Textdaten
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Autor: Wilhelm Künstler
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Titel: Ein Besuch in Schul-Pforta
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, 19, S. 251–255, 262–264
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[251]
Ein Besuch in Schul-Pforta.
Von Wilhelm Künstler.

Als ich vor mehreren Jahren genöthigt war, das Bad in Teplitz zu gebrauchen, hatte ich daselbst zum Hausgenossen u. A. einen Engländer, der mich je länger je mehr anzog. War er doch eine jener glücklich organisirten Naturen, denen man – fast wider Willen – gut sein muß. Selbst eine gewisse Schroffheit, die auch an ihm, als einem echten Sohne Albions, hin und wieder zu Tage trat, selbst diese übersah man gern im Hinblick auf die Offenheit seines Wesens, auf den Reichthum seiner Bildung und auf die in ihm zur schönsten Blüthe vereinigten englischen Nationaltugenden. Seine große Vorliebe für deutsche Literatur mußte mir ihn nur noch lieber machen. Wir wurden bald Freunde. Als ich endlich abreiste, begleitete er mich auf die Nollendorfer Höhe, jenen so überaus reizenden Bergrücken, wo 1813 der preußische General Kleist durch seinen heldenmüthigen und siegreichen Kampf gegen die Franzosen unter Vandamme sich den ehrenvollen Beinamen von Nollendorf erworben. Hier reichten wir uns noch einmal die Hand, indem ich auf sein treuherziges: „Fare well!“ mit einem tief bewegten „Lebewohl“ erwiderte; denn der Gedanke, daß wir uns in diesem Leben wohl nie wieder sehen dürften, hatte mich recht traurig gestimmt. Und in der That: es vergingen Jahre, und – wir sahen uns nicht wieder.

Wie groß war daher meine Freude, als endlich an einem schönen Sommertage ein kräftiger, hochgewachsener Mann sans façon in mein Zimmer trat und mich mit den Worten anredete: „How do you do?“

Traun, es hätte dieser paar englischen Worte nicht erst bedurft; schon an den großen blauen Augen erkannte ich den Eintretenden: es war Alfred, mein lieber, lieber Teplitzer Hausgenosse.

„O,“ sagte er unter Anderm, „ich bin gewesen in Berlin, in diesem an Polizei-, Sand- und Geheimrathvierteln so reichen Berlin; aber ich bin auch gewesen auf dem Leipziger Schlachtfeld und auf den blutgetränkten Ebenen von Lützen und habe hier gekniet vor dem Schwedensteine, an der heiligen Stelle, wo der Heldenkönig Gustav Adolf – dieser Protestant durch und durch – kämpfend und siegend gefallen. – Und was will ich jetzt sehen? Euer liebes Thüringen will ich sehen, will sehen die tausend und abertausend von Feeen und Kobolden belebten Berge, Thäler und Höhlen, will sehen den Kyffhäuser, den Ihr so sehr liebt, weil Euer Kaiser Barbarossa noch immer dorten schläft und Ihr deshalb ein Recht zu haben glaubt, getrost auch weiter schlafen und träumen zu dürfen; – jedoch vor Allem will ich jetzt das deutsche Eton, das weltberühmte Schul-Pforta sehen! Und da Dir dieser Musensitz hinlänglich bekannt, so bitte ich Dich: sei mir ein freundlicher Führer dahin!“

[252] Und wir wanderten selbander hinaus – westwärts auf der Frankfurter Straße.

Dicht hinter Naumburg blieb Alfred stehen und labte sich lange an der herrlichen Aussicht, die auf diesem Bergwege dem Wanderer sich darbietet.

Nordwärts – gerade gegenüber, hinter den Rebenhügeln, an deren Fuße die Unstrut sich zwischen schmucken Dörfern hindurchschlängelt, um gleich darauf in die Saale zu münden, erhebt sich der majestätische Thurm des Freiburger Bergschlosses und gibt dem ohnehin anmuthigen Thalgrunde einen höchst romantischen Charakter. In der That: eine liebliche Aussicht, die noch eine reichere wird, wenn man sie von einer der Villa’s aus genießt, welche diesen Theil der Frankfurter Straße zieren. Besonders ist hierbei die Villa hervorzuheben, welche gegenwärtig der Dichterin Elise Mente zur Wohnung dient. –

Die Klopstocks-Quelle bei Schul-Pforta.

Bei dem eine halbe Stunde von Naumburg entfernten Dorfe Altenburg (gewöhnlich Almrich genannt) verließen wir die Chaussee und erstiegen, uns etwas links wendend, den imposanten, schön bewaldeten Knabenberg.

Von der westlichen Kante dieser mit so reichem Wechsel herrlicher Thalsichten ausgestatteten Hochebene – über der sogenannten „Windlücke“ – erblickt man Kösen, die Saaleck, die Rudelsburg, den hohen Rittersitz Kreipitzsch, den Ettersberg; ja es lassen sich bei klarem Wetter sogar der Schneekopf, Finsterberg und Kikelhahn, sowie andere einzelne Spitzen des Thüringer Waldes erkennen. Hier ist auch der Punkt, von wo aus Fürst Pückler-Muskau unser Saalthal näher in Augenschein genommen. Daß er die Gegend „eine magere Schönheit“ nennt, darf bei ihm, dem „über die Maßen Verwöhnten,“ nicht Wunder nehmen.

Von der Windlücke aus führt ein Pfad in das „Eichenunterholz“ und dann links zuletzt zu einer Laube, welche gerade über dem Pfortaischen Garten steht. Der Blick auf Pforta und auf seine Kirche hinab ist wahrhaft reizend und mein Engländer hatte wohl Recht, als er auf dieser Stelle entzückt ausrief:

„O dieses liebliche Bild friedlicher Ruhe!“ –

Als wir die Höhe wieder hinabgestiegen waren, gingen wir durch das anmuthige „Pfortenholz,“ das von einem schmalen Arme der Saale, der sogenannten kleinen Saale – Klopstock in der Ode „Erinnerungen“ nennt sie den kastalischen Arm – durchflossen wird. An diesem Wege liegt die Klopstocksquelle, jene Quelle, welche ihrem Namen zum Gedächtniß des einst so gefeierten Dichters trägt, der – wie weiter unten gezeigt werden wird – schon als Alumnus hier den Plan zu seinem Messias entworfen und „beinahe ganz vollendet hat.“

Alfred war ein warmer Verehrer der Messiade. Er führte mehrere seltene Ausgaben derselben bei sich, darunter sogar eine holländische Übersetzung des Freiherrn von Meerman. Es nahm mich daher nicht Wunder, daß er sich mit einer wahren Andacht dem „Lieblingsplatze des heiligen Sängers“ näherte. Noch ein paar Schritte, und – wir standen vor der Quelle, die die ersten Töne der himmlischen Harfe vernommen. Ein einfacher Ueberbau, aber von Schlingpflanzen und Baumzweigen malerisch umrankt, ist der einzige Schmuck derselben.

