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Autor: Hermann von Bezzel
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Titel: Luther und Augustin
Untertitel: Vortrag gehalten zu Ansbach am 25. August 1912
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Buchhandlung der Diakonissenanstalt Neuendettelsau
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Erscheinungsort: Neuendettelsau
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Luther und Augustin


Vortrag
gehalten zu Ansbach am 25. August 1912
von


D. Dr. von Bezzel
Oberkonsistorialpräsident in München.






1912
[Verlag d]e[r Bu]ch[ha]ndlung der Diakonissenanstalt Neuendettelsau


|  Luther und Augustin“ soll der Gegenstand der Ausführungen sein, die ich in dieser Abendstunde Ihnen bieten möchte. Es sind zunächst rein äußerliche Erwägungen, die mich auf dieses Thema gebracht haben. Am nächsten Mittwoch, den 28. August, ist der Todestag des großen Bischofs von Hippo Regius. In einem Alter von fast 76 Jahren ist er nach schwerem Leid und Streit kampfesmüde, aber siegesfroh aus dieser Zeitlichkeit hinweggegangen. Und am 18. Oktober dieses Jahres werden es genau vier Jahrhunderte sein, seit der Mann, der einem jeden evangelischen Christen weit teurer ist wie alle apostolischen Väter, alle kirchlichen Gestalten und alle Größen der Wissenschaft und Theologie, seit Martin Luther zum Doktor der hl. Schrift aufgeschworen worden ist. „Da habe ich“, schreibt er, „meiner lieben hl. Biblia die Treue geschworen, daß ich sie lieb und wert haben wollte bis an mein Ende“, und ob er diesen Eid eingelöst hat, das mag das kleinste Katechismuskind uns bezeugen, das rühmt der zünftige Theologe, dafür dankt ihm die ganze von seiner Bibelweisheit und Bibelwissenschaft genährte und erquickte Kirche. Wenn dort die Jünger im Verklärungsschein, wo sie dem Mose eine Hütte bauen wollen, eine andere dem Elias, Gesetz und Prophetie in Menschenbehausung aufnehmen wollen und ihrem Herrn und Meister Christus die herrlichste Gezeltung anbieten, hier ist der Mann ins deutsche Volk,| ins zeitliche Leben eingetreten, der Mosi eine Hütte gebaut hat, daß er deutsch mit uns reden lernte, die heiligen zehn Gebote dem Kinde einschärfen und dem Mann vorhalten konnte, hier ist der Mann, der David auf seiner Harfe von neuem singen lehrte, daß er Psalmen aus der Tiefe im höheren Chor, Lieder in deutscher Singweise und deutscher Denkart anstimmte, und der ganze geistesmächtige Chor der Propheten trat im Goldglanz deutscher Reformation in dem Reichtum deutscher Sprachgewandung vor uns hin, jetzt reden alle heiligen Männer, jetzt rauschen alle Quellen des Morgenlandes durch deutsche Wälder, über deutsche Fluren. Aber die schönste Behausung und das reichste Zelt hat Martinus doch dem gebaut, der sein ganzes Herz gewonnen, der durch ihn deutsche Art geheiligt, deutsches Gebet geläutert, evangelischen Sinn und Sitte geschenkt hat, unserm Herrn Jesus Christus. Es ist der Hammerschlag des Bergmannssohnes, der an verborgene Tiefen hinrührte; und was längst ausgebeutet und ausgebraucht schien, gibt neue Goldstufen und neue Silberadern, und der große Reichtum der Gottesgedanken wird unter der Hand dieses Bergmannssohnes ausgelegt und ausgetan, damit man sehe, wie reich der Herr ist. Das gäbe eine weitere Beziehung, der 18. Oktober 1512, in Wittenberg Staupitz, Friedrich der Weise und in der Mitte all der Hochgelehrten und Reichgebildeten der einfache Mönch, dem die Kutte in seinem Wesen und Wort um die Füße schlägt, der bäuerliche Mann, der sich etwas darauf zu gute tut, daß seine Voreltern „rechtschaffene Bauern gewest“ sind und doch um eines Hauptes Länge größer als alle seine Lehrer, weil er in dem einen, was groß macht, heimisch und herrlich war.
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|  Es könnte auch eine andere äußerliche Beziehung gefunden werden. Beide Männer der Kirche, Augustin und Luther, sind im November geboren, am 13. November 354 ist Augustin im fernen Numidien, reicher Leute Kind, in Glanz und Glück des Lebens hineingestellt, und am 10. November 1483 ist Luther an diese Welt, die ihm soviel dankt, gewiesen worden, und diese Welt an ihn, armer Leute Kind, mit der Ehre des Joches in der Jugend. Aber Sie werden zugeben, daß diese äußeren Beziehungen, so sinnig und schön sie sein mögen, noch nicht zu einer Parallele zwischen beiden Männern irgendwie veranlassen dürfen. In kirchengeschichtlichen Vergleichen, in geschichtlichen Nebeneinanderstellungen wird leicht gezwungen und darum gefehlt, und ich wollte dieses Zwanges ledig gehen, damit ich nicht in den Fehler der Künstelei verfallen möchte.
