Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Trinitatis 16
« Trinitatis 15 | Wilhelm Löhe Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe) Register der Sommer-Postille |
Trinitatis 17 » | |||
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
| |||||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Am sechszehnten Sonntage nach Trinitatis.
- 11. Und es begab sich darnach, daß Er in eine Stadt mit Namen Nain gieng; und Seiner Jünger giengen viele mit Ihm, und viel Volks. 12. Als Er aber nahe an das Stadtthor kam, siehe da trug man einen Todten heraus, der ein einiger Sohn war seiner Mutter, und sie war eine Wittwe, und viel Volks aus der Stadt gieng mit ihr. 13. Und da sie der HErr sahe, jammerte Ihn derselbigen, und sprach zu ihr: Weine nicht. 14. Und trat hinzu und rührete den Sarg an; und die Träger stunden. Und Er sprach: Jüngling, ich sage dir, stehe auf. 15. Und der Todte richtete sich auf, und fieng an zu reden. Und Er gab ihn seiner Mutter. 16. Und es kam sie alle eine Furcht an, und priesen Gott und sprachen. Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und Gott hat sein Volk heimgesucht. 17. Und diese Rede von Ihm erscholl in das ganze jüdische Land und in alle umliegende Länder.
1. Unser HErr geht nach Nain − und sieh, welch eine große Anzahl Seiner Jünger und des Volkes geht mit Ihm! − Was wir schon manchmal bei Betrachtung der Evangelien bemerkt haben, das drängt sich uns auch diesmal wieder auf, und weil es so weh thut, die Gegenwart hinter der Vergangenheit zurückbleiben zu sehen, so können wirs auch heute nicht laßen, es wieder zu sagen. Es ist recht traurig, daß den HErrn in der Zeit Seiner Niedrigkeit eine so große Anzahl von Jüngern und Zuhörern begleitet, und Er nun, nachdem Er erhöht ist auf den Thron der höchsten Ehre, so einsam über die Erde hingeht. Auch zur Zeit Seines Lebens prangte Er nicht in der Majestät einher, die Ihm gebührte, die Er hätte haben können; und doch eine solche Theilnahme an all Seinem Thun, Seinen Predigten und Wundern! Und nun gegenwärtig?| Man sieht zwar auch nicht die Majestät Seiner Person, Er ist unsichtbar, und die vor dem Unsichtbaren hergehen und Hosianna singen, sind geringe Leute; aber man weiß doch, daß Er herrscht. Achtzehen hundert Jahre ist Er unüberwunden geblieben und hat Selbst alles überwunden, alles zu Seines Reiches Bestem gefügt; es ist kein Name, wie der Seinige, kein Reich wie Seines, und kein Wort wie Sein Wort: − und doch so wenig Theilnahme, so wenig Gehör, so wenig Nachfolge! Wenn man auf Ihn merken, Seine Worte hören, Ihm nachfolgen würde, würde es einem jetzt noch gehen, wie einst Seinen Zuhörern und Nachfolgern; man würde Sein Angesicht immer klarer leuchten sehen, obwohl Er uns ganz unsichtbar ist, und ein immer stilleres Freudenleben würde man mit Ihm leben mitten im Jammerthale, mitten im freudlosen, unschlachtigen Geschlecht dieser Welt. Mögen nun andere mit Ihm gehen oder nicht, ich will mit Ihm gehen, und willkommen, gesegnet sollen sein, die mit mir Ihm nachwandeln! Und heute will ich im Geiste mit Ihm nach Nain gehen, auf daß ich Seine Weise lerne und sie erkenne auch in dieser meiner Zeit. Seid meine Genoßen, liebe Brüder! Wollen wir mit einander den HErrn nach Nain begleiten.