Der Engländer entblößte ehrerbietig sein Haupt. Dann sprach er mit feierlicher Stimme:

„Der Seraph stammelt, und die Unendlichkeit
Bebt durch den Umkreis ihrer Gefilde nach
Dein hohes Lied –“

„Man spricht so wenig noch von diesem Dichter. Ist Klopstock in seinem, in Eurem Deutschland – vergessen?!!“ frug er.

[253] „In Pforta gewiß nicht,“ lautete meine Antwort.

Um ihn hiervon zu überzeugen, führte ich ihn denn nach dem Hauptportale der „königlichen Landesschule,“ die im officiellen Styl gegenwärtig die alte Fürstenschule genannt wird.

Die ganze Anstalt, mit Einschluß der Oekonomie-Gebäude, der Papier- und Mahlmühle, der Bäckerei, der Brauerei, des großen und kleinen Schulgartens u. s. w. wird von einer noch aus der Klosterzeit stammenden steinernen, 12 Fuß hohen Mauer umschlossen, die auf der Südseite am Walde 1577 Fuß lang ist. Sie hat gegen Westen, also nach Kösen zu, den Haupteingang: ein doppeltes, gewölbtes Thor.

Vor diesem Thore erheben sich auf einem Bergabhange – dicht an der Landstraße – die Gebäude der Oberförsterei, welche Blumenhagen der Schauplatz seiner bekannten historischen Novelle „Luther’s Ring“ sein läßt. Der erste Blick des in den Hofraum eintretenden Besuchers fällt auf das Kirchenportal.

Dasselbe, erst vor einigen Jahren restaurirt, hat einen hohen architektonischen Werth, indem seine Verhältnisse besonders rein und edel gehalten sind. Die Kirche selbst, dieses schöne Denkmal gothischen Baustyles, ist in den Jahren 1268 vollendet worden. Sie

Die Fürstenschule Pforta.

hat die Form eines Kreuzes. Ihr Inneres wird jetzt ebenfalls restaurirt. Und dies that Noth; denn die abscheulichen Zwischenbauten, wie wir solche leider in so vielen evangelischen Kirchen vorfinden, hatten dem herrlichen Gebäude viel von seiner ursprünglichen Schönheit geraubt. Ja, Professor Riese in Pforte hat Recht, wenn er in Bezug auf dergleichen Verunstaltungen ausruft: „Wo sich an dem Reinen und Schönen einmal ungestraft vergangen worden ist, da kannst du sicher sein, daß sich im Laufe der Zeiten an das Häßliche nur noch immer Häßlicheres reihen wird.“

In der Kirche und zwar in der in sehr edlem Styl erbauten „Evangelistencapelle“ befindet sich auch die gegen 6000 Bände starke Schulbibliothek.

Hinter den Kreuzflügeln der Kirche liegt, wie in einem stillen Versteck, der Gottesacker.

Durch die alten Kreuzgänge wird das Gotteshaus mit dem Schulhause verbunden. Letzteres ist in den Jahren 1803 und 4 in seiner jetzigen Gestalt aufgeführt worden. In den Parterreräumen befinden sich die Auditorien, der Betsaal und der Speisesaal; im zweiten Stock die „Zellen“ der Alumnen und im dritten die Schlafsäle.

Die Krankenstuben befinden sich neben den Wohnungen der beiden Schulärzte, in den dem Schulhause gegenüberliegenden Oekonomiegebäuden.

Das Fürstenhaus, ein stattliches schloßähnliches Gebäude, schließt den Pfortenhof von Osten und hält in der Länge 172 Fuß. Es ist vom Kurfürsten August, Moritzen’s Nachfolger, erbaut worden, um bei seinem öftern Aufenthalt hier eine passende Wohnung zu haben. Gegenwärtig dient es, mit Ausnahme der sogenannten Commissionszimmer, die seit 1821 zur Aufnahme von Mitgliedern hoher vorgesetzter Behörden als königlicher Commissarien bestimmt und deshalb stattlich decorirt und möblirt sind, einigen Lehrern und andern Beamten zur Wohnung. Hinter diesen Gebäuden sind die Gärten. In einem der Schulgärten befindet sich der Spielplatz der Alumnen, welche hier auch eine Turnanstalt und mehrere Kegelbahnen haben.

In einem andern Garten erstreckt sich auf 50 Fuß Länge eine kleine Kirche aus Quadern, die im edelsten byzantinischen Rundstyl erbaut ist. Ihr Schiff hat zwei Kreuzgewölbe, die zu beiden Seiten von drei gleichfalls dreifachen und mit herrlichen Capitälern gezierten Säulenbündeln getragen werden. Wahrscheinlich hat dieses interessante Gebäude, dessen Erbauung – wie Puttrich andeutet – in die Zeit von 1136 bis 40 fallen mag, den Aebten als Privatcapelle gedient.

Ja: die Pforte hat einst Aebte gehabt! Wie es jetzt durch Rectoren regiert wird, so ward es einst von mächtigen Obern beherrscht, die sogar das Recht über Leben und Tod hatten. Pforta war früher ein Kloster.

