« 9. Stunde Hermann von Bezzel
Einsegnungs-Unterricht 1909
Einsegnung »
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10. Stunde.
Lied 242, 6 u. 7. Johannes 17, 6–26.


  Gebet: O Herr Jesu Christe, der Du vor Deinem Scheiden für Deine ganze Gemeinde auf Erden gebetet hast, daß sie von Dir ungeschieden bleiben möge und hast in Kraft des Gebets die große und wirklich ernstliche Sehnsucht nach Dir in die Herzen Deiner Gläubigen gesenkt, verleihe uns allen, daß wir, die wir jetzt einmütig glauben und bekennen, dermaleinst einmütig loben und erkennen mögen, um Deiner ewigen Treue und Erbarmung willen. Amen.
 

 „Dieweil du hast behalten das Wort meiner Geduld, will Ich dich auch behalten“ spricht der Herr. Um dieses Wort haben sich, so oft eine große Entscheidung in seinem Reiche nahte, seine Christen immer wieder gedrängt, von diesem Wort Kraft genommen, so im Kampf wie zum Sieg. Darum wollen auch wir in dieser letzten Stunde des Einsegnungsunterrichts, mit allerlei ernsten und treuen Versprechungen zu dem nahen, der Versprechungen zwar kennt und über ihre Nichterfüllung trauert, aber sie doch auch will, damit Er an den Versprechungen sehe, Seine Gemeinde denke an Ihn.

 Meine Schwestern in Christo, wollen wir vor allen Dingen von uns den Zahlenbegriff tun, der im Reiche Gottes so viel geschadet hat. Es heißt nicht: Denke an Deine Zahl, die große Herde, es ist nirgends der Zahl der Sieg verheißen, es heißt vielmehr: Fürchte dich nicht, du kleine Herde. Wenn in diesem großen Ganzen einmal eine doch auf die Jahrzehnte nicht verschiebbare Trennung stattfinden sollte, und sich die Ernsten von den Lauen scheiden, was in einer Frauengemeinde weit leichter vor sich geht, als in einer anderen, so soll man nicht darüber trauern, sondern wissen, es gibt Verluste, die Gewinne sind. Wie oft hat man in den letzten Jahren gesagt: So kann es mit der Größe, mit dem Wachstum nicht weitergehen, ohne daß man doch ein rechtes Mittel hätte angeben können, wie man dem Wachstum steuere. Ich zähle es auch zu den Freundlichkeiten,| mit denen Gott meinen Lebensweg angesehen hat, daß in den letzten fünf Jahren fast gar keine Austritte vorkamen. Ich glaube nicht, daß es die Macht der Gewohnheit war, die so viele bei uns bewahrte, oder daß wir in unseren Forderungen milder und beschränkt geworden wären, aber ich glaube, daß ein größerer Ernst in manchen Reihen spürbar war. Ich verkenne es auch nicht – und man kann so ruhig darüber sprechen, weil es ja Gottes Gnade und Gabe ist und war, – daß manches hintan gehalten und unterdrückt wurde, was, wenn es Spielraum gehabt hätte, stark genug gewesen wäre, in diesem Hause Zerstörung zu wirken. Ich weiß nicht, ob nicht allerlei Elemente sich herauswagen werden, unter denen man mehr geseufzt hat, als sie ahnen und wissen, aber den Einzusegnenden rufe ich zu: Schauet wohl hin, wer weg geht. Wenn es solche sind, von denen ihr Zeit eures Lebens den Eindruck hattet, daß sie den Herrn Jesum im Herzen trugen, dann ist im Hause ein großes Weh eingetreten und dann muß man freilich um die Zukunft des Hauses recht besorgt sein; aber wenn andere Elemente gehen, soll man nicht klagen, sondern sich freuen und den Rückgang der Zahl für einen Gewinn erachten.
