« 8. Stunde Hermann von Bezzel
Einsegnungs-Unterricht 1909
10. Stunde »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
9. Stunde.
Lied 151, 1–3. Psalm 19, 8–15.
  Gebet: O Herr Jesu Christe, verleihe allen denen, die nach Dir Verlangen tragen, daß sie, wenn alles sie verläßt, von Dir unverlassen bleiben und in Deinem Wort und Willen, was ihr Leben erquickt und erfreut, fest und stetig finden mögen, damit Deine Gemeinde auf dem einen und ewigen Grund erbaut Dir zueilen und einst ewig Lob und Dank opfern möge. Amen.
 
 Die beiden letzten Stunden sollen, wenn ich so sagen darf, Rückblick und Ausblick in sich schließen. Dadurch, daß Neuendettelsau eigentlich immer schwere Zeit gehabt hat und die Momente der lichten Zeit verborgene Schwere immer in sich schlossen, hat es eine Geschichte gewonnen, die zu übertragen auf andere und anderes undenkbar wäre. Ich darf vielleicht mit einem etwas abgebrauchten Wort sagen: andere Stätten haben ihre Diakonissenhäuser, Neuendettelsau ist ein Diakonissenhaus. Und weil von den frühesten Tagen an hier die Arbeit im Zeichen des Kampfes stand und alles, was sie brauchte, Stück um Stück von ihrem Herrn erbat, darum sind die einzelnen Tage und Jahre fest ins Gedächtnis gegraben und der Herr hat Gnade zu dieser langsam heranwachsenden, mühsam sich empor haltenden, einsamen Geschichte gegeben, hat das Unwesentliche nie das Wesentliche, die Kleinigkeiten nie die Hauptsache und die Formen nie zum Abgott werden lassen. Denn das ist im Leben der Geschichte so: einzelne ergreifen die Form, weil sie den in ihr verborgenen Wert wollen, andere ergreifen die Form, um doch etwas ergriffen zu haben, und wieder andere lassen sich von der Form ergreifen, damit sie doch wenigstens den Schein irgend einer Sache bewahren. Neuendettelsau hat ja wohl viele Formen gehabt, und es mag Zeiten gegeben haben, in denen man zu viel in sie hinein geheimnißt hat. Es liegt der ästhetischen Natur des Weibes nahe, im Aeußeren immer wieder das Symbol von Besonderheiten und Innerlichkeiten| zu sehen; Formalismus und Fanatismus sind aufs engste verschwistert. Ein Mensch, der im Geist lebt, kann entschieden, rücksichtslos und rückhaltlos, aber nie fanatisch werden. Fanatiker sind immer oberflächliche Menschen und suchen den Mangel an Tiefe der Betrachtung durchs Eifern mit Worten, das bekanntlich überaus wohlfeil ist, zu ersetzen. Wenn man dann solchen Fanatikern genau nachsieht, lassen sie vom Inhalt dessen, was sie formal mit einer kalten Glut verteidigen, so viel zurück und machen sich unter dem Schatten bestimmter Zeichen das Leben so leicht, daß man von dieser Begeisterung wenig für das Reich Gottes, in dem die Wahrheit von Wille und Wesen erstes Gesetz ist, erwarten darf und kann. Nein, es mag solche Zeiten gegeben haben, und ich weiß nicht, ob sie nicht auch in irgend einer Form nach dem Gesetz, nicht zwar der Wiederholung, das ich in der Geschichte einfach nicht anerkenne, sondern nach den Gesetzen gewisser Brechungen, wiederkehren, aber ich hoffe zu Gott, daß Er, Der den Geist, der da frei macht und frei hält, geschenkt hat, diesen lauteren und keuschen Geist erhalte, der da eine Menge von Dingen begraben und eine reiche Fülle von liebgewordenen Gepflogenheiten hinlegen und aus der Tiefe der Ueberzeugtheit sprechen kann: Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Das weiß ich gewiß, wenn der selige Pfarrer wieder käme, so würde er auch zwischen Zeitgemäßem und Ueberzeitigem, zwischen Bestehendem