Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 19

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Am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Matth. 9, 1–8.
1. Da trat Er in das Schiff, und fuhr wieder herüber, und kam in Seine Stadt. 2. Und siehe, da brachten sie zu Ihm einen Gichtbrüchigen, der lag auf einem Bette. Da nun JEsus ihren Glauben sahe, sprach Er zu dem Gichtbrüchigen: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. 3. Und siehe, etliche unter den Schriftgelehrten sprachen bei sich selbst: Dieser lästert Gott. 4. Da aber JEsus ihre Gedanken sahe, sprach Er: warum denket ihr so arges in euren Herzen? 5. Welches ist leichter, zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben; oder zu sagen: Stehe auf und wandele? 6. Auf daß ihr aber wißet, daß des Menschen Sohn Macht habe auf Erden, die Sünden zu vergeben, sprach Er zu dem Gichtbrüchigen: Stehe auf, hebe dein Bette auf, und gehe heim. 7. Und er stand auf, und gieng heim. 8. Da das Volk das sahe, verwunderte es sich, und pries Gott, der solche Macht den Menschen gegeben hat.

 JEsus kommt aus dem Lande der Gadarener wieder herüber in Seine Stadt nach Capernaum. Da bringt man Ihm glaubensvoll einen Gichtbrüchigen, und Er, wohl merkend, daß es zunächst auf Heilung des Leibes abgesehen war, reichte doch dem Kranken zuerst statt Heilung die Absolution seiner Sünden. Die Pharisäer, von dem richtigen Satze ausgehend, daß nur Gott Sünden vergeben könne, beschuldigten den HErrn, deßen Gottheit sie nicht anerkannten, der Gotteslästerung. Der HErr merkte ihre argen Gedanken und wollte ihnen durch die Frage zurecht helfen: Welches ist leichter zu sagen: dir sind deine Sünden vergeben − oder zu sagen: Steh auf und wandele? Und ohne abzuwarten, was sie antworten würden,| wendet Er Sich zum Kranken und spricht Sein hilfreiches: Steh auf, hebe dein Bette auf und gehe heim! − auf daß Seine Feinde inne würden, daß des Menschen Sohn Macht habe, auf Erden die Sünde zu vergeben. Der Kranke gieng heim, und die Menge preisete Gott, der solche Macht dem Menschen JEsus gegeben hatte. Genesung und Vergebung, die sind in unserm Evangelium gegeneinander gehalten und werden gegeneinander abgewogen. Das ist wichtig für uns, wie für die Zeit JEsu, es ist wichtig für Zeit und Ewigkeit. Ich schlag euch deshalb vor, meine lieben Brüder, heute die folgenden Fragen zu erwägen:

 Der HErr leite uns, daß wir eine jede Frage richtig, eine jede nach Würden beantworten.

 Unsre erste Frage ist ganz die Frage JEsu an Seine Feinde: Was ist leichter zu sagen: dir sind deine Sünden vergeben − oder zu sagen: Steh auf und wandele? Wißen wir, welches von beiden leichter ist, so wißen wir auch was schwerer, was größer, was herrlicher ist. Die Frage JEsu: „Was ist leichter zu sagen“ − handelt, versteht sich, nicht von einem bloßen Sagen und Wortgepränge, sondern von einem erfolgreichen Sagen, so daß man spricht und die Sünde oder Krankheit verschwindet, so daß man gebeut, und Leben des Leibes, Frieden der Seele sind da. Von einem gebietenden Wort, einem gewaltigen Machtwort über Krankheit und Sünde ist die Rede. Wenn man es so nimmt, meine Freunde, was urtheilt ihr dann? Ist es leichter, Krankheiten oder Sünden den Befehl zu geben, von dem Menschen zu weichen? Vielleicht kommt euch die Größe der Krankheit, vielleicht die Größe der Sünde überwiegend vor, vielleicht wird es euch schwer zu entscheiden. Wir wollen uns aber nicht lange besinnen, sondern bedenken, daß kein Mensch, kein Engel, keine Creatur durch ein bloßes Wort, durch eine einfache Erklärung bloßer Willensmeinung irgend etwas ändern kann. Gebeut dem Staub, der im Sonnenstrahl taumelt, und sieh, ob er dir gehorcht. Laß