Die Philosophie dichterischen Schaffens

Textdaten
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Autor: Edgar Allan Poe
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Titel: Die Philosophie dichterischen Schaffens
Untertitel: Analyse des „Raben“
aus: Lieder- und Balladenbuch amerikanischer und englischer Dichter der Gegenwart, Seite 30-47
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Hoffmann & Campe
Drucker: Jacob & Holzhausen
Erscheinungsort: Hamburg
Übersetzer: Adolf Strodtmann
Originaltitel: The Philosophy of Composition
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google und Commons
Kurzbeschreibung:
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[30]
Die Philosophie dichterischen Schaffens.
(Analyse des „Raben.“)

Charles Dickens sagt in einem mir vorliegenden Billett, anspielend auf eine Analyse, die ich einst von dem Mechanismus seines „Barnaby Rudge“ gab: „Ist Ihnen beiläufig bekannt, dass Godwin seinen „Caleb Williams“ rückwärts schrieb? Er verstrickte zuerst seinen Helden in ein Netz von Schwierigkeiten, die den zweiten Band bilden, und dann erst sah er sich nach einer genügenden Erklärungsweise für das Geschehene um.“

Ich kann mir nicht denken, dass Godwin genau dies Verfahren einschlug (und in der That stimmt auch sein eigenes Bekenntnis über diesen Punkt nicht ganz mit der Ansicht des Herrn Dickens überein); aber der Verfasser von „Caleb Williams“ war ein viel zu kunstverständiger Mann, um nicht den Vortheil einzusehn, der sich aus einem mindestens sehr ähnlichen Verfahren herleiten lässt. Nichts liegt mehr auf der Hand, als dass jede poetische Verwicklung, die ihres Namens würdig ist, bis zu ihrer schließlichen Lösung ausgearbeitet sein muss, bevor man sie zu Papier zu bringen versucht. Nur wenn man den Ausgang beständig im Auge hat, kann man einer Verwicklung den unerlässlichen Stempel der Folgerichtigkeit [31] und der Begründung aufprägen, indem man alle Vorfälle, und namentlich den Ton des Ganzen, der Entwicklung des dichterischen Planes dienstbar macht.

Es herrscht, wie mir scheint, ein gründlicher Irrthum in der Art, wie man gewöhnlich eine Roman-Erzählung zu Stande bringt. Entweder bietet Einem die Geschichte ein Thema – oder ein Tagesereignis giebt dasselbe an die Hand – oder bestenfalls sucht der Verfasser eine Reihe spannender Vorfälle zu ersinnen, die bloß die Grundlage seiner Erzählung bilden, – wobei er dann in der Regel mit Schilderungen, Gesprächen oder eigener Reflexion die Lücken der wirklichen oder erfundenen Handlung ausfüllt, die sich von Seite zu Seite bemerklich machen.

Ich beginne lieber damit, die Wirkung in Betracht zu ziehn. Indem ich immer die Anforderung der Originalität vor Augen behalte (denn Derjenige betrügt sich selbst, der auf einen so einleuchtenden und so leicht erreichbaren Quell des Interesses verzichten will), frage ich mich zum Ersten: „Welche von den unzähligen Wirkungen oder Eindrücken, für die Herz, Geist oder Seele empfänglich sind, soll ich für den vorliegenden Fall auswählen?“ Nachdem ich mich erstens für eine Novelle, und zweitens für eine recht lebhafte Wirkung entschieden, überlege ich, ob ich letztere besser durch die Handlung oder durch den Ton – ob durch gewöhnliche Handlung und besonderen Ton, oder durch das Umgekehrte, oder durch Eigenthümlichkeit der Handlung wie des Tones – erreichen kann, und blicke dann nach solchen Kombinationen der Handlung oder des Tones umher (oder vielmehr in mich hinein), die am geeignetesten sind, mir die gewünschte Wirkung herbeiführen zu helfen.