und Veraltetem unterscheiden. Was aber alt und überjährt ist, sagt der Hebräerbrief, das ist nahe an dem Verschwinden. Und dieses Verschwinden hat in der Nachfolge des in Mannigfaltigkeit reichen Herrn auch sein Recht; man kann nie etwas fest halten, was Er nicht mehr fest hält, man müßte denn Verstörungen für die eigentliche Lebensäußerung halten und die Verhärtung der Formen für den allzu reichen Ersatz. Es ist das die ganze Weisheit der Geschichte, die Gott erhält. Alles Ding hat seine Stunde und alles Vornehmen der Menschen hat auch seine Zeit. Und wenn der Herr das eine gebraucht hat, stellt Er es zurück, und es kommt ein anderes. Er nimmt nie, ohne wieder ein Besseres zu geben. Aber dafür wollen wir Gott danken, so lange wir leben, daß hier tief gepflügt worden ist, und daß frühzeitig die Diakonie in den Ernst des Kampfes gestellt wurde. Ich habe die Kämpfe des seligen Pfarrers immer wieder auf mich wirken lassen wollen. Ich habe wohl gemeint, ich hätte in manchen Stücken anders geurteilt, und bin dafür Gott und Menschen dankbar, daß man mich nicht auf einen ganz bestimmten Löhanismus eingeschworen hat. Ich hätte es nicht getan und ich hätte es nicht tun dürfen. Ich bin dafür besonders den| Kreisen von ganzem Herzen dankbar, welche mit mir durch diese lange Zeit hindurch gearbeitet haben, meinen Helfern und Genossen in der Arbeit. Ich habe es wohl merken können, daß meine Weise ihnen oft eine neue Weise war, aber sie haben die Unvollkommenheit des Wollens mit der Ehrlichkeit entschuldigt und haben mich nicht zu einem Löhaner geprägt. Dabei werde ich nie aufhören, zu den Großen im Reiche Gottes, zu den Männern, die alles um ihres Heilandes willen lassen konnten, den Mann zu zählen, der für mein Leben und seine Führung so viel bedeutet hat, und der es in der Ewigkeit nicht bereuen wolle, daß ein anderer sein Werk, so gut wie er es meinte zu verstehen, fortgesetzt hat. Neuendettelsau würde ein großes Stück preisgeben, wenn es nicht den berechtigten Forderungen der einzelnen Persönlichkeit weiter Rechnung trüge, und vielleicht darf ich’s sagen, das war Löhe nach mein armes aber ehrliches Bestreben, wo ich den Ansatz zu innerer Selbständigkeit fand, sie zu pflegen. Nicht daß wir seien Herren eures Glaubens, sondern Gehilfen eurer Freude. Ich habe manche Seele lange ihre eigenen Wege gehen lassen, aber aus den Augen habe ich kaum eine ganz verloren. Ich habe es neidlos tragen können, glaube ich, wenn Seelen sich einem anderen Einfluß mehr erschlossen als dem meinen und habe nur darauf gesehen, daß es im Rahmen der Ordnung und der Zucht geschah. Heimlichkeiten, die vor dem berufenen Diener Christi sich verbergen, habe ich, nicht um meinetwillen – und je älter ich wurde, desto weniger – aber um der Sache willen zu erdrücken gesucht, weil ich nicht wollte, daß in einem Haus ein anderer Wille sich geltend mache als der Wille der Zucht. Und wenn ich späterhin noch meinen Dank für alles, was Neuendettelsau geworden ist, was ich durch Neuendettelsau, aber auch nur durch Gottes Gnade am hiesigen Ort geworden bin, abstatten darf, so soll es immer in der Form der Lauterkeit und der Wahrheit gegen den Mann, gegen die Männer geschehen, die nach mir das teure Amt am hiesigen Ort führen. Wenn sich Diener des Wortes nicht ins Auge sehen können, ohne zu zucken, so ist eigentlich das Geheimnis der Kraft zerstört. Wenn in manchen strengkonfessionellen Kreisen solch ein Mißbrauch, wenn in den gemeinschaftsangehauchten Kreisen