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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

daß nemlich Vergebung der Sünden beßer ist als Leben; man kann getrost beten: „Deine Güte, Deine Gnade in Vergebung der Sünden ist beßer als Leben.“


 Als der HErr von der Erde Abschied nahm und ihr Seine sichtbare Gegenwart entzog, hinterließ Er Seinen Aposteln und Jüngern beides, die Macht Sünden zu vergeben und die Kranken gesund zu machen; in Seinem Namen predigten sie fortan Vergebung der Sünden allen Völkern, anfahend in Jerusalem, und wohin sie giengen, bekräftigte der HErr ihr Wort durch mitfolgende Zeichen, daß viele Kranke und mit Seuchen Behaftete genasen und ihres Leibes Gesundheit wieder bekamen. Und diese doppelte Gabe der Vergebung und Genesung pflanzte sich nach dem glaubwürdigen Zeugnis der Väter auch auf die Zeiten nach den Aposteln und ersten Jüngern fort. Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit unserer Zeit? Diese Frage zu beantworten, bedarf es doch zum Theil lichter Augen und wacher, nüchterner Geister. Zwar daß die Gabe, Sünde zu vergeben, nicht von uns gewichen ist und der Kirche zu keiner Zeit fehlte, ist offenbar. Die Kirche kann diese Gabe nicht entbehren, und der HErr kann sie Seiner Kirche nie entziehen; sie speist die Lebenden und Sterbenden und ohne sie ist kein Heil. Wir können alles eher entbehren, als das Amt, das Versöhnung predigt und die müden Sünder absolvirt; und so lang uns der HErr dies Amt, diesen segensreichen Baum Seiner Gnaden, läßt, ist nicht zu verzagen noch zu verzweifeln, d. i. man braucht nie zu verzagen, denn der HErr läßt uns bis ans Ende der Tage unsern letzten Trost, die Vergebung der Sünden. Aber wie es mit der Gabe, gesund zu machen, stehe, ob die noch vorhanden sei, das ist die schwierigere Frage, in Bezug auf welche ich lichte Augen und wachsame, nüchterne Geister allen wünsche, zu denen ich hiemit rede. So viel ist gleich gesagt, daß die Gabe, gesund zu machen, wie sie die Apostel besaßen, unsers Wißens gegenwärtig nicht in der Kirche ist. Aber ob deshalb gar nichts mehr vorhanden ist, was mit jener wunderbaren Gabe zusammenhängt, was ein Angeld und Pfand genannt zu werden verdient, ein Angeld und Pfand, daß auch eine größere Fülle außerordentlicher Gaben alsbald wieder geschenkt werden wird, so wie die Noth es erfordert und die Kirche es wieder glauben und faßen kann? Das gebe ich euch zu bedenken. Wie oft, meine theuern Brüder, haben wir uns schon in diesem Hause zum Gebete für Kranke und Sterbende vereinigt. Ich weiß, daß euer viele in ihrem Christentume noch nicht wieder so weit herangereift sind, daß ihnen das gemeine Gebet in unsern Versammlungen so lieb und lieblich geworden ist, als es wohl sollte. Das heilige Geheimnis, sich mit allen Gottesheiligen auf Erden Eines Leibes und Geistes zu wißen, Einen Odem und Ein Gebet mit ihnen allen zu haben, ist wenigen offenbart und von wenigen geübt. Aber wenn ich euch mit dem Wunsche eines Kranken oder Sterbenden, ins gemeine Gebet eingeschloßen zu werden, bekannt machte, da war es mir doch oft, als stünde ich nicht allein und einsam betend unter euch; es war mir, als fühlte ichs, wie sich manche Seele meiner Seele nahte, und sich mit mir zu dieser Fürbitte für Kranke und Sterbende vereinte. Und wenn dann euer lautes Vaterunser alle Bitten und Fürbitten, die ich in meinem und euerm Namen Gotte dargebracht, besigelte, da war mirs, als wären die leiblichen Stimmen seelenvoll, als betetet ihr wirklich mit. Und wie oft sprach Gott im Himmel Amen, wie oft sind wir erhört worden, wie wir beteten: wie manche selige Seele im Himmel wird es dereinst bekennen, daß sie auch kraft unsres Gebetes den Eingang ins ewige Reich gewonnen − und wie mancher unter euch, zu denen ich das sage, dürfte es bekennen, daß sein Leib auf unser Flehen genesen sei. Ist das nicht doch etwas, was an die Gabe, gesund zu machen, erinnert? JEsus befahl freilich den Krankheiten, so wichen sie; wir beten nur. Aber haben die Apostel nicht gebetet? Und beten wir nicht auch? Und würden wir nicht größere, öftere Erfahrungen machen, wenn wir öfter, ernstlicher, apostolischer beteten? − Und noch ein Zweites. Im Brief Jacobi Cap. 5, V. 14 f. lesen wir: „Ist jemand krank, der rufe zu sich die Aeltesten von der Gemeine und laße sie über sich beten und salben mit Oele in dem Namen des HErrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und so er hat Sünde gethan, werden sie ihm vergeben sein.“ Dieser Befehl ist doch nicht bloß ein Befehl an die Aeltesten der apostolischen Zeit; diese Verheißung klingt doch nicht, wie wenn sie kurzes Lebens und bloß für ein Jahrhundert gegeben wäre! Es ist ein gemeiner

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/458&oldid=- (Version vom 24.7.2016)