alle Könige der Erde ihre Macht vereinen, laß sie alle zusammen einen Machtspruch über den taumelnden Staub thun: was wirds sein? Laß alle Teufel, laß alle Engel zusammentreten, sie sollen alle zumal das Stäublein anherrschen: auf ihr Wollen und Sprechen achtet dieß kleine Pünktlein nicht, sondern es steigt ab und steigt auf seine stille Bahn, wie es sich füget. Wenn aber der Staub nicht folgt, wie du es gerne hättest, wie wird dir die Krankheit und die Sündenschuld folgen? Des Leibes Weh, der Seelen Last − beide liegen, wenn du sie hast, auf dir; es hilft dir von beiden kein menschliches Sagen. Ueber beide gebeut allein der allmächtige Wille, dem aber ist eines wie das andere. Die Sünde ist eine größere Last, als die Krankheit, aber leichter, schwerer − das sind Eigenschaften der Geschöpfe, die für den Schöpfer und Erlöser nicht da sind. Er thut eines und das andere in tiefster Ruhe, ohne Anstrengung und Erschöpfung − und wenn du deshalb mit Hinblick auf Ihn, der es alleine kann, die Frage thust: „Was ist leichter, was schwerer, was größer, was kleiner?“ so ist die Antwort: „Nichts ist leichter, nichts schwerer, nichts größer, nichts kleiner; zu beidem gehört Allmacht; wer die hat, der thut beides; wer die nicht hat, thut nichts.“ − Vollkommen richtig beweist daher der HErr Seine Macht über die unsichtbare Sündenschuld durch die Machterweisung über die Krankheit und besigelt im Gewißen des Gichtbrüchigen die Vergebung durch Heilung. Und wenn die Pharisäer nicht gewesen wären, die sie waren, so hätten sie nun den HErrn anders angesehen und erkannt die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater und hätten Gott im Fleische angebetet. Gelobet sei der, der Leib und Seele in Seiner Macht hat, Leib und Seele im Auge behält und für beide sorgt, wie Er sie beide geschaffen hat. In allen Leibes-, in allen Seelennöthen sei unser Gebet und Flehen mit Danksagung zu Ihm gerichtet, und Sein heiliges, heilsames, allmächtiges Wort schalte und walte über alles, was wir sind und haben, in Ewigkeit! Seiner Macht ist nicht zu entrinnen, und wer sollte Dir entrinnen wollen, allmächtiger HErr JEsu Christe, der Du alle Deine Macht zu unserm Heil anwendest?


 Eine andere Frage ist die: Was ist dem Menschen, so wie er ist. d. i. dem Sünder nöthiger:| Genesung oder Vergebung der Sünden? Diese Frage ist so leicht zu beantworten, daß man glauben sollte, man könne sich nichts füglicher ersparen, als die Mühe ihrer Beantwortung. Allein es gibt viele andere Fragen dieser Art. Sie sind von allgemeinem Interesse, deshalb umgeht sie kein Mensch; sie werden daher oft und viel gelöst und ihre Lösung verbreitet sich unter dem Volke so, daß sie zu einem Gemeingute wird. Und doch ists gerade, als ob die vielfache Wiederholung und große Bekanntschaft ein Mittel wäre, sie in Vergeßenheit zu bringen. Denn die Menschen handeln nichts desto weniger so, als gäbe es entweder keine Lösung, oder als wäre die Lösung die umgekehrte von der, die man wirklich hat. Diese Vergeßenheit bringt oft, bringt namentlich in unserm gegenwärtigen Fall großen Schaden; man wünschte deshalb das Gedächtnis aufzufrischen − und wie soll das geschehen? Es muß denn doch wieder die Lösung der Frage vorgetragen, zur Beachtung derselben aufgerufen und Gott anheimgestellt werden, ob damit eine Wohlthat, wie man wünscht und hofft, oder etwas Eitles und Vergebliches geschehe. So beantworte ich denn auch unsre Frage aufs Neue und wünsche, es möge mir die Zunge nicht so am Gaumen kleben, daß ich undeutlich spräche, − und es möge die Anfechtung, als thäte ich thörlich, vor verschloßenen Ohren ein altes Lied anzustimmen, meinen Geist nicht matt, meine Rede nicht todt und lau zu machen vermögen.