solch eine Mißachtung des Geistes und des Gottes der Ordnung statt hat, so soll es in Neuendettelsau die Ordnung bleiben, die es groß macht. Wahrlich, wenn ich weiter hin sehe, so möchte ich die Zeit des seligen Löhe mit der Zeit eines ernsten Kampfes vergleichen. Ob es – man erlaube dem Epigonen, dem Nachgeborenen, der um ein Merkliches ängstlicher geworden ist – immer wohl getan war, unausgereifte und unvergorene Gedanken denen hereinzuwerfen,| die noch wenig befähigt waren, sie zur Reife zu erheben, das steht jetzt vor dem Herrn. Ob nicht z. B. mit der manchmal doch zu tief und zu weit gehenden Scheu vor allem kirchlich Verfaßten an dem Ort, wo die Ordnung so reich blüht, zu viel geschah, wage ich nur anzudeuten. Aber was der selige Pfarrer, der kein Heiliger war und es am allerwenigsten sein wollte, dadurch gefehlt haben mag, daß er Sachliches in persönlichem Gewande vortrug und Persönliches nicht in das Sachliche verklärte, davon hat ihn sein Herr überreichlich losgesprochen und hat ihm einen Namen gegeben, wie ihn die Großen auf Erden haben; der Name heißt: Er hat an dem, das er litt, Gehorsam gelernt. Das ist mir immer beim Bild Löhes so groß geworden, die kirchenpolitischen Allüren, in denen manche Darstellungen Löhes eine neue Offenbarung gefunden zu haben meinen, die damals nicht zeitgemäßen, aber später gewiß doch zeitigen, Theorieen treten mächtig zurück gegenüber dem Ernst eines Mannes, der all seine überreichen Gaben und all die Kraft des Könnens und So-Könnens in den Gehorsam seines Heilandes legte. Wäre Löhes Leben sonniger verlaufen, so wäre Neuendettelsau im Anfang verweichlicht und verweibischt; wäre auf des seligen Pfarrers Arbeit ein besonders blendender Sonnenstrahl gelegen, so wäre die Signatur dieses Hauses der Genuß geworden, und mir ist der allerordinärste materielle Genuß ethischer, sittlich noch begreiflicher als die Luxurierung in geistlicher Weise. Es haben manche Zeichen daraufhin gedeutet, daß ein Abbiegen zum geistlichen Genußleben und geistlichen Schwelgen am hiesigen Ort eintreten könnte. Wenn ich etwas für Neuendettelsau erbitte, das als Stück meines Lebens auch ein breites Stück meines Gebets einnehmen soll, so wäre es immer das: Halte diese Arbeit im Ernst der Zucht und halte von ihr zurück das Weh des Genusses. So oft ich am Grabe des seligen Pfarrers gestanden bin – und in früheren Jahren suchte ich es jede Woche einmal möglich zu machen, – so war mir das gewiß, nur durch das Leiden des Verzichtes und durch den Ernst, jederzeit abzubrechen, und durch den Mut, nie etwas für sich selber zu begehren, führt der Herr Christus die Kriege und die Sache Seines Reiches. Wenn ich dann zurückschaue auf die Tage seiner Schwachheit, so meine ich, Neuendettelsau hat – alle Sünde zugestanden und zugegeben – auch in den Tagen der Schwachheit einen guten Kampf gekämpft. Es ist nur etlichen unter uns noch ganz bekannt, die meisten wissen das ja jetzt vom oberen Lichte aus, welcher Gefahr der Zerklüftung und Parteiung das damals 18 Jahre alte Werk ausgesetzt war. Ich kenne die alten Akten und habe sie nie ansehen können ohne den Lobpreis Gottes, der mit einer kurzen| Handbewegung den Vorhang von tiefen nächtigen Schatten zurückzog, um dann das Wort zu sprechen: aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen und der kleine Augenblick war lang genug, um alle Denkenden erkennen zu lehren: verflucht ist der Mann, der Fleisch für seinen Arm hält und mit seinem Herzen vom Herrn weicht.
.