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 Und zum zweiten laßt uns auch die Quantitätsbegriffe recht meiden. Es ist viel gebaut, gearbeitet, gegründet, versucht, angefangen worden in diesen letzten Jahrzehnten. Aber das ist wahrhaftig nicht die Hauptsache, das sind selbstverständliche, von Gott vernotwendigte Wirklichkeiten, die eingetreten wären, auch wenn andere Leute hier gearbeitet hätten als wir. Darauf kommt es an, daß man in der Stille die Eigenheit der gottgefälligen Arbeit pflegt, und da gebe ich für die kommenden schweren Tage – ich meine schwere Tage der Kirche – die Losung für die Schwestern und für mich selber aus: Alles Schwere zuerst! Nie einer schweren Sache ausweichen, weil sie so grau herein in unser Leben ragt, sondern das Schwere zuerst! Es muß ja doch durchlitten und durchstritten sein und indem wir ihm entgegengehen, gewinnen wir es ihm ab. Wir wollen also nicht auf allerlei sehen, was wir noch tun möchten, auf allerlei Großes, sondern auf unsere Pflicht, und unsere Pflicht heißt: Behaltet das Wort Seiner Geduld, das Wort, das so lange mit uns Geduld getragen hat, und das Wort, das so viel Geduld von uns verlangt. Indem wir diesen Zahlen und Quantitätsbegriff wegtun, werfen wir auch die Jahrtausende, welche uns von der einen Gottesoffenbarung trennen, die geschehen ist, und kaum mehr von der anderen scheiden, die bald eintreten wird, von der Gottesoffenbarung, da Er selber, der erhöhte Heiland Seine Gemeinde ausreifen und ausgestalten wird, weit weg, und bitten den Herrn, daß Er uns zu sich ziehe, und daß Er uns alle die| Wirklichkeiten, welche die Kirche noch kommen sieht, in unserem Herzen erleben lasse. Hier in diesem Herzen drängen sich die christusfeindlichen Gestalten und Gewalten zusammen. Da entbrennt der bittere Kampf, ob es denn auch der Mühe wert sei, für eine längst verlorne und verschollene Sache noch zu leiden, da erheben sich neue Gestalten für den alten Christus, der Begriff des Humanitären, des allgemein Weltseligen, der Begriff des für den Moment Geborenen und aus dem Moment Geborenen. Wir spüren es, die Menschenseele hat eine tiefe Feindschaft gegen ihren Herrn und wenn wir diesen einen Kampf in uns durchleben, dann werden auch wieder die Friedenszeiten kommen, welche die Kirche so gern unter dem Bild des tausendjährigen Reiches befaßt, da ihr Herr der einzelnen Seele Ruhestunden gibt, in denen diese Seele, sich mit ihrem Herrn und Heiland besprechend, das vergessen kann, was sie noch an Ort und Zeit von ihm scheidet, und männlich und getröstet die Aufgabe an sich nehmen wird, die ihr gegeben ist. Dann wird der Herr die einzelne Seele erlösen. Man hat ja ein Mittel, um die Zeit, die enteilt, zu halten und die verweilt, wenn man sie beeilen will, mit großer Schnelligkeit zu versehen und dieses Mittel heißt: „Weit über Berg und Tale, weit über blaches Feld schwingt sie sich über alle und eilt aus dieser Welt“, – die große Kraft der tatenreichen Sehnsucht – die nicht in stiller Beschaulichkeit dem Leben sich abwendet und so im Genuß für die großen Aufgaben der Zeiten weder etwas austrägt noch leistet, auch nicht die stürmische Sehnsucht, welche über dem Fernliegenden das Nächste verabsäumt und übersieht, sondern die tätige Sehnsucht, die hier auf Erden baut, als müsse man bleiben, und über die Erde hinzieht, weil man nicht bleiben muß, diese große gehaltene Kraft, welche der Mensch hat, wenn alles um ihn herum versinkt und vergeht, da er weiß, in wessen Kraft und Nachfolge er arbeitet.