Ich habe mir oftmals gedacht, einen wie interessanten Journalaufsatz ein Schriftsteller schreiben könnte, der sich vornähme, – d. h. der es vermöchte, – Schritt vor Schritt die Geistesprocesse zu schildern, durch welche irgend eine seiner [32] Produktionen ihren höchsten Grad von Vollendung erreichte. Wesshalb die Welt nie einen solchen Aufsatz zu Gesichte bekam, wüsste ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen; vielleicht war indess die schriftstellerische Eitelkeit mehr als irgend ein anderer Grund bei dieser Unterlassung im Spiele. Die meisten Schriftsteller – besonders die Dichter – suchen uns lieber einzureden, dass sie durch eine Art edlen Wahnsinns – eine intuitive Verzückung – ihre Werke erschaffen, und sie würden ganz gewiss davor schaudern, das Publikum einen Blick hinter die Koulissen thun zu lassen, einen Blick auf den unreifen Zustand der mühevoll ausgearbeiteten, hin und her schweifenden Gedanken, – auf den Umstand, dass die wahre Absicht ihnen erst im letzten Augenblicke deutlich ward, – auf die zahllosen Gedankenblitze, die nicht zu vollständiger Reife und Klarheit gelangten, – auf die völlig gereiften Einfälle, die man verzweiflungsvoll als unbrauchbar fahren ließ, – auf die sorgsame Auswahl oder Verwerfung, – auf die Noth des Ausfeilens und der Einschiebung mancher Stellen, – mit einem Wort, auf die Trieb- und Schwungräder, – die Maschinerie des Scenenwechsels, – die Leitersprossen und Dämonsversenkungen, die Hahnenfedern, die rothe Schminke und die schwarzen Pflästerchen, welche in neunundneunzig unter hundert Fällen die Requisiten des literarischen Schauspielers sind.

Ich bin mir andrerseits wohl bewusst, dass der Fall durchaus nicht gewöhnlich ist, in welchem ein Schriftsteller sich überhaupt im Stande sieht, die Stufen, auf denen er zu seinen Resultaten gelangt ist, noch einmal zurückzuwandeln. In der Regel werden die bunt durch einander auftauchenden Gedanken in ähnlich ungeordneter Weise verfolgt und wieder vergessen.

Mir für meine Person verursacht es weder eine Abneigung der angedeuteten Art, noch die geringste Schwierigkeit, mir das stufenweise Fortschreiten irgend einer meiner Produktionen [33] ins Gedächtnis zurückzurufen; und da das Interesse einer Analyse oder Rückerschaffung, wie ich sie als wünschenswerth bezeichnet habe, ganz unabhängig von dem wirklichen oder vermeintlichen Interesse an dem analysierten Gegenstande ist, wird man es mir nicht als unziemlich auslegen, wenn ich den modus operandi schildere, durch welchen dies oder jenes meiner eigenen Werke zu Stande kam. Ich wähle den „Raben“ als die bekannteste meiner Produktionen. Es ist mein Wunsch, dem Leser klar zu machen, dass keine Zeile dieses Gedichtes dem Zufall oder einer Intuition entsprungen ist, dass das Werk Stufe nach Stufe mit der Bestimmtheit und strengen Folgerichtigkeit eines mathematischen Problems seiner Vollendung zuschritt.

Lassen wir, als irrelevant für das Gedicht an sich, den Umstand, oder sagen wir: die Nothwendigkeit, außer Acht, welche zum Ersten die Absicht veranlasste, überhaupt ein Gedicht zu schreiben, das zugleich dem volksthümlichen und dem kritisch gebildeten Geschmack entspräche.

Wir beginnen also mit dieser Absicht.

Zuvörderst kam die Frage der Ausdehnung in Betracht. Ist ein schriftstellerisches Werk zu lang, als dass man es auf einmal zu Ende lesen kann, so müssen wir nothgedrungen auf die sehr erhebliche Wirkung verzichten, welche sich aus der Einheit des Eindrucks herleiten lässt; denn falls man die Lektüre in einer zweiten Sitzung beenden muss, treten die Angelegenheiten der Welt dazwischen, und jeder Totaleindruck wird von vornherein zerstört. Da jedoch, ceteris paribus, kein Dichter auf irgend Etwas verzichten kann, das seine Absicht zu fördern vermag, so wäre nur noch zu bedenken, ob etwa in der größeren Länge irgend ein Vortheil liegt, welcher den damit verbundenen Verlust der Einheit aufwöge. Hier antworte ich sofort: Nein. Was wir ein langes Gedicht nennen, ist in Wirklichkeit nur eine Reihenfolge mehrerer [34] kurzen, – d. h. mehrerer kurzen poetischen Wirkungen. Es ist unnöthig nachzuweisen, dass ein Gedicht nur insofern ein solches ist, als es, die Seele erhebend, dieselbe intensiv erregt; und alle intensiven Erregungen sind einer physischen Nothwendigkeit zufolge von kurzer Dauer. Aus diesem Grunde ist mindestens die Hälfte des „Verlorenen Paradieses“ ihrem Wesen nach Prosa, – eine Reihenfolge poetischer Erregungen, naturgemäß mit den entsprechenden Abspannungen untermischt, – und dem Ganzen entgeht wegen seiner übergroßen Länge das höchst wichtige Element eines Kunstwerks: der Totaleindruck oder die Einheit der Wirkung.