2. Wir gehen mit Ihm gen Nain, oder nein, wir sehen auf Ihn, wie Er gen Nain geht, und sind ganz Auge und Ohr für Ihn. Wenn Ihn die Einwohner von Nain recht erkannt hätten, sie hätten Ihn in Menge eingeholt, sie wären Ihm mit Palmen und Liedern entgegengezogen, wie es hernach bei Jerusalem geschah. Nun aber ist alles ganz anders. Als der HErr nahe ans Stadtthor kam, da kam Ihm wohl ein Zug und ein Haufe Volks entgegen, aber es war ein Zug, der Ihm nicht zur Feier und Begrüßung veranstaltet war: da gabs keine Palmen, keinen Lobgesang, sondern weinend, klagend und jammernd kommt man Ihm entgegen − oder nicht einmal entgegen, es war ein Leichenzug, und man wollte, ohne Sein zu achten, vor Ihm vorüber gehen. − Man gieng Ihm nicht entgegen; aber darf man auch sagen: Er gieng dem Zuge nicht entgegen? Die Leute von Nain hatten keine Absicht, Ihm zu begegnen; aber hatte Er nicht die Absicht, den Leuten zu begegnen? Das ist eine andere Frage, die verneinen mag, wer will, ich will sie doch lieber bejahen. − Das war, das ist Deine Absicht, o HErr, den Traurigen und Leidenden zu begegnen, denn Du bist ein Freund und ein Heiland der Elenden und trocknest gerne Thränen! Dem Kranken soll ein Arzt, dem Verwundeten ein barmherziger Samariter mit Oel und Wein, und jedem Betrübten der Freudenmeister JEsus begegnen. So begegnen einander, die zusammen gehören und zusammen kommen wollen, − und wenn sie zusammenkommen, soll man Glück wünschen. Wem der HErr begegnet, der kann eitel Glück erwarten! Der HErr begegne uns, wenn unsre Wege dunkel werden! Er begegne uns, wenn unsre Augen dunkel werden; da freuen wir uns dann sein und Er freut Sich unser! Und wir werden uns auch freuen; denn Er begegnet uns gewis. Er wartet nicht auf den Zuruf; Er kommt, Er kommt mit Willen, all Angst und Noth zu stillen, die Ihm an uns bewußt.
3. Aber wer ist es, wen trägt man zu Grabe? Darauf gibt es eine traurige Antwort. Es ist ein Jüngling, der einige Sohn seiner Mutter, und sie war eine Wittwe. Das sind drei Glieder eines Satzes − und zusammen sind sie die Beschreibung eines dreifach großen Leides; jedes Glied ladet zu tieferer Trauer und größerem Mitgefühl ein. Ein Jüngling starb − und es ist schriftgemäß zu behaupten, daß es kein Glück ist, in der Hälfte, geschweige im ersten Drittel oder Viertel des Lebens sterben. Ein abgebrochener Lebenslauf, ein munterer Bach, der in den Sand und unter die Erde hinabfließt, sind beide ein geheimnisvoller Anblick, der Frage auf Frage erweckt. Ein Jüngling, ein einiger Sohn seiner Mutter stirbt. Ich will euch nicht schrecken, ihr glücklichen Mütter einziger, lebender Söhne; ich will eure Jammerbrunnen nicht öffnen, ihr unglücklichen Mütter einziger, hingeschiedener Söhne; aber ihr seid dennoch die rechten Richterinnen über das Leid vor den Thoren der Stadt Nain. Ihr wißt, was es für die Mutter von Nain war, hinter dem Sarge herzugehen. Und sie war eine Wittwe! Es ist nicht nöthig, da viel auszulegen, warum eine Wittwe ihren einigen Sohn zu betrauern ein großes Recht hat. Warum soll ich beweisen, was keiner leugnet! Da sehet nur hin auf die weinende, jammernde Mutter. Hat sie darum diesen Sohn empfangen, geboren und erzogen? Sie hatte einen Trost geboren für die Zeit, wo ihr Mann stürbe, − und wo ist nun der Trost? Eine Hoffnung und eine Freude des Alters hatte sie groß gezogen − und nun ists aus mit Hoffnung und Freude! Wenn sie ihn nun wird hingelegt haben an den stillen Ort, in der| Stadt der Todten draußen vor den Thoren der Stadt der lebendigen Nainiten! Wenn sie nun heimgekommen sein wird und kein Mitleidiger mehr mit und bei ihr: wie wird ihr Haus so leer, ihr Herz so voll von Trauer und Sehnsucht sein! − So