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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Trenne also Gesetz und Evangelium. Aber wiße auch, daß beide richtig auf einander folgen müßen. Eins allein ist dem Menschen nicht gegeben, sondern alle beide: Gesetz und Evangelium. Hätte man das Gesetz allein, so würden die Menschen desto unglücklicher werden, je kräftiger es wirken würde, − die Erde würde ein Vorhof der Hölle sein. Würde man allein Evangelium predigen, so würde es von keinem Menschen verstanden, keinem Menschen zum Troste, sondern vergeblich und eitel werden, eine Thorheit würde es sein, wie es unter den Griechen war, die von Sünde nichts wußten. Beide müßen zusammen sein. Zwar ist es wahr, daß mancher Mensch lange das Gesetz hört, ohne vom Evangelium etwas zu erfahren, − mancher hinwiederum von Christo eher, als von seinem verderbten Herzen und Gottes Zorne etwas vernimmt. Es ist nicht bei einem jeden einerlei Ordnung im Lernen und Erkennen der beiden? aber wenn beide in ihrem vollen Segen wirken sollen, so muß dem Menschen zuerst des Gesetzes Kraft und dann die Kraft des Evangeliums im Herzen offenbart werden. Wenn erst das Gesetz uns zur Buße gebracht hat, dann kann uns das Evangelium Vergebung der Sünde predigen. Wenn wir traurig geworden, faßen wir den Trost, wenn wir hungrig geworden, die Speise. Das Evangelium ist nur für Bußfertige; für unbußfertige Leute ist es ein Räthsel und ein versigelter Brief. Wohl dem, der immer gleichmäßig Gesetz und Evangelium erfährt, der in dem Maße getröstet wird, als er des Trostes bedarf. Einen Schritt weiter in der Buße und einen weiter in dem Glauben, so kommt man fahrlos weiter und wandelt eine sichere Bahn. Und so bleibe es bei uns bis ans Ende des Lebens. Immer Buße, immer Trost, − das ganze Leben ist ein getröstetes Elend. Immer Gesetz, immer Evangelium. − Stab Weh, Stab Sanft − so weidet der Erzhirte JEsus. Wer aber von dem Gesetze nichts erfahren, der weiß auch nichts vom Evangelium. Fang an, das Gesetz zu hören, und dann vernimm das Evangelium. Befleißige dich beider − bete um den Segen beider. Gott gebe uns also beides, Tod und Leben! Amen.




Am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Matth. 9, 1–8.
1. Da trat Er in das Schiff, und fuhr wieder herüber, und kam in Seine Stadt. 2. Und siehe, da brachten sie zu Ihm einen Gichtbrüchigen, der lag auf einem Bette. Da nun JEsus ihren Glauben sahe, sprach Er zu dem Gichtbrüchigen: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. 3. Und siehe, etliche unter den Schriftgelehrten sprachen bei sich selbst: Dieser lästert Gott. 4. Da aber JEsus ihre Gedanken sahe, sprach Er: warum denket ihr so arges in euren Herzen? 5. Welches ist leichter, zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben; oder zu sagen: Stehe auf und wandele? 6. Auf daß ihr aber wißet, daß des Menschen Sohn Macht habe auf Erden, die Sünden zu vergeben, sprach Er zu dem Gichtbrüchigen: Stehe auf, hebe dein Bette auf, und gehe heim. 7. Und er stand auf, und gieng heim. 8. Da das Volk das sahe, verwunderte es sich, und pries Gott, der solche Macht den Menschen gegeben hat.

 JEsus kommt aus dem Lande der Gadarener wieder herüber in Seine Stadt nach Capernaum. Da bringt man Ihm glaubensvoll einen Gichtbrüchigen, und Er, wohl merkend, daß es zunächst auf Heilung des Leibes abgesehen war, reichte doch dem Kranken zuerst statt Heilung die Absolution seiner Sünden. Die Pharisäer, von dem richtigen Satze ausgehend, daß nur Gott Sünden vergeben könne, beschuldigten den HErrn, deßen Gottheit sie nicht anerkannten, der Gotteslästerung. Der HErr merkte ihre argen Gedanken und wollte ihnen durch die Frage zurecht helfen: Welches ist leichter zu sagen: dir sind deine Sünden vergeben − oder zu sagen: Steh auf und wandele? Und ohne abzuwarten, was sie antworten würden,

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/455&oldid=- (Version vom 24.7.2016)