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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Genesung oder Vergebung der Sünden? Diese Frage ist so leicht zu beantworten, daß man glauben sollte, man könne sich nichts füglicher ersparen, als die Mühe ihrer Beantwortung. Allein es gibt viele andere Fragen dieser Art. Sie sind von allgemeinem Interesse, deshalb umgeht sie kein Mensch; sie werden daher oft und viel gelöst und ihre Lösung verbreitet sich unter dem Volke so, daß sie zu einem Gemeingute wird. Und doch ists gerade, als ob die vielfache Wiederholung und große Bekanntschaft ein Mittel wäre, sie in Vergeßenheit zu bringen. Denn die Menschen handeln nichts desto weniger so, als gäbe es entweder keine Lösung, oder als wäre die Lösung die umgekehrte von der, die man wirklich hat. Diese Vergeßenheit bringt oft, bringt namentlich in unserm gegenwärtigen Fall großen Schaden; man wünschte deshalb das Gedächtnis aufzufrischen − und wie soll das geschehen? Es muß denn doch wieder die Lösung der Frage vorgetragen, zur Beachtung derselben aufgerufen und Gott anheimgestellt werden, ob damit eine Wohlthat, wie man wünscht und hofft, oder etwas Eitles und Vergebliches geschehe. So beantworte ich denn auch unsre Frage aufs Neue und wünsche, es möge mir die Zunge nicht so am Gaumen kleben, daß ich undeutlich spräche, − und es möge die Anfechtung, als thäte ich thörlich, vor verschloßenen Ohren ein altes Lied anzustimmen, meinen Geist nicht matt, meine Rede nicht todt und lau zu machen vermögen.

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 Nehmen wir an, es läge ein Kranker vor uns und hätte die Wahl, entweder Vergebung der Sünde oder Genesung zu empfangen, eines oder das andere zu entbehren: was würde er wählen? Im Falle er ein ewiges Leben und eine ewige Verdammnis, welche von Vergebung oder Behaltung der Sünde abhangen, von Herzen glaubte, würde er doch nicht lange im Zweifel sein können. So lieb ihm sein zeitliches Leben wäre, es würde ihm doch gewis nicht so lieb sein, daß er um desselben willen seine ewige Wohlfahrt aufopfern möchte. Vielleicht nicht mit Freuden, vielleicht mit vielen Thränen und Klagen, mit Bangigkeit und Schrecken und Todesangst, aber doch mit der gewissen Ueberzeugung, am besten für sich zu sorgen, würde er das Leben dieser Welt laßen und jenes Leben in der Vergebung der Sünden erwählen. Was ist leibliches Genesen und Leben ohne die Gnade Gottes in Vergebung der Sünden! Die frischeste Jugend, die glücklichste Wohlfahrt, Reichtum und Fülle und langes Leben, alles zusammen ist unerträgliche Plage der Seele, die da wüßte, daß sie es mit ihrem ewigen Heile bezahlen müßte. Alles Herrliche der Zeit, wenn es am Rande der Hölle läge, würde nicht mehr, oder gar noch viel weniger werth sein als eine kühle Traube, die ein Mensch zu genießen bekäme zur Stärkung auf unnennbares Weh des zeitlichen Todes. Dagegen Vergebung der Sünden und sonst nichts dazu, ist dennoch großer Reichtum schon in der Zeit und nun erst in der Ewigkeit. Was ist beßer im unruhvollen Leben als der Seelenfriede, der Gottesfriede, welcher in Vergebung der Sünde liegt? Schon das Eine, daß man bei Vergebung der Sünde gewis ist, es sei alles, was uns begegnen kann, nicht aus der Quelle des göttlichen Zornes, sondern der göttlichen Gnade gefloßen, alles sei Gnade, alles diene zum Besten, − schon das ist ja ein fester Punkt, Boden unter den Füßen, wenn alles wankt. Die größte Marter, der bitterste Tod wird süß, wenn ich weiß, der HErr meine es gnädig und fördere mich durch das alles zum Heil. Und wohin geleitet mich, wenn ich abgeschieden, die Vergebung der Sünden? In den Aufenthalt der seligen Seelen, zum Gnadenthrone, zum Anschauen des in Christo JEsu versöhnten Gottes, zu einem unaussprechlichen Freudenleben, das ich in der Gemeinschaft aller Heiligen habe. Und auch mein Leib kann ruhen in Hoffnung. Ewige Krankheit wartet der Leiber, die von ihren Seelen ohne Vergebung der Sünden verlaßen wurden, und ein Tod umfäht sie, der ewig nicht stirbt. Aber eine ewige Genesung, eine unsterbliche Jugend, eine unvergängliche Kraft wartet der Leiber, deren Seelen im Frieden der Vergebung dahin fuhren. Behält man im Auge, daß ewige Genesung die wahre Genesung ist, und unsterbliche Jugend die beste Jugend, unvergängliche Kraft des Leibes die wünschenswertheste und daß alles das durch Vergebung der Sünden zu Theil wird, daß es keinem zu Theil wird, der nicht Vergebung hat; so hat der, welcher Vergebung selbst unter dem Verluste zeitlicher Gesundheit und irdischen Lebens erwählte, selbst für den Leib die beste Wahl getroffen, − und man kann also ohne Furcht vor Zweifel und Widerlegung, in Hoffnung allgemeiner Zustimmung der Gläubigen behaupten und festhalten, was je und je alle Gläubigen festhielten, worauf sie lebten und starben:

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/457&oldid=- (Version vom 24.7.2016)