 Dann sind die Jahre gekommen, die in vieler Leben hereinragen als Jahre der Gütigkeit, Leutseligkeit und Freundlichkeit. Ich habe diese Jahre je länger je mehr in ihrer Bedeutung und in Sorgfältigkeit schätzen gelernt und ich mache den Anspruch darauf, auch das letzte sagen zu können, nachdem ich so viel Kraft habe, die Sorglichkeit auch der Arbeitszeit zu erkennen und zu bekennen, die in diesen Tagen abschließt. Es ist der selige Rektor Meyer für viele ein Tröster geworden, wie ihn die weibliche Seele bedarf und braucht. Er ist ja, ich habe das oft gesagt und bleibe dabei, für die weibliche Seele in ihrer Abhängigkeit und in ihrer Trostbedürftigkeit der geborene Seelsorger gewesen. Und damit er nicht auf dem seltenen Wohlgefallen seiner Gemeinde ausruhen durfte, damit er nicht in der einzigartigen Beliebtheit seine Lebenskraft verzehrte, hat ihm Gott das schwere Kreuz auferlegt, und unter dem Kreuz ist er vielen, und zwar den besten, ein Vorbild der Geduld im Leiden geworden. Es ziemt mir nicht, meine letzten Gedanken hier auszusprechen, weder Art noch Zeit sind dazu geeignet, aber ich habe jetzt 18 Jahre lang Gelegenheit gehabt, mit offenen Augen zu prüfen, wozu Gott der Herr ihn gesetzt hat. Ich glaube, es waren Jahre der Kraftsammlung und ich weiß nicht, was größer ist, Kraftsammlung oder Kraftentfaltung. Dem natürlichen Menschen erscheint dieses größer, dem Christen jenes. Es waren die Jahre der Kraftsammlung. Neuendettelsau, das unter Löhe ein Kampfplatz geworden war, wurde zu einer lieblichen Aue, auf der man sich pflegen ließ mit dem Wort der Wahrheit, sich rüsten ließ zum letzten Kampf. Durch alles was Rektor Meyer getan, geredet, geschrieben und bezeugt hat, ging ein tiefer Ton des Friedens, aus dem innersten Verlangen nach Frieden geboren. Sein Kirchenideal ist das meine nicht gewesen, und sein Amtsbegriff ist der meine nie geworden, so wenig wie der Amtsbegriff Löhes. Aber das sind wahrhaftig im Reiche Gottes Nebendinge. Sein Heimatsideal ist das gleiche geblieben und alle, die hier gearbeitet haben, sind in diesem Ideal mit ihm eins geworden. Ich habe ja erst in diesen letzten Jahren seiner hiesigen Amtswirksamkeit mit Neuendettelsau, das mir mehr als fremd war, mich befaßt. Ich habe wohl manchem Gedanken nachgesonnen, daß ich aber eine| Liebe für die Sache an sich gefaßt hätte, das zu sagen wäre Unwahrheit. Dann ist diese tröstende Zeit dahin gegangen, das Haus hat einem treuen, hingebenden, mit dem Herrn Christus und Seiner Nachfolge tiefen Ernst machenden Seelsorger ins Grab nachgesehen. Das habe ich immer bei dem seligen Rektor bewundert, die Innigkeit, auch da wo ich sie nicht teilte, die Einfachheit der Liebe zu Jesu auch da, wo sie meinen Worten, meiner Art vielleicht nicht entsprach. Es ist ja doch nur Hochmut, wenn man meint, die eigene Art sei besser wie die des Nächsten. Ich habe oft gewünscht, die Gabe, hinter den Dingen das Schöne zu sehen, mehr zu besitzen, als immer nur vor den Dingen nach dem Schönen zu trachten. Ich habe freilich bei der großen Treue, die der selige Rektor dem Einzelnen und den Einzelnen zugewendet hat, mich damit getröstet, daß die Früchte dieser Seelenführung in der Ewigkeit erst recht kenntlich würden, wenn sie in der Zeitlichkeit mir oft zu verborgen schienen. Ich habe immer wieder meiner Seele gesagt, wenn sie darüber Angst trug, ob diese intensive Seelsorge auch wirklich das zeitigte, was man christliche Ehrlichkeit und christliche Gründlichkeit heißt, daß Gott der Herr besser sehe als sein kurzsichtiger Knecht und daß die Ewigkeit manches herausstellen wird als Gabe, was dem armen Menschen als Mangel erscheinen wollte. Es sind hier Dinge mit unterströmt, die ich besser verschweige und die ich als eine Zucht für meine Seele lieber vor Ihn bringe. Es ist durch all die Zeit, die jetzt 20 Jahre hinter uns liegt, immer wieder etwas wie Freude gezogen und diese Freude blieb die Stärke. Ich habe immer gesehen, auf wen der selige Rektor nicht mit seiner Frömmigkeit einwirken konnte, für den blieb er verschlossen. Ich weiß, das ist das Höchste für den, der