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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und ahnt! Er will, daß der Leichenzug inne halte, und alles hält! Die Bahre, auf welcher der Todte mit offenem Angesichte liegt, wird niedergestellt. Der HErr steht vor dem Todten − was wird nun werden? Was will der HErr mit dem eiskalten Leichnam machen? Diese Kälte weißagt Verwesung; wird Er die Verwesung aufhalten? Und ob die Verwesung inne hielte, das vielleicht schon begonnene Werk fortzusetzen: was hilft das kalte Todtenbild? Ein Bild von Fleisch und Bein, ein Bild von Stein − was ists für ein Unterschied? Die Seele fehlt: wenn Er die Seele nicht wiederbringt, wird der Leichnam doch die beste Ruhstatt nur im Grabe haben. Weiß Er denn, wo die Seele ist, und wenn Er das weiß, wenn Er mehr weiß, als alle Menschen, wird Er auch Macht über die abgeschiedenen Seelen haben? Regiert Er im stillen Land der Todten? Er spricht keine Sylbe − ist Sein bloßer Wille so mächtig, die Seele wiederzubringen? Und kann Er sie mit dem Leibe wieder zusammenfügen, daß die alte Verbindung, die alte Wechselwirkung entsteht, die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, die man Leben heißt? Auf diese Fragen ein Ja, ein zweifelloses Ja. Ja, Er weiß den Ort, wo die Seele des Jünglings von Nain auf ihre Zurückführung wartete; ja Er hat Macht über die abgeschiedenen Seelen, sie gehen und stehen zu machen, wie die Träger und den Leichenzug; Er ist gewaltig über Lebende und Todte; Er weiß die „Ausgänge des Todes“, Er kann die Seelen und Leiber zusammenfügen und die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele wieder herstellen. Er kann es, denn Er thut es. Du siehst es nicht, aber aus den Folgen wirst du’s inne. Denn auf einmal spricht Er ja den Todten als einen Lebenden an. Wäre die Seele nicht wieder mit seinem Leib vereinigt gewesen, so würden diese Ohren des Leichnams von Nain das Wort des HErrn nicht vernommen, dieser Leib nicht gehorcht, diese im Tode erstarrte Zunge nicht geredet haben. „Jüngling, ich sage dir, steh auf!“ spricht der HErr. „Da richtete der Todte sich auf und fieng an zu reden.“ − Was sind nun alle Weisen, alle Mächtigen der Erde gegen JEsum? Sie sterben alle und können sich nicht helfen! Hier aber steht einer im Leibe, der die Todten auferweckt leichter als Mütter ihre Kinder vom Schlafe wecken; einer, der andere auferweckt und von dem es heißt: „Er hatte Macht, Sein Leben zu laßen und wieder zu nehmen!“ Er hat das Mägdlein Jairi auf dem Sterbebette, den Jüngling von Nain auf dem Weg zum Grabe, Lazarum aus Grab und Verwesung, und was mehr als alles ist, am Abend Seines Todes die längst verwesten Heiligen und am Sonntag drauf Sich Selbst auferweckt. In Ihm hat der Tod einen HErrn gefunden und wir einen Schirm und Schutz! − Er kann − und Sein heiliger Mund versichert uns, daß Er will, − nemlich was? das, was uns zunächst bekümmert: Leib und Seele ewiges Leben geben! Er sei gelobet und gebenedeiet! So wißen wir nun, wes wir sind, wem wir glauben, auf wen wir hoffen, nemlich auf den, der da ist die Auferstehung und das Leben, der unsern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde Seinem verklärten Leibe.


 Der HErr hat den Jüngling aufgeweckt, aber damit geht Er noch nicht weiter. Der Jüngling redet, und was wird er geredet haben, wenn nicht Gottes und Seines Christus Preis? Es mag eine hohe, wunderliebliche Stunde gewesen sein, wo sich Christus, der Jüngling, die Mutter, alle Anwesenden über die Nichtigkeit des Todes freuten. Doch däucht mich, als wäre die Fülle der Freuden dem Augenblick vorbehalten gewesen, wo der HErr über Tod und Leben den ins Leben zurückgerufenen Sohn seiner Mutter wieder gab. „Er gab ihn seiner Mutter wieder“. Die Mutter hatte das Auge ihres Sohnes brechen sehen, nicht hoffen können, es auf Erden je wieder im Glanze des zeitlichen Lebens leuchten zu sehen. Nun gibt der HErr der Mutter den theuren Sohn wieder, er sieht sie, sie ihn. Dieses Einander-wieder-gegeben-werden, Wiedersehen, Wiedererkennen, Wiederhaben mag für Mutter und Sohn eine überschwängliche Freude gewesen sein, von der kein Mund würdig reden kann, zu deren Besigelung und Bekräftigung in der That nichts beßer passt, als die Worte des Volkes, welches zusah und voll Furcht und Freuden ausrief: „Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden und Gott hat Sein Volk heimgesucht!“ Hier mußten die Anwesenden innewerden, daß eine große Zeit der Gnaden gekommen war. Die blindesten Sinne, die härtesten Seelen mußten erkennen, daß hier Gottes Hand sei und daß die Hand Gottes niemand anders war, als unser HErr JEsus Christus,

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/440&oldid=- (Version vom 24.7.2016)