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 Nehmen wir an, es läge ein Kranker vor uns und hätte die Wahl, entweder Vergebung der Sünde oder Genesung zu empfangen, eines oder das andere zu entbehren: was würde er wählen? Im Falle er ein ewiges Leben und eine ewige Verdammnis, welche von Vergebung oder Behaltung der Sünde abhangen, von Herzen glaubte, würde er doch nicht lange im Zweifel sein können. So lieb ihm sein zeitliches Leben wäre, es würde ihm doch gewis nicht so lieb sein, daß er um desselben willen seine ewige Wohlfahrt aufopfern möchte. Vielleicht nicht mit Freuden, vielleicht mit vielen Thränen und Klagen, mit Bangigkeit und Schrecken und Todesangst, aber doch mit der gewissen Ueberzeugung, am besten für sich zu sorgen, würde er das Leben dieser Welt laßen und jenes Leben in der Vergebung der Sünden erwählen. Was ist leibliches Genesen und Leben ohne die Gnade Gottes in Vergebung der Sünden! Die frischeste Jugend, die glücklichste Wohlfahrt, Reichtum und Fülle und langes Leben, alles zusammen ist unerträgliche Plage der Seele, die da wüßte, daß sie es mit ihrem ewigen Heile bezahlen müßte. Alles Herrliche der Zeit, wenn es am Rande der Hölle läge, würde nicht mehr, oder gar noch viel weniger werth sein als eine kühle Traube, die ein Mensch zu genießen bekäme zur Stärkung auf unnennbares Weh des zeitlichen Todes. Dagegen Vergebung der Sünden und sonst nichts dazu, ist dennoch großer Reichtum schon in der Zeit und nun erst in der Ewigkeit. Was ist beßer im unruhvollen Leben als der Seelenfriede, der Gottesfriede, welcher in Vergebung der Sünde liegt? Schon das Eine, daß man bei Vergebung der Sünde gewis ist, es sei alles, was uns begegnen kann, nicht aus der Quelle des göttlichen Zornes, sondern der göttlichen Gnade gefloßen, alles sei Gnade, alles diene zum Besten, − schon das ist ja ein fester Punkt, Boden unter den Füßen, wenn alles wankt. Die größte Marter, der bitterste Tod wird süß, wenn ich weiß, der HErr meine es gnädig und fördere mich durch das alles zum Heil. Und wohin geleitet mich, wenn ich abgeschieden, die Vergebung der Sünden? In den Aufenthalt der seligen Seelen, zum Gnadenthrone, zum Anschauen des in Christo JEsu versöhnten Gottes, zu einem unaussprechlichen Freudenleben, das ich in der Gemeinschaft aller Heiligen habe. Und auch mein Leib kann ruhen in Hoffnung. Ewige Krankheit wartet der Leiber, die von ihren Seelen ohne Vergebung der Sünden verlaßen wurden, und ein Tod umfäht sie, der ewig nicht stirbt. Aber eine ewige Genesung, eine unsterbliche Jugend, eine unvergängliche Kraft wartet der Leiber, deren Seelen im Frieden der Vergebung dahin fuhren. Behält man im Auge, daß ewige Genesung die wahre Genesung ist, und unsterbliche Jugend die beste Jugend, unvergängliche Kraft des Leibes die wünschenswertheste und daß alles das durch Vergebung der Sünden zu Theil wird, daß es keinem zu Theil wird, der nicht Vergebung hat; so hat der, welcher Vergebung selbst unter dem Verluste zeitlicher Gesundheit und irdischen Lebens erwählte, selbst für den Leib die beste Wahl getroffen, − und man kann also ohne Furcht vor Zweifel und Widerlegung, in Hoffnung allgemeiner Zustimmung der Gläubigen behaupten und festhalten, was je und je alle Gläubigen festhielten, worauf sie lebten und starben:| daß nemlich Vergebung der Sünden beßer ist als Leben; man kann getrost beten: „Deine Güte, Deine Gnade in Vergebung der Sünden ist beßer als Leben.“
