, der vor 18 Jahren hier mit einem Schlage 6 verschiedene [18] Zimmer traf, indem er sich am Schornsteine theilte, durch die Mauer beyder Stockwerke schlug und dort Spuren, als wäre eine Kugel durchgefahren, zurückließ. – Nach einer schweren Krankheit war ich zum erstenmale mit meinen Eltern ausgefahren und gerade in meinem Zimmer war das Fenster und der Tisch vor demselben am meisten beschädigt. Wir kamen zurück und sahen die Verwüstung. – Ich sehe es noch, wie meine Mutter in diesem Zimmer niedersank, mit welcher hohen Andacht, mit welcher Inbrunst sie dem Himmel für die Erhaltung ihres Lieblings, ihres einzigen Kindes dankte. Ja! dieses Zimmer hat mir der Segen meiner Eltern geweiht. – Hier starb mein redlicher Vater – hier! als er schon sprachlos an seinem Bette mich weinen sah, wischte er mit schwacher Hand die Thränen von meinem Gesichte, da er nicht mehr mich mit liebevollen Worten trösten konnte. Schlummre sanft theurer Vater! dein Herz war so redlich, so bieder, du eiltest, wie du immer zu sagen pflegtest, zu deinem großen Friedrich hin, dem du in 15 mörderischen [19] Schlachten folgtest. Du hast die lezten Zeiten nicht erlebt; wohl dir! welchen Schmerz würde dein feuriges noch immer für Preußens Wohl schlagendes Herz nicht empfunden haben? und nun fort, schnell fort von hier, ich ermüde meine Leser, die nicht Bruchstücke meiner Lebensgeschichte erwarten.