Es scheint also einleuchtend, dass es für alle literarischen Kunstwerke, was ihre Länge betrifft, eine bestimmte Grenze giebt – die Grenze, ihre Lektüre auf einmal beenden zu können, – und dass man diese Grenze, obschon sie bei gewissen Klassen prosaischer Schöpfungen, wie „Robinson Crusoe,“ (wo keine Einheit erforderlich ist), ohne Nachtheil überschritten werden mag, bei einem Gedichte füglich nie überschreiten darf. Innerhalb dieser Grenze stehe die Länge eines Gedichts in mathematischem Verhältnis zu seinem Werthe, – mit anderen Worten: zu der Erregung oder Erhebung, – und noch anders ausgedrückt: zu dem Grade echter poetischer Wirkung, den es hervorzubringen im Stande ist; denn es liegt auf der Hand, dass die Kürze in direkter Proportion zu der Intensität der beabsichtigten Wirkung stehen muss, – und zwar mit dem einzigen Vorbehalt, dass ein gewisser Grad von Ausdehnung unbedingt nöthig ist, um überhaupt eine Wirkung hervorzubringen.

Indem ich sowohl diese Erwägungen wie jenen Grad von Erregung im Auge behielt, der mir nicht über dem Niveau des volksthümlichen, aber auch nicht unter dem Niveau des kritisch gebildeten Geschmacks zu liegen schien, fand ich sogleich die, meiner Ansicht nach, geeignete Länge für mein [35] zu schaffendes Gedicht, – eine Länge von ungefähr hundert Zeilen. In Wirklichkeit misst dasselbe hundert und acht.

Mein nächster Gedanke richtete sich auf die Wahl des Eindrucks oder der Wirkung, die hervorgebracht werden sollte; und hier will ich gleich bemerken, dass ich während der Ausarbeitung des Planes mir stets die Absicht vor Augen hielt, mein Werk allgemeiner Anerkennung würdig zu machen. Es würde mich zu weit von meinem jetzigen Thema ablenken, wollte ich hier einen Satz erörtern, den ich schon oft vertheidigt habe, und den man poetischen Leuten gar nicht erst zu beweisen braucht, – den Satz, meine ich, dass die Schönheit das einzig berechtigte Gebiet der Dichtung ist. Ein paar Worte jedoch zur Erläuterung meiner wahren Ansicht, die einige meiner Freunde arg missdeutet haben. Das zugleich intensivste, erhebendste und reinste Vergnügen entspringt, meine ich, aus der Betrachtung des Schönen. Wenn die Menschen von Schönheit sprechen, so meinen sie in der That nicht, wie man wohl annimmt, eine Eigenschaft, sondern eine Wirkung – sie reden, kurz gesagt, gerade von jener intensiven und reinen Erhebung der Seele (nicht etwa des Geistes oder des Herzens), deren ich erwähnt habe, und die man in Folge der Betrachtung „des Schönen“ erfährt. Nun bezeichne ich lediglich desshalb die Schönheit als das Gebiet der Dichtung, weil es eine einleuchtende Kunstregel ist, dass man Wirkungen aus direkten Ursachen herleiten, – dass man ein Objekt durch die geeignetsten Mittel erreichen soll, – und Niemand war noch so kurzsichtig, zu leugnen, dass die eigenthümliche Erhebung, um die es sich handelt, am leichtesten mittelst der Dichtung zu erreichen sei. Nun lässt sich das Objekt Wahrheit, oder die Befriedigung des Geistes, und das Objekt Leidenschaft, oder die Erregung des Herzens, allerdings bis zu gewissem Grade in der Poesie, aber doch viel leichter in der Prosa erreichen. In der That, die Wahrheit verlangt eine hausbackene Deutlichkeit, [36] und die Leidenschaft eine derbe Natürlichkeit (die von echter Leidenschaft Entflammten werden mich verstehen), welche durchaus jener Schönheit widerstreiten, die nach meiner festen Ansicht die Erregung oder angenehme Erhebung der Seele ist. Es folgt durchaus nicht aus irgend einem dieser Sätze, dass die Leidenschaft oder selbst die Wahrheit nicht in ein Gedicht eingeführt, und sogar mit Nutzen eingeführt werden mag – sie können ja zur Verdeutlichung dienen oder, wie Dissonanzen in der Musik, durch den Kontrast die allgemeine Wirkung verstärken – allein der echte Künstler wird immer darauf sinnen, sie erstlich dem vorherrschenden Zweck in genügender Art unterzuordnen, und sie zweitens so viel wie möglich mit jener Schönheit zu umkleiden, welche die Atmosphäre und das Wesen der Dichtung ist.