 Als der HErr von der Erde Abschied nahm und ihr Seine sichtbare Gegenwart entzog, hinterließ Er Seinen Aposteln und Jüngern beides, die Macht Sünden zu vergeben und die Kranken gesund zu machen; in Seinem Namen predigten sie fortan Vergebung der Sünden allen Völkern, anfahend in Jerusalem, und wohin sie giengen, bekräftigte der HErr ihr Wort durch mitfolgende Zeichen, daß viele Kranke und mit Seuchen Behaftete genasen und ihres Leibes Gesundheit wieder bekamen. Und diese doppelte Gabe der Vergebung und Genesung pflanzte sich nach dem glaubwürdigen Zeugnis der Väter auch auf die Zeiten nach den Aposteln und ersten Jüngern fort. Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit unserer Zeit? Diese Frage zu beantworten, bedarf es doch zum Theil lichter Augen und wacher, nüchterner Geister. Zwar daß die Gabe, Sünde zu vergeben, nicht von uns gewichen ist und der Kirche zu keiner Zeit fehlte, ist offenbar. Die Kirche kann diese Gabe nicht entbehren, und der HErr kann sie Seiner Kirche nie entziehen; sie speist die Lebenden und Sterbenden und ohne sie ist kein Heil. Wir können alles eher entbehren, als das Amt, das Versöhnung predigt und die müden Sünder absolvirt; und so lang uns der HErr dies Amt, diesen segensreichen Baum Seiner Gnaden, läßt, ist nicht zu verzagen noch zu verzweifeln, d. i. man braucht nie zu verzagen, denn der HErr läßt uns bis ans Ende der Tage unsern letzten Trost, die Vergebung der Sünden. Aber wie es mit der Gabe, gesund zu machen, stehe, ob die noch vorhanden sei, das ist die schwierigere Frage, in Bezug auf welche ich lichte Augen und wachsame, nüchterne Geister allen wünsche, zu denen ich hiemit rede. So viel ist gleich gesagt, daß die Gabe, gesund zu machen, wie sie die Apostel besaßen, unsers Wißens gegenwärtig nicht in der Kirche ist. Aber ob deshalb gar nichts mehr vorhanden ist, was mit jener wunderbaren Gabe zusammenhängt, was ein Angeld und Pfand genannt zu werden verdient, ein Angeld und Pfand, daß auch eine größere Fülle außerordentlicher Gaben alsbald wieder geschenkt werden wird, so wie die Noth es erfordert und die Kirche es wieder glauben und faßen kann? Das gebe ich euch zu bedenken. Wie oft, meine theuern Brüder, haben wir uns schon in diesem Hause zum Gebete für Kranke und Sterbende vereinigt. Ich weiß, daß euer viele in ihrem Christentume noch nicht wieder so weit herangereift sind, daß ihnen das gemeine Gebet in unsern Versammlungen so lieb und lieblich geworden ist, als es wohl sollte. Das heilige Geheimnis, sich mit allen Gottesheiligen auf Erden Eines Leibes und Geistes zu wißen, Einen Odem und Ein Gebet mit ihnen allen zu haben, ist wenigen offenbart und von wenigen geübt. Aber wenn ich euch mit dem Wunsche eines Kranken oder Sterbenden, ins gemeine Gebet eingeschloßen zu werden, bekannt machte, da war es mir doch oft, als stünde ich nicht allein und einsam betend unter euch; es war mir, als fühlte ichs, wie sich manche Seele meiner Seele nahte, und sich mit mir zu dieser Fürbitte für Kranke und Sterbende vereinte. Und wenn dann euer lautes Vaterunser alle Bitten und Fürbitten, die ich in meinem und euerm Namen Gotte dargebracht, besigelte, da war mirs, als wären die leiblichen Stimmen seelenvoll, als