Ohngefähr eine Werst von Groß-Wormsahten ist ein spitziger mit ein paar Tannen bewachsener Berg sichtbar, Pilleskaln[WS 2]Schloßberg) genannt. Die Volkssage erzählt, ehemals habe hier ein Schloß gestanden; der Besitzer, ein grausamer Mann, habe Schätze auf Schätze gesammelt. Einst beraubt er auch einen alten wandernden Greis und führt ihn nach seinem Schloße; doch plötzlich erbebt der Grund und unter Donnerschlägen versinkt das Schloß, und sein Besitzer und der Greis verschwinden. Durch eine Öffnung habe man in’s Schloß hinabsteigen können, – ein Bauer, der es versucht, sey indessen nie mehr zurückgekommen. Da habe man die Öffnung verschüttet, die Höhle sehe man noch. Daß hier ehemals [20] eine kleine Feste gewesen, ist gewiß, das beweisen die Gräben, die man auf der einzigen Seite, wo der Zugang möglich ist, findet. Das beweiset der dahin führende mit großen Steinen gepflasterte Weg – ja selbst die Menge von Ziegelstücken, die man auf dem Berge sieht, wo man auch eine Vertiefung findet, die wie ein verschütteter Brunnen aussieht. Groß kann indeß diese Feste oder dieses Bergschloß nicht gewesen seyn, denn die Fläche des Berges enthält oben nur 60 Fuß im Quadrat. Wahrscheinlich ist sie schon in den ältesten Zeiten verfallen oder zerstört, und selbst die Ruine ist allmählig verschwunden. Eine mehr wild romantische und dabey doch schönere Lage, als dieser Berg hat, habe ich in Kurland nicht gesehen. Zwey Bäche vereinigen sich am Fuße des Berges und bilden beyde in einem Dreyeck, aus dem sich schroff und spitz der Schloßberg erhebt, eine fürchterlich tiefe steile Kluft. Abgerißne nackte Ufer, in der Ferne gespaltnen Felsen ähnlich, wechseln mit Abhängen von alten, hohen Eichen gedeckt, – ein dunkler ernster [21] Eichenwald steht oben am Rande der Kluft, dem Schloßberge auf der Westseite gegenüber. Gegen Osten und Süden reicht die Aussicht mehrere Meilen weit; man überblickt einige Höfe und viele Bauerwohnungen. Am angenehmsten aber ist hier der Anblick des Mühlenthales, das sich gegen Osten an die Kluft, die den Schloßberg umringt, anschließt. Ein Gewitter ist auf diesem Berge ein erhabenes Schauspiel, wann sich über den dunklen Eichenwald die schwarzen Wolken aufrollen, durch das Eichenlaub Blitze flammen, und in der Kluft der Donner in sich selbst wiederholendem Wiederhall allmählig und groß vertönt. Jeden Frühling, wann schon der Schnee von den Bergen schmolz und jeder kleine Bach zum Strome angewachsen war, habe ich hier gefeyert. In der Tiefe lag der Schnee in einzelnen Räumen, wie herabgefallene Wolken, indeß strömten allenthalben zwischen den an der Kluft emporstarrenden Bäumen, kleine Quellen hervor und eilten zum brausenden Gießbach. Lerchen schwebten durch die heitre Luft und im Untergange der Sonne, [22] zog die Waldschnepfe über den Berg herüber. Der Donner der Feuergewehre hallte allenthalben an dem Rande der Kluft, bis dann die immer tiefere Dämmerung die ermüdeten Jäger nach Hause zum frohen Male rief. Ohnmöglich kann hier, wie die Sage erzählt, ein grausamer Mann gehauset haben; der Anblick einer erhabenen Natur, wie sie hier erblickt wird, macht die Menschen, die sie bewohnen, wohl stark und muthig, aber nicht wild und grausam. Das Herz des Menschen gleicht vielmehr dem Meere, das der brausende Sturm zwar zu mächtigen Wogen hebt, das aber eben dann viel wärmer ist, als wenn eine glatte Spiegelfläche die unerreichbare Tiefe deckt. Die beyden hier am Fuße des Schloßberges sich in einander ergießenden Bäche fließen zu einem kleinen Flusse vereint, ohngefähr zwey Werste von hier in den Windaustrom. Hier bietet sich ein, diesen Gegenden seltner Anblick dar; von beyden Seiten der Windau nemlich, erheben sich schroffe, wohl mehr als 100 Fuß hohe Felsenufer. In den kühnsten Haltungen streben diese Mauern der Natur hinan; [23] aus den Spalten ragen einzelne Tannen hervor, die, so wenig sie auch ihre Wurzel auszubreiten Raum fanden, doch kräftig fort grünen und gedeihen; – so wird es möglich, trotz dem Felsendrucke der Umgebungen, sein kleines Glück zu gründen, das um so fester steht, jemehr der harte Druck und die einsame Lage vor Neid und Verfolgung schützen; nur eine seltne Pflanze sucht der Mensch auch zwischen Felsenspalten auf, und das Talent ist selbst im entlegensten Winkel der Erde vor Verfolgung nicht gesichert. Die Muschel darf ruhig am Boden des Meeres, an ihrem Felsen kleben, nur dann nicht, wann sie eine Perle in sich verschließt.

Auch das zur Groß-Wormsahtenschen Ökonomie gehörige Gut Alschhoff, das an den Ufern der Windau liegt, verdient erwähnt zu werden. Man gelangt durch einen meilenlangen tiefen Wald auf einem Wege dahin, den zu befahren man als eine hohe Prüfung der Geduld anrechnen könnte. Er ist durch in morastigem Grunde hingeworfene große Baumstämme so kunstreich [24] schlecht, so holpericht, daß man wie über lauter schlechte Hexameter dahin poltert. – Man fährt hier (ich erwähne ihn als Seltenheit) auch einem republikanischen Waldstrich vorbey, den sogenannten Titelschen Wald, der mit gleichem Rechte sieben verschiedenen Gütern zugehört, deren jedes also auch gleich ungehindert seine Rechte üben darf. Doch solche democratische Wälder gedeihen, wie dergleichen Staaten, nicht sonderlich – nur wenig Holz ist nachgeblieben – jeder eilt diese Reste einzusammeln und das Vermächtniß des ehemaligen Waldes bleibt, in einer auf freyer Fläche stehenden Wildnißbereuterey allein noch übrig. – Der Forstbediente wird gewiß nicht klagen, er sähe den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wie Denksteine der ehemaligen Wildniß stehen noch hin und wieder einzelne krumme Tannen, und selbst die gebeugten Dryaden dieser Stämme müssen um die Gunst von sieben Gutsbesitzern buhlen, um ihr Daseyn einsam und kümmerlich zu erhalten.

