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zu sehen; Formalismus und Fanatismus sind aufs engste verschwistert. Ein Mensch, der im Geist lebt, kann entschieden, rücksichtslos und rückhaltlos, aber nie fanatisch werden. Fanatiker sind immer oberflächliche Menschen und suchen den Mangel an Tiefe der Betrachtung durchs Eifern mit Worten, das bekanntlich überaus wohlfeil ist, zu ersetzen. Wenn man dann solchen Fanatikern genau nachsieht, lassen sie vom Inhalt dessen, was sie formal mit einer kalten Glut verteidigen, so viel zurück und machen sich unter dem Schatten bestimmter Zeichen das Leben so leicht, daß man von dieser Begeisterung wenig für das Reich Gottes, in dem die Wahrheit von Wille und Wesen erstes Gesetz ist, erwarten darf und kann. Nein, es mag solche Zeiten gegeben haben, und ich weiß nicht, ob sie nicht auch in irgend einer Form nach dem Gesetz, nicht zwar der Wiederholung, das ich in der Geschichte einfach nicht anerkenne, sondern nach den Gesetzen gewisser Brechungen, wiederkehren, aber ich hoffe zu Gott, daß Er, Der den Geist, der da frei macht und frei hält, geschenkt hat, diesen lauteren und keuschen Geist erhalte, der da eine Menge von Dingen begraben und eine reiche Fülle von liebgewordenen Gepflogenheiten hinlegen und aus der Tiefe der Ueberzeugtheit sprechen kann: Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Das weiß ich gewiß, wenn der selige Pfarrer wieder käme, so würde er auch zwischen Zeitgemäßem und Ueberzeitigem, zwischen Bestehendem und Veraltetem unterscheiden. Was aber alt und überjährt ist, sagt der Hebräerbrief, das ist nahe an dem Verschwinden. Und dieses Verschwinden hat in der Nachfolge des in Mannigfaltigkeit reichen Herrn auch sein Recht; man kann nie etwas fest halten, was Er nicht mehr fest hält, man müßte denn Verstörungen für die eigentliche Lebensäußerung halten und die Verhärtung der Formen für den allzu reichen Ersatz. Es ist das die ganze Weisheit der Geschichte, die Gott erhält. Alles Ding hat seine Stunde und alles Vornehmen der Menschen hat auch seine Zeit. Und wenn der Herr das eine gebraucht hat, stellt Er es zurück, und es kommt ein anderes. Er nimmt nie, ohne wieder ein Besseres zu geben. Aber dafür wollen wir Gott danken, so lange wir leben, daß hier tief gepflügt worden ist, und daß frühzeitig die Diakonie in den Ernst des Kampfes gestellt wurde. Ich habe die Kämpfe des seligen Pfarrers immer wieder auf mich wirken lassen wollen. Ich habe wohl gemeint, ich hätte in manchen Stücken anders geurteilt, und bin dafür Gott und Menschen dankbar, daß man mich nicht auf einen ganz bestimmten Löhanismus eingeschworen hat. Ich hätte es nicht getan und ich hätte es nicht tun dürfen. Ich bin dafür besonders den