betetet ihr wirklich mit. Und wie oft sprach Gott im Himmel Amen, wie oft sind wir erhört worden, wie wir beteten: wie manche selige Seele im Himmel wird es dereinst bekennen, daß sie auch kraft unsres Gebetes den Eingang ins ewige Reich gewonnen − und wie mancher unter euch, zu denen ich das sage, dürfte es bekennen, daß sein Leib auf unser Flehen genesen sei. Ist das nicht doch etwas, was an die Gabe, gesund zu machen, erinnert? JEsus befahl freilich den Krankheiten, so wichen sie; wir beten nur. Aber haben die Apostel nicht gebetet? Und beten wir nicht auch? Und würden wir nicht größere, öftere Erfahrungen machen, wenn wir öfter, ernstlicher, apostolischer beteten? − Und noch ein Zweites. Im Brief Jacobi Cap. 5, V. 14 f. lesen wir: „Ist jemand krank, der rufe zu sich die Aeltesten von der Gemeine und laße sie über sich beten und salben mit Oele in dem Namen des HErrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und so er hat Sünde gethan, werden sie ihm vergeben sein.“ Dieser Befehl ist doch nicht bloß ein Befehl an die Aeltesten der apostolischen Zeit; diese Verheißung klingt doch nicht, wie wenn sie kurzes Lebens und bloß für ein Jahrhundert gegeben wäre! Es ist ein gemeiner| Befehl für alle Kranke und für alle Aeltesten aller Zeiten. Und folgen denn wir diesem gemeinen Befehle nicht in unsrer Kirche von je her? Gehorchet nicht ihr selbst dem herrlichen Gebote? Rufet ihr nicht in euern Krankheiten oftmals mich, den Aeltesten dieser Gemeine, bete ich nicht über euern Kranken und Sterbenden nach dem Befehle des HErrn durch Seinen Knecht Jacobus? Zwar salbe ich euch nicht mit Oele, aber nur weil es nicht mehr gebräuchlich ist in unserer Kirche, weil ich nichts Misverständliches thun will, weil nicht dem Oele, sondern dem Gebete des Glaubens die Hilfe zugeschrieben wird, weil ich mit Augen sehe, daß weniger das Oel, als das Gebet, daß hauptsächlich und vor allem das Gebet befohlen sei. Zwar werden auch nicht alle Kranke gesund, über denen das Amtsgebet des Aeltesten gesprochen wird; aber irrt uns denn das, zu sehen, wo sie wirklich auf das Gebet genesen? Wenn wir hie und da beten, ohne daß unsers Betens Meinung mit des Kranken wahrem Besten zusammentrifft, wenn wir zuweilen nicht scharf genug sehen, um den Willen Gottes zu erkennen; sind wir in solchen Fällen, obschon uns Gott nicht wörtlich erhört, nicht dennoch beßer erhört, als es unser Gebet verlangte? Und doch, wie oft erhört der HErr wörtlich! wie oft gibt Er Genesung und Vergebung zusammen, wie wir begehren, und erquickt die Elenden wieder, die schon in des Todes Thoren zu stehen vermeint hatten! Wir glauben nicht, wie wir sollen; wir verkürzen uns oftmals die Hilfe. Oft sehen wir Gottes Herrlichkeit nicht, weil wir ein Mistrauen ins Amtsgebet, in den Befehl und die Verheißung desselben setzen. Wenn wir Gebot und Verheißung faßten, wenn wir damit demüthig und voll Zuversicht in Christo JEsu zum Vater beteten; ER würde uns hören, Seine Kirche würde mehr offenbares Zeugnis Seiner Lieb und Gnade, Seines Aufmerkens auf sie, Seiner Treue gegen sie erhalten, sie würde im Glauben gestärkt, die Gemeinschaft, die wir mit Ihm haben, würde lebendiger und seliger werden, und wir würden merken, daß der Ueberblieb der ersten Zeit nicht so klein ist, als es dem ungläubigen und oberflächlichen Beobachter scheint.

