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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Stadt der Todten draußen vor den Thoren der Stadt der lebendigen Nainiten! Wenn sie nun heimgekommen sein wird und kein Mitleidiger mehr mit und bei ihr: wie wird ihr Haus so leer, ihr Herz so voll von Trauer und Sehnsucht sein! − So denken wir uns hinein, so vertiefen wir uns in die Trauer der Wittwe von Nain, so reizen wir unser Mitleid, − und warum? Weil wir gerne schauen, gerne weinen, gern in Erinnerungen des Elends wühlen? Das sei ferne! Wir wollen nur das Elend der Wittwe recht faßen, um die Hilfe recht würdigen zu können. Denn es gibt ja eine Hilfe − und einen Helfer. Die Wittwe sehnt sich nicht nach Ihm, denn sie kennt Ihn nicht; sie sieht sich nicht nach Ihm um, sie bittet und fleht Ihn nicht, aber das ist auch nicht nöthig, denn Er kommt und hilft ungebeten, und es wird sich bald zeigen, daß die Wittwe nur darum in das große Elend gekommen ist, damit sie empfänglicher würde für große Freude. Das faßt der Unglückliche so schwer, daß sein Unglück eine Weißagung auf großes Glück ist. Er beurtheilt nach dem Winter, der doch vor dem Sommer kommen muß, den Sommer − und statt fröhlich sich nach dem auszustrecken, das da vornen ist, quält er sich mit Schauen ins Schwarze und ins Grab. Hier auf Erden ist keine Trauer, bei der man immerdar verweilen müßte, für die es nicht einen Himmel voll Freuden zum Hintergrunde gäbe, die nicht selbst ein Weg zu Himmelsfreuden werden könnte. Vorwärts, aufwärts − den Zuruf laße sich jeder Leidende gefallen, − denn der HErr ist davornen und kommt vom Aufgang.

 4. Doch nun nimm weg dein Auge von der Wittwe und richte es völlig auf den HErrn, daß du Seine Herrlichkeit schauest. Gelobet sei auch hier, der da kommt im Namen des HErrn, des Vaters, − gelobt sei der Sohn Davids! Gelobet sei, was Sein Mund spricht, und gelobet seien die Werke Seiner Hände!

 Der HErr sieht den Leichenzug und Sein Auge findet schnell unter allen Klagenden und Weinenden die thränenvollste und jammerreichste, die Mutter, die Wittwe, und sie jammert Ihn. Also ist der Jammer über die Trennung von den abgeschiedenen Freunden vor Ihm gerechtfertigt! Er straft sie nicht, die weinende Mutter, er schilt sie nicht, sondern sie jammert Ihn. Also ist das Weinen an Sterbebetten und Gräbern vor Ihm kein Gräuel, und die menschliche Trauer, die uns da befällt, darf sich vor Seinem Auge nicht verbergen und fürchten. Er weint mit den Weinenden und ist gekommen, daß die Erde, die Todes und der Thränen voll ist, nicht bloß getröstet, sondern errettet werde von allem Jammer der Sünde und ihrer Folgen, des Todes und des Gerichtes.

 Mitleidsvoll tritt der HErr zur Mutter und spricht: „Weine nicht!“ Auch ein machtloses, wenn nur barmherzig gesprochenes „Weine nicht“ hat eine tröstende Kraft; jede Aeußerung des Mitgefühls, jede Anerkennung der Größe und Tiefe unserer Schmerzen, jede Gemeinschaft mit liebenden, theilnehmenden Herzen tröstet und stärkt. Ach, wenn es mancher wüßte, wie balsamisch und lindernd eine mitgeweinte Thräne, ein sanftes Weine-nicht auf uns wirkt, wie leicht man ein Tröster und Erquicker der Traurigen werden kann: wie viel mehr würde Er sich beeifern, die leichte Liebespflicht zu vollziehen! Wirkt nun aber ohnmächtiges Mitleid so beruhigend und stärkend, wie viel mehr wird das Weine-nicht des HErrn JEsus auf das schmerzenvolle Mutterherz gewirkt haben! Wie mag der HErr dies Wort zur Wittwe gesprochen, und wie mag sie es empfunden haben, da es eine vollkommene Hilfe im Hinterhalt hatte! Wie mag ihr trauernd Auge Sein Auge voll Lieb und Kraft gesucht, wie mag Sein Auge das ihrige unter Thränen angelacht, verheißenden Nachdruck in die Worte „Weine nicht“ gelegt haben! Es mögen wohl die Thränen versiegt und an die Stelle der jammervollen Klage mag wohl ein stilles Aufmerken auf das Thun dieses Fremdlings getreten sein, dieses wunderbaren, der sich mit behender Eile von der Mutter wendete, den Sarg anrührte und die Träger stehen hieß.


 Die Träger stehen, mit ihnen die Leichenbegleitung, der ganze Zug. Welch eine Gewalt des HErrn über die Gemüther der Sterblichen! Laß einen andern den Sarg anrühren und sieh, ob die Träger, ob der Leichenzug stehen bleibt, ob man nicht, wie wenn man den Hinderer eines heiligen, wenn schon hoffnungslosen Geschäftes abzuweisen ein gutes Recht hätte, mit desto ernsterm Tritt und Schritt dem Gottesacker zugehen wird! Das ist JEsus, in Deßen Thun und Reden jedermann etwas Großes und Göttliches merkt

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/439&oldid=- (Version vom 24.7.2016)