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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Man sieht zwar auch nicht die Majestät Seiner Person, Er ist unsichtbar, und die vor dem Unsichtbaren hergehen und Hosianna singen, sind geringe Leute; aber man weiß doch, daß Er herrscht. Achtzehen hundert Jahre ist Er unüberwunden geblieben und hat Selbst alles überwunden, alles zu Seines Reiches Bestem gefügt; es ist kein Name, wie der Seinige, kein Reich wie Seines, und kein Wort wie Sein Wort: − und doch so wenig Theilnahme, so wenig Gehör, so wenig Nachfolge! Wenn man auf Ihn merken, Seine Worte hören, Ihm nachfolgen würde, würde es einem jetzt noch gehen, wie einst Seinen Zuhörern und Nachfolgern; man würde Sein Angesicht immer klarer leuchten sehen, obwohl Er uns ganz unsichtbar ist, und ein immer stilleres Freudenleben würde man mit Ihm leben mitten im Jammerthale, mitten im freudlosen, unschlachtigen Geschlecht dieser Welt. Mögen nun andere mit Ihm gehen oder nicht, ich will mit Ihm gehen, und willkommen, gesegnet sollen sein, die mit mir Ihm nachwandeln! Und heute will ich im Geiste mit Ihm nach Nain gehen, auf daß ich Seine Weise lerne und sie erkenne auch in dieser meiner Zeit. Seid meine Genoßen, liebe Brüder! Wollen wir mit einander den HErrn nach Nain begleiten.

 2. Wir gehen mit Ihm gen Nain, oder nein, wir sehen auf Ihn, wie Er gen Nain geht, und sind ganz Auge und Ohr für Ihn. Wenn Ihn die Einwohner von Nain recht erkannt hätten, sie hätten Ihn in Menge eingeholt, sie wären Ihm mit Palmen und Liedern entgegengezogen, wie es hernach bei Jerusalem geschah. Nun aber ist alles ganz anders. Als der HErr nahe ans Stadtthor kam, da kam Ihm wohl ein Zug und ein Haufe Volks entgegen, aber es war ein Zug, der Ihm nicht zur Feier und Begrüßung veranstaltet war: da gabs keine Palmen, keinen Lobgesang, sondern weinend, klagend und jammernd kommt man Ihm entgegen − oder nicht einmal entgegen, es war ein Leichenzug, und man wollte, ohne Sein zu achten, vor Ihm vorüber gehen. − Man gieng Ihm nicht entgegen; aber darf man auch sagen: Er gieng dem Zuge nicht entgegen? Die Leute von Nain hatten keine Absicht, Ihm zu begegnen; aber hatte Er nicht die Absicht, den Leuten zu begegnen? Das ist eine andere Frage, die verneinen mag, wer will, ich will sie doch lieber bejahen. − Das war, das ist Deine Absicht, o HErr, den Traurigen und Leidenden zu begegnen, denn Du bist ein Freund und ein Heiland der Elenden und trocknest gerne Thränen! Dem Kranken soll ein Arzt, dem Verwundeten ein barmherziger Samariter mit Oel und Wein, und jedem Betrübten der Freudenmeister JEsus begegnen. So begegnen einander, die zusammen gehören und zusammen kommen wollen, − und wenn sie zusammenkommen, soll man Glück wünschen. Wem der HErr begegnet, der kann eitel Glück erwarten! Der HErr begegne uns, wenn unsre Wege dunkel werden! Er begegne uns, wenn unsre Augen dunkel werden; da freuen wir uns dann sein und Er freut Sich unser! Und wir werden uns auch freuen; denn Er begegnet uns gewis. Er wartet nicht auf den Zuruf; Er kommt, Er kommt mit Willen, all Angst und Noth zu stillen, die Ihm an uns bewußt.

 3. Aber wer ist es, wen trägt man zu Grabe? Darauf gibt es eine traurige Antwort. Es ist ein Jüngling, der einige Sohn seiner Mutter, und sie war eine Wittwe. Das sind drei Glieder eines Satzes − und zusammen sind sie die Beschreibung eines dreifach großen Leides; jedes Glied ladet zu tieferer Trauer und größerem Mitgefühl ein. Ein Jüngling starb − und es ist schriftgemäß zu behaupten, daß es kein Glück ist, in der Hälfte, geschweige im ersten Drittel oder Viertel des Lebens sterben. Ein abgebrochener Lebenslauf, ein munterer Bach, der in den Sand und unter die Erde hinabfließt, sind beide ein geheimnisvoller Anblick, der Frage auf Frage erweckt. Ein Jüngling, ein einiger Sohn seiner Mutter stirbt. Ich will euch nicht schrecken, ihr glücklichen Mütter einziger, lebender Söhne; ich will eure Jammerbrunnen nicht öffnen, ihr unglücklichen Mütter einziger, hingeschiedener Söhne; aber ihr seid dennoch die rechten Richterinnen über das Leid vor den Thoren der Stadt Nain. Ihr wißt, was es für die Mutter von Nain war, hinter dem Sarge herzugehen. Und sie war eine Wittwe! Es ist nicht nöthig, da viel auszulegen, warum eine Wittwe ihren einigen Sohn zu betrauern ein großes Recht hat. Warum soll ich beweisen, was keiner leugnet! Da sehet nur hin auf die weinende, jammernde Mutter. Hat sie darum diesen Sohn empfangen, geboren und erzogen? Sie hatte einen Trost geboren für die Zeit, wo ihr Mann stürbe, − und wo ist nun der Trost? Eine Hoffnung und eine Freude des Alters hatte sie groß gezogen − und nun ists aus mit Hoffnung und Freude! Wenn sie ihn nun wird hingelegt haben an den stillen Ort, in der

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 099. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/438&oldid=- (Version vom 24.7.2016)