Litterarische Skizzen/Ein Vater seines Volkes

Das armenische Zeitungswesen Litterarische Skizzen
von Arthur Leist
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X.
Ein Vater seines Volkes.



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[159] Obgleich das Armeniervolk keineswegs arm ist an thatkräftigen Männern, die besonders in den letzten Jahrzehnten die Förderung der Aufklärung und Besserung der materiellen Lage ihrer Landsleute mit Energie betrieben, so hat doch fast keiner von ihnen eine solche Thatkraft, soviel Selbstverleugnung und Opferwilligkeit für die nationale Sache an den Tag gelegt, wie der frühere Konstantinopeler Patriarch Chrimian Hairik (das Väterchen). Dieser seltene, ganz nur für sein Volk lebende Mann ist nicht nur der erste, der die tief im Herzen Kleinasiens wohnenden Armenier zur modernen Kulturarbeit wachgerufen, sondern auch rastlos an der Beseitigung aller Übelstände arbeitet und seit mehreren Jahrzehnten ein [160] kühner Verfechter der Rechte seines Volkes der türkischen Willkür gegenüber ist. Der Bereich seiner Wirksamkeit ist erstaunenswert gross, denn Chrimian ist erstens ein Prediger von seltener Beredsamkeit, dann ein Schriftsteller und Dichter, dessen Werke von der ersten bis zur letzten Zeile nur dem Vaterlande und dem Wohle seiner Söhne geweiht sind. Zudem ist er ein wahrer Volkstribun, der seit einer langen Reihe von Jahren mit donnernder Stimme von Allen, die Einfluss und Macht besitzen, Redlichkeit, Gewissenhaftigkeit und brüderlichen Schutz für das niedere Volk fordert. Trotz vieler Anfeindungen und Gefahren, die er zu überstehen hatte, ist er doch immer seiner Sache treu ergeben geblieben, denn Wahrheit und Überzeugung sind seine Leitsterne.

Geboren wurde Chrimian im Herzen von Armenien, in Alur am Waner See, im Jahre 1824. Hier verbrachte er auch seine Kinderjahre und genoss in der dortigen Klosterschule seine erste Bildung, worauf er nach Konstantinopel ging, um in einer dortigen Lehranstalt [161] seine Kenntnisse zu erweitern. Da ihm seine spärlichen Mittel nicht gestatteten, gleich vielen anderen Armeniern nach Europa zu gehen und dort seine wissenschaftliche Bildung zu vervollständigen und er überdies noch von Heimweh geplagt wurde, kehrte er wieder nach Armenien zurück in der Absicht, sich dort ganz der Sache seines Volkes zu widmen. Auf Zureden seines Bruders verheiratete er sich hier und seine Ehe ward bald durch eine Tochter gesegnet. Sein Geist und Gemüt waren jedoch nicht dazu angelegt, im engen Familienkreise Ruhe und Befriedigung zu finden, zumal auch der Gedanke, für das Wohl seiner Landsleute zu wirken, immer mehr in ihm Wurzel fasste. Vom Verlangen getrieben, die grossartigen Ruinen der armenischen Vergangenheit zu sehen, besuchte er um diese Zeit das Araratsche Gebiet, den einstigen Schauplatz der armenischen Machtentfaltung, und der Anblick so vieler für sein Volk heiliger Denkmäler der Vorzeit, wie die Ruinen der Königsstadt Ani und zahlreicher anderer Städte, Schlösser und Kirchen, begeisterte [162] seine Dichterseele und er schuf ein Buch von seltener Schönheit, den „Hrawirak Araratian“ oder „Boten vom Ararat“, eine Sammlung von Gedichten, in welchen er die entschwundene Herrlichkeit der Vorzeit besang. Das Buch erschien im Jahre 1850 in Konstantinopel und lenkte bald die Aufmerksamkeit Vieler auf den jungen begeisterten Dichter, der in seinen lyrisch-elegischen Gesängen ein unverkennbares Talent zeigte. Bald darauf unternahm er eine Reise nach Jerusalem, deren Eindrücke ihm gleichfalls Stoff zu schwungvollen Gedichten lieferten und so entstand sein zweites poetisches Werk, der „Hrawirak Awetias Jerkri“ oder „Bote aus dem gelobten Lande“, der reine echt christliche Religiosität atmet. Nach Armenien zurückgekehrt widmete sich nun Chrimian mit ganzer Seele der Sache der Volksaufklärung und gründete in Siss in Cilicien eine Schule, der er jedoch nicht lange Vorstand, da ihm von seiten der dortigen Geistlichkeit Schwierigkeiten bereitet wurden. Er begab sich daher nach Konstantinopel und wurde dort Lehrer einer armenischen [163] Mädchenschule, wobei er sich sehr nachhaltig an der Einschränkung der katholischen von den Jesuiten betriebenen Propaganda beteiligte und heftige Flugschriften gegen das Papsttum veröffentlichte. Die katholische Propaganda bekämpfte er hauptsächlich aus nationalen Gründen, zumal die meisten der zur katholischen Kirche übergetretenen Armenier allmälig ihre Nationalität verlieren und die Muttersprache vergessen.