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 Aber so oft ich Luthers Leben vor mir habe, und ich darf sagen, es gehört zu meinen Ehrenpflichten, mit diesem Mann alle Jahre von neuem mich zu vertrauen, an seiner Ursprünglichkeit mich zu erquicken, zu erfrischen und zu erbauen, legt die Frage sich mir nahe: Warum hat im Jahre 1505 am 27. Juli der Studiosus der Rechtswissenschaft zu Erfurt unter den vielen Klöstern, die das kirchenreiche herrliche Sachsenstädtlein aufwies, nicht ein Kloster der Dominikaner, der hochberühmten, oder der Franziskaner, der einflußreichen, gewählt, sondern warum ist er in das Kloster der Augustinermönche gegangen? Waren ja die Augustiner nicht eigentlich kirchengeschichtlich bedeutsam, ist nicht einmal ihre Gründung ganz erklärt. Sie können nicht auf einen Ordensstifter hinweisen von der erlauchten Armut eines Franziskus, von der sprachgewandten| Beredsamkeit eines Dominikus, von dem Ernst eines Simon Stock; sie haben niemanden zu nennen, der eigentlich ihnen das Ordensgewand bereitet und die Ordensregel aufgestellt hätte. So waren sie eigentlich auch nicht in der Kirche von hoher Bedeutung. Staupitz sagt einmal Ende des 15. Jahrhunderts: Wenn man nicht mit Pferden pflügen könne, so müsse man Ochsen nehmen, und er habe im Augustinerorden gar oft Pferde gesucht und nicht einmal die andern Zugtiere gefunden. So war eigentlich die Frage sehr berechtigt: Warum hat Luther die Augustiner gewählt? Wenn wir in die jetzige Kirchengeschichte hineinschauen, müssen wir sagen: Welch unbedeutende Art haben die Augustiner in dem klosterreichen und klosterfrohen Bayern! Nur noch 4 Klöster, in Münnerstadt, Würzburg, Fährbrück bei Arnstein und Germersheim mit wenigen Mönchen besiedelt hat der Orden jetzt. Warum hat Luther diesen Orden erwählt? Merkwürdigerweise findet man nirgends eine Aufzeichnung, wie überhaupt Luther über die innersten Vorgänge seines Lebens auffällig karg ist. Das ist eine Eigenart bei ihm, daß er gern bei anmutigen Erzählungen verweilt, mit lieblichen Schilderungen diese Erzählungen ausstattet, von Land und Leuten, was ihm eben auffällt, berichtet, daß er die größten und zentralsten Wahrheiten wie in spielendem Gewande der Seele vorführt, aber in das Adytum, in das eigentlich innerste Heiligtum seines Werdens, in das Geheimnis seines Entwicklungsganges läßt er nur mit scheuer Zagheit Einblick tun. Es ist immer die Angst, daß er mehr sagen könnte, denn ihm gebührt zu sagen, und mehr von sich halten lehrte, als er verdient. Wie gern greift er immer wieder auf den Ton zurück, der sein letztes Bekenntnis durchzittert: „Wir| sind Bettler, das ist wahr. Du, lege nicht die Hand an jene göttliche Aeneis, anbetend folge vielmehr ihren Spuren!“
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 Umsonst habe ich mich also gefragt: Wie kam es, daß Luther die Augustiner erwählte? Vielleicht ist es darum geschehen, weil dieser Orden in seiner neuen Regelung, wie sie in Staupitz anhob, den größten Ernst in der vita monastica, in dem Klosterleben, zeigt. Hier war willentliche Beugung, hier war ernsteste Konzentration auf die eine große Aufgabe, „dem Herrn Papst recht Obödienz zu leisten.“ Kein Orden, so hieß es zu jener Zeit, sei den Päpsten so innerlich gefügig und äußerlich so ergeben gewesen, wie der Orden Sancti Augustini. Hat der Bauernsohn von Eisleben, der Student, der sein Eigenes pflügen wollte und über dies Eigene erschrak, zum alten schlichten Gehorsam zurückeilen wollen, mit dem er Gott zu preisen und die Kirche zu ehren gedachte? Hat er in demselben Gehorsam seine Lebensaufgabe erblickt, die dann fern von der Berührung mit dem Weltverkehr, fern von der Beziehung mit den Weltbedürfnissen ganz in schlichten engen Kreisen sich voll zöge? Alle Erklärungsversuche scheinen mir in dem einen Geheimnis sich zu finden und vor dem einen Geheimnis zurückzustehen: „Ich kannte dich, ehe du geboren wardst, und ich wählte dich aus, ehe du den Tag sahest“, und wie St. Paulus im 1. Kapitel des Galaterbriefs. (Gal. 1, 15 u. 16) darauf hinweist, daß Gott seine Heilsgedanken mit dem Kinde von Tarsus hatte, ehe dieses Kind Vater und Mutter sagen konnte, so will mich bedünken, hat Gott der Herr diesen Orden auserwählt für Luther und Luther für ihn, daß er in der Stille der Klostermauern den Trost der Vergebung und durch das| Wort des Ordensgenerals den Frieden der Seele erfand und empfand. Gott hat ihn darum in dieses Kloster gehen heißen, daß er lerne, was es um Erbarmen sei.