Indem ich also die Schönheit als mein Gebiet betrachtete, bezog sich meine nächste Frage auf den Ton ihrer edelsten Offenbarung – und alle Erfahrungen haben gelehrt, dass dieser Ton ein Ton der Wehmuth sei. Schönheit jeglicher Art in ihrer höchsten Entwicklung rührt unfehlbar das empfindsame Gemüth bis zu Thränen. Wehmuthvolle Trauer ist folglich der berechtigtste aller poetischen Töne.

Nachdem so die Länge, das Gebiet und der Ton festgestellt waren, schlug ich den Weg der üblichen Schlussfolgerung ein, um irgend eine künstlerische Pikanterie zu finden, die mir als Grundton bei der Konstruktion des Gedichtes dienen, – einen Zapfen, auf dem der ganze Bau sich drehen könne. Sorgfältig alle gewöhnlichen künstlerischen Wirkungen – oder richtiger: Effekte im Bühnensinne – überdenkend, konnte ich nicht umhin, sofort zu bemerken, dass keiner so allgemein angewandt worden wie der Effekt des Refrains. Die Allgemeinheit seiner Anwendung überzeugte mich genügend von seinem erheblichen Werthe und überhob mich der Nothwendigkeit, ihn einer Analyse zu unterwerfen. Ich betrachtete ihn jedoch mit Rücksicht auf seine weitere Ausbildungsfähigkeit, [37] und sah bald, dass er sich noch in einem unentwickelten Zustand befinde. Wie man sich seiner durchschnittlich bedient, ist der Refrain oder Kehrreim nicht nur auf die lyrische Strophe beschränkt, sondern sein Eindruck beruht auf der Macht der Eintönigkeit, sowohl im Klang wie im Gedanken. Das Behagen entspringt einzig aus dem Gefühl der Gleichförmigkeit, – der Wiederholung. Ich beschloss, die Wirkung zu vermannigfaltigen und dadurch zu erhöhen, indem ich im Allgemeinen der Monotonie des Klanges treu bliebe, während ich die des Gedankens stets variierte, d. h. ich nahm mir vor, beständig neue Wirkungen durch Variation der Anwendung des Refrains hervorzubringen, indem letzterer selbst meist unverändert bliebe.

Als ich hiemit im Reinen war, sann ich zunächst über die Natur meines Refrains nach. Da seine Anwendung oft variiert werden sollte, war es einleuchtend, dass der Refrain selbst kurz sein müsse; denn bei einem längeren Satze wäre die häufige Variation der Anwendung auf eine unüberwindliche Schwierigkeit gestoßen. Die Leichtigkeit der Variierung würde selbstverständlich im Verhältnis zu der Kürze des Satzes stehn. Dies brachte mich sofort auf den Gedanken, dass ein einzelnes Wort der beste Refrain sei.

Jetzt erhob sich die Frage nach dem Charakter des Wortes. Da ich mich für einen Refrain entschieden hatte, folgte daraus natürlich die Eintheilung des Gedichtes in Strophen, wobei der Refrain den Schluss jeder Strophe bilde. Dass solch ein Schluss, um kräftig zu wirken, klangvoll und von anhaltendem Nachdruck sein müsse, lag außer Zweifel; und diese Erwägungen führten mich unvermeidlich auf das lange O als den klangvollsten Vokal, in Verbindung mit R als demjenigen Konsonanten, der sich am gedehntesten aussprechen lässt.

Nachdem der Klang des Refrains solcherart festgestellt, wurde es nöthig, ein Wort zu suchen, das diesen Klang verkörpere [38] und gleichzeitig jener wehmuthvollen Trauer möglichst entspräche, die meiner Absicht nach den Ton des Gedichts ausmachen sollte. Bei derartigem Suchen hätte man ganz unmöglich das Wort: „nevermore“ („nimmermehr“) übersehn können. Es war in der That das allererste, welches sich darbot.

Das nächste Erfordernis war ein plausibler Vorwand für den beständigen Gebrauch des einen Wortes „Nimmermehr.“ Indem ich sofort die Schwierigkeit wahrnahm, einen genügend vernünftigen Grund für dessen stete Wiederholung zu ersinnen, konnte ich nicht umhin, zu bemerken, dass diese Schwierigkeit einzig aus der Annahme entsprang, das Wort werde so beständig und monoton von einem menschlichen Wesen gesprochen; – ich konnte, in der Kürze gesagt, nicht umhin, zu bemerken, dass die Schwierigkeit in der Aufgabe liege, diese Monotonie mit dem Gebrauch der Vernunft von Seiten des Geschöpfes, welches das Wort wiederhole, in Einklang zu bringen. Hiedurch ward ich also unmittelbar auf ein nicht mit Vernunft begabtes, der Sprache fähiges Geschöpf hingeführt; und sehr natürlicher Weise fiel mir zuerst ein Papagei ein, der aber sofort wieder durch einen Raben als ein gleichfalls der Sprache fähiges und ungleich mehr dem beabsichtigten Tone entsprechendes Thier verdrängt ward.