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 Ich wünsche aber zu der Ueberwindung von Zahl und Quantität ein Weiteres: Laßt uns nicht auf Erfolge sehen. Es hat je und je der Gemeinde Jesu das Wort gegolten, daß ihre Erfolge innerlicher Art sind: so ist sie immer wieder mit Angst an die Tage gegangen, die mit Erfolgen begleitet waren. Sie trug Sorge, ob denn die Sonne auch wirklich ganz genossen werden dürfe und ob der reiche Erfolg auch wirklich ein Beweis des göttlichen Wohlgefallens sei? Ich darf hier wohl, ob es mir gleich nichts nützt, Menschen zur Mitrechnung und menschlichen Rechenschaft aufzufordern, oder vor Menschen Rechnung abzulegen, fragen, ob man sich nicht gemüht hat, allen äußeren Erfolg recht ernstlich zu nehmen? Es ist wohl sehr wenig, sehr wenig an Gaben, an äußeren Unterstützungen erbettelt| worden und ich wünsche, daß die Männer, die weiterhin zu reden haben werden – denn ich weiß, daß von unserer teuren Frau Oberin es nicht anders gehalten werden will und wird – ich wünsche lebhaft, daß das Vertrauen in äußeren Dingen auf den Herrn gesetzt werde und all diese geistlichen und ungeistlichen Quälereien auf den Nächsten hin noch mehr als bislang unterlassen werden. Wir wollen glauben, daß der Herr gebe, was recht ist, und wollen, wenn äußerlich der Mangel drückt, nicht verzagen, Er wird es immer wieder geben, wie es recht ist, und wird zu Seiner Zeit Tür und Tor öffnen, daß wir Reichtums die Fülle haben, weil wir ja nur Vermittler seiner Gaben an die Armen und Elenden werden wollen. Es wird ja sehr viel noch zu geschehen sein, sehr viel. Es wird in manchen Anstalten, ich denke besonders an die Blödenanstalten und das Magdalenium, viel, viel in der Folge geschehen müssen, aber es kann auch geschehen. Der Herr wird es versehen, der Herr wird geben, Ihn wollen wir anrufen, nicht auf äußere Erfolge sehen; wir wollen trauen, daß Er uns nicht in der Not eingegangene Versprechungen brechen und allerlei Anforderungen beiseite legen heißen wird.

 Zum Schlusse komme ich noch einmal mit der herzlichen und herzandringenden Bitte: Neuendettelsau, halte deine Blaue Schule in Ehren. Arbeite weit gründlicher, weit ernstlicher noch für die Blaue Schule! Nur daß dieses stille Heiligtum im Haus recht bewahrt werde, daß es sei ein verschlossener Garten und daß nicht hier eingegriffen werde, wo ein Werden dem Sein vorausarbeitet!

 So wird vielleicht die Diakonissenanstalt stillere Tage haben nach einer erregten und oft sehr stürmischen Fahrt. Und was könnte ich lieber wollen, als daß in diesen stillen Tagen, recht eingehende Pflege im Kleinen, recht ernste Arbeit für die großen kommenden Jahre geschehe. Was wollte ich lieber, als daß die Kirche unseres Bayernlandes von dieser stillen Arbeit aus auch eine Kraft der Stille herüberbekäme! Es muß in unseren erregten Zeiten Inseln des Friedens geben, es muß irgend ein Ort sein, da man, ohne Gefahr mißverstanden zu werden, seines Herzens Innerstes zur Geltung bringen darf. Es wird der Herr Neuendettelsau, wenn es Ihn nicht verläßt, immer wieder zu einem stillen Bergungsort machen, da man im Geist einkehrt, um sich von dem Herrn warten zu lassen und zum Herrn sich zu wenden. „Ringet darnach“, wenn die äußeren Erfolge zurücktreten, wenn manches kleiner und ernster werden wird, „ringet darnach, daß ihr stille seid.