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 Luthers Jugend und Augustins Jugend, wie grundverschieden! Augustin von seinem hochstrebenden, ungläubigen und kirchenfernen Vater Patrizius frühzeitig über seine Grenzen hinausgeführt, von seiner frommen, aber unklaren Mutter Monika mehr verzogen als wirklich innerlich gebildet, hat nie den Ernst der Entbehrung und die Größe des Verzichtes kennen gelernt. Wenn Sie die Bekenntnisse des späteren Bischofs: aufschlagen, so merken Sie, wie er darin klagt, daß die Anspruchsfülle seiner Jugend ihm die Kraft geraubt und den Willen gelockert habe: „Ich habe Früchte genommen, nicht um sie zu essen, sondern um sie zu nehmen; in meinem Garten hingen weit bessere Birnen, aber mir schmeichelte es, dort von dem Birnbaum, der herein in die Hecke ragte, zu nehmen und sie dann zu zertreten, nur da mit ich sagen könnte: ich habe mein Verlangen gebüßt.“ Und wie der Knabe dem 7. Gebot nicht gehorsamte und den Lockungen nicht widerstand, welche ganz geringe Äußerlichkeiten hervorriefen, so hat der Jüngling das 6. Gebot eilig und mit Behagen über treten. „Oft habe ich dir zugerufen, du ewige Liebe, bekehre mich, bekehre mich; aber wenn ich sehen sollte, daß ich auf das Weib meiner Jugend verzichten müßte, dann sprach ich: „Herr, aber nicht gleich.“ Und so hat Augustin, ob er in Madaura weilte oder in Karthago studierte oder nach Rom zog, in seiner Jugend sich’s nicht versagen mögen, auf solche Genüsse zu verzichten. Aus solchen schlaffen Seelen kann Gott keine Säulenmenschen schnitzen, nicht Charaktere in seiner Kirche herausbilden.| Wie ganz anders steht vor uns Luther, den sein Vater hart hielt und seine Mutter wegen einer geringen Nuß bis aufs Blut stäupte, das arme Kind, wie steht es vor uns, das sein Schwager mit Mühe durch Schnee und Eis auf seinen Schultern zur Schule trug. „Gott“, sprach er, „vergelte es ihm, daß er mich pusillum (Kleinen) so freundlich annahm, da ein Schwager (so sagte er lächelnd) den andern trug.“ Wie hat er in der Schule den ganzen Ernst des Lernens verspüren und das Brot vor fremden Türen suchen müssen, ein armer „Partekenhengst“ wie er sich nennt, der um etlicher particulae Brot willen an den Häusern gar beweglich sang. „Ich konnte erschrecken, wenn mich mein Vater nur ansah; und als wir um Dreikönig herum auf den Dörfern sangen, kam wohl ein Bauersmann und rief: Buben, wollt ihr Würste? Da erschraken wir so, daß wir eilig entflohen.“ Es ist das kümmerliche, ärmliche, enge Leben eines Bauernknaben, der unter gar dürftigen Verhältnissen aufwachsen sollte, der aber in dieser ehernen Zucht der Notwendigkeit, die geheiligt ist durch das Vorbild verzichtender Eltern, an Leib und Seele erstarkte. Aus diesem Holz hat Gott der Herr je und je seine großen Persönlichkeiten geschnitzt. Aus diesen Kindern, die da nein sagen lernten und ja sagen mußten, die sich den Wunsch erstickten, ehe er kam, und wenn er kam, ihn willig unterdrückten, sind die Persönlichkeiten herangewachsen, mit denen der Herr seine Kämpfe streitet und seine Kriege führt. Wenn einmal – lassen Sie mich das einschalten – unserer Jugend der Ernst der Entbehrung erleichtert und die Pflicht der Entsagung gelockert wird, wird ein Geschlecht heranwachsen, schwammig, willensarm, nervenschwach, an seine Gewöhnung und Gewöhnlichkeit| verloren; dieses Geschlecht wirft der Wind um, wenn er von Süden kommt, und erkältet der Sturm, der aus dem Norden sich anhebt, dieses Geschlecht wird für unser Volk eine Last und für unsre Kirche eine Bürde. Augustin und sein Leben: eine Kette von Genüssen, bei denen er vor Begierden verschmachtet, eine Kette von Begierden, die zum Genuß trieben; und dort der Jüngling, der von sich sagen kann: „Ist je ein Mönch durch seine Möncherei in den Himmel gekommen, so wäre sicherlich ich’s gewesen.“ Alle die großen speculatores Lutheri, diese Kundschafter, welche hinter Luther dreinlaufen, um sein Leben aufzuspüren und seine Sitten nachzuprüfen, froh, wenn sie einen Flecken entdecken, und sehr freudig, wenn sie einen dazu erfinden können, sind nicht geeignet und geschickt genug, das Bild des jungen Luther zu verzeichnen, der da seinen Willen heiligte, seine Einbildungskraft nicht zur Schwäche degenerieren ließ und seinen Leib in Zucht und Ehren bewahrte. Beide, Luther und Augustin. Opfer des väterlichen Ehrgeizes. „Als mein Vater Patrizius merkte, wie leicht ich lernte und meinem Lehrer daß Wort ex ore heraus nahm, beschloß er mich zu einem Rhetor zu machen. Er wollte sich an meinen Redekünsten erquicken,“ und darum ist Augustin von Hochschule zu Hochschule geeilt, hat den alten Hortensius und Quintilian an sich