Ich war jetzt so weit in meinem Entwurf vorgeschritten, dass ich einen Raben hatte – einen Vogel von ominöser Bedeutung – der eintönig das Wort „Nimmermehr“ am Ende jeder Strophe wiederholte, in einem Gedicht von wehmuthvollem Tone, und circa hundert Zeilen lang. Da ich nun keinen Augenblick das Ziel höchster Vollendung in jedem Betracht außer Augen ließ, fragte ich mich: „Was ist von allen wehmuthvollen Gegenständen, nach der allgemeinen Ansicht der Menschen, der wehmuthvollste?“ – „Der Tod,“ lautete selbstverständlich die Antwort. „Und wann,“ fragte ich, „ist dieser wehmuthvollste aller Gegenstände am poetischsten?“ Nach dem vorhin schon ausführlicher Entwickelten [39] verstand sich hier die Antwort gleichfalls von selbst: – „Wenn er am nächsten mit der Schönheit in Verbindung steht; der Tod eines schönen Weibes ist unzweifelhaft der poetischste Gegenstand von der Welt – und eben so sehr steht es außer Zweifel, dass die Lippen eines Geliebten, der sie verloren, sich vor allen andern für solch einen Gegenstand eignen.“

Ich hatte jetzt die beiden Vorstellungen eines Liebenden, der um seine verstorbene Geliebte klagt, und eines Raben, der beständig das Wort „Nimmermehr“ wiederholt, mit einander zu kombinieren. Ich hatte Dies zu thun, indem ich meines Vorsatzes eingedenk bliebe, bei jeder Gelegenheit die Anwendung des wiederholten Wortes zu variieren; allein die einzig verständige Art einer solchen Kombination war die Vorstellung, dass der Rabe das Wort als Antwort auf die Fragen des Liebhabers spräche. Und hier sah ich sogleich den Vortheil, der sich mir für den gewünschten Effekt böte, – für den Effekt einer beständigen Variation der Anwendung des Refrains. Ich sah ein, dass ich die erste Frage des Liebenden – die erste Frage, auf welche der Rabe: „Nimmermehr“ antworten sollte – dass ich diese erste Frage zu einer ganz gewöhnlichen machen könne, – die zweite schon weniger, – die dritte noch weniger gewöhnlich, und so fort, – bis zuletzt der Liebende, durch den schwermüthigen Charakter des Wortes selbst, durch dessen häufige Wiederholung, und durch die Erinnerung an den ominösen Ruf, in welchem der Vogel steht, der es ausspricht, – bis er zuletzt, durch alles Dieses aus seiner anfänglichen Gleichgültigkeit aufgestört, abergläubisch erregt wird und Fragen von ganz andrer Bedeutung – Fragen, deren Lösung sein Herz leidenschaftlich begehrt – wild hervorstößt, halb abergläubisch und halb in jener Art Verzweiflung, die Freude daran findet, sich selbst zu quälen, – nicht eigentlich weil er an den prophetischen oder dämonischen Charakter des Vogels glaubt (der, wie die Vernunft[WS 1] ihm sagt, nur ein durch Übung erlerntes Wort wiederholt), sondern weil [40] er ein wahnwitziges Vergnügen daran findet, seine Fragen so zu stellen, dass ihm das erwartete „Nimmermehr“ die reizvollste, weil unerträglichste, Trauer gewährt. Indem ich den Vortheil begriff, welcher sich mir hiedurch darbot – oder sich mir eigentlich im Verlauf der Konstruktion meines Gedichtes aufdrängte, – stellte ich in Gedanken zuerst die Klimax oder Schlussfrage fest – diejenige Frage, auf welche zum letzten Mal: „Nimmermehr“ geantwortet werden sollte, – eine Antwort, die dem Frager den erdenklich höchsten Grad von Trauer und Verzweiflung bereiten müsste.