Mit seiner Gründung verhält es sich folgendermaßen:

In der Landschaft Pleißen, im heutigen Altenburgischen, lebte zu Anfange des zwölften Jahrhunderts ein reich begüterter Graf, Namens Bruno. Der hatte in seinen alten Tagen das Unglück, seinen einzigen Sohn Edwin auf der Jagd durch einen wüthenden Eber zu verlieren. Dieser harte Schlag beugte ihn gewaltig und alles Weltliche verlor bei ihm fortan seinen Werth. Um seine beträchtlichen Güter so fromm als möglich anzulegen, gründete er 1127 zu Schmölln im Altenburgischen ein Nonnenkloster, das er überaus reichlich ausstattete. Demungeachtet wollte seine Stiftung nicht gedeihen; denn die Himmelsbräute führten ein so weltliches Leben, daß er sich endlich genöthigt sah, sie mit schwarzen Benediktinern zu vertauschen. Diese frommen Väter trieben es aber leider fast noch [254] schlimmer, als es die leichtfertigen Nonnen gethan. Graf Bruno sah mit Schmerz, wie seine ihm so theure Anstalt immer mehr verfiel, und noch auf seinem Sterbebette empfahl er auf das Dringendste seinem Vetter, dem Bischof Udo I. von Naumburg, für das Kloster zu sorgen. Dieser übergab denn auch im Jahre 1132 die Schmöllner Stiftung den damals in besonderem Geruch der Heiligkeit stehenden Cisterziensermönchen, welche er aus Walkenried am Harz berufen. Aber auch diese brachten dem Kloster keine bessere Zeit, trotzdem sie ein sehr „geistliches“ Leben führten. Sie selbst wurden von den umwohnenden Slaven je länger, je mehr geplagt, bis sie endlich in ihrer Noth nach Naumburg zu Udo I. flohen, der ihnen denn auch erlaubte, sich eine Freistatt aufzusuchen. Sie siedelten sich demnach bei Kösen an. Doch da sie hier wegen der zu nahen Heerstraße sich nicht recht sicher fühlten, so suchten sie nach einer „lieben guten, aber abgelegenen Stelle“ und wählten den Punkt, wo das heutige Pforta steht. Diese Wahl macht ihrem Geschmack alle Ehre!

Der Convent erhielt nun gegen Abtretung seiner Schmöllner Güter an den Bischof von Naumburg ungefähr 50 Hufen urbaren Landes, die angrenzenden Waldungen und andere Benefizien.

Dies Alles erhielt seine Bestätigung durch Papst Innocenz II. im Jahre 1137 und durch Kaiser Konrad III. im Jahre 1140.

Das neue Kloster erhielt im Laufe der Zeit so ansehnliche Schenkungen, namentlich an liegenden Gründen, daß es – wie ein alter Chronikenschreiber sich ausdrückt – „fast eine Grafschaft worden.“ Selbst die mehr denn sechs Meilen entfernten Orte Gebesee, Behra und Heutschleben in Thüringen gehörten zu seinen Besitzungen.

Was seinen Namen betrifft, so haben ihn Einige von der Lage am Kösener Engpasse abgeleitet: „Porta Thuringiae“ wie „Porta Westfalica“ u. dgl. Andere hingegen geben ihm die stolze Deutung Himmelspforte und nehmen hierbei Bezug auf einen Indulgenzbrief des Bischofs Rupert von Magdeburg vom Jahre 1266, in welchem es unter anderm heißt: „Ad structuram monasterii Porta, in honorem ipsius portae coeli laudabiliter inchoatam.“ (Zum Bau des Klosters Pforta, der zur Ehre der Himmelspforte selbst glorreich begonnen ist). –

Dem sei, wie ihm wolle: soviel ist gewiß, daß wenigstens die frommen Väter ein Leben wie im Himmel geführt. Ja, sie hatten es in ihrer „lieben, guten und abgelegenen“ Pforte überaus gut, bis endlich die Reformation auch ihrem süßen Farniente ein Ende machte und sie nöthigte, ihre behaglichen Zellen zu verlassen.

Herzog Moritz von Sachsen – später Kurfürst – verwandelte dann – 1543 – die Abtei, indem er gleichzeitig ihre Besitzungen vermehrte, in eine höhere Schul- und Erziehungsanstalt.[1]

Am 1. November des eben gedachten Jahres erfolgte die feierliche Einweihung und Eröffnung des neuen Instituts, an welchem Tage der erste Alumnus, Namens Nikolas Lutze aus Kindelbrück, aufgenommen wurde – noch jetzt ein Festtag für die Anstalt, der jährlich gefeiert wird.

Gegenwärtig ist die höchste Zahl der eigentlichen Alumnen auf 180 festgesetzt. Unter diesen haben 140 völlige Freistellen. – 20 alte Koststellen zahlen jährlich „25 Meißner Gülden“ und 20 neue fundirte Koststellen jährlich 80 Thaler. – Endlich sind noch 20 Stellen für „Extraneer“ vorhanden, das heißt für Kostgänger, welche jeder der sechs ersten ordentlichen Lehrer – aber der Einzelne nicht über sechs – in sein Haus anzunehmen berechtigt ist. Die Zahl der Extraneer[2] darf gesetzlich nicht über 20 sein, so daß 200 die höchste Zahl sämmtlicher Schüler ist. Diese sind in 5 Classen eingetheilt: Prima, Ober- und Unter-Secunda, Ober- und Unter-Tertia.

Die Alumnen wohnen im Schulhause. Ihre Zimmer – 12 an der Zahl – sind geräumig und freundlich und faßt ein jedes 12 bis 20 Schüler. Diese sind an einzelne Tische vertheilt und zwar so, daß an jedem Tische ein Primaner als „Obergesell“ präsidirt. Derselbe hat aus den untern Classen einen oder zwei „Untergesellen“, die er überwacht und in der „Lesestunde“ unterrichtet. Ein Secundaner ist sein „Mittelgesell.“ Die Aufsicht über die ganze Stubengenossenschaft aber liegt dem ältesten Primaner als „Inspector“ ob.

Je zwei Stuben haben einen Schlafsaal. Im Sommersemester wird halb fünf, im Winter-Semester aber eine halbe Stunde später aufgestanden.

Bei Tische führt der als Inspector hebdomadarius fungirende Lehrer die Aufsicht. Jede Mahlzeit beginnt mit einem von einem Primaner – der Wocheninspector ist – gesprochenen Gebet, worauf vom ganzen Cötus das Gloria angestimmt wird, und schließt auf ein vom Hebdomadarius mit der Klingel gegebenes Zeichen, worauf wieder ein Gebet und zum Schluß der Gesang eines Liederverses folgt. Der Speisesaal, derselbe wie in der Klosterzeit, ist 85 Fuß lang und 26 Fuß breit. In diesem ansehnlichen und hübsch decorirten Cönakel sitzen die Alumnen in zwei langen Reihen an 14 Tafeln. An jeder Tafel besorgen die beiden obersten Primaner das Vorlegen und Austheilen der Speisen, des Weins u. s. w.