genommen, damit er das Reden, die schöne Rede lernen könnte, und wo berühmte Advokaten sich zeigten, da eilte er hin, damit er wohl merke, wie man eine schwächere Sache durch schöne Worte zur starken machen könne, und wenn ein begeisternder Prediger zu hören war, saß Augustin zu seinen Füßen, nicht damit er den Inhalt der Predigt auf sich wirken ließe, sondern damit die Kunst der Rede| ihn besteche. Und der alte Luther wollte, nachdem er unter dem Druck des Gesetzes und unter der Härte damaligen Rechtes lange gelitten hatte, aus seinem Sohn einen Rechtsgelehrten machen. Wenn die Ratsherrn von Mansfeld tagten und die gräflichen Amtsleute kamen, da sprach der alte Hans Luther: „Mein Sohn, dünkt mich, soll noch ein größerer denn ihr werden.“ So hat er mit seinem kärglichen Lohn ihm die damals so schwer zu beschaffenden Juristenbücher gekauft, so erlabte er sich an den Fortschritten seines Sohnes in allerlei äußerer Wissenschaft. Aber, und hier treten die großen Ähnlichkeiten zu Tage, Väter beschließen einen Rat, und es wird nichts daraus. Beide hat Gott in eine andere Schule gerufen, aus dem Juristen wurde der Mönch, und aus dem Mönch der Professor, und aus dem Professor der große Kirchenvater nicht eines, sondern aller Jahrhunderte, der apostolische Mann, der auf Pauli Fußspuren durch Deutschland zog, konfirmierend, missionierend, rings verneuend, der Mann, von dem Treitschke sagt, daß er in seinem Wesen zehn theologische Fakultäten beherbergt habe. Aus Augustin wurde der Mönch, der Bischof, der Kirchenfürst, der Regent, der Herrscher, beide in dem einen sich berührend, daß sie all das Ihre auf Christus bezogen und Ihm sich dienstbar und nutzbar machten. Beide sind durch den Römerbrief andre geworden, der eine, wenn ich recht sehe, durch den 2. Teil des Römerbriefs, durch den 1. der andere. Augustin hat in den großen Kämpfen, nachdem er der Mutter entronnen, nachdem er Ambrosius gefolgt war, nachdem er ein anderer zu werden angehoben hatte und den Freund und Sohn seiner Sünde in ein neues Leben hineinziehen wollte, in einem einsamen Garten das Wort| gehört: Nimm und lies, nimm und lies. „Und in dieser Stunde,“ schreibt er, „kam mir ein alter Traum meiner Mutter, die sonst nicht immer auf Träume achtete, zu Sinn. Sie sah einmal mich am Ende eines Grabens stehen und am andern Ende stand sie, und da fragte sie einen Unbekannten: Wo aber steht mein Sohn? und der Unbekannte antwortete: Dein Sohn steht, wo du stehst. Lange, sagte Augustin, habe ich diesen Traum der Mutter verlacht und habe sie zu mir ziehen wollen und ihr beigeredet, es heiße: „Du stehst, o Monika, wo dein Sohn steht.“ Aber sie hat sich den Traum eifrig eingeprägt: „Dein Sohn steht, wo du stehst.“ – „Nimm und lies“, – und ich schaue auf, ich sehe niemand, kein Spiel der Knaben am Gartenzaun, kein Kind, das vielleicht in meine einsame Meditation hineingerufen hatte nach kindlicher Weise, aber ich nehme das Bibelbuch und schlage auf“ und erfand Römer am 13. jene große Epistel, mit der jedes neue Kirchenjahr wie in der Morgenröte eines neuen Tags anhebt. „Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern ziehet an den Herrn Jesum Christ!“ Und sein Freund schlägt weiter nach: „Die Schwachen im Glauben nehmet auf, und verwirret die Gewissen nicht.“ Augustin, daß ich so sage, kam durch die Heiligung zur Rechtfertigung. Als ihm dieses Wort ganz klar war, daß man brechen müsse mit allem, und daß ein neuer Morgen nur der Seele graue, die mit dem sinkenden Abend ganz abgeschlossen habe, da legt er seine Rhetorwürde und all seine Auszeichnungen, seine Studien, seine Gelehrsamkeit hin und aus dem Welt frohen wird der Weltfeind. Das sind diese südlichen Naturen, diese extremen Charaktere der Kirchengeschichte,| welche nicht wissen, daß die Heiligung Vermählung aller gottgeschenkten Kräfte und Potenzen mit der Gottesbestimmtheit ist, sondern welche alles Natürliche ausscheiden, damit sie ganz geistlich werden mögen. Das sind diese fleischlosen Gestalten, wie sie uns Maler am Anfang des 19. Jahrhunderts mit ihrem frommen Pinsel gemalt haben, mit denen sie unsere Kirchenwände entkräfteten und unsern evangelischen Geschmack verweichlichten, jene entnervten Apostelgestalten, jene kraftlosen Christusfiguren, als ob die Christen nicht erst recht anhöben Menschen zu sein. Augustin legt alles hin und wird Mönch mit ganzer Bestimmtheit seiner Seele. Und der Bischof von Hippo Regius, der 35 Jahre lang in hoher Ehre das Bischofsamt verwaltete, wird der Mönch mit dem engen Gesichtskreis. Seine heidnischen Bücher fallen dahin, und all das Schöne der Erde ist bloß dazu da, um vergessen und verlassen zu werden.