gewonnen wird, und das Schwerste für den, der sich nicht gewinnen läßt. Aber freilich kenne ich in der Erziehung noch einen andern Faktor, und den Faktor ausgetan zu wissen, wäre mir ein großer Schmerz, es gibt auch einen Faktor des unmotivierten Zwanges; wo man nicht mit dem, was man geworden ist, einem Menschen beikommt, soll man mit dem ihm beikommen, was man sein soll, und das, was man nicht erreicht durch die Frömmigkeit seines eignen Wesens, das muß man erzwingen um der Sache willen, in die man gemeinsam hineinwachsen will. Man verzeihe, wenn Sachliches und Persönliches jetzt immer mehr zusammen fließen. Es ist ja doch auch ein Stück Leben, was zu Ende geht. Ich weiß sehr wohl noch den Freitag Abend, wo die erste Nachricht von dem Tode meines Vorgängers an mich drang und zugleich eine erste, wie mir schien überaus verfrühte und darum auch nicht gerade zarte Hinweisung auf das Kommende. Man darf das| immer wieder erfahren, daß Gott sich seine Leute da holt, wo sie am allerwenigsten gefunden werden und daß Er in Seiner unergründlichen Barmherzigkeit das, was töricht ist vor der Welt, von der Welt erhebt. Ueber die nun vergangenen 18 Jahre zu reden, steht mir nicht zu. Das Urteil steht beim Herrn und bei den Seinen. Aber vielleicht darf ich auf eines hinweisen, was der Herr, so weit ich sehe, hat ein wenig gelingen lassen. Ich darf vielleicht sagen, es ist mir beschieden gewesen, Neuendettelsau und die Landeskirche, zu der es gehört und aus der es herausgeboren ist, von der es seine Gaben und Kräfte empfängt, einander wieder zu nähern. Ich hätte es für eine Unnatur empfunden, wenn das gegenseitige Mißtrauen weiter gewährt hätte, und habe durch das Wenige, was ich konnte, immer wieder meiner Landeskirche zu dienen gesucht. Dafür danke ich Gott und Menschen, daß sie diesem werbenden Zug, der sich an das Herz und die Liebe der Landeskirche wandte, entgegen gekommen sind. Ich bin selbst eines Landpfarrers Sohn, habe die Not des Landpfarrhauses überreichlich kennen gelernt und habe in einer harten Schule das eine erfahren, wenn ein unvermuteter Sonnenblick in ein oft so verdüstertes Landpfarrhaus fällt, so ist das in der Ereignislosigkeit des Landlebens ein rechter Freudentag. Ich habe es oft erfahren, wie der Mann, dem ich das Allerbeste auf Erden danke, das Gebot der Pflicht und den Ernst des Verzichtes, wie mein Vater froh werden konnte, wenn man ihm freundlich entgegen kam. Und da hat es unter uns oft gemangelt; wir haben unsern Pfarrern nicht oft genug Freundlichkeiten erwiesen, wir haben vergessen, was in der Einsamkeit des Weltlebens draußen, in dem armen abgeschlossenen Dorf ein gutes Wort, ein froher Blick Großes ist. Ich habe immer versucht, bei allen möglichen und wirklichen Anliegen mit meinen Amtsbrüdern freundlich zu reden und mir immer wieder die Geduld erbeten, auf die Weitschweifigkeit, mit der sie, was mir sehr unwichtig erschien, überaus betonten, um der verkürzten Verhältnisse willen recht einzugehen. Ich möchte so sehr wünschen, daß Neuendettelsau immer mehr den Ruhm der Chrestotes behielte, das meint der Apostel, wenn er von seinem Heiland redet, der sich allenthalben hat brauchen, rufen, begehren, verwenden lassen und ist nicht müde darüber geworden. Wenn jetzt Neuendettelsau von berufener Seite das Kleinod der Landeskirche geheißen ward, so ist das daraus mit entstanden, daß man mit der Landeskirche litt und trug und arbeitete. Es wird da viel, viel ausgesetzt werden können, die große Milde, mit der auf Ansprüche eingegangen wurde, konnte leicht Schwachheit werden, die Noblesse, mit der man einzelnen Forderungen| entgegentrat, kann leicht als unberechtigte Freigebigkeit gescholten werden; aber ich weiß ganz bestimmt, die allerschärfste Kritik, die geübt werden wird, wird nicht an die Schärfe der Selbstkritik heranreichen. Da bin ich gefeit, daß alles, was gesagt werden wird, nicht an den Schreck heranreicht, den ich selber angesichts der Ewigkeit und eingedenk der Verschuldung empfinde. Aber ich möchte doch recht dabei stehen bleiben, damit ich noch für die Größe der Frage