 Für wen aber ist dieser Ueberblieb? Das wäre die letzte Frage, die wir heute noch miteinander zu beantworten hätten. Als ich zuvor fragte: „Was ist in unsrer Zeit übrig?“ gieng ich über das beste vom Ueberblieb, über die Vergebung der Sünden mit wenigen Worten weg, weil ich dachte, es würde wohl niemand unter euch allen zweifeln, daß Vergebung und ein Amt der Vergebung bei uns noch vorhanden sei und bis ans Ende der Tage in der Kirche bleiben werde. Dagegen ergieng ich mich länger und weiter in dem Nachweis, daß auch von der Gabe gesund zu machen noch etwas übrig sei, und das trotz des Bewußtseins, daß der Ueberrest von der Gabe gesund zu machen, gegenüber dem Füllhorn der Gnaden, das wir in Vergebung der Sünden haben, nur geringer anzuschlagen sei. Weil dieser Ueberrest weniger erkannt und mit Danksagung gebraucht wird, redete ich länger davon; aus keinem andern Grunde geschah es. Umgekehrt will ich nun bei Beantwortung dieser letzten Frage verfahren. Ich will den Ueberrest von der Gabe gesund zu machen mehr in den Hintergrund treten laßen und hervor trete die herrliche Gabe der Vergebung der Sünde. Von ihr hauptsächlich redet die Frage: „Für wen ist sie?“ obschon auch für die Gnade der erbetenen Genesung manches von dem passt, was wir in der Antwort zu sagen haben.

 Wenn wir von der Gnade der Vergebung insonderheit reden, so ist nicht zunächst die friedenvolle Erfahrung der Vergebung in unserm Innern gemeint; sondern wir meinen die Vergebung, wie sie im Worte zum Menschen kommt, von außen her, von oben her, − die Absolution, wie sie JEsus dem Gichtbrüchigen sprach, wie JEsu Diener, die Träger Seines heiligen Amtes, sie in Seinem Namen, giltig im Himmel wie auf Erden, heute noch sprechen. Wir wollen von dieser äußerlichen Absolution die innerliche Wirkung auf die Seelen nimmermehr geschieden wißen, nicht die Kühlung vom kühlen Hauch der Luft; denn wozu weht denn der kühle Wind, wenn nicht die Hitze zu mindern und wohlzuthun? Aber wir reden diesmal nicht von der innern Wirkung, sondern bleiben bei dem, was wir im Evangelium hören, bei der äußerlichen, gnadebringenden, friedestiftenden Absolution, − und unsre Frage ist ganz eine mit dieser: „Wem gehört die Absolution?“

 So lautet dann die Antwort auch bedeutender, und es wird schnell gefaßt sein, warum sie gegeben, warum hervorgehoben wird. Die Antwort ist: „Die| Absolution gehört denen, die da glauben.“ Es versteht sich das zwar von selbst; aber es ist doch werth, daß man es wiederhole: „Die Absolution gehört denen, die da glauben.“ Ich will euch meinen Sinn erklären. Versetzt euch in einen Sonnabend-Nachmittag oder in einen frühen Sonntagsmorgen, in die Nähe einer Kirche, einer Landkirche − wenn es Sonnabend, einer Stadtkirche, wenn es früher Sonntagsmorgen sein soll. Es ist kein öffentlicher Gottesdienst, dennoch kommen Haufen Volkes im Bußgewande, denn sie wollen beichten. Tiefer Ernst ist den einen, den andern ist die Ruhe eines Gewohnheitsganges, den dritten lustiger, mit dem Bußgewande im Widerstreit befangener Leichtsinn auf dem Gesichte zu lesen. Geh mit dieser schwarzbekleideten und dennoch bunten Schaar hinein in die Kirche, sieh und höre. Man singt: „JEsus nimmt die Sünder an“, der Pfarrer am Altare vermahnt die Schaar, in Städten zum Theil seine eigenen, ihm bekannten, zum Theil fremde, seinem Amtsbruder zugehörige Beichtkinder. Nach der Vermahnung spricht er im Namen aller die Beichte, vielleicht bekräftigen sie etliche von der Schaar mit Ja und Amen auf Befragen, vielleicht auch nicht. Und wie sie stehen, ohne allen Unterschied, gezählt und ungezählt, bekannt und unbekannt, − werden sie absolvirt. Die einen hörens nicht und achtens nicht, die andern hörens und glaubens nicht, die dritten hörens und höhnen, die vierten hörens und glauben. Mancherlei Volk − und sind nun alle absolvirt. Hältst