 Luther schlägt den ersten Teil des Römerbriefs auf, schwer geängstet nicht über seine Sünde, sondern über seine Schuld steht er im Kloster. Augustin ist durch einzelne ganz bestimmte Sünden seines Lebens verängstet und verwirrt, dort das Weib, das er entlassen muß, hier der Sohn, der noch im Sterben den Vater anklagt, dort die Stätte all der schnöden Lüste mit seinen Genossen, und die Tränen der Mutter, die er getäuscht, als er nach Italien floh, während sie betend im Heiligtum des Cyprian auf ihn wartete. Es sind lauter peccata singularia, ganz bestimmte einzelne Sünde und Unrecht, die Augustin so entgegentritt. Bei Luther ist dergleichen nicht, aber auf harter bloßer Diele liegt der arme Mönch, „mea culpa, mea maxima culpa“, gequält von der großen Schuld seines Lebens.

|  Jener schlägt das Lebensbuch auf mit den beschriebenen Blättern voll Schande und Sünde und Unrecht, dieser schlägt das Lebensbuch auf mit dem unbeschriebenen Blatt, daß er nichts für seinen Herrn getan, nichts von den Pfunden recht verzinst und bewuchert hat, und er schlägt das Buch zu: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?
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 Nicht in besonderen Offenbarungen, sondern in der schlichten Zusprache der tröstenden Seelsorge wendet sich der Herr an ihn: Weißt du nicht, daß ich dir geboten habe zu hoffen? und der alte Klosterbruder aus kindlicher Seele sagt ihm: Nicht Gott zürnt mit dir, sondern du zürnst mit Gott. Staupitz hat ihn getröstet, wie einen seine Mutter tröstet: „Ich werde“, schreibt Luther später – 1524 ist Staupitz in Salzburg bei Bischof Matthias Lang gestorben – „ich werde es nie vergessen, wie er ein Lichtlein nahm und in meine Nacht hinein leuchtete, da ward ich wieder froh.“ Luther hat in der Schuld des Lebens, in der allgemeinen schweren Verhaftung unter Gottes Willen schier verzagen wollen; als er aber Römer 1 fand, daß dort nicht von der strafenden Gerechtigkeit Gottes die Rede sei, sondern von der Gnadengerechtigkeit, die Gott schenkt, als er das sola fide, allein durch Glauben, allein durch Gnade, allein durch Christus recht erfassen und er fahren konnte, da war er nicht der Mann, der sein bisheriges Wissen und Wirken verdammte. Augustin schämte sich seiner Professur, Luther nahm sie erst recht auf. Augustin floh von der Welt in die Klosterzelle, Luther stürmte aus der Klosterzelle in die Welt. Augustin hielt sich ängstlich verborgen, Luther trat hell und klar auf den Plan. Denn „meine Liebe sei jedermann gewährt,| die kann haben, wer da will, aber meinen Glauben taste mir niemand an, den hat mir mein Herr Christus geschenkt.“ In dieser Heilsunmittelbarkeit des neugewonnenen Lebens, in dieser Ernstlichkeit einer ganz für ein großes reiches Ideal sich aufopfernden Lebenszeit hat Luther alles Große, Schöne, Reiche, das die Welt bietet, benützt. Augustins Reformation ist weltflüchtig, Luthers Reformation ist Weltbeherrschung. Augustin zieht sich von der Herrlichkeit afrikanischer Sonnenfreude zurück in die Einsamkeit, Luther geht hinaus und freut sich an der wonniglich duftenden Gottesnatur; ihm ruft der Frühling von der treuen Liebe seines Herrn, ihm bezeugt der Sommer ewige Gnadenbündnisse seines Gottes, und wenn der Herbst wieder kommt, freut er sich, daß die Erde voll der Gottesgüte ist; das kleinste Resedablümlein, das vor dem einsamen Fenster des Wittenberger Professors blüht, ist ihm wie eine Anwartschaft auf den großen, leuchtenden, glänzenden Gottesgarten, da alle Blüten eine ewige Herrlichkeit preisen und alle Herrlichkeit ewigen Frühling verbürgt. Luther hört all die Klänge, alle die Harmonie der Seele, von der ein Plato träumte und ein Aristoteles sann, durch diese Welt klingen, im tiefsten Grund die Dominante: „Allein Gott in der Höh sei Ehr!“, und wenn es so durch die Natur klingt, zwar nur ihren Freunden verlautbar und deutlich, dann greift er in die Saiten und singt seinem Herrgott ein Liedlein: „denn der Teufel ist ein trübsinniger Feind, er kann die Freude nimmer leiden.“