Ja, die Portenser speisen vortrefflich! Daß dies schon früher anerkannt worden, geht u. A. auch aus den „Briefen eines wandernden Helvetiers“ hervor, der im Jahre 1800 die Pforte besucht. Es heißt darin in Bezug hierauf: „Die Alumnen hatten in einem Monat 1520 Pfd. Rindfleisch, 3,250 Pfund Kalbfleisch, 4560 Pfd. Brot, 9000 Kannen Bier und 4 Eimer Wein erhalten.“

Aber die Portenser studiren auch viel! Bald sind es die Sprachen – lateinisch, griechisch, deutsch, französisch, hebräisch –; bald der wissenschaftliche Unterricht in der Religion, der Mathematik, Geographie und Geschichte, der Physik, der deutschen Literatur und pliilosophischen Propädeutik; bald die Künste des Schreibens, Zeichnens, Tanzens, der Musik und Gymnastik – was ihre Thätigkeit in Anspruch nimmt. In ihrem Lehrplane tritt das classische Element entschieden hervor, indem dem lateinischen Sprachunterricht in beiden Tertien 14 Stunden, in den beiden Secunden 12, in Prima 10 Stunden, dem Griechischen in den drei untern Klassen 5, in beiden obern 6 Stunden gewidmet sind. Hierzu kommen die täglichen „Lesestunden“ der Obergesellen mit den Untergesellen, worin letztere in der lateinischen und griechischen Grammatik, im Uebersetzen, in Exercitien und der lateinischen Verskunst[3] hauptsächlich geübt werden. Um bei so vielen Lectionen Zeit zu gewinnen, die jugendliche Kraft zu jeder Art von freier Geistesthätigkeit geschickt zu machen, hat man die im vorigen Jahrhundert erfundenen „Ausschlafetage“ beibehalten, d. h.: noch immer fällt in jeder Woche an einem der vollen Lectionstage der gesammte Unterricht aus, und Lehrer und Schüler behalten den ganzen Tag zu ihrem Privatstudium.

„In keiner Schule wird vielleicht weniger docirt und mehr gearbeitet und corrigirt, als in dieser,“ – sagt der Rector Kirchner in einem seiner Programme. –

Nach §. 22. der Schulgesetze darf kein Schüler – abgesehen von gesetzlichen Spaziergängen der Primaner und Extraneer, sich aus den Schulmauern ohne gesetzliche Erlaubniß entfernen, welche dem Hebdomadar zu übergeben ist, bei dem sich auch jeder Zurückkehrende sofort persönlich zu melden hat. Auch darf kein Alumnus, außer in den Stunden, wo schulgartenfrei ist, ohne Wissen und Willen des Hebdomadars das Schulhaus verlassen. Schon dieser Paragraph läßt ahnen, was für ein Regiment hier herrscht: das Regiment der Strenge.

„Die gebietende Stimme eines Obergesellen war hinlänglich, um augenblicklich die lautbewegte Menge zum Schweigen zu bringen, und – wie auf ein militairisches Commandowort – stand in wenig Minuten das ganze Heer, den Lehrer erwartend, in Reih’ und Glied.“

So schildert der gelehrte Professor Dr. Schmidt die Zucht, wie er sie im vorigen Jahrhundert als Alumnus hier kennen gelernt. – Und noch heute ist die Zucht in Pforte eine klösterliche. Bei alledem haben die Alumnen fast durchweg ein frisches, heiteres Aussehen und zeichnen sich durch eine gewisse Feinheit ihres Benehmens vortheilhaft aus. Die artige Willfährigkeit, mit der sie den Besuchern ihrer „alma mater“ als Cicerone dienen, thut den Fremden besonders wohl.

Alfred war über unsern jugendlichen Cicerone förmlich entzückt. Und in der That war dieser blühende Jüngling für das Amt eines Führers ganz besonders geeignet. Er war ein renommirter Obergesell.

[255] Auf die Frage des Engländers, ob der Unterschied der Pulte in den Schülerwohnungen eine Bedeutung habe, antwortete er:

„Allerdings; denn während die Untergesellen, so wie die Lichtputzer, das sind „untere Mittelgesellen“ – sich mit einem Kasten in den Bücherregalen begnügen müssen, darf der eigentliche Mittelgesell schon ein Stehpult haben.“

„Und Sie?“

„Ich habe das Vorrecht eines Sitzpultes.“ –

[262] Unser junger Begleiter war auch sonst wohl orientirt. So erzählte er uns ausführlich, wie die Pforte am 6. November 1839 die Säcularfeier der vor hundert Jahren unter dem Rector Freytag geschehenen Aufnahme ihres berühmten Zöglings, des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock eben so sinnig als glänzend begangen. Unter Anderem hatte man neben der lorbeerumkränzten Büste des Dichters die von Klopstock selbst unter dem 20. März 1800 der Anstalt geschenkte Prachtausgabe seines Messias aufgestellt, desgleichen einen Zweig der Linde über Klopstock’s Grabe zu Ottensen, der von einem ehemaligen Portenser, dem bekannten Professor und Hofrath Dr. Friedrich Thiersch gepflückt und mit einer entsprechenden Votivschrift hierher gesandt worden war.

Der Brief, welchen Klopstock an den damaligen Rector Heimbach gerichtet, lautet vollständig folgendermaßen:

„Die Erinnerung, in der Pforte gewesen zu sein, macht mir auch deswegen nicht selten Vergnügen, weil ich dort den Plan zu dem Messias beinahe ganz vollendet habe. Wie sehr ich mich in diesen Plan vertiefte, können Sie daraus sehen, daß die Stelle vom Anfange des neunzehnten Gesanges bis zu dem Verse, der mit „um Gnade!“ endigt, ein Traum war, der wahrscheinlich durch mein anhaltendes Nachdenken entstand. Wäre ich Maler gewesen, so hätte ich mein halbes Leben damit zugebracht, Eva, die äußerst schön und erhaben war, so zu bilden, wie ich sie sahe. Das Ende des Traumes fehlet indeß in der angeführten Stelle. Es ist: Ich sah zuletzt mit Eva nach dem Richter in die Höhe, mit Ehrfurcht und langsam erhobenem Gesicht, erblickte sehr glänzende Füße und erwachte schnell.