Die Aussicht in Alschhoff an einer großen [25] Straße, die von Litthauen nach Liebau, auch nach Mitau führt, ist angenehm, besonders nach dem nahen Windaustrome hin, den man aus einem finstern Walde wie eine geglättete Eisbahn hervorschimmern sieht. Bemerkenswerth ist hier der Kalkbruch, der beste, den ich in Kurland kenne. Die Steine werden am Ufer oft in großen Quadern ausgebrochen, sind wie Kreide weiß und lassen sich schaben. Ein solcher brennender Kalkofen, wo vielleicht 20 Klaftern Holz auf einmal angezündet sind, wo die Gewalt des Feuers die auf einander geschichteten Steinmassen durchglüht, so daß über die Steinschichten hervor die rothen Flammen spielen, läßt sich mit Vergnügen betrachten. Durch die Glut werden die Steine, die erst weich und zart aus dem Mutterschooß der Erde kamen, dann in der freyen stürmischen Luft wie Felsen erhärten und eine gelbere Farbe erhalten, wieder weich, zart und nützlich. Ob die Glut des Schmerzes und der Leiden nicht auch den Menschen den Dienst erzeiget, sie zu reinigen, zu erweichen, zu läutern und so brauchbar zu machen [26] ihren Platz im großen Weltgebäude zur Erhaltung der unbeholfnen rohen Massen einzunehmen? – Bey dem Löschen der Kalksteine fielen mir dagegen oft in einem andern Bilde die jungen Philosophen ein, wie sie ganz frisch gebrannt aus dem akademischen Kalkofen, den alten Professoren brav einheitzen, kommen, sich, jemehr ihnen Wasser zuströmt, desto mehr erhitzen, aufblähen, sieden und brausen, bis sie endlich des Spieles satt, sich bescheiden in die Ordnung ihres Wesens auflösen, und dann erst in die Fugen des Staats mit Nutzen passen und gebraucht werden können. Noch ein Plätzchen habe ich hier meinen Lesern zu zeigen, – einen kleinen nackten Berg nahe an einem Bache, der die Grenze des Gutes Alschhoff scheidet. Die Aussicht ist schön nach der Windau hin, nach einem im Hintergrunde liegenden tiefen Walde, auf die Kirche des benachbarten Gutes Niegranden und auf fruchtbare Felder und Wiesen umher. Doch! welch eine heilige Stelle ist mir dieser Hügel, den mein Vater sich zur Ruhestätte wählte; sie ist bestimmt ein kleines [27] bescheidenes Grabgewölbe zu tragen, in dem die Asche meiner Eltern und einst die meinige ruhen wird. Als ich einer so beträchtlichen Landwirthschaft eben so überdrüßig als unkundig, durch die Verhältnisse meines Amtes und durch meine damalige Absicht, vielleicht auf lange mein Vaterland zu verlassen, die Groß-Wormsahtenschen Güter zu verkaufen bewogen ward, behielt ich dennoch diesen nackten Hügel als Eigenthum zurück, – nur dieses Plätzchen Erde, das einst, die sich im Leben liebten, wieder im Grabe vereint, – das Einzige, was die Geliebten von ihrem Eigenthum nicht missen konnten, diesen Rasen bewahrte ich ihnen, wie dieses Herz, das ewig ihr eigen ist.

Schwingt einst mein Geist den freyen Ätherflügel,
Dann ruht mein Staub in diesem stillen Hügel,
Mit der Geliebten Staub vereint.
Dann suchet die Erinnerungen
Der Leyer, die dann längst verklungen,
Voll sanfter Rührung hier der Freund!

Dann hat man mir aus meinem Leben
Des höhern Aufschwungs Trieb vergeben,
Bis hieher folgt mir nicht der Neid;
Vielleicht, daß dann, was ich gesungen,
Mit Rührung eine Brust durchdrungen
Und sie dem Grabe Klagen weiht.

