Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[325]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Das Eulenhaus.
Hinterlassener Roman von E. Marlitt. Vollendet von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Neugieriges Volk.       Originalzeichnung von Friedrich Stahl.

Fräulein von Böhlen, die sich langsam zurückzog, wußte aus der müden Art ihrer sonst so rathbereiten liebenswürdigen Gebieterin, daß ihre Gedanken sich nur ungern von dem Krankenbette der Herzogin losrissen. Die junge Dame verneigte sich mit der bedauerlichen wehmütigen Miene, die sie schon seit längerer Zeit zur Schau trug, schon von dem Tage an, wo sie ihre Gebieterin einmal mit in Thränen schwimmenden Augen gesehen hatte. Und doch war sie innerlich sehr gehobener Stimmung; die geheime Angst, Claudine würde eines Tages in ihre alte Stellung zurückkehren und sie genötigt werden, wiederum in die mißmuthige Häuslichkeit daheim zu wandern, quälte sie nicht mehr; denn niemals würde die sittenstrenge Herzogin-Mutter wieder nach jener verlangen, die mit kecker Hand an den heiligsten Banden gerüttelt, den Frieden ihres Hauses getrübt. Sie lächelte, wie sie jetzt allein war, und ihre Gedanken flogen in die Zukunft, während sie, am Fenster stehend, über den sonnenbeglänzten Garten schaute. Was kümmerte sie der Schmerz und die Qual anderer? Sie empfand nur eins; sie würde nicht mehr um jeden Pfennig zu Hause keifen hören, sie würde nicht mehr mit stolz nachlässiger Miene an den Kaufläden vorüberzugehen brauchen, wo man ellenlange Rechnungen schuldig war und sich jede Woche mahnen lassen mußte; sie durfte nie mehr ihre Handschuhe mit Benzin waschen; sie hörte nicht mehr, wie das Dienstmädchen sich bei der gnädigen Mama beklagte, daß sie hungern müsse. Sie stand jetzt fest und sicher in der angenehmen Position einer Hofdame und Claudine von Gerold, die „reizende unvergeßliche Claudine“, deren Hand so sanft „wie die einer Tochter“ – war unmöglich geworden! Was wollte denn das hochmüthige Geschöpf noch mehr? Sie hatte einen mächtigen Beschützer gefunden! Fräulein von Böhlen wurde plötzlich roth – sie hätte [326] gern getauscht mit Claudine Gerold. – Dort innen in dem Gemache der Herzogin-Mutter war es still. Einigemale nur erhob sich des Barons Stimme, dann ein schrilles helles Lachen der Prinzeß Thekla, und im nächsten Augenblick stand die hagere, von fliederfarbener Seide umrauschte Gestalt Ihrer Durchlaucht vor der erschreckten Hofdame.

„Prinzeß Helene! Suchen Sie die Prinzessin!“ stieß sie mühsam hervor, und die Stäbe ihres Elfenbeinfächers klappten an einander, als schüttele die Hand, die sie hielt, das Fieber.

Fräulein von Böhlen flog davon; athemlos kam die Prinzessin herauf.

„Wir fahren nach Neuhaus! Wo ist die Komtesse?“ schallte es ihr entgegen.

„Um Gotteswillen, Mama, was ist geschehen?“ Prinzessin Helene kannte so gut die Stimmung, die sich auf dem Gesichte der alten Durchlaucht abspiegelte.

„Komm!“ war die Antwort.

„Nein Mama – liebste Mama, laß mich hier – ich halte es vor Angst in Neuhaus nicht aus!“ flehte die Prinzessin.

„Wer sagt Dir, daß Du es aushalten sollst? Wir gehen heut Abend mit dem Schnellzuge nach Berlin. Komm!“

„Nein, ich kann nicht!“ klang es zurück von den blassen Lippen. „Zwinge mich nicht, ich laufe Dir unterwegs davon – ich kann nicht fort von hier!“

Die alte Dame übermannte der Zorn; sie ergriff mit ihren knöchernen Händen den zierlichen Arm. „En avant! Wir haben nichts mehr hier zu thun!“ zischte sie.

Aber die Prinzessin Tochter riß sich los. „Ich thue, was meine Pflicht ist!“ rief sie außer sich und floh aus dem Zimmer. Als die alte Dame ihr nacheilte, war es, als hätte die Luft die weiße Gestalt aufgesogen, so still und verlassen lag der Korridor.

Prinzessin Thekla fuhr mit Komtesse Moorsleben allein nach Neuhaus. Vor ihnen rollte der Wagen mit Beate und den Kindern. Das Jauchzen ihrer kleinen Enkelin scholl bis zu ihr hinüber.