„Sie empfangen hierbei die große Ausgabe des Messias, die Herrn Göschen nicht wenig Ehre macht. Ich bestimme sie für die Schulbibliothek und überlasse Ihnen, bei Verschweigung meines Wunsches, einen Platz für sie zu wählen. Sollten Sie finden, daß dies irgend einen guten Einfluß auf die Alumnen haben könnte, so lassen Sie das Buch auf folgende Art in die Bibliothek bringen: Sie wählen den unter Ihren Jünglingen, welchen Sie für den besten halten, ich meine nicht nur in Beziehung auf seinen Geist, sondern auch auf seine Sittlichkeit, zu der, wie ich glaube, auch der Fleiß gehört. Bitten Sie diesen in meinem Namen, das Buch zu tragen und es dahin zu stellen, wo Sie’s ihm befehlen werden. Vielleicht mögen Sie ihm auch die wenigen zu Begleitern geben, die gleich nach ihm die besten sind. Machen Sie dies alles, wie sich von selbst versteht, nach Ihrem Gutbefinden; oder unterlassen Sie es auch ganz, und nehmen mein Andenken in aller Stille in die Schulbibliothek auf. Aber Eins, warum ich Sie bitte, werden Sie, weiß ich, gewiß nicht unterlassen. Der Conrector Stübel war mir der liebste meiner Lehrer. Er starb zu meiner Zeit. Ich verlor ihn mit tiefem Schmerze. Lassen Sie von einem ihrer dankbaren Alumnen irgend etwas, das der Frühling zuerst gegeben hat, junge Zweige oder Blüthenknospen, oder Blumen – mit leiser Nennung meines Namens auf sein Grab streuen.“ –

Wie sich von selbst versteht, veranstaltete Heimbach nun eine Schulfeier. Dieselbe fand gerade am ersten Osterfeiertage statt. Zuerst zogen Lehrer und Schüler in die Kirche und schlossen einen Kreis um die Gruft, in der Klopstock’s geliebter Lehrer ruht. Ein Alumnus – Kütterer[4] war sein Name – streuete frische Lenzblumen auf das Grab, dabei leise und bewegt den Namen des großen Dichters aussprechend. Dann stimmte der Sängerchor das Klopstock’sche „Auferstehn, ja auferstehn wirst Du etc.“ an, dem eine Ode aus dem Messias folgte. Aus der Kirche bewegte sich der Zug nach der Schulbibliothek, wo bereits ein kleiner Altar, mit Immergrün umwunden und mit Blumen umstreut, errichtet worden war. Als man die Messiade auf diesen Altar niederlegte, wand sich ein Lorbeerzweig über dieselbe und es erklang eine sanfte Musik. Dann hielt Heimbach die Festrede, in welcher es unter Anderm heißt:

„Mit dem tiefgefühlten Entzücken einer glücklichen Mutter empfängt die Pforte dieses heilige Geschenk des ersten ihrer Söhne, der längst ihr geheimer Stolz war. Sie beschied sich gern, daß sie auf dieses unsterbliche Werk wenig Anspruch machen dürfe; den hohen himmlischen Geist, der in ihm wohnt, hat keine Menschenschule gegeben. Aber wohl wußte sie, daß es in ihrem Schooß empfangen war, und sagte sich oft mit demüthiger Freude, daß sie es gewesen, die Klopstock’s Geist zu dem erhabenen Gedanken, den Messias zu singen, geweckt und mit der ätherischen Kost griechischer und römischer Kunst genährt habe. Dankbar legt sie das Geschenk der Weihe in dem kleinen Heiligthume ihrer Musen nieder, auf daß es jetzt und künftig seine heiligen Flammen in des Jünglings Herz ströme. Ueber den Platz, welcher ihm als Werk der Kunst gebührt, hat längst Vaterland und Ausland mit einer Stimme entschieden. Aber als Gabe der achtenden Liebe Klopstock’s an die Pforte räumt diese ihm den Platz über allen ihren Schätzen ein.“ –

Bekanntlich ist Klopstock als Alumnus auch einmal in’s Carcer gekommen. Als ihm hier seine Leidensgefährten zusetzten, seinen Namen ebenfalls an die Wand zu schreiben, verweigerte er dies beharrlich und konnte durch ihr Drängen nur bewogen werden, daß er folgende Zeilen neben die Namen seiner Commilitonen setzte:

Mich schreibt die Nachwelt einst in ihre Bücher ein,
Drum soll mein Name nicht bei diesen Namen sein.“ –

[263] Johann Gottlob Fichte, der große Philosoph, vorzüglich bekannt durch seine „Reden an die deutsche Nation,“ hatte der Pforte ebenfalls als Alumnus angehört. Recipirt wurde er daselbst im Jahre 1774. Auch auf ihn ist die Anstalt stolz und das von Rechtswegen. Nicht so stolz ist sie jedoch darauf, daß auch Dr. Karl Friedrich Bahrdt ihr als Kind angehört hat. Derselbe – recipirt 1754 – wurde Prediger und Professor zu Leipzig, dann Professor zu Erfurt und Gießen, Director des Philanthropins zu Marschlins in Graubünden, General-Superintendent der Grafschaft Leiningen und zuletzt – Gastwirth auf einem Weinberge bei Halle; welches Grundstück noch heutigen Tages „Bahrdts Weinberg“ heißt. Er schrieb unter Anderem: „die neuesten Offenbarungen Gottes“ – „Glaubensbekenntniß“ – „Briefe über die Bibel im Volkston.“ Mit einem Worte: er ist der bekannte „Aufklärer.“ Ein ehemaliger Lehrer in Pforta äußert sich über ihn, wie folgt:

„Mit gerechtem Stolz würde Pforta diesen merkwürdigen Mann zu ihren Zöglingen zählen, hätte er seine großen Gaben – er besaß unter andern ein vorzügliches Rednertalent – besser angewendet.“ Bruno Bauer hingegen sagt von ihm, daß er hier seine „Marterjahre“ habe zubringen müssen.