[28]

Hier läßt man mir die Schwärmereyen,
Des stillen Hügels mich zu freuen,
Und daß mich eigne Erde deckt,
Und daß, entflohn des Lebens Schmerzen,
Ich gern verwesen will am Herzen,
Aus dem einst Liebe mich geweckt. –

Aus Alschhoff führe ich den Leser zurück den Weg nach Wormsahten, um ihm hier noch eine bemerkenswerthe Stelle zu zeigen, die mit ihrem lettischen Namen Suddrabe-Kaln (Silberberg) heißt. Dieser Berg ist ein kleiner Hügel in einem von hohen Ufern umgebenen Thale, das ein ansehnlicher Bach, die Letisch genannt, durchschneidet. Die durch noch vorhandene Documente, so wie durch den Augenschein des Locals begründete Sage erzählt, daß vor mehr als 100 Jahren einer der Besitzer von Wormsahten hier ein Silberbergwerk angelegt, einige Güter, die er außerdem besessen, verkauft habe, um die Anlage zu vollenden, daß er aber, als er kaum angefangen, einigen Vortheil zu ziehen, gestorben sey, und die Vormünder seiner hinterlassenen Erben das begonnene Werk liegen lassen, weil sie das Vermögen ihrer Pupillen nicht [29] weiter haben wagen wollen. Man erblickt hier noch zwey halb zugeworfene Schachten, so wie die Ruinen alter Hüttenwerke und Schmelzöfen. Die Ufer des Baches enthalten Braunkohlenflötze, in denen sich häufig große Stücke Schwefelkies finden, die in Adern fortzulaufen scheinen. Man hat auch in neuern Zeiten hier Versuche angestellt, – selbst von einem Russisch-Kaiserlichen Berg-Collegio ist hieher ein Beamter zur Untersuchung gesandt worden – doch alle Versuche begnügten sich vorsichtig mit der Oberfläche und mit den daselbst gefundenen Braunkohlen und Schwefelkiesen. Über vier Fuß tief zu graben, oder sich eines Erdbohrers zu bedienen, hat noch Niemand sich bemüht. Der zur Untersuchung hieher demandirte Bergbeamte hatte jenes, wie ich vermuthen sollte, einigermaßen wichtige Instrument mitzubringen oder zu besorgen vergessen, und wann der Silberberg einmal seine etwa verschlossenen Schätze nicht selbst zu Tage fördert, oder sie Neptun hier nicht, wie die Insel Delos mit einem Dreyzack aus der Erde reißt, so werden sie wohl [30] ewig unbekannt schlummern. Mag nun aber der arbor Dianae unter diesem Silberberge entweder wirklich blühen, oder nur ein von der Fata morganae gezeichneter Baum seyn. Die Resultate der mit dem nach St. Petersburg gesandten Minerale angestellten Versuche sind nach der hier aus dem Berg-Collegio eingelangten Mittheilung und nach den Berichten, welche der Inspector des Bergkadetten-Corps, Herr Oberberghauptmann Ilmann darüber gemacht, folgende: „Die schwarze Masse, in der das Erz gefunden wird, wäre in Steinkohle verwandelter Torf – der Schwefelkies enthalte Eisen, Schwefel und Vitriol, von einem Pud Schwefel habe man beym Stoßen 10 Pfund am Gewicht verloren, und von dem Überreste 9½ Pfund Eisen gewonnen, – dagegen sey bey einem andern Versuche von einem Pud Schwefelkies, nachdem 3 Pfund Feuchtigkeit beym Glühen verloren gegangen, von dem Reste 5¼ Pfund Schwefel erhalten, auch beym allmähligen Ausbrennen desselben eine beträchtliche scharfe Lauge, die stückweise [31] Eisenvitriol in sich enthalten, gewonnen worden.“

Und nun verlasse ich diese väterlichen Fluren – wie schwer mir auch die Trennung wird, und wie gern ich dem Leser jedes Bäumchen zeichnen möchte.


  1. Der 18. May war der Hochzeitstag meiner Mutter, mein Geburtstag und dann nach 22 Jahren ihr Todestag.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Rosenaltar; vergl. Druckfehler.
  2. Vorlage: Gilleskalln; vergl. Druckfehler.