Raum gewinne. Neuendettelsau soll eine Oase, soll ein Ort bleiben, da man sich ausklagen kann, nicht bloß mit all den erträumten, erdichteten Sündennöten, nicht bloß mit der breiten, anspruchsvollen Fülle einer immer sich wiederholenden und nie ernst bereuten Sündhaftigkeit, denn diese Art von Seelsorge würde ich für den Tod der Sache halten. Wir sind nicht Diener sündiger Launen, sondern dazu da, daß es in Neuendettelsau für all das Leid der Landeskirche, das nicht kleiner sondern größer werden wird, ein offenes Ohr gibt, und ich wende mich an die vielen Schwestern, die hier sind, ich bitte sie herzlich, haltet Herz und Ohr für die vielen, vielen Klagen und Nöte offen. Man gibt ein Weniges, das sich reich verzinst. Trachtet nicht nach hohen Dingen – wir machen keine Kirchenpolitik und machen keine kirchlichen Gesetze – sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen. Durch fortgesetzte Pflege der kleinen Dinge erreicht man den Mut zum Großen und durch die Hingabe seines Herzens an eine arme Kirche wird man gesegnet. Ich sage eine arme Kirche. Ich wüßte im ganzen Deutschen Reich keine Kirche, die so von allen Feinden, von dem Romanismus und dem Indifferentismus und dem Modernismus und dem Centralismus gequält ist wie die unsere. Wir haben ja mit unserem Volk die Fühlung verloren. Es wird ein oft kaum mehr verhohlenes Mißtrauen dem Amtsträger entgegen gebracht, und ich klage oft die von außen her importierte Gemeinschaftssache an, daß sie den Rest von Vertrauen aus den Herzen unseres armen Landvolkes reißt, um mit vielleicht Willkürlichkeiten und exotischen Christusempfindungen das Volk zu erfüllen. Ich stehe der Gemeinschaft wahrhaftig dankbar gegenüber, wie ich jedem dankbar bin, der es ernst mit Jesus meint, und von jedem lernen will, wie ich es weit ernster nehmen soll. Aber ich glaube, daß der Gott des vierten Gebotes es heimsuchen wird, wenn man die Grundbegriffe des vierten Gebotes zerstört, über dem doch auch steht: „nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen.“ Es ist mir unbegreiflich, wie jene, deren ernste Frömmigkeit ich nicht anzutasten wage, weil die meine nicht an sie heranreicht, es über sich gewinnen können, in den Gemeinden| Mißtrauen gegen den berufenen Diener der Kirche zu erwecken. Auf negative Momente baut sich nichts auf, und dadurch, daß ich gegen einen andern Mißtrauen erwecke, erlange ich noch lange nicht Vertrauen. Neben dieser schweren Gefahr,in der unsere Heimatskirche steht und die darum so gefährlich ist, weil sie Hirte und Herde isoliert, haben wir den gesamten Modernismus. Wenn ich dem Herrn, der mein Leben vom Verderben erlöst und mir Seine ganze Treue erzeigt hat, nicht mehr die Treue halte, so bin ich verloren. Ich habe gar nicht über ein Mehr oder Minder abzumarkten, das ist gar nicht die Frage. Ich weiß keinen andern Grund für die gesamte Tätigkeit in der Kirche Jesu als das Bekenntnis zu Dem, Der nachdem Er eine Reinigung unserer Sünde mit Seinem Blute vollbracht hat, sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt und die Herrschaft über alle Welt angetreten hat. Ich kenne gar keine andere Möglichkeit, ein Christ zu sein, als daß ich das Wort vom Kreuz in aller Zeit bewahre und bekenne. Aber ich frage mich, wie kann die Kirche Jesu, die eine streitende ist und die von innen heraus geboren ist, durch äußere Maßnahmen erstarken? Ich will jetzt nicht weiter davon reden, das sind Dinge, die ich mit mir selber durchkämpfen muß. Aber das möchte ich immer sagen: wenn nur alle die großen und guten Kräfte sich auf die Wahrheit einigen und wenn nur das Wort von ihnen ins Herz genommen würde, daß keiner dieser Geringsten, die an Ihn glauben, geärgert werde! Ich weiß auch nichts von theologischen Kämpfen im Gegensatz zu christlichen, diese Unterschiede sind mir zu fein. Aber ich sehe sehr trübe in die Zukunft und ich halte es nicht für männlich, die Gegensätze und Risse zu verschleiern, wohl aber für ehrlich, die Gegensätze und Risse darzulegen. Es wird ja eine Trennung unvermeidlich sein. Parteiungen können gemieden werden, Trennungen nicht.