Hier also, darf ich sagen, begann das Gedicht – mit dem Ende, womit alle Kunstwerke beginnen sollten; – denn hier, an diesem Punkt meiner Betrachtungen, setzte ich zuerst die Feder an, und verfasste folgende Strophe:

„Düstrer Bote!“ frug voll Zweifel ich, „ob Vogel oder Teufel!
Bei dem Himmel droben, bei dem Gott, den ich, wie du, verehr’:
Find’ ich, sprich! an Eden’s Thoren wieder einst, die ich verloren,
Jene Maid, die man Lenoren jetzo nennt im Engelsheer, –
Die Geweihte, die Lenoren jetzt man nennt im Engelsheer?“ –
 Sprach der Rabe: „Nimmermehr.“

Ich verfasste, an diesem Punkt angelangt, diese Strophe, erstlich um, nach Feststellung der Klimax, die vorhergehenden Fragen des Liebenden besser in Bezug auf ihren Ernst und ihre Wichtigkeit variieren und steigern zu können, – und zweitens, um den Rhythmus, das Versmaß[WS 2], die Länge und die allgemeine Anordnung der Strophen zu bestimmen, – sowie ferner, um die Strophen, welche vorhergehen sollten, in solcher Art abzustufen, dass keine derselben diese an rhythmischer Wirkung überträfe. Wäre ich bei dem späteren Schaffen im Stande gewesen, stärkere Strophen zu verfassen, so hätte ich dieselben [41] ohne Bedenken vorsätzlich abgeschwächt, damit sie nicht den Steigerungseffekt beeinträchtigten.

Und hier ist wohl der geeignete Platz, einige Worte über den Versbau vorzubringen. Mein erstes Ziel (wie gewöhnlich) war Originalität. Der Grad, bis zu welchem man dieselbe beim Versbau vernachlässigt hat, ist eines der unerklärlichsten Dinge von der Welt. Zugegeben, dass der bloße Rhythmus geringer Abwechslung fähig sei, liegt es doch auf der Hand, dass die möglichen Abwechslungen des Versmaßes und der Strophenbildung geradezu unerschöpflich sind – und dennoch hat seit Jahrhunderten Niemand in Bezug auf den Versbau etwas Originelles geleistet, oder anscheinend je zu leisten gedacht. Die Wahrheit ist, dass Originalität (außer bei ganz ungewöhnlich begabten Menschen) keineswegs, wie Manche wähnen, eine Sache des Instinkts oder der Intuition ist. In der Regel muss sie, wenn man sie erreichen will, mühsam gesucht werden, und obschon sie ein positiver Vorzug höchsten Ranges ist, erfordert ihre Erlangung doch weniger Erfindungs- als Negierungskraft.

Selbstverständlich mache ich weder in Bezug auf den Rhythmus noch auf das Versmaß des „Raben“ einen Anspruch auf Originalität. Ersterer ist trochäisch – letzteres ist ein akatalektischer Oktameter, abwechselnd mit einem katalektischen Heptameter, der im fünften Verse refrainartig wiederholt wird, und endend mit einem katalektischen Tetrameter. Minder pedantisch ausgedrückt: – die überall angewandten Versfüße (Trochäen) bestehen aus einer langen Silbe, auf die eine kurze folgt; die erste Strophenzeile besteht aus acht solcher Füße, – die zweite aus sieben und einem halben (der Wirkung nach: sieben und zwei Drittel), – die dritte aus acht, – die vierte aus sieben und einem halben, – die fünfte eben so, – die sechste aus drei und einem halben. Nun ist jede dieser Zeilen, einzeln genommen, früher schon angewandt worden, und was „der Rabe“ an Originalität besitzt, verdankt [42] er lediglich ihrer Verbindung zu einer Strophe; nichts dieser Versverbindung auch nur entfernt Ähnliches ist je versucht worden. Die Wirkung dieser Originalität der Versverbindung wird durch andere ungewöhnliche und einige ganz neue Effekte unterstützt, die aus einer erweiterten Anwendung des rhythmischen Princips und der Alliteration entspringen.

Der nächste Punkt, den ich in Betracht ziehen musste, war die Art und Weise, wie ich den Liebenden und den Raben zusammenbringen sollte – und es handelte sich hier zuvörderst um die Lokalität. Als eine solche schien sich ein Wald oder das freie Feld am natürlichsten darzubieten; – es ist mir indess stets vorgekommen, als sei ein bequemer Überblick des Raumes durchaus nothwendig, um die Wirkung des geschilderten Ereignisses zu isolieren – er umrahmt gleichsam das Bild. Er hat eine unbestreitbare geistige Kraft, die Aufmerksamkeit koncentriert zu erhalten, und ist natürlich nicht mit der bloßen Einheit des Orts zu verwechseln.