Die Komtesse stand dann mit blassem Gesicht vor Frau von Berg, die eiligst herbeigekommen. Das junge Mädchen war außer sich über die Behandlung, die Ihre Durchlaucht während der Fahrt ihr hatte angedeihen lassen.

„O, ich reiste am liebsten auf der Stelle zu Mama!“ rief sie; „was kann ich dafür, daß königliche Hoheit einen Blutsturz bekam?“

Frau von Berg lächelte noch immer, aber sie war plötzlich blaß geworden. „Einen Blutsturz?“ fragte sie.

„Ja, und zwar recht schlimm. Sie haben nach H. telegraphirt.“

„Und Prinzeß Helene?“

„Sie wollte nicht mit; sie thut, als möchte sie sich am liebsten auf die Schwelle des Krankenzimmers legen.“

„Und wo ist der Baron?“

„Bei Ihrer Hoheit der Herzogin-Mutter; wenigstens war er da, als wir wegfuhren. Die Böhlen sagte, er habe um eine Unterredung bitten lassen bei der alten Hoheit.“

„Nun, und Fräulein von Gerold?“

Die hübsche Komtesse zuckte die Achseln. „in aller Leute Mund,“ erwiderte sie. „Sie thut mir leid. – Man sagt, die Herzogin habe die Untreue ihres Gatten entdeckt; Seine Hoheit sieht aus, als wolle er die Welt in Brand stecken.“

„Mein Gott, einmal mußte doch dieser Skandal zum Klappen kommen,“ sagte Frau von Berg achselzuckend. „Aber wo in aller Welt ist sie denn nun? Sitzt sie im Thurm des Eulenhauses und lugt erwartungsvoll nach Altenstein hinüber – oder – ist sie in den Schloßteich gelaufen, die stolze Claudine?“

Komtesse Moorsleben sah in das Antlitz, das so wenig seine Genugthuung zu verbergen verstand; die wilde Freude flackerte nur so aus den schwarzen Augen. Freude an einer überführten Uebelthäterin war das nicht; Frau von Berg hatte ja auch so wenig Grund, sich zu den Gerechten zu zählen.

„Gnädige Frau,“ sagte die niedliche Komtesse boshaft, „ich habe mich schon den ganzen Morgen besonnen – von wem ist das Wort: ,Wer im Glashause sitzt, soll nicht mit Steinen werfen‘?“

„Ich fragte Sie, Komtesse, wo Fräulein von Gerold geblieben ist nach dem eklatanten Beweis von Ungnade?“ betonte die Dame zornesroth.

„Ich verstehe Sie nicht, liebe Frau von Berg,“ antwortete die Komtesse so sanft, als ihr möglich war. „Sie wissen mehr als ich – Ungnade? Eklatant? – Fräulein von Gerold sitzt am Krankenbette Ihrer Hoheit.“

Frau von Berg schnappte nach Luft und rauschte in das Zimmer Ihrer Durchlaucht, von wo soeben ein wahres Sturmgeläute ertönte.




Die Herzogin schlief; im ganzen großen Gebäude herrschte eine Todesstille.

In dem Zimmer des Rittmeisters von Rinkleben saß Baron Gerold; er hatte den liebenswürdigen Officier gebeten, sich hier aufhalten zu dürfen, er wolle die nächste Nachricht von dem Befinden Ihrer Hoheit abwarten. Er hatte auch die dargebotene Havanna angezündet, aber er rauchte meistens kalt; er hatte ein Buch genommen, aber ihm fehlte die Ruhe zum Lesen. Eine finstere Sorge lag über seinem Gesichte und eine qualvolle Unruhe ließ ihn unaufhörlich hin und her wandern.

Herr von Palmer hatte seine Stube verriegelt, er befand sich in der denkbar schlechtesten Laune. Ein netter Tag, der heutige, wahrhaftig! – Als er diesen Morgen zum Vortrag über eine unumgänglich nothwendige bauliche Veränderung des Residenzschlosses in das Arbeitskabinett Seiner Hoheit trat, war ihm der Herzog mit einer ziemlich verwunderten Miene und einem offenen Briefe entgegengekommen. Es war ein vertrauliches Schreiben des Prinzen Leopold, seines Vetters, und enthielt die Frage, wie es zugehe, daß das Hofmarschallamt seit nahezu drei Jahren der Firma C. Schmidt in R. am Rhein keinerlei Zahlung mehr geleistet habe. Der Chef der Firma habe nun des Prinzen Vermittlung erbeten, da auf direkte Anfragen zwar stets neue Bestellungen, aber immer nur ausweichende Antworten betreffs der Rückstände eingetroffen seien. Ja, in dem letzten Schreiben sei mitgetheilt, daß bei fernerem Drängen die Lieferungen dem Hause entzogen werden würden. – Herr von Palmer hatte gelächelt und gesagt, es liege ein grobes Mißverständniß vor, Seine Hoheit aber energisch den Wunsch ausgesprochen, diese Angelegenheit so bald als möglich und bestens geordnet zu sehen.