denken wir uns hinein, so vertiefen wir uns in die Trauer der Wittwe von Nain, so reizen wir unser Mitleid, − und warum? Weil wir gerne schauen, gerne weinen, gern in Erinnerungen des Elends wühlen? Das sei ferne! Wir wollen nur das Elend der Wittwe recht faßen, um die Hilfe recht würdigen zu können. Denn es gibt ja eine Hilfe − und einen Helfer. Die Wittwe sehnt sich nicht nach Ihm, denn sie kennt Ihn nicht; sie sieht sich nicht nach Ihm um, sie bittet und fleht Ihn nicht, aber das ist auch nicht nöthig, denn Er kommt und hilft ungebeten, und es wird sich bald zeigen, daß die Wittwe nur darum in das große Elend gekommen ist, damit sie empfänglicher würde für große Freude. Das faßt der Unglückliche so schwer, daß sein Unglück eine Weißagung auf großes Glück ist. Er beurtheilt nach dem Winter, der doch vor dem Sommer kommen muß, den Sommer − und statt fröhlich sich nach dem auszustrecken, das da vornen ist, quält er sich mit Schauen ins Schwarze und ins Grab. Hier auf Erden ist keine Trauer, bei der man immerdar verweilen müßte, für die es nicht einen Himmel voll Freuden zum Hintergrunde gäbe, die nicht selbst ein Weg zu Himmelsfreuden werden könnte. Vorwärts, aufwärts − den Zuruf laße sich jeder Leidende gefallen, − denn der HErr ist davornen und kommt vom Aufgang.4. Doch nun nimm weg dein Auge von der Wittwe und richte es völlig auf den HErrn, daß du Seine Herrlichkeit schauest. Gelobet sei auch hier, der da kommt im Namen des HErrn, des Vaters, − gelobt sei der Sohn Davids! Gelobet sei, was Sein Mund spricht, und gelobet seien die Werke Seiner Hände!
Der HErr sieht den Leichenzug und Sein Auge findet schnell unter allen Klagenden und Weinenden die thränenvollste und jammerreichste, die Mutter, die Wittwe, und sie jammert Ihn. Also ist der Jammer über die Trennung von den abgeschiedenen Freunden vor Ihm gerechtfertigt! Er straft sie nicht, die weinende Mutter, er schilt sie nicht, sondern sie jammert Ihn. Also ist das Weinen an Sterbebetten und Gräbern vor Ihm kein Gräuel, und die menschliche Trauer, die uns da befällt, darf sich vor Seinem Auge nicht verbergen und fürchten. Er weint mit den Weinenden und ist gekommen, daß die Erde, die Todes und der Thränen voll ist, nicht bloß getröstet, sondern errettet werde von allem Jammer der Sünde und ihrer Folgen, des Todes und des Gerichtes.
Mitleidsvoll tritt der HErr zur Mutter und spricht: „Weine nicht!“ Auch ein machtloses, wenn nur barmherzig gesprochenes „Weine nicht“ hat eine tröstende Kraft; jede Aeußerung des Mitgefühls, jede Anerkennung der Größe und Tiefe unserer Schmerzen, jede Gemeinschaft mit liebenden, theilnehmenden Herzen tröstet und stärkt. Ach, wenn es mancher wüßte, wie balsamisch und lindernd eine mitgeweinte Thräne, ein sanftes Weine-nicht auf uns wirkt, wie leicht man ein Tröster und Erquicker der Traurigen werden kann: wie viel mehr würde Er sich beeifern, die leichte Liebespflicht zu vollziehen! Wirkt nun aber ohnmächtiges Mitleid so beruhigend und stärkend, wie viel mehr wird das Weine-nicht des HErrn JEsus auf das schmerzenvolle Mutterherz gewirkt haben! Wie mag der HErr dies Wort zur Wittwe gesprochen, und wie mag sie es empfunden haben, da es eine vollkommene Hilfe im Hinterhalt hatte! Wie mag ihr trauernd Auge Sein Auge voll Lieb und Kraft gesucht, wie mag Sein Auge das ihrige unter Thränen angelacht, verheißenden Nachdruck in die Worte „Weine nicht“ gelegt haben! Es mögen wohl die Thränen versiegt und an die Stelle der jammervollen Klage mag wohl ein stilles Aufmerken auf das Thun dieses Fremdlings getreten sein, dieses wunderbaren, der sich mit behender Eile von der Mutter wendete, den Sarg anrührte und die Träger stehen hieß.