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 Und wie hat er die Wissenschaft hochgeehrt! Augustin hat ein Buch geschrieben, den Gottesstaat, das Lieblingsbuch Karls des Großen, aus dem er sich täglich vorlesen ließ, und der alte Abt von Herrieden, Decker,| sein Beichtvater hat ihm aus diesem Gottesstaat einen Auszug gemacht. In ihm weist Augustin nach, wie alle großen Gedanken Gottes schließlich einen wunder baren Komplex von Ordnungen und von Gesetzen er geben, wie die Tugenden der Heiden glänzende Laster sind, und nur in Christo ein wirkliches Gedankengefüge und ein wirkliches Gedankengebilde, Leben, Ordnung und Reichtum entstehe, und entkräftet so den Vorwurf, daß Christentum Barbarei sei. Luther läßt alle Geister reden, denn Christus heiligt sie. Er rühmt von der Weisheit Gottes, sie sei strahlenförmig, buntfarbig, reich, vielgestaltig, gehe durch alle Äonen, durch alle Völker, durch alle Zeiten, und in der fernsten Ferne sei sie auch noch. Wenn Luther unter seinen Füßen den Grund der Gnade hat und auf diesem Grunde steht, dann ist er ein Herr über alle Kreaturen, dann geht durch sein Leben der heilige Trotz. Ich meine, kein Zug macht uns Luther so deutlich als der Trotz dessen, den Christus zu seinem Eigentum erwählt und erkoren hatte. „Sie mögen mich einen Teufel schelten; ich bin bei den Engeln Gottes wohl bekannt. Gott nennt mich seinen lieben Knecht, die Engel nennen mich ihren lieben Gesellen, die Gläubigen nennen mich ihren treuen Vater, die Verzagten ihren günstigen Tröster, was soll das Urteil der Welt, wenn ein solches Urteil zu mir steht?“
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 In der Gewißheit, daß dem befreiten Christenmenschen kein Phantom der Hölle etwas abbrechen könne, liegt er mit der Finsternis, mit allen Gespenstern der Hölle, mit allen Schreckgestalten und Rotten einer ausbündischen Phantasie, mit allen dämonischen Zauberkünsten zu Felde. „Ich Doktor Martinus Luther, im Himmel und in der Hölle wohlbekannt, ich habe es geschworen,| daß ich siegen will“. Dieser Glaubenstrotz läßt sein Leben nie brach liegen. Es hat niemand Luther einer Unmännlichkeit zeihen können. Trutzig scheinbar in der Stimme, aber zagend innerlich in seinem Sinn, ungeschlacht, wenn er mit dumpfen Schritten durch die Welt geht – wer aber diesem Großen mit liebenden Augen nachsieht, merkt, daß er nur das Unkraut zu Boden tritt, alle Pflanzen, die der himmlische Vater gepflanzt hat, begießt er und pflegt ihrer und läßt sie alle ihres Herrn froh werden. Es ist Glaubenstrotz, wenn er alle äußerlichen Verbindungen hinwirft: „Ich vermag Ew. Kurfürstliche Gnaden viel mehr zu schützen, denn Ew. Gnaden mich schützen können“, und wenn er allen Gewalten zum Trotz durch Wittenberg hindurchfährt, ein gewaltiger Geist, der die falsche Frömmigkeit niederpredigt und allen gleißenden Schein entlarvt. Es ist Glaubenstrotz, wenn er eine ganze Weltanschauung heuchlerischer Frömmigkeit zerschlägt in einem Ton, den wir Modernen mit unseren gezähmten Sitten ihm verargen, der ihm besonders von der Seite verargt wird, die allen Grund hätte, über Beichtrat bescheidentlich und milde zu urteilen. Mir erscheint er, wie er in diesen Tagen einer nicht unverschuldeten Schmach, die aber doch mehr der Treue des Seelsorgers, nie und nimmer aber dem Höfling, dem Diplomaten und Schranzen zur Last gerechnet wird, in innerster Erschütterung sich vor seinem Herrn und Gott beugt. Es ist Glaubenstrotz, wenn er dem sterbenden Melanchthon, der da gerne der rabies der Theologen und der Not der Zeit der πανήγυρις und dem großen Jahrmarkt des Elends entrinnen möchte, zuruft: „Ich gebiete dir, daß du wieder genesest, denn unser Herr braucht dich noch auf Erden.“ Es ist endlich Glaubenstrotz, wenn er von seinem| geliebten Wittenberg lassen will, weil Sodom und Gomorra besser seien, denn dieser Lasterpfuhl und Schandort, wenn er die Studenten zu Paaren treibt und den Professoren ins Gewissen greift und die Staatsmänner auf ihre Untätigkeit schilt. Wer aber hat je die Stirne gehabt, diesem glaubenstrotzigen Recken selbstsüchtige Motive zu unterschieben? Und neben diesem Glaubenstrotz, der, wenn er sich mit seinem Heiland zusammengeschlossen hatte, die ganze Welt verlachte und ihr trotzte, diese ein fache Unmittelbarkeit christlicher Guttat! Tausend Gegner hat er gehabt, aber nie einen persönlichen Feind. Tausend Feinde haben ihm den Tod geschworen, wenn sie aber in das Auge dieses frömmsten aller Deutschen sahen, waren sie entwaffnet. Von den miri oculi und taetri hat jener Kardinal zu Augsburg noch lange geredet; aber Melanchthon sagt: „Wenn wir 3 Tage uns nicht zu ihm wagten, weil sein Groll zu sehr war, so wir in sein Auge wieder blickten, wurden wir gewonnen.“ Das ist der Glaubenstrotz der reichen Unmittelbarkeit einer Seele: für sich selbst will sie nichts, denn sie hat alles; für Ihn läßt sie nichts unversucht, denn Ihm dankt sie alles. Es komme die Zeit heran, die da sage, daß sie Luther ganz ausgelernt und aufgebraucht habe. Die Schwärmer, die eine neue Reformation wünschen, sollen erst die Schätze der Reformation anfangen zu heben, anheben zu schätzen, ehe sie von einer neuen Reformation reden.