Unterdessen hatte Chrimian seine Gattin und sein Kind durch den Tod verloren und von echt christlichen und patriotischen Gefühlen geleitet, trat er im Jahre 1854 in ein Kloster als Mönch ein, um sich so ganz und gar der Sache seines Volkes widmen zu können. Bald wurde er einer der ausgezeichnetsten Prediger in Konstantinopel und erwarb sich trotz der schonungslosen Aufrichtigkeit, mit der er alle Übel und Wehen der armenischen Gesellschaft auf deckte, allgemeine Liebe und Achtung. Während er so von der Kanzel aus die Sittlichkeit seiner Landsleute zu heben bestrebt war, suchte er auch auf deren geistigen [164] Fortschritt einzuwirken und gründete eine Zeitschrift, den „Adler von Byzanz“, die er später, als ihn das Heimweh wieder nach seiner Heimat zurückzog, nach Waspuragan bei Wan verlegte und sie in den „Adler von Waspuragan“ umtaufte. Die Druckerei, die er zum Zwecke der Herausgabe dieser Zeitschrift gründete, war die erste in Kleinasien und ebenso war die Schule, die er hier ins Leben rief, die erste Lehranstalt, in der wirkliche Wissenschaft betrieben wurde. Schon im Beginn seiner Wirksamkeit hatte er sein Hauptaugenmerk auf das eigentliche Armenien gerichtet, denn es war ihm darum zu thun, dort im Mutterlande durch die Vorbereitung höherer Kultur ein neues Leben wachzurufen und auf diese Weise die Auswanderung seiner Landsleute nach andern Provinzen der Türkei zu hemmen und allmälig gänzlich aufzuhalten. Da Chrimian zur Bestreitung der Kosten zur Herausgabe der Zeitschrift, die er allen, die es wünschten, unentgeltlich zusandte, sowie zur Erhaltung der Schule keine anderen Mittel besass als die Einkünfte des Klosters von [165] Warak, in welchem er damals Prior war, so musste er natürlich darauf bedacht sein, die Einkünfte nur allein diesen Zwecken zuzuwenden. Diese Massregel gefiel jedoch keineswegs den Effendis und Notabeln, in deren Taschen bis dahin der grösste Teil der Klostereinnahmen geflossen war und aus Hass gegen Chrimian trachteten sie ihm sogar nach dem Leben. Als er eines Tages zu Fuss von Wan nach Warak ging, begegnete er einem bewaffneten Kurden, der als er Chrimian erblickte, zu zittern anfing. „Was ist dir?“ fragte der gottesfürchtige Mann. „Ich wollte dich töten.“ „Und warum hast du es nicht gethan?“ „Gott hat es nicht zugelassen,“ erwiderte der Kurde, fiel vor ihm nieder und bat um Verzeihung. Wie man später erfuhr, war der Kurde von seinen Feinden gedungen worden ihn zu ermorden. Trotz aller Bemühungen gelang es Chrimian nicht die Erhaltungskosten der Schule und Zeitung durch die Klostereinnahmen zu decken und er unternahm daher eine Rundreise durch Transkaukasien und Persien, wo es ihm Dank seiner Beredsamkeit [166] wirklich gelang, eine bedeutende Geldsumme zusammen zu bringen. Seine Schule blühte nun sichtlich auf, auch seine Zeitung fand immer mehr Verbreitung und wurde sogar in Persien gelesen; aber der türkischen Regierung, die längst ihr Augenmerk auf Chrimian gerichtet hatte, war dessen Wirken keineswegs genehm und sie verbot deshalb die weitere Herausgabe der Zeitschrift.

