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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

den Worten beschrieben: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und Seiner Gerechtigkeit.

 Freilich empfehle ich allen denen, welche noch an ihrer eigenen Gerechtigkeit genug haben, diesen Weg umsonst. Wer mit der eigenen Gerechtigkeit zufrieden, begehrt die Gerechtigkeit des Reiches Gottes, welche in Vergebung der Sünden besteht, nicht. Aber wer in sich nur Sünde findet, dem ist, was andern Gerechtigkeit ist, die Vergebung der Sünde. Mit ihr fühlt er sich in das von ihm verlaßene Reich Gottes zurückversetzt. Mit ihr ist er zufrieden. Seine Seele ist versorgt, und er hält nun seinem Gott stille. Er weiß, daß ihm sein ewiges Theil geboren ist, − hier auf Erden bereitet er sich, verdiente böse Tage geduldig und ohne Sorgen hinzunehmen. Durchs Kreuz ist er erlöst, darum scheut er das Kreuz nicht, − und ob er auch hungerte und Blöße litte (Röm. 8.), so wäre er dennoch ohne Sorgen und in Gott vergnügt, daß er sich auch der Trübsal rühmen konnte. Solche Menschen sind über alles Elend erhaben − durch das Eine, daß sie keine eigene Gerechtigkeit mehr haben, sondern JEsu Gerechtigkeit.

 Ach, daß ich euch zum Trachten nach dem Reiche Christi bewegen könnte! Ach, könnte ich machen, daß ihr nicht mehr am ersten, nicht mehr vor allen Dingen nach dem Zeitlichen trachtetet! Was soll ich doch sagen. Brüder! Wodurch euch bewegen? Ich weiß ein Wort, vernehmt es! Wer sich den Sorgen ergibt, trachtet nicht am ersten nach dem Reiche Gottes und Seiner Gerechtigkeit, hat kein versöhntes Herz, keinen versöhnten Gott, keine Vergebung der Schuld, ist ein unbekehrter Mensch. Wo Sorgen herrschen, ist Heidentum. So gewis zeigt das Abendroth den Abend nicht an, als Sorgen andeuten, daß es in der Seele noch Nacht ist, daß die Sünde noch herrscht. − O wecke durch den Ernst dieser Gedanken, HErr Gott, heiliger Geist, aus der nächtlichen, sündlichen Ruhe die armen, sorgenvollen Herzen, daß sie nach dem trachten, was droben ist, und frei werden von den Banden des irdischen, zeitlichen Lebens! Amen, Amen.




Am sechszehnten Sonntage nach Trinitatis.

Evang. Luc. 7, 11–17.
11. Und es begab sich darnach, daß Er in eine Stadt mit Namen Nain gieng; und Seiner Jünger giengen viele mit Ihm, und viel Volks. 12. Als Er aber nahe an das Stadtthor kam, siehe da trug man einen Todten heraus, der ein einiger Sohn war seiner Mutter, und sie war eine Wittwe, und viel Volks aus der Stadt gieng mit ihr. 13. Und da sie der HErr sahe, jammerte Ihn derselbigen, und sprach zu ihr: Weine nicht. 14. Und trat hinzu und rührete den Sarg an; und die Träger stunden. Und Er sprach: Jüngling, ich sage dir, stehe auf. 15. Und der Todte richtete sich auf, und fieng an zu reden. Und Er gab ihn seiner Mutter. 16. Und es kam sie alle eine Furcht an, und priesen Gott und sprachen. Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und Gott hat sein Volk heimgesucht. 17. Und diese Rede von Ihm erscholl in das ganze jüdische Land und in alle umliegende Länder.

 1. Unser HErr geht nach Nain − und sieh, welch eine große Anzahl Seiner Jünger und des Volkes geht mit Ihm! − Was wir schon manchmal bei Betrachtung der Evangelien bemerkt haben, das drängt sich uns auch diesmal wieder auf, und weil es so weh thut, die Gegenwart hinter der Vergangenheit zurückbleiben zu sehen, so können wirs auch heute nicht laßen, es wieder zu sagen. Es ist recht traurig, daß den HErrn in der Zeit Seiner Niedrigkeit eine so große Anzahl von Jüngern und Zuhörern begleitet, und Er nun, nachdem Er erhöht ist auf den Thron der höchsten Ehre, so einsam über die Erde hingeht. Auch zur Zeit Seines Lebens prangte Er nicht in der Majestät einher, die Ihm gebührte, die Er hätte haben können; und doch eine solche Theilnahme an all Seinem Thun, Seinen Predigten und Wundern! Und nun gegenwärtig?

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 098. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/437&oldid=- (Version vom 24.7.2016)