du’s also für Recht? Die Absolution gehört doch den Gläubigen! Du sprichst: Wer kann denen ins Herz sehen, wer kann wißen, ob sie glauben? Aber hat denn der Glaube nicht seine Früchte und eben so der Unglaube? Wenn etliche höhnen und spotten, etliche der Absolution nicht achten, bloß aus Gewohnheit kommen, kann man denn das nicht wißen? Gibts da nicht wenigstens eine Warnung vor Frevel, vor Selbstbetrug, vor Lauigkeit, vor Trägheit? Und wenn nun vollends unter denen, die da kommen, grobe Sünder sind, welche die Buße mit Trotz verweigern, bei welchen Beichte und Abendmahl kaum einen Aufenthalt von Sünden, kaum einen kleinen Zwischenraum zwischen den Sünden vor- und nach bilden?! − Es wäre viel zu sagen; aber ich merke, daß ich hier für die rede, die mich nicht hören, und daß, die einen Unterschied im Absolviren machen könnten, von dieser Gewißensrüge leiblich ferne sind und nichts von ihr wißen. Seis aber, wie es will, meine Brüder! Das ist wahr, daß die höhnenden, spottenden, unbußfertigen, harten, stolzen Sünder, die kein Heil suchen und an keinen JEsus glauben, nichts empfangen, keine Absolution, und wenn sie sich dieselbe aufschrieben, und wenn sie sich dieselbige schriftlich geben und von sterblichen Händen besiegeln ließen! Und wenn unter euch Leute sind, die, obwohl in der Beichte nicht so obenhin behandelt, wie jene Schaar, doch die Absolution nicht glaubten, sie scheinbar ehrerbietig hörten, innerlich aber verwürfen und verspotteten, − so gilt auch ihnen dies Wort: sie haben keine Vergebung, ihre alte Sünde ist ihnen behalten und die neue, die sie mit Unachtsamkeit, Verachtung und Verhöhnung der Absolution begangen, ist als ein schweres Gewicht in die Wagschaale der alten gelegt.

 Ganz anders ist es mit den Gläubigen. Sie beichten ihre Sünden von Herzen und sprechen mit Daniel tagtäglich, in und außerhalb der heiligen Versammlung auch für alle Brüder in der Welt die Beichte. Sie bringen nicht bloß ihre eigene arme Seele bekennend und reuend herzu; sondern wo sie einen finden, der gleich ihnen gichtbrüchig und elend ist, den bringen sie betend und beichtend mit und bitten nicht für sich allein, sondern auch für ihn um Genesung und Frieden. Sie beten und beichten für alle Bußfertigen, sie bitten für alle um Gnade; da geht es dann, wie im Evangelium, der HErr sieht ihren Glauben an und gibt ihnen Frieden für sich und in Anbetracht der andern, für deren Seelen sie, wie für die eigene Seele sorgten. Ihr Herz kennt drum kein seligeres Amt, als das der Absolution, keine fröhlichere Gabe als die Vergebung der Sünde, und sie danken ohn Unterlaß, daß sie in der heiligen Kirche geboren, in ihrer Mitte groß gezogen sind und von ihrem Zuspruch immer aufs Neue getröstet werden. Sie wißen, daß außer der Kirche keine Vergebung ist und kein Friede, und drum schätzen und preisen sie es für ihr größtes Glück, daß sie zur Kirche gehören, in welcher ihnen täglich alle Sünden reichlich vergeben werden.

 Liebe Brüder, Gott reiße jede bittere Wurzel der Unbußfertigkeit und des Unglaubens aus euren Herzen; Gott schenke euch Absolution, Glauben an dieselbe und ihren Frieden! Gott lehr euch aber auch die selige Kunst, daheim in euern Hütten und hier im Hause des HErrn, in jedem Gottesdienste für alle Christen zu beichten| und um Vergebung zu bitten! Und wenn euch dann auf die gemeinsame Beichte der Gemeinde die allgemeine Absolution sammt der Retention verkündigt wird; so treffe die letztere keinen, die erstere euch alle und jede, wie wenn ihr einzeln beichtend vor dem Beichtiger stehet, und es ergreife einen jeden von euch nicht bloß der Friede der ihm gewordenen Vergebung, sondern die tiefe Zuversicht, daß alle Schafe JEsu, seine ganze Heerde im Frieden Gottes wohne hie zeitlich und dort ewiglich! Amen.




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