Die Träger stehen, mit ihnen die Leichenbegleitung, der ganze Zug. Welch eine Gewalt des HErrn über die Gemüther der Sterblichen! Laß einen andern den Sarg anrühren und sieh, ob die Träger, ob der Leichenzug stehen bleibt, ob man nicht, wie wenn man den Hinderer eines heiligen, wenn schon hoffnungslosen Geschäftes abzuweisen ein gutes Recht hätte, mit desto ernsterm Tritt und Schritt dem Gottesacker zugehen wird! Das ist JEsus, in Deßen Thun und Reden jedermann etwas Großes und Göttliches merkt| und ahnt! Er will, daß der Leichenzug inne halte, und alles hält! Die Bahre, auf welcher der Todte mit offenem Angesichte liegt, wird niedergestellt. Der HErr steht vor dem Todten − was wird nun werden? Was will der HErr mit dem eiskalten Leichnam machen? Diese Kälte weißagt Verwesung; wird Er die Verwesung aufhalten? Und ob die Verwesung inne hielte, das vielleicht schon begonnene Werk fortzusetzen: was hilft das kalte Todtenbild? Ein Bild von Fleisch und Bein, ein Bild von Stein − was ists für ein Unterschied? Die Seele fehlt: wenn Er die Seele nicht wiederbringt, wird der Leichnam doch die beste Ruhstatt nur im Grabe haben. Weiß Er denn, wo die Seele ist, und wenn Er das weiß, wenn Er mehr weiß, als alle Menschen, wird Er auch Macht über die abgeschiedenen Seelen haben? Regiert Er im stillen Land der Todten? Er spricht keine Sylbe − ist Sein bloßer Wille so mächtig, die Seele wiederzubringen? Und kann Er sie mit dem Leibe wieder zusammenfügen, daß die alte Verbindung, die alte Wechselwirkung entsteht, die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, die man Leben heißt? Auf diese Fragen ein Ja, ein zweifelloses Ja. Ja, Er weiß den Ort, wo die Seele des Jünglings von Nain auf ihre Zurückführung wartete; ja Er hat Macht über die abgeschiedenen Seelen, sie gehen und stehen zu machen, wie die Träger und den Leichenzug; Er ist gewaltig über Lebende und Todte; Er weiß die „Ausgänge des Todes“, Er kann die Seelen und Leiber zusammenfügen und die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele wieder herstellen. Er kann es, denn Er thut es. Du siehst es nicht, aber aus den Folgen wirst du’s inne. Denn auf einmal spricht Er ja den Todten als einen Lebenden an. Wäre die Seele nicht wieder mit seinem Leib vereinigt gewesen, so würden diese Ohren des Leichnams von Nain das Wort des HErrn nicht vernommen, dieser Leib nicht gehorcht, diese im Tode erstarrte Zunge nicht geredet haben. „Jüngling, ich sage dir, steh auf!“ spricht der HErr. „Da richtete der Todte sich auf und fieng an zu reden.“ − Was sind nun alle Weisen, alle Mächtigen der Erde gegen JEsum? Sie sterben alle und können sich nicht helfen! Hier aber steht einer im Leibe, der die Todten auferweckt leichter als Mütter ihre Kinder vom Schlafe wecken; einer, der andere auferweckt und von dem es heißt: „Er hatte Macht, Sein Leben zu laßen und wieder zu nehmen!“ Er hat das Mägdlein Jairi auf dem Sterbebette, den Jüngling von Nain auf dem Weg zum Grabe, Lazarum aus Grab und Verwesung, und was mehr als alles ist, am Abend Seines Todes die längst verwesten Heiligen und am Sonntag drauf Sich Selbst auferweckt. In Ihm hat der Tod einen HErrn gefunden und wir einen Schirm und Schutz! − Er kann − und Sein heiliger Mund versichert uns, daß Er will, − nemlich was? das, was uns zunächst bekümmert: Leib und Seele ewiges Leben geben! Er sei gelobet und gebenedeiet! So wißen wir nun, wes wir sind, wem wir glauben, auf wen wir hoffen, nemlich auf den, der da ist die Auferstehung und das Leben, der unsern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde Seinem verklärten Leibe.