Außerdem gehörten der Pforte als Alumnen an: Johann Gottlob SchneiderSaxo – (rec. 1762), vorzüglich berühmt durch sein großes kritisches griechisch-deutsches Wörterbuch. Professor Krug in Leipzig (rec. 1782); der bekannte Theologe Heubner in Wittenberg (rec. 1793); der Hofrath Mitscherlich (rec. 1773); der Geheime Hofrath Eichstädt in Jena (rec. 1783); Huschke (rec. 1774); der Dichter Müllner (rec. 1788); Lange (rec. 1789), war später Rector zu Pforta, woselbst er auch starb; der Hofrath Böttiger in Dresden (rec. 1772); der General-Superintendent Sonntag in Riga (rec. 1778); der General-Superintendent Röhr (rec. 1790); der Superintendent Großmann in Leipzig (rec. 1796); Friedrich Thiersch in München (rec. 1798); der Dichter von Gaudy (rec. 1815) und Andere.

Yes!“ sagte Alfred, indem er das Pfortaer Album wieder aus der Hand legte – „Pforta ist eine ganz comfortable Pflegstätte der Wissenschaft, ein wahres Eldorado für Philologen; aber ein Eton – ist es nicht! Während aus unserem Eton Helden, Staatsmänner und parlamentarische Größen hervorgehen, finde ich hier nicht einen Namen, der –“

„Entschuldigen Sie gefälligst, daß ich Sie hier zu unterbrechen wage!“ sagte hier unter einer graziösen Verbeugung unser jugendlicher Cicerone – „aber es wird Ihnen doch nicht unbekannt sein, daß auch der Minister-Präsident Sr. Majestät des Königs, Herr Freiherr v. Manteuffel, Alumnus hier in Pforta gewesen?!“

Pforta hat gegenwärtig zwölf Lehrer, acht ordentliche mit dem Prädicat Professor, und vier Adjuncten. Unter ihnen sind zwei Geistliche, einer der Ordinarien als Pfarrer und „geistlicher Inspector,“ und einer als Diaconus. Mit Ausnahme des Rectors und geistlichen Inspectors haben alle Lehrer abwechselnd eine Woche lang die specielle Aufsicht auf den Cötus der Alumnen, während welcher Zeit sie ein für den Hebdomadarius zwischen den Schülerstuben befindliches Logis bewohnen. Außerdem sind Lehrer für Musik, Schreiben, Zeichnen, Tanz und Turnen angestellt.

Jeder Lehrer hat einen Famulus, d. h. einen Primaner, der ihm „gewisse Ehrendienste verrichtet und ihm persönlich näher steht.“ Die drei Famuli communes (mit besondern Freistellen begabt) haben wöchentlich wechselnd gewisse Ehrendienste für den gesammten Cötus, z. B. das Anfertigen der Tisch- und Kirchenzettel und Aufträge des Rectors auszurichten. Zwei Präcentoren stehen dem Sängerchor der Alumnen, ein musikfertiger Schüler (als Organist mit einer eigenen Stelle begabt) dem Orgelspiele in der Kirche wie im Betsaale vor.

Unter den jetzigen Gelehrten befinden sich die in der Gelehrtenwelt so rühmlich bekannten Professoren: Koberstein, Steinhardt und Keil. Die Stelle eines geistlichen Inspectors bekleidet jetzt der durch seine interessante Schrift „Ueber christliche Gymnasien“ auch in weiteren Kreisen bekannte Professor Niese. Der ausgezeichnete Mathematiker, Professor Jacobi I., ist im vorigen Jahre mit Tode abgegangen.

Seinen berühmtesten Lehrer aber hat Pforta in der Person des am 17. Sept. 1834 verstorbenen Rectors Karl David Ilgen gehabt. Dieser Schulfürst fast ohne Gleichen war geboren am 26. Februar 1763 zu Sena bei Eckartsberga in Thüringen, wo sein Vater als Schulmeister mit kaum hundert Thalern jährlichen Einkommens sich abmühte. Nachdem er einige Jahre das Dom-Gymnasium zu Naumburg besucht, bezog Ilgen 1783 mit sieben Thalern, das war Alles, was ihm seine armen Eltern geben konnten, die Universität Leipzig, wo er sich mit großer Energie den theologischen und philologischen, besonders den orientalischen Studien widmete. Gleichzeitig ertheilte er Privatunterricht und der große Gottfried Hermann war einer seiner Schüler. 1789 wurde er Rector des städtischen Gymnasiums zu Naumburg und 1794, als Eichhorns Nachfolger, Professor in Jena. Hier trat er mit Paulus, Schütz, Hufeland, Schiller, Fichte, Schelling, Niethammer, Eichstädt, den Gebrüdern Humboldt, Schlegel u. A. in nähere Verbindung und lernte auch in dem nahen Weimar Wieland, Herder und Goethe kennen. Das Rectorat in Pforta trat er den 31. Mai 1802 an. Wie groß dieser ausgezeichnete Mann auch als Gelehrter gewesen sein mag: als Pädagog war er noch größer. Er hatte im reichen Maße Blick und Geschick und seine Consequenz ist in Pforta sprüchwörtlich geworden. Bei allem Wohlwollen für seine Schüler verleugnete er doch nie die Würde eines Gebieters und die Energie seines Charakters. Er wußte nicht blos den Alumnen, sondern auch den Lehrern und den Vorgesetzten zu imponiren, wie selten einer. Hiermit verband er eine seltene collegialische Treue für seine Mitarbeiter und eine aufopfernde Liebe zu seinem Amte. „Einfach und antik in seinen Sitten und Gewohnheiten, häuslich und arbeitsam in seiner Lebensweise, liebte er im traulichen Zirkel heitere Geselligkeit und fröhlichen Scherz beim Mahle“ – sagte Kirchner unter Anderem von ihm.

Mit welcher Pietät Ilgen’s ehemalige Schüler seiner gedenken, documentirte sich besonders bei der Säcularfeier der Anstalt – den 20. bis 23. Mai 1843. Von ihm sprach man mit einer wahren Begeisterung, und wie deprimirend der konsequente Ernst seiner Maßregeln einst die Meisten auch berührt haben mochte: den „großen Rector“ priesen Alle.