.
 Ich sehe sorglich auch auf den Romanismus. Man wird mir einmal mit Recht vorwerfen können, daß ich für all die edlen katholischen Neigungen unter uns gar kein Verständnis besaß. Ich möchte Sie aber hier weiter aus Herzensgrund bitten, den einzigen Satz zu verfolgen: ich lese nie ein katholisches Buch, so lange ich noch ein evangelisches habe. Wir haben so viele reiche, große Schätze, wir sind in unserer Kirche so wunderbar reich gemacht an aller Weisheit und an aller Erkenntnis, daß das Herumsitzen an fremden Türen mir wie eine große Gefahr erscheint. Rom hat kein Herz für uns gehabt und kann es nie haben. Ich meine gewiß, das Gemeinchristliche wollen wir recht pflegen, während es noch da ist. Wie weit dort das| Christentum noch vorhanden ist, darüber erlaube ich mir kein Urteil, aber weil wir in großer Gefahr stehen, haltet an am Gebet und am Wohltun, an der energesia und koinonia, wie der Apostel sagt. Wohlzutun und mitzuteilen, übersetzt Luther, es heißt Wohltätigkeit und Gemeinschaftspflege. –

 So habe ich mit kurzen Worten einen Ueberblick zu geben versucht, mag ihn jede nach ihrer Weise ausführen. Löhe, der Mann, der seine Herrschergaben unter das Kreuz legte, Meyer, der Mann, der seine seelsorgerlichen Gaben im Kreuz bewahrte! Gott der Herr, wird auf die dritte Epoche von Neuendettelsau, die von den beiden ersten mehr hat lernen wollen, als ihr gelang, eine Zeit kommen lassen, in der man wieder mehr zu Atem kommt. Zu dem, was ich oft beklagte und doch nicht geändert habe, weil ich es nicht konnte, gehört die Atemlosigkeit der Arbeit. Ich habe wohl manchmal gespürt, welch ein Abgott auch die Arbeit sein kann, ich weiß, daß auch das Gebot der Pflicht und der Ernst der Pflichtarbeit seine großen, ernsten Gefahren hat; aber ich weiß auch, daß nichts mehr auf der ganzen Welt zu den Füßen des Herrn Jesu hinführt, als die Arbeit: „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen, aber auf Dein Wort.“

 Möge, das wird der Gegenstand der letzten Stunde sein, wo ich noch über die Zukunft des Diakonissenwerkes überhaupt und über die Zukunft Neuendettelsaus im besonderen einige Worte wage, der Geist der Einmütigkeit, der bei aller grundmäßigen Verschiedenheit diese drei Zeitläufe hiesiger Anstalten durchdrungen hat, möge die Herrschaft des guten Willens, der sich in die barmherzige Zucht des heiligen Geistes stellt, durch Unsere Häuser und durch unsere Herzen gehen, ja die Herrschaft des guten Willens. Man kann alles an einen Menschen wagen und mit einem Menschen versuchen, der eines guten Willens ist, denn der Herr sucht nicht mehr bei den Seinen, als daß sie Ihn suchen.

Lied 383, 3.
  Gebet: O Herr Jesu Christe, wir sagen Dir Dank, daß Du Dein Werk an diesem Ort durch alle Zeiten hindurch gerettet und bis auf diesen Tag nicht hast umkommen lassen. Wir preisen Deine Güte, mit der Du getragen, gegeben, vergeben und vergessen hast, und bitten Dich von Grund unseres Herzens, Du wollest was Dir gemäß ist behalten und was von Dir fern ist zerstören. Du wollest dem Geist| der Parteiung kräftig wehren und wollest bei mancherlei Gaben und Wegen und Weisen ein Ziel, Dein Ziel allen vor Augen stellen. Verleihe, daß, was auf Erden und im Staube gebaut wird, auch bei Dir im Himmel klar und wahr sei um Deiner Wahrheit und Erbarmung willen. Amen.
 






« 8. Stunde Hermann von Bezzel
Einsegnungs-Unterricht 1909
10. Stunde »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).