Der HErr hat den Jüngling aufgeweckt, aber damit geht Er noch nicht weiter. Der Jüngling redet, und was wird er geredet haben, wenn nicht Gottes und Seines Christus Preis? Es mag eine hohe, wunderliebliche Stunde gewesen sein, wo sich Christus, der Jüngling, die Mutter, alle Anwesenden über die Nichtigkeit des Todes freuten. Doch däucht mich, als wäre die Fülle der Freuden dem Augenblick vorbehalten gewesen, wo der HErr über Tod und Leben den ins Leben zurückgerufenen Sohn seiner Mutter wieder gab. „Er gab ihn seiner Mutter wieder“. Die Mutter hatte das Auge ihres Sohnes brechen sehen, nicht hoffen können, es auf Erden je wieder im Glanze des zeitlichen Lebens leuchten zu sehen. Nun gibt der HErr der Mutter den theuren Sohn wieder, er sieht sie, sie ihn. Dieses Einander-wieder-gegeben-werden, Wiedersehen, Wiedererkennen, Wiederhaben mag für Mutter und Sohn eine überschwängliche Freude gewesen sein, von der kein Mund würdig reden kann, zu deren Besigelung und Bekräftigung in der That nichts beßer passt, als die Worte des Volkes, welches zusah und voll Furcht und Freuden ausrief: „Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden und Gott hat Sein Volk heimgesucht!“ Hier mußten die Anwesenden innewerden, daß eine große Zeit der Gnaden gekommen war. Die blindesten Sinne, die härtesten Seelen mußten erkennen, daß hier Gottes Hand sei und daß die Hand Gottes niemand anders war, als unser HErr JEsus Christus,| Daß diese Rede von dem HErrn und Seiner gewaltigen That hinauskam in das ganze jüdische Land und in alle umliegende Länder erscholl, finde ich, eben von der Betrachtung kommend, so natürlich, daß ich zum Zwecke dieses Vortrags, zum Zwecke der Erbauung darüber nichts zu bemerken habe. Wenn es anders gekommen wäre, das wäre zu verwundern. Solche Thaten können nicht im Winkel bleiben.
Bei alle dem, was ich bisher geredet habe, konnte ich meine Seele nicht hindern, beständig in der Stille eine doppelte Vergleichung anzustellen. Bei der Wittwe von Nain dachte ich an eine andere Wittwe, die auch einen einzigen Sohn sterben sah, am Kreuze sterben sah, an die Mutter Gottes. Ihr Schmerz am Kreuze, ihre Freude am Auferstehungstage des Sohnes, der in Nain ein Stiller der Schmerzen und ein Wiederbringer des Lebens gewesen, giengen mir beständig neben dem Schmerz und der Freude der Wittwe von Nain her. Und anderer Seits dachte ich immer an so manche Mutter auf Erden, an so manche jetzt lebende Wittwe, die ihren einigen Sohn zu Grabe tragen muß, ohne ihn wieder auferstehen zu sehen. Erlaubet mir, diese doppelte Vergleichung vor euren Ohren auszuführen.
Die Wittwe von Nain sieht den von ihr gebornen einzigen Sohn vor ihren Augen sterben, wankt trostlos, hoffnungslos hinter seinem Sarge her, seinem Grabe zu. Welcher Schmerz! Aber sie hört auch das „Weine nicht“ des HErrn, das „Jüngling, Ich sage dir, stehe auf,“ sieht ihren Liebling wieder, führt ihn wieder heim unter ihr Dach und ist nun glücklicher, als sie gewesen wäre, wenn sie ihn nie verloren hätte. Welch eine Freude! Fast möchte man die Freude größer nennen, als den Schmerz. Doch gab es für diese Freude ein Gegengewicht. Ihr Sohn war nur zum natürlichen Leben auferstanden; er mußte noch einmal sterben; die Mutter konnte fürchten, ihn noch einmal sterben zu sehen; sie mußte aufs neue für sein Leben bangen.