Ueberhaupt bewahren die meisten Portenser ihrer alma mater eine treue Anhänglichkeit.

Dagegen urtheilt ein Mitglied des Frankfurter Parlaments, das von 1826–29 der Pforte als Alumnus angehört hat, in einer Schrift so:

„Gebetet wird in Pforta viel, nicht blos Sonntags, so oft Kirche ist, sondern auch alltäglich früh und Abends und bei jeder Mahlzeit vor und nach Tische. So ist die alte katholische Lehre vom Opus operatum in dieser protestantischen und noch dazu sorgfältig mit Geistlichen streng orthodoxer Richtung versehenen Anstalt lebendig geblieben! Energische Naturen unter den Portensern schlagen häufig, sobald sie der Zwangsjacke entledigt sind, aus der Universität in die extremste Ungebundenheit um.“

Und von Gaudy sagt in seiner „Schüler-Liebe“: „Ich war nach Alt-Prima hinaufgerückt und dem zu Folge aller Privilegien der Portenser Obern theilhaftig geworden. An meinem Arbeitstisch und unter meiner speciellen Tutel saßen ein Mittel- und ein Untergesell, welchen letztern wir Beide alternirend unterwiesen, wie er gebotene lateinische Verse drechseln und verbotenen Kaffee kochen müsse, den wir pro poena ein Capitel, eine Heroide nach der andern memoriren ließen, und der als salarium unsers liebevollen Unterrichts die Messer putzte, Wasser vom Brunnen und Butterbrote vom Waschmann, dem Spender aller Consumtibilien, herbei schleifte. Die Abzeichen meines Standes, als Emancipirter vom Frohndienst des Pennalismus, das kleine Mützchen, welches schräg auf das Ohr gedrückt wurde, und das bei summarischem Verfahren gegen rebellische Unter-Tertianer recht praktische Stöckchen, führte ich schon längst; ich überkletterte per nefas die Mauer und eilte im gestreckten Trabe nach dem nahe gelegenen Kösen, um in demselben ganze Kuchenschilde weniger vor den Magen zu halten, als vielmehr sie als Trutzwaffe gegen den ewig regen Erbfeind Hunger in denselben zu versenken. Dann aber ließ ich mich in Folge dieses Prellens, wie der technische Ausdruck für das Ausschwärmen ohne Zeidel lautete, mit stolzem Selbstgefühl in das Carcer sperren, in jenes Claustrum, welches ja auch Klopstock einstmals bewohnt.“

Nach der alten Schulordnung aus sächsischer Zeit wird den Lehrern zur Pflicht gemacht, „nicht zu nachsichtig zu sein; jedoch sich bei der Bestrafung eines gerechten und milden Ernstes zu befleißigen. Die Halsstarrigen und Lüderlichen sollen sie mit Schlägen züchtigen.“ Natürlich ist diese Art der Bestrafung – die „Baculation“ – weggefallen. Gegenwärtig straft man mit einem Beweis, [264] mit Strafarbeiten, Ausschließung aus dem Schulgarten, mit Carcer, mit Degradation oder aber – bei wichtigen Vergehen – mit Exclusion. Nachdem der Angeklagte vor der Schulsynode mit seiner Vertheidigung gehört ist und das Lehrercollegium sich berathen hat, wird ihm das Erkenntniß durch den Rector sofort publicirt. Wenn aber die Beschlußuahme des Collegii auf Exclusion geht, so wird dieselbe nicht sogleich mitgetheilt, sondern „procrastinirt“ und in einer spätern Session einer nochmaligen Berathung unterworfen, deren Resultat dann entscheidend ist.

Seit den letzten vier Decennien sind Disciplinarvorfälle, die eine exlusio cum infamia zur Folge gehabt, immer weniger geworden. Wohl nicht mit Unrecht schreibt man dies hauptsächlich dem eigenthümlichen Institut der „Tutoren“ zu, welches durch die Schulconstitution von 1811 gesetzlich angeordnet ist. Jeder Alumnus wird nämlich bei seinem Eintritt in die Anstalt einem der zwölf ordentlichen Lehrer als „Empfohlener“ besonders anvertraut, so daß derselbe bei ihm als Tutor Vaterstelle vertritt. Der Tutor bekümmert sich nicht allein um sein leibliches Wohl und seine Gesundheit, sorgt für seine Pflege in Krankheitsfällen, sondern beachtet hauptsächlich auch sein geistiges, wissenschaftliches und sittliches Gedeihen. Er überwacht seinen Umgang, sieht ihn öfters bei sich und „leitet ihn durch väterlichen Rath, ernste Warnung, liebevolle Tröstung und Ermunterung.“ Auch übernimmt er die Aufsicht über seine Oekonomie, ertheilt ihm sein „Taschengeld“, führt Rechnung hierüber, welche er vierteljährlich den Eltern einschickt, und unterhält mit diesen die Korrespondenz über das ganze innere und äußere Wohl und Gedeihen des Empfohlenen.

„Können Sie öfters nach Hause reisen?“ frug Alfred unsern freundlichen Führer.

Modesto satis“ – erwiderte langsam der sonst so beredte Obergesell und zwar mit einer so diplomatischen Miene, die in ihm einen zukünftigen Metternich ahnen ließ. „Es sind nämlich an jedem der drei hohen Feste acht, sage acht Tage, und von Johannis ab fünf Wochen Schulferien. Aber in den drei Festferien dürfen wir entweder nur einmal die ganze, oder jedesmal nur die halbe Zeit verreisen.“

„Und Ihre Erholungen außerhalb der Ferienzeit?“

„Nun wir machen – ja, wir machen bisweilen Spaziergänge im Freien unter Anführung der Herren Lehrer, wir schwimmen unter ihrer und der Schulärzte Aufsicht, wir laufen Eis auf der Pfortenwiese, wir fahren auf kleinen Handschlitten dort den steilen Berg hinunter, wir – geben theatralische Vorstellungen!“

God dam! Sie –: die Klosterschüler?!“

„Und was für classische Stücke gehen hier über die Bretter, so die Welt bedeuten! O, hätten Sie namentlich der Aufführung der Antigone hier beiwohnen können! Alles wie in Berlin: sogar die antiken Costüms hatte uns die dortige General-Intendantur der königlichen Schauspiele hochherzig überlassen! – Auch kommen hier Tragödien von Shakespeare zur Darstellung.“