“ Die ganze Diakonissensache gleicht mir einem Kinde, das sich zu früh auf den Markt des Lebens gewagt hat und auf dem Markt des Lebens| ist es alt geworden und hat Runzeln und allerlei unschöne Züge bekommen, und nun denkt es der Tage seiner Jugend und kehrt zurück auf den Anfang seines Lebens. Es geht, wenn ich recht sehe, durch alle Diakonissenhäuser ein Zug von einem verlorenen Paradies, der doch unter Christen ein Zug nach dem kommenden ist. Es erheben sich die Stimmen, daß man das Außenwerk und die Beifragen zurücktreten lassen muß, damit das Bleibende und Ewige recht getrieben und sehr betont werde. Wir haben den Eindruck: So darf es nicht mehr weiter gehen: Es ist zu viel, das Spezialistentum und die Spezialitätenfragen und die Spezialfragen und all diese ermüdende Technik, die mit einem furchtbaren Aufwand von Zeit und Kraft herangenommen wird, und all diese Spezifika – das ist ein böses Ding. Nicht bloß die Spezialitäten, daß man sich in allen möglichen Betrachtungen über die Stellung der Johanniterin in einem Hause erregt, um nun in einem ungemein paragraphenreichen Elaborat die selbstverständlichsten Dinge gesagt zu haben, nicht das macht mich so ängstlich, daß soviel Papier verschrieben und so viel vergängliche Anweisung gegeben wird, die nicht ins Herz und Gewissen dringt, sondern auch das macht mich sehr sorglich, daß wir im Laufe der Jahre Spezifika, ganz bestimmte Sittenregeln, ganz bestimmte Sittengesetze von diakonissenhaft und nicht diakonissenhaft, von Diakonissensinn und nicht Sinn der Diakonissen herausgebildet haben; aber alle Ständemoral ist nur eine Abschlagszahlung gegenüber der großen Forderung Jesu: „Seid vollkommen, wie auch euer Vater vollkommen ist.“ Das ist nicht evangelische Art. Wenn aber jetzt durch unsere gesamte Diakonissensache, ich habe das wohl oft betont und habe von längst heimgegangenen teuren Vätern, von dem seligen D. Büttner, von Pastor Kuhlo, mehr als eine Zustimmung bekommen, wenn durch die jetzt vorhandenen Diakonissenhäuser und -Bestrebungen so ein müder Zug, so etwas Müdes und Grämliches geht und so viel Aeußerlichkeit sich findet, dann laßt uns wieder auf die Anfänge zurückgehen. Primitivität ist ja noch kein Zeichen der Echtheit und Ungeformtheit noch lange kein Zeichen der Wahrheit. Es gehört zu den alten satanischen Kunststücken, daß ein Mensch sich einbildet, er sei wahrhaftig, weil er herausschäumt – er ist nur unerzogen, aber nicht wahr. Wie es beim einzelnen noch lange kein rechtes Zeichen ist, so ist es auch ganz verkehrt, wenn in einer gewissen Biderbität die Echtheit im Diakonissenhause gesucht werden wollte. Nein, gegen die Veräußerlichung der Gesamtarbeit gibt es nur ein Mittel: Heiliget Gott den Herrn in eurem Herzen. Geht mit all dem, was euch bewegt, vor den Herrn, nehmt all die Möglichkeiten, die ein Gedanke zieht, und all die Folgen,| die von einem Gedanken ausgehen, in den Gehorsam des Kreuzes Christi. Stellt euch ganz unter den Ernst seines heilsamen Wortes und seiner heiligenden, läuternden Liebe. Schließt euch ganz an den an, der da die Echtheit des Jüngers in der Wahrheit heiligt. Dann werden am Ende des nächsten Geschichtsverlaufs, vor dem all die kirchlichen Gebilde wie Asche zerfallen werden, die Diakonissenhäuser Bergungsorte werden, stille Ansätze zu einem ernsten Heiligungsleben und werden auch Gegenstücke, Gegenbilder auf männlicher Seite heraufbringen, nicht zwar all diese Brüderhäuser, die eine ganz andere Reform brauchen, nicht zwar dieses eigentümliche Konglomerat, Zusammenschließung von Weltlichem und Geistlichem, wie es jetzt die Brüderhäuser darstellen, sondern den Ernst des Zusammenschlusses von Familienhäuptern, von Familiengestaltungen, die ganz dem Worte Gottes gemäß leben wollen. Es wird eine Zeit kommen, da man gegründete Aufgaben, Gebautes allein lassen, Errichtetes hingeben und zwar in die Hand derer geben muß, gegen die man es erbaut hat. So spricht der Herr zu Seinem Propheten: Was ich gepflanzt habe, das reute ich aus und was ich gebaut habe, das werfe ich weg samt diesem meinem ganzen Land und du begehrst dir große Dinge, siehe zu, begehre sie nicht. Aber deine Seele will ich dir zur Beute geben, an welchen Ort du ziehst. Das ist ja schließlich die Hauptsache, auf die ein armer Mensch sein Letztes und sein Liebstes wagt: Deine Seele will ich, dir zur Beute geben, an welchen Ort du ziehst. Haben wir den Mut, auf alles zu verzichten, ist es uns ein rechter Ernst, in die Enge des Krankenzimmers verbannt zu werden, vermögen wir es, von uns als von Toten und Abgeschiedenen reden zu hören, werden wir es tragen, wenn wir nicht einmal mehr Mitläufer bei einer Bewegung sein dürfen, geschweige denn, daß wir tonangebend bei ihr sind? Zwar bei den Menschen ist es unmöglich, aber alle Dinge sind dem möglich, der da glaubt. So wie der Herr die Kirche gestaltet, so ist es recht, und so wie Er führt, so sei es allewege gut. Wir wollen keinen Gerichtstag beschleunigen, nicht einmal ihn heraufbeten, wir wollen auf den Dämmen stehen bleiben und sie ausbessern, wo es nur geht. Wir wollen glauben, daß auch die Dämme, so arm sie sind, ihr Recht haben und daß, was wir ihnen tun, endlich und letztlich doch einer großen Sache geschieht. Aber wir wollen wohl auch darauf unser Augenmerk richten, daß über ein Kleines die Dämme fallen, und daß dann nur der den Strom teilt, der von Jugend auf gewohnt war zu rufen: Herr, hilf mir. Es ist – und damit gehen wir zum Schluß – dieser ganzen Unterweisung Erstes und Letztes, daß wir einander zurufen: Seele, du bist| berufen. Berufe eilen dahin, Berufe sinken zur Erde; wir wissen, es kommt ein Tag, wo wir auch den liebsten Beruf hinlegen müssen, wo sie unsere geschäftigen Hände zusammenlegen, mühelos und lächelnd, und diese Hände nicht mehr dagegen sich wehren, daß man ihrer sich entäußert. Wir denken oft an die Stunde, wo eine ganze Welt von Gedanken wie ausgetan ist und dem großen Schweigen eines vielberedten Lebens das Schweigen der Ewigkeit folgt. Unsere Berufe fallen dahin und zwar läßt sich der Herr nicht vorschreiben, ob und wie Er Ersatz habe, für Ihn ist es ganz unwesentlich, daß und woher Er Ersatz bekommt. Er kann aus Steinen wieder Helden erwecken, wie Er Helden zu Steinen wandelt, und aus dem Staub wiederum Leute hervorholen, wie Er seine Menschen zu Staub macht. Die Berufe fallen dahin und der Erdenberuf, dieser Beruf der mittelbaren Seelsorge fällt auch dahin. Zwar hat Mancher in seinem Grab eine bessere Seelsorge geübt als die war, da er lebte und durch den Glauben redete mancher, obwohl er gestorben war. Es weht um die Grabstätten Seiner Bekenner immer etwas wie Gottesfrieden und die Unvergeßlichkeit eines Namens, der im Himmel angeschrieben ist. Aber das sind eben dann nur rein innere Wirkungen, zu denen der nichts mehr beiträgt, von dessen Nichtsein sie ausgehen. Es sind dann nur göttliche Ausbildungen von Gedanken, die unter der Erde schlafen. So fällt auch der irdische Beruf dahin, aber die Berufung bleibt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Und dieses Wort hebt über die ganze große Ernstlichkeit des Entscheides und des Scheidens hinaus. Man weiß, daß Er jetzt noch mit der Seele weiter handelt, wenn ihr Erdenhaus hingelegt und ihre Erdenarbeit beendet ist. Von Ihm berufen, trägt man nur die einzige Sorge, daß man dieses Berufes und dieser ewigen Berufung eingedenk und teilhaftig bleibt. Es liegt auf dem Menschenleben eine tiefe, heilige und gesegnete Wehmut. Der Mensch, auch der wiedergeborene Mensch ist in seinem Leben wie Gras und die Werke, die er getan hat, sind wie des Grases Blüte.