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 Hinter diesen klaren lichten Bildern steht Augustin in meinen Augen weit zurück. Drei Feinde haben auf seinem späteren Lebensweg sich gegen ihn gewendet, mit denen der Bischof kämpfen mußte, ehe der Glaube sie ganz innerlich besiegt hatte. Das war der Manichäer Atheismus und Monismus, der Pelagianer Rationalismus| und der Donatisten Mystizismus. Zuerst war es der Atheismus und Monismus der Manichäer, jener Sekte, die das Böse im letzten Grunde wie das Gute in Gott ihren Ursprung finden ließ. Wenn sie auch zwei Ursprünge, zwei Götter, einen guten und einen bösen, annahmen und das Böse ganz unabhängig vom Guten und neben ihm existieren ließen, im letzten Grunde waren Gut und Böse nur Verschiedenheiten des Schattens, der über die Ebene hinzieht. Das ist – in der Kirchengeschichte gibt es nur Wiederholungen, nie etwas Neues, das von unten herkäme, das Neue stammt nur von der Originalität des ewigen Gottes – das ist der Monismus, der jetzt als neue Wahrheit aufgelegt wird, Welteinheit, Zusammenschluß des Welteinen mit dem Weltwesen, Einheit von Ursache und Wirkung Indifferenzierung von Sittengesetz und Sittenleben. All das hat Augustin bestreiten müssen. Nie ist jemand dadurch frömmer geworden, daß er das Böse für eine Grundsache des Lebens, nie dadurch heiliger geworden, daß er Gott für einen Ausfluß des Seins und das Sein für eine Ausgestaltung Gottes hielt. Glauben Sie, alle Überschätzung des Bösen führt im letzten Grunde zur Untätigkeit des Fleisches, und wer sich nicht schwört, daß er dem Bösen es abgewinnen müsse und das Böse als das nicht sein Sollende aus der Welt herauszutilgen habe, der wird vom Bösen entmannt und überholt, entnervt und überwältigt. Wie steht gegenüber den oft so doktrinären Aufstellungen Augustins dem Manichäismus gegenüber diese frohe Hoffnungsfreudigkeit unseres Luther, der das Böse immer wieder herabsinken und des Teufels arge Gewalt wieder in Trümmer fallen sieht, der sich mit dem – himmelfernen und erdenweiten – nahen Gott in Christo so| fest zusammenschließt. Das ist nicht kränkelnde Philosophie, das ist höchste Aktion des Willens.
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 Und neben dem Atheismus der Manichäer der Rationalismus des Pelagius. Der sittenstrenge Mönch, der über das Meer – und daher hat er seinen Namen Pelagius, der monachus transmarinus – von der grünen Insel gen Afrika gezogen, verkündigt, daß wir aus eigner Kraft Gutes mögen gestalten und daß das Böse nicht die lähmende Gewalt über uns haben dürfe. Aber diese Anschauung vernichtet das große Erneuerungswerk Jesu Christi, der als rechter Weinstock alle Reben mit seinem Geist erst erfüllen muß, wenn sie Frucht bringen sollen: „Ohne mich könnet ihr nichts tun.“ Da hat Augustin das feine Wort dazu geschrieben: hic respondet dominus noster futuro Pelagio – „mit diesem Wort hat der Heiland den zukünftigen Pelagius ins Angesicht getroffen.“ Wenn jetzt von der Herrlichkeit natürlicher Impulse, von der Schönheit natürlichen ungeheiligten Wesens so viel die Rede ist, wenn in unsern Tagen immer wieder von der ursprünglichen Herrlichkeit der Natur geschwärmt wird, und die Rückkehr zur Natur als das eigentliche Lebensgeheimnis empfohlen wird, so sagt uns Luther: Alle Freiheit von Jesus und alle Arbeit ohne ihn erreicht nichts. Augustin hat wohl den Pelagius getroffen, aber er hat nebenbei eine Lehre eingeführt, so schaurig, so furchtbar, daß in ihren Schrecken die Seelen erstarren und in ihrer Not manch einer sich den Tod gewünscht und geholt hat; die schaurige Lehre, die nur aus einem kalt abwägenden Verstand, nicht aber aus einer glaubens- und liebewarmen Seele entstammen kann, daß Gott in stillem Lächeln der Selbstgenüge den großen Teil der Menschen zur Weltverlorenheit bestimmt habe, während| nur ein kleiner Teil heimkommt. Wenn man fragt, warum sind die Tausende und Millionen in die Welt getreten, die da hinabfahren ohne Klang, begrüßt von den Tönen und Chören des Abgrunds, dann antwortet Augustin ohne Zucken: „Damit die Ehre Gottes vermehrt werde.“ Das ist die Ehre des blutdürstigen Moloch der Phönikier oder der Ruhm eines weltabgewandten Träumers, der das Röcheln der Erschlagenen in seinen fernen Paradiesesauen nicht vernimmt, aber nicht der Ruhm eines Gottes, der schwer, hart, schauernd mit gebrochenem Herzen ein Kreuz aus Erdentiefen aufsteigen ließ, auf dem sein Liebstes und Bestes einsam Leben, Lebensglück und Lebensfreude opferte, damit er Heimatlosigkeit in Heimat wandle. Luther weiß: Lerne die Vorherbestimmung Gottes in den Wunden Jesu Christi. Und das letzte Bekenntnis unsrer Kirche, das übel gescholtene, weil am wenigsten gelesene, sagt, es gebe nur eine Vorherbestimmung, und das sei die Vorherbestimmung zur Seligkeit.