Ich beschloss daher, den Liebenden in sein Zimmer zu versetzen, – in ein Zimmer, das ihm durch Erinnerungen an sie, die es oftmals betreten, heilig sei. Das Zimmer wird als ein reich möbliertes dargestellt, in Folge der oben entwickelten Ansicht, dass Schönheit die einzige wahrhaft poetische Aufgabe sei.

Nachdem die Lokalität also bestimmt war, musste ich jetzt den Vogel hineinführen – und der Gedanke, ihn durchs Fenster hineinzuführen, ergab sich von selbst. Der Einfall, den Liebenden zuerst glauben zu lassen, das Schwirren der Rabenflügel wider den Fensterladen sei ein „Klopfen“ an der Thür, entsprang aus dem Wunsche, die Neugier des Lesers durch Verlängerung derselben zu steigern, sowie aus der Absicht, nebenher den Effekt zu benutzen, dass der Liebende beim Aufstoßen der Thür Alles dunkel findet und sich daher halb und halb einbildet, es sei der Geist seiner Geliebten, welcher geklopft habe.

[43] Ich ließ die Nacht stürmisch sein, einmal damit der Rabe mit Grund Einlass suche, und zweitens um des Effekts willen, dass sie mit der (materiellen) Heiterkeit des Zimmers kontrastiere.

Ich ließ den Vogel ebenfalls wegen des Kontrastes zwischen dem weißen Marmor und dem schwarzen Gefieder sich auf die Pallasbüste setzen. Auf die Büste hatte mich selbstverständlich der Vogel gebracht, und die Büste der Pallas wählte ich einestheils als am besten zu dem Gelehrtenstande des Liebenden passend, anderentheils wegen des volltönenden Klanges im Worte „Pallas“ selbst.

Auch in der Mitte des Gedichts habe ich mich der Macht des Kontrastes bedient, um den zuletzt empfangenen Eindruck zu verstärken. Zum Beispiel, dem Eintritt des Raben ist ein phantastischer Anstrich verliehen, der so nahe wie irgend zulässig war, an das Scherzhafte streift. Er schreitet „gravitätisch schwirrend“ in das Zimmer.

Nicht mit einem Gruß bedacht’ er mich, kein Dankeszeichen macht’ er,
Vornehm stolz zur Ruhe bracht’ er sein Gefieder, regenschwer.

In den beiden folgenden Strophen ist die Absicht noch deutlicher zu erkennen:

Und der schwarze Vogel machte, dass ich trotz der Trauer lachte,
So possierlich ernst und finster saß ob meiner Thüre er.
Ob dein Kamm auch kahl geschoren, bist als Feigling nicht geboren,
Alter Rabe, der verloren irrt im nächt’gen Schattenmeer, –

[44]

Sprich, wie bist du denn geheißen im pluton’schen Schattenmeer?“ –
 Sprach der Rabe: „Nimmermehr.“

Und den Unhold mit Erstaunen hört’ ich also deutlich raunen,
Ob die Antwort auch geschienen wenig tief und inhaltschwer;
Denn wir müssen wohl gestehen, dass es Keinem noch geschehen,
Einen Vogel je zu sehen, der vor ihm gesessen wär’
Der auf einer Büste über seiner Thür gesessen wär’,
 Mit dem Namen „Nimmermehr.“

Nachdem in solcher Art für die Wirkung des schließlichen Ausgangs gesorgt worden war, ließ ich sofort den phantastischen einem ernsteren Tone Platz machen, der bereits in der nächstfolgenden Strophe mit der Zeile beginnt:

Doch der Rabe auf der Büste sprach das eine Wort, als wüsste etc.

Von diesem Zeitpunkte an scherzt der Liebende nicht mehr, – ja, erblickt nicht einmal etwas Phantastisches mehr in dem Benehmen des Raben. Er spricht von ihm als von einem „gespenstisch finstern Vogel“ und fühlt sein „Feuerauge“ ihm „brennend am tiefsten Herzen zehren“. Dieser Umschwung des Denkens oder der Einbildungskraft auf Seiten des Liebenden soll einen ähnlichen Umschwung auf Seiten des Lesers bewirken, – sein Gemüth in die rechte Stimmung [45] für die schließliche Entwicklung versetzen, die jetzt so rasch und so direkt wie möglich herbeigeführt wird.