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 Hunderte von Jahren hat die Kirche der Diakonie entbehrt; kann nicht auch wieder ein Jahrhundert kommen, da sie ihr genommen wird? Es liegt dann die Angst vor, daß die Kirche, durch ihre Diakonissen verwöhnt, noch weniger des alten evangelischen Pflichtbegriffes sich annimmt, sondern die Dinge dann treiben und gewähren läßt und es ist gar aus mit ihr. Es kommt mir überhaupt recht oft die Sorge, daß die Kirche nicht mehr eigentlich ein Gesamtbegriff, eine Gesamttatsache ist, sondern daß es nur noch einzelne kleine Kreise sind, die einen Gedanken, der ihnen selbst nicht mehr feststeht, fortschleppen| und forttragen und zu Diakonissenzwecken sich verwenden lassen und sprechen: Wir sind die Kirche. Es scheint, daß bei unserm Volk der Kirchenbegriff je länger je mehr in den alten Spenerschen Gedanken der einzelnen Gemeindlein, der einzelnen Zusammenschließungen zurückgeht. Ich kann persönlich das nicht beklagen. Lieber viele einzelne kleine Herde, so unscheinbar sie sind, als ein wunderbar schöner Kunstherd, der nicht heizt, nicht brennt, und auf dem nichts bereitet werden kann. Paradestücke der Nachfolge Jesu sind um ihrer Unwahrheit willen immer zerfallen, aber den Echten gehört das Himmelreich. In dieser Wehmut, daß vielleicht die Diakonissensache ihr eigenes Grab bereiten muß, wie jene Trappistenmönche, die alle Tage ihr Grab graben, um es wieder zuzuschaufeln, in diesem Weh, das die Diakonissenhäuser sich immer mehr verlieren, tröstet der Gedanke: Und es war doch nicht umsonst. „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht pflanzte,“ sagt der Heiland, „werden ausgereutet werden.“ Was aber Seine Hand gepflanzt hat, das wird, vielleicht in einer ganz anderen Form, bleiben. Wenn die mittelbare Seelsorge, wie sie von einem Diakonissenhaus nach Jesu Art geübt wird, da und dort Licht und Kraft gibt und Arbeit entfacht und entfaltet, dann mag der Leuchter, der so viele Lichter angezündet hat, selbst weggetan werden, in den Folgen wird er noch gepriesen. Und die Folgen der Diakonissensache, die unter der sichtbaren Obhut des Erzhirten dem 19. Jahrhundert geschenkt wurde, sind, Gott sei tausend mal Dank, unabsehbar und unberechenbar. Gott der Herr habe nur ein Einsehen mit all unserer Arbeit! Er hat uns in der heiligen Taufe den Ruf zugehen lassen: Kommet in meinen Weinberg! Wir haben diesen Ruf vorzeiten gehört, oft vergessen, schnöde mißachtet, viel, viel verdrängt, aber ihm sei dafür Preis, immer wieder ist der stille mahnende Ruf des Herrn an uns ergangen: Kommet ihr auch in meinen Weinberg! Wenn wir durch jahrelange eigene Schuld müßig waren und für uns gruben, bauten, pflanzten und begossen nach eigenem Herzensbedünken, und der Herr all diese Arbeit als eine weit außerhalb des Weinbergs geschehene überhaupt nicht für Ihn vorhanden ansah, so ist doch auch noch in dieser späten Stunde – und heute ist solch eine späte Stunde – der Ruf an uns gekommen: Gehet hin in seinen Weinberg. Von uns aber sei die Frage fern: Was wird mir dafür?, sondern einzig groß sei in unserer Seele die Freude, daß Er uns in dem armen Weinberg, da Er nur demütige Leute brauchen kann, verwenden will und wir wollen es Ihm bis in die Ewigkeit danken, daß Er uns um unserer Armut willen in diesen Weinberg hieß. Ach wenn ich es könnte,| Würde ich es nicht tun und weil ich es nicht kann, darum tue ich es erst recht nicht, ich will nicht weissagen, noch aussagen, was ich von diesen 35, die ich so ziemlich zu kennen glaube, denn das Auge der Sorge und das Auge der Liebe sieht scharf, für die kommende Zeit erwarte und befürchte. Zu den schwersten Enttäuschungen meines Lebens rechne ich doch die, wenn nach der Einsegnung die ganze Begeisterungslosigkeit und die ganze Armutei eines Menschen, der sich etwas hat einreden lassen und dann glaubte, es zu besitzen, hervortritt. Ich habe nach der blauen Schule wohl manche Enttäuschungen erlebt, manche frische Blüte war bald welk, denn der Staub fiel reichlich auf sie; ich habe nach den Einsegnungen nicht weniger Enttäuschungen erlebt, denn bei gar mancher wußte ich, sie werde eingesegnet, damit sie fertig, satt und sicher sei und den Freibrief nun gewinne, zu leben nach ihres Herzens Bedünken und sich loszulösen von einer geheiligten Vergangenheit, um eine armselige, dürftige Zukunft sich zu bereiten. Ob es bei diesen 35 auch so wird? Ob, was ein Sämann Jesu in Seinem Auftrag, als seines Herrn Jesu Wort letzmalig einzustreuen versuchte, Frucht bringen wird für Zeit und Ewigkeit, weiß ich nicht. Aber darum bitte ich den Herrn, Er wolle, und das weiß ich von Ihm, Er tut es, aus diesen 35 sich eine, ob auch kleine Gemeinde von echten, treuen und ernsten Dienerinnen erwählen. Er wolle es dahin bringen, daß rechte Teilnahme für die Sorge und Angst und Sünde des geliebten Mutterhauses in ihnen erwache, daß sie, gliedlich mit einem Hause verbunden, das ihnen so viel Gutes geschenkt hat, mit demselben und für seine Sorgen leiden.