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 Der letzte Feind aber, mit dem Augustin rang, war jene weltenreine Mystik, der Donatismus, welche die Kirche zu einer kleinen, engen, abgeschlossenen, konventikelhaften Gemeinde entarten will, kleine Kreise mit ganz Heiligen und ganz Unbescholtenen. Als ob nicht das Wort jenes alten Vaters zurecht bestünde: „In fortschreitender Sündenerkenntnis ruht der Fortschritt des Lebens.“ Luther hat diesen stolzen Heiligen in Wittenberg wohl gewehrt und hat den frommen Schwärmern nach Münster seine Meinung nicht vorenthalten: es gibt keine Heiligen, sondern solche, die sich heiligen wollen; es gibt keine Gemeinden der perfecti, sondern eine Gemeinde der perficiendi,| nicht der Vollkommenen, sondern derer, die um Vollkommenheit ringen.
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 Augustins Leben ging im Glanz der edlen Diesseitigkeit dahin, das alte römische Reich wurde zu Grabe getragen, seine Cäsaren entmächtigt, seine Legionen waren schwach geworden und seine Prätorianer waren gefallen, aber an der Bahre dieses römischen Imperiums sah der große Bischof von Hippo ein Imperium sich erheben, leuchtend, gleißend, systematisch geschlossen, ganz in ehernen Fugen gefestigt, mit granitnen Quadern sich erbauend, das imperium Romanum ecclesiae catholicae, das große Reich der Kirche. Ihm ist die Kirche nicht ein wundersam inniger Bau, der Herz in Herz fügt und Herz um Herz wirbt, sondern ihm ist sie ein prächtiges Gebilde von Gedanken, Taten, Personen, Zwecken – Herrschaft auf der Welt. Wie steht gegenüber dem Kirchenfürsten der schlichte Professor in Wittenberg, dem die ärmlichste Kirchenverfassung gut genug ist, ein Notdach über die armen Gläubigen zu bilden, der sich weder Kopf noch Herz zerbricht, ob es lange trage, durchlässig oder rissig sei, wenn nur Evangelium gepredigt wird. Praktisch ist Augustin, ideal ist Luther; mit den Verhältnissen rechnend der Bischof in Afrika, über Verhältnisse triumphierend der Mann von Wittenberg; fest zusammenschließend, daß nirgend eine Lücke sich zeigt, und nirgends irgendwie eine Öffnung sich findet, das ist die große Gedankenarbeit Augustins, seiner Nachfolger und Adepten. Aber Lutheraner haben das Wort ihres Meisters gelernt: „Entweder bleibe ich unter dem Himmel oder im Himmel.“ Nur einmal – ich kann mich leicht irren – finde ich bei Augustin den vollen Klang des Heimwehs, in jener Stelle, wo er mit seiner Mutter in Ostia hinaus über| das Meer hinein in die Ewigkeit sieht „Und wir fuhren höher, weiter, und unsre Gedanken rasteten bei Deinem Thron.“ Sonst aber bleibt der Mönch der Hierarch, und der in Christo wahrhaft befreite zugleich der Herr aller äußeren Verhältnisse, die er, und so weit als er sie dem kirchlichen Organismus in Dienst stellt. Luthers Heim weh bleibt uns unvergessen. Das Kind in der Schule lernt „daß er uns mit Gnaden aus diesem Jammertal zu sich nehme in den Himmel“, und wir singen: „Das hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an: des freu sich alle Christenheit, und dank ihm des in Ewigkeit.“ Der Glaubenstrotz, das titanenhafte Stürmen des Helden klingt zuletzt aus in das Gebet um einen seligen Abschied, in das starke, stille Heimweh, das den Mann kindlich sein, aber nie kindisch werden läßt. In die Wahl gestellt zwischen Luther und Augustin würde der Evangelische unbedenklich Luther vorziehen, aber der König der Geister heißt uns nicht wählen, sondern wahllos mit Freuden all der Kräfte uns freuen und all der Gaben dankbar uns rühmen, die Er seiner Kirche gegönnt hat. So danken weltoffene, heimatfrohe Christen für Augustins Arbeit, Mühe, Sorge und Streit, danken mit innigerem Ernst wie Kinder für ihres Vaters Güte und ihrer Mutter Trost dafür, daß ihnen Luther geschenkt und gegönnt ist. Beide haben uns ein neues Lied singen lehren; die alte römische Sprache wächst herein in die Kirchensprache und Kirchensinn; deutsche Sprache wächst heimatfroh, erdenreich, himmlisch begeistert und erfüllt aus hl. Schrift ins Herz.
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 Gott Verleihe uns allen, denen er eine so reiche Geschichte der Irrungen und der sie vergebenden Gnade gegönnt hat, daß wir, um ein letztes Wort Augustins| zu brauchen, arbeiten, als ob wir ewig leben möchten, und leben, als ob wir heute noch scheiden dürfen. Gott verleihe uns die vita contemplativa eines Luther, die beschauliche Art der Gottinnigkeit: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.“ Aber er gönne uns auch, weil wir nicht zum Traum geboren sind, sondern zur Mühe, die vita practica eines Augustin. Weltmächtig, weltzugewandt und doch schließlich weltfern gehen wir durch die Zeit, bis wir in der Heimat aller Seligen auch diesen Männern begegnen und ihnen für alles danken dürfen, was sie uns gewesen sind. Gott erhalte uns Lutheraner im Glaubenstrotz und im Glaubensernst, er gönne uns aber auch die stille Freude an allen Erdendingen, welche das Sündige verleugnet und das Wahre verklärt, bis wir im Hause der Heimat nach dem Ernst der Wallfahrt ihn von Angesicht zu Angesicht sehen und mit der großen Wolke der Zeugen alle seine Gedanken verwirklicht erblicken und uns selbst in diesen Wirklichkeiten! Amen.