Mit der eigentlichen Pointe – mit der Antwort des Raben: „Nimmermehr!“ auf die schließliche Frage des Liebenden, ob er seine Geliebte in einer andern Welt wiederfinden werde – mag das Gedicht in seiner alltäglichen Phase – der einer bloßen Erzählung – sein Ende erreicht haben. Alles bewegt sich bis jetzt innerhalb der Grenzen des völlig Erklärlichen, – des Wirklichen. Ein Rabe, der durch Übung das einzige Wort „Nimmermehr“ erlernt hat und seinem Besitzer entflogen ist, wird zur Nachtzeit durch einen heftigen Sturm veranlasst, Schutz an einem Fenster zu suchen, durch das ein Licht schimmert, – an dem Stubenfenster eines jungen Gelehrten, der halb über einem Buche brütet, halb von seiner verstorbenen Geliebten träumt. Als das Fenster auf das schwirrende Anschlagen der Flügel des Vogels geöffnet wird, wählt dieser sich den geeignetsten Sitz, nicht gerade in unmittelbarer Nähe des jungen Gelehrten, der, sich über den Vorfall und über das seltsame Benehmen seines Gastes amüsierend, ihn scherzhaft, und ohne eine Antwort zu erwarten, nach seinem Namen frägt. Der angeredete Rabe spricht als Antwort sein gewöhnliches Wort: „Nimmermehr,“ – ein Wort, das sofort ein Echo in dem schwermuthvollen Herzen des jungen Gelehrten findet, der gewisse Gedanken, die der Vorfall in ihm wachruft, laut ausspricht, und über das wiederholte „Nimmermehr“ des Vogels abermals erstaunt. Er erräth jetzt freilich den Zusammenhang, wird jedoch, wie ich vorhin erklärte, durch den selbstquälerischen Trieb der menschlichen Natur und zum Theil auch durch Aberglauben veranlasst, dem Vogel solche Fragen vorzulegen, die ihm, dem Liebenden, durch die vorauszusehende Antwort: „Nimmermehr“ den intensivsten Reiz der Trauer bereiten werden. Damit, dass er sich dieser Selbstquälerei in extremster Weise hingiebt, hat die Erzählung in ihrer ersten oder alltäglichen Phase, wie [46] ich mich ausdrückte, ihren natürlichen Abschluss erreicht, und bis hieher sind die Grenzen des Wirklichen nicht überschritten.

Allein bei Stoffen, die mit noch so großer Geschicklichkeit oder mit noch so lebhaftem Aufputz an Handlung in dieser Weise behandelt werden, bleibt immer eine gewisse Härte oder Nacktheit zurück, die das künstlerische Auge verletzt. Zwei Dinge sind unumgänglich nothwendig: – erstens ein gewisser Grad allgemeiner Anwendbarkeit; und zweitens ein gewisser Inhalt zwischen den Zeilen, – ein, wenn auch noch so unbestimmter, Unterstrom tieferer Bedeutung. Besonders der Letztere verleiht einem Kunstwerke so viel von jener prächtigen Fülle, die wir nur allzugern mit dem Idealen verwechseln. Es ist das Übermaß der geheimen, zwischen den Zeilen auszusprechenden Bedeutung – es ist die Verkehrtheit, diese zur augenfälligen Hauptsache, statt zum verborgenen Unterstrom des Gedichtes zu machen – was die sogenannte Poesie der sogenannten transcendentalen Dichter in Prosa (und obendrein von der plattesten Art) verwandelt.

Diese Ansicht festhaltend, fügte ich dem Gedichte die beiden Schlussstrophen hinzu, – welche so der ganzen vorausgehenden Erzählung einen tieferen Sinn geben. Der geheime Unterstrom der Gedanken wird erst erkennbar in den Zeilen:

„Fort! und reiß aus meinem Herzen deines Schnabels scharfen Speer!“ –
 Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

Man wird bemerken, dass die Worte: „aus meinem Herzen“ den ersten metaphorischen Ausdruck in dem Gedicht enthalten. Sie machen, in Verbindung mit der Antwort: „Nimmermehr,“ die Seele geneigt, einen tieferen Sinn in Allem zu suchen, was vorher erzählt worden ist. Der Leser fängt jetzt an, den Raben als symbolisch anzusehn – allein erst in der allerletzten Zeile der allerletzten Strophe tritt die [47] Absicht, ihn zum Symbol trauervoller und niemals endender Erinnerung zu machen, deutlich hervor:

Und der Rabe, schwarz und dunkel, sitzt mit krächzendem Gemunkel
Noch auf meiner Pallasbüste ob der Thür bedeutungsschwer.
Seine Dämonaugen glühen unheilvoll mit wildem Sprühen,
Seiner Flügel Schatten ziehen an dem Boden breit umher;
Und mein Herz wird aus dem Schatten, der mich einhüllt weit umher,
 Sich erheben – nimmermehr!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Vernuuft
  2. Vorlage: Vermaß