„Und die Damenrollen?“

„Die werden solchen Secundanerchen zugetheilt, die noch im Besitz ihres Discantes sich befinden. Beim Fastnachtsballe hingegen tanzen wir mit wirklichen Damen. O – das ist ein reizender Ball!“

„Nach alledem sehnen Sie sich wohl gar nicht aus Pforta weg?“

„Ich liebe die alma mater, wie jeder treue Portenser, aufrichtig und mit dankbarer Verehrung; aber –, ja froh wäre ich doch, wenn ich erst meine Valediction hinter mir hätte.“

Die Sitte der Valedictionen der zur Universität abgehenden Primaner stammt aus den ältesten Zeiten der Pforte. Eine solche geschriebene Valediction, in der Regel acht bis zehn Bogen stark – vor einigen Jahren hat ein Abiturient sogar eine von achtzig Bogen Folio geliefert – enthält eine wissenschaftliche Abhandlung, meist in lateinischer Sprache und am Schlusse die „gratiarum actiones,“ Danksagungen gegen Gott, gegen den König, den Rector, das Lehrerkollegium, den Tutor und einzelne Lehrer, endlich an die Pforte und an die Freunde, theils in Prosa, theils in Versen, in verschiedenen Sprachen. Sie wird als Denkmal geistiger Fertigkeit in der Bibliothek aufbewahrt. Am Valedictionstage selbst betreten die Abiturienten, vom Letzten an, der Reihe nach das Katheder und sprechen ihre Abschiedsworte, während von ihren Untergesellen jedesmal die Glocke geläutet wird. Der nunmehrige Primus Portensia tritt als „Respondent“ ihnen dann gegenüber und spricht im Namen des Cötus das Lebewohl – gewöhnlich in Versen – aus. Rührend ist der Abschied der angehenden Studiosen nach Tische im Schulgarten vom ganzen Cötus, welcher dieselben in langen Reihen bis an’s Thor begleitet.

Die Gesammteinkünfte der Pforte betragen jährlich 44,000 Thlr. Ihre Quellen bestehen größtentheils in den Pachtgeldern aus ihren Gütern: dem Schulamte Pforta nebst den eine Stunde von hier entfernten Vorwerken Frankenau und Kukulau und dem Klostergute Memleben (mit dem Vorwerke Hechendorf) in der goldenen Aue. Memleben – das alte „Minnelebo“ – war ein Lieblingsaufenthalt der Ottonen: Heinrich’s I. und Otto’s I. Beide Kaiser sind hier gestorben und beide liegen auch hier begraben. Die Kaiserin Mathilde, Gemahlin Heinrich des Finklers, gründete hier im Jahre 975 ein Benedictiner-Nonnenkloster. Otto II. wandelte es in ein Mönchskloster um. Nach der Reformation wurde es säcularisirt und vom Kurfürst Moritz der Schulpforte geschenkt. Im Ganzen hat die Pforte gegenwärtig einen Grundbesitz von 3300 Morgen Ackerland, 1000 Morgen Wiesen, 600 Morgen Hutungen, 85 Morgen Garten- und 15 Morgen Weinland. Dazu kommen Morgen Waldungen, welche von einem Oberförster und vier Unterförstern verwaltet werden.

Pforta zählt jetzt nahe an 500 Bewohner. –

Nachdem wir unserm liebenswürdigen Cicerone herzlich für seine Güte gedankt, besuchten wir einige Lehrer und verließen dann – wie ein neuerer Tourist diesen berühmten Schulstaat nennt – „die lehrstolze Landesschule, diese Perle der preußischen Weisheitsanstalten.“ Wir bekamen diesmal die Klopstocksquelle nicht zu Gesicht, indem wir zu unserem Rückwege nach Almrich nicht das „Pfortenholz“, sondern die längs der herrlichen „Pfortenwiese“ sich hinziehende doppelte Pappelallee gewählt hatten. Trotzdem wir rüstig zuschritten (denn wir wollten in dem genannten Dorfe den dort so heimischen Dichter Hoffmann von Fallersleben treffen), blickten wir doch oft noch nach dem spitzigen schwarzen Kirchthurm Pforta’s zurück.

„Eine große, merkwürdige Anstalt!“ unterbrach Alfred endlich das Schweigen.

Dann frug er sinnend: „Wie lautete der Denkspruch, den W. Hage bei Dir niedergelegt?“

Und als ich geantwortet: „Glaube wohl – doch ohne Denkfaulheit; Denkfreiheit wohl – doch ohne Anmaßung; Form wohl – doch nicht ohne Geist; Geist viel – doch nicht ohne Form!“

nickte er, leise sein Yes murmelnd. Noch einmal den Blick auf Pforta werfend, rief er dann laut:

„Möchten doch alle Klöster eine Metamorphose erfahren, wie es mit dieser ehemaligen Abtei der Fall gewesen! Der Schul-Pforte aber Heil und Segen! Sie wachse uns blühe –: Pforta lebe für immer!“

Und ich stimmte ein mit einem herzlichen Fiat!



  1. Zu gleicher Zeit verwandelte er ein Kloster zu Meißen und eins zu Merseburg in solche „Fürstenschulen.“ Die zu Merseburg wurde späterhin nach Grimma verlegt. –
    Anmerk. des Verf.
  2. Als ein solcher Pensionär lebt gegenwärtig der griechische Fürst Suzzo in Pforta. Da jedoch nur Jünglinge, die der evangelischen Consession angehören, als Schüler ausgenommen werden, so besucht er die Lectionen nur als „Hospes.“
    Anmerk. des Verf.
  3. Nach einer „genauen“ Zahlung sind im Michaelis-Examen 1810 an griechischen, lateinischen und deutschen Versen 23,980 und vom Jahre 1543 bis 1813 – nach Prof. Dr. Schmidt’s Berechnung – 10,800,000 Verse geliefert worden!! –
    Anmerk. des Verf.
  4. Derselbe ist als Conrector an der Kreuzschule in Dresden den 24. März 1814 gestorben. –
    Anmerk. des Verf.