Der Konstantinopeler Patriarch erkannte gleichfalls die Bedeutung Chrimians als Förderer der Kultur und der nationalen Sache und ernannte ihn deshalb im Jahre 1862 im Verein mit der Nationalversammlung zum Bischofe von Musch in Armenien. Chrimian setzte nun hier unter dem Beistände seines begabten Schülers Serwandsianz die Herausgabe seiner Zeitschrift fort und gründete von neuem eine Schule. Auch machte er sich sofort an die Revision der Einkünfte des reichen Klosters Surp-Karapet, was ihm wiederum den Hass der Beamten und Notabeln zuzog. Seine Absicht war, alle Einnahmen des Klosters nur zu Schulzwecken zu verwenden, was natürlich [167] allen denen, die bisher an denselben als an einer fetten Pfründe gezehrt hatten, nicht gefiel und so hatte der neue Bischof eine schwierige Stellung und war schweren Verfolgungen ausgesetzt. Einmal wurde in der Kirche sogar auf ihn geschossen, jedoch auch diese verwegene That seiner Feinde erschreckte ihn nicht und er blieb unerschütterlich fest in seinem Vorgehen und erwarb sich durch seine Einfachheit und die liebevolle Fürsorge, mit der er sich aller Armen und Unglücklichen annahm, immer mehr die Liebe des Volkes, das in ihm mit richtigem Instinkte seinen Wohlthäter erkannte. Seine Popularität wuchs mit jedem Tage und Dank derselben wurde er trotz des Widerstandes von Seiten eines Teiles der Geistlichkeit und der Notabeln im Jahre 1869 zum Patriarchen von Konstantinopel gewählt. Seine Wahl war für das armenische Volk von hoher Bedeutung, denn sie war ein Sieg des Konstitutionalismus über die Allgewalt der Notabeln, die die von der Pforte den Armeniern zugestandene Konstitution heftig bekämpften, zumal sie ihre Macht [168] schmälerte und die Verwaltung der nationalen und kirchlichen Angelegenheiten in die Hände des ganzen Volkes legte. Übrigens war der Augenblick, in dem Chrimian den Patriarchenstuhl bestieg, ein höchst schwieriger, denn er übernahm gleichzeitig eine bedeutende Schuldenlast, die durch die spärlichen Einkünfte auf keine Weise zu tilgen war. Doch der Geistliche und Dichter zeigte sich hier als der richtige, von einem praktischen Sinne begabte Mann und durch Sparsamkeit und ein anspruchsloses Leben gelang es ihm in Kurzem alle Schulden zu bezahlen. In seiner neuen hohen Stellung blieb Chrimian derselbe einfache Volksmann, der er bisher gewesen war und unablässlich war er für das Wohl seiner Landsleute thätig. Sein Haus in Konstantinopel war wie ein Wallfahrtshaus, in welchem Alle, die Unterstützung, Rat und Trost suchten, bis aus den weitesten Gegenden Armeniens zusammen strömten. Alle besuchten den ehrwürdigen Hairik, das „Väterchen“, wenn sie Not oder Unbill zu erleiden hatten und keiner verliess ihn, den er nicht befriedigt, getröstet [169] oder durch seinen väterlichen Rat gestärkt hätte. Von Prälatenglanz wollte er nie etwas wissen, nie hielt er sich einen Wagen, sondern ging zu Fuss in die entlegensten Stadtteile und teilte seine letzten Piaster unter die Armen aus.

Um die traurige Lage des armenischen Volkes in Kleinasien vor den Augen Europas und der türkischen Regierung aufzudecken, setzte er eine Kommission ein, die er mit der Sammlung statistischer Angaben und der Aufzeichnung aller Übergriffe der türkischen Beamten betraute. Alle diese Angaben reichte er bei der Pforte ein und schickte auch eine Abschrift davon auf den Berliner Kongress. Schliesslich um die Macht der armenischen Notabeln von Konstantinopel einzuschränken und die Verwaltung der nationalen Angelegenheiten den wahren Volksvertretern mehr und mehr zugänglich zu machen, beantragte er eine Revision der Konstitution und stellte folgende Forderungen, 1. Reorganisation der Geistlichkeit. 2. Kontrolle der Bistumsverwaltungen. 3. Regulierung der Klostereinkünfte und Verwendung derselben zu Schulzwecken.