Vergleichen wir nun mit der Wittwe von Nain die Mutter unter dem Kreuze, so finden wir, daß beides, das Maß ihrer Schmerzen, wie das ihrer Freuden, bei weitem das der Wittwe von Nain aufwog. Was war der Jüngling von Nain gegen Marien Sohn? Wie war er empfangen und geboren? wie hatte er gelebt, wie mußte er leiden, wie sterben! War denn ein Leben, ein Sterben, wie das Leben und Sterben JEsu? Und war denn also einer Mutter Schmerz, wie der Schmerz derjenigen, die, glücklich durch den Sohn, wie keine, unglücklich werden mußte wie keine, als Er ihr genommen und so genommen ward? − Aber sie wurde auch getröstet, wie keine Mutter. Zwar geht ihre Tröstung nicht auf dem Wege zum Grabe vor, ihr Schmerz dauert länger, ihr Sohn wird begraben und sein Grab versiegelt, der Weg zum theuern Leichnam versperrt. Aber am dritten Tage wurde es anders. Zwar sah sie Ihn nicht auferstehen und wir lesen nichts darüber, wie ihr Schmerz in Freude verwandelt wurde. Ihr bei den ersten Nachrichten von der Auferstehung wieder erwachender Glaube, ihre zunehmende Freude, ihre Anbetung, ihre Wonne, als sie Ihn wieder sah, ihr Jubel von Ostern bis Himmelfahrt und Pfingsten: nichts ist aufgeschrieben; eine wunderbare Stille beobachtet darüber die heilige Schrift. Aber wer wollte deshalb leugnen, daß sie unaussprechliche Freude über die Auferstehung erfahren, daß sie Ihn im Leibe der Unsterblichkeit und Herrlichkeit gesehen? Wer wollte leugnen, daß ihre Freude über die Auferstehung ihres Sohnes um so viel größer, als die Wittwe von Nain gewesen, als JEsus über den Sohn der Wittwe und die Bedeutung Seiner Auferstehung über die der Auferstehung des armen Wittwensohnes erhaben war?
Anders fällt die Vergleichung für uns, für trauernde Mütter unter uns aus. Wir haben weder einen so großen Schmerz, noch eine so große Freude zu erfahren, wie die heilige Gottesmutter. Diese Vergleichung ist leicht abgethan. Aber wir haben auch keinen so großen Schmerz, als die Wittwe von Nain, und doch eine nicht minder große Freude. Unser Schmerz ist nicht so groß, denn wir wißen ja mehr vom Glück des Todes, als jene Wittwe. Haben unsre Hingeschiedenen irgend an den HErrn geglaubt, so wißen wir, daß sie in einer unaussprechlichen Seligkeit sind; wir wißen das in Christo JEsu viel klarer und gewisser, als die alttestamentliche Wittwe. Darin werdet ihr mir beistimmen: aber vielleicht widersprechet ihr mir in meiner zweiten Behauptung, daß nemlich unsre Freude größer sei. Man könnte fragen: Begegnet uns etwa auch auf unsern Leichenzügen Christus?| Spricht Er auch „Weine nicht“ und weckt die Todten auf und macht unsre Leichentage zu Freudentagen? Ich antworte nein; ich behaupte aber auch, daß ich meine seligen Todten nicht auferweckt wünsche, wie den Jüngling von Nain. Schon wenn ich an schweren Krankenbetten meiner Pfarrkinder stehe, von denen ich weiß, daß sie wohl sterben können, kommt es mich hart an, die Hände zum Gebete um Genesung aufzulegen. Wer dem Tode so nahe ist, so bald überwunden haben könnte, so bald daheim sein bei dem HErrn und Seinen Heiligen, scheint mir keine Wohlthat zu erfahren, wenn er umkehren und genesen wieder eintreten muß ins eitle Leben, um dermaleins doch wieder zu kranken und zu sterben. Und ich sollte, weil mein Herz sich sehnt und gerne bei den Abgeschiedenen wäre, wie sonst, sie wiederauferweckt haben, aus dem Triumph in den Streit zurückgestellt wißen wollen, wo sie die Krone, welche sie schon haben, wieder verlieren könnten? Das sei ferne. Ich will mich gedulden, ich will fein bald meine eigene Hütte ablegen und heimgehen zur ewigen Freude, da wird meine Seele alle Gottesheiligen finden von Adam bis zum letztverstorbenen Täufling − und schnell, ja schnell wird unter ewigen Seelenfreuden der Tag kommen, der auch leiblich alle Söhne ihren Müttern wiedergibt und ohne zweites Sterben uns die Freude bereitet, uns mit unsterblichen Augen am ewigen Glanz der Leiber unserer Abgeschiedenen zu weiden. Bis dorthin sparen wir die Freuden. Da werden sie größer sein, als die der Wittwe von Nain.Eins alleine ist es, was ich sorge und begehre, daß wir nur alle die Stunde eines guten Todes finden. Dann ist das Uebrige alles gut. Wir haben für Freude, Wiedersehen und Wiederhaben nicht zu sorgen, wenn wir selig werden. Aber dafür, daß wir selig werden, laß uns sorgen, das laßt uns schaffen mit Furcht und Zittern. HErr JEsu! Amen.
« Trinitatis 15 | Wilhelm Löhe Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe) |
Trinitatis 17 » | |||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|