 Es ist, wenn ein Letztes in irgend einer Unterweisung, in irgend einer Tätigkeit in Seinem Reiche eintritt, nicht sowohl der Wehmut das letzte Wort zu gönnen, als der Freude, daß auf ein Letztes hier in dieser Beschränktheit der Zeit eine ewige und unvergängliche Herrlichkeit folgen werde. Es gehört, wenn Zelte abgebrochen und Arbeiten niedergelegt werden müssen, mit zu den größten Gedanken, daß man sich sagen kann: das Bleibende bleibt und was nicht bleiben kann, wird fallen je früher, je besser.

 Der aber, der alle, die hier sind, mit einem ewigen und seligen Ruf berufen hat und in dieser Stunde seinen teuren Ruf wiederholt, der uns dazu befähigt hat, daß wir in Seinem Reiche unter Ihm leben und Ihm dienen, helfe aus Gnaden dazu, daß der stille, ernste, wortlose Dienst an dem hiesigen Ort nicht ersterbe, nicht zu Ende gehe und daß, wenn es nicht zu kühn gegriffen ist, diesem Ort vielleicht in ganz anderer Weise nach Jahrzehnten und Jahrfünfzigen der Ruhm werde: Hier dient man dem Herrn.

|  Damit ist diese Unterweisung, ist meine Unterweisung überhaupt zu Ende gekommen und ich beschließe sie mit dem Wort Augustins: Was von mir und dem meinen war, das, o Herr, wollest Du und die Deinigen mir verzeihen; was aber von Dir und dem Deinigen war, das wollest Du an den Deinigen segnen. Er segne Neuendettelsau in diesen 35 Schwestern, Er segne die Kirche unseres Landes, die arme, einsame, verlassene Kirche unseres Landes in ihrem Neuendettelsau, Er segne die lutherische Kirche der ganzen Welt in der Kirche unseres Bayernlandes, Er segne in der gedrückten, geschmähten, verlassenen und verachteten lutherischen Kirche die ganze evangelische Kirche auf Erden, Er schenke in der evangelischen Kirche und in der Ohnmacht des Evangeliums Seiner armen sündigen Welt das Salz, das sie vor der letzten Zersetzung bewahre, und das Licht, das ihr an einem dunklen Ort leuchte, alles um Jesu Christi willen. Amen.


  Gebet: Herr Gott himmlischer Vater, der Du uns noch eine Weile auf dieser Erde arbeiten heißest, damit wir für Dich erobern, was Dir gehört und Dir das Opfer unseres Lebens bringen, verleihe aus Gnaden, daß unter diesen Christinnen keine Deines Sohnes Art verlasse, verleugne und verrate, und schenke, daß aus ihrem Dienst, aus der Echtheit ihres Schweigens, aus der Kraft der Demut, aus dem Reichtum des Gehorsams Dein Christus geehrt und Seine Majestät hoch gepriesen werde. Sende Deinen heiligen Geist, Schutz und Schirm wider alles Arge, Kraft und Willen zu allem Guten und verleihe diesem Haus bis in die Ferne Klarheit des Bekenntnisses, Ernst des Dienens, treue Oberen, gut Regiment, gute Freunde, getreue Nachbarn, viel Gnade, Sonne am trüben Tag und den Sturm, wenn die Sonne verwöhnt hat, alles um Deiner gnadenreichen Erbarmung willen. Amen.


Lied 314, 9.
  Der Herr segne euch und behüte euch, der Herr lasse Sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig, der Herr erhebe Sein Angesicht über euch und gebe euch Seinen Frieden. Amen.  
 






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