Es war sehr unangenehm, sehr! Als ob solch Krämerpack nicht borgen müßte bis in alle Ewigkeit, wenigstens so lange – bis Herr von Palmer nach einigen Jahren in der Lage sein würde, mit aller Ruhe irgendwohin abzureisen! Es war doch ein Trost, diese Berg zur Seite zu haben; wie brillant hatte sie dieses „Unmöglichmachen“ in Scene gesetzt am Geburtstage des Prinzen! Die alte Herzogin hatte Claudine fallen lassen, das war so unbezahlbar! Der Mutter gegenüber würde selbst Seine Hoheit nicht den Muth finden, dieses Schäferspiel weiter zu agiren. Wundervoll! Ganz wundervoll! –

Durch das hohe breite Fenster im Schlafzimmer der Herzogin fielen die letzten Strahlen der scheidenden Sonne.

„Claudine!“ flüsterte eine matte Stimme.

Das Mädchen, das in tiefen schweren Gedanken gesessen, erhob sich und knieete neben dem Bette der Kranken. „Wie geht es Dir, Elisabeth?“ fragte sie.

„O – es geht – es geht besser; ich fühle, daß das Ende kommt –“

„Elisabeth, sprich nicht so!“

„Ist jemand hier, der uns hören könnte?“ fragte die Herzogin.

„Nein, Elisabeth, Seine Hoheit ist hinunter gegangen zu den kleinen Prinzen, die Kammerfrau ist im Nebenzimmer, die Frau von Katzenstein bei der Herzogin-Mutter und die Diakonissin schläft dort über ihrem Gebetbuch.“

Die Kranke lag ganz still und folgte mit den Augen dem glühendrothen Sonnenfleck auf dem Bilde der Madonna, der unmerklich höher und höher glitt, zuletzt noch auf dem Blattweck des Goldrahmens funkelte und dann erlosch.

„Warum hattest Du kein Vertrauen zu mir?“ fragte sie plötzlich mit trauriger Stimme, „warum sagst Du mir nicht offen alles, alles?“

„Elisabeth – ich hatte Dir nichts zu verbergen.“

„Lüge nicht, Claudine!“ rief die Herzogin feierlich, „einer Sterbenden soll man nicht lügen!“

Claudine hob stolz den Kopf. „Ich habe Dich nie belogen, Elisabeth.“

[327] Ein bitteres Lächeln flog über das bleiche abgezehrte Gesicht der Kranken.

„Du hast mich belogen mit jedem Blick!“ sagte sie entsetzlich klar und kalt, „denn Du liebst meinen Gatten.“

Ein wahrer Aufschrei unterbrach sie, und schwer lag Claudinens Kopf auf der rothen Seidendecke des Krankenbettes. Was sie gefürchtet, was sie bis zur Gewißheit gefühlt – das sagte ihr jetzt der Mund der Frau, die sie so treu, so innig liebte.

„Ich mache Dir ja keinen Vorwurf, Claudine – ich will nur, daß Du mir versprichst, nach meinem Tode –“

„Barmherziger Gott!“ stöhnte das Mädchen und richtete sich wild empor. „Wer hat dieses entsetzliche Mißtrauen in Dir geweckt?“

„Mißtrauen? Wenn Du noch fragtest: wer öffnete Dir die Augen, um die entsetzliche Wahrheit zu erkennen? Und er – liebt Dich – er liebt Dich!“ flüsterte die Herzogin weiter. „Ach Gott, es ist ja so natürlich!“

„Nein! Nein!“ rief Claudine außer sich und rang die Hände.

„Ach – schweige doch,“ bat die Kranke müde; „oder laß uns ruhig sprechen; ich habe noch so viel zu sagen.“

Claudine war aufgestanden, ihr schwindelte. Was sollte sie thun, um zu beweisen, daß sie unschuldig sei?

Auf den Wangen der Kranken schimmerte es wieder so roth, sie athmete so schwer.

„Elisabeth, nur dieses eine Mal noch glaube mir, vertraue wir,“ flehte das Mädchen.

Die Kranke richtete sich plötzlich auf.

„Kannst Du schwören,“ fragte sie ruhig, „kannst Du schwören, daß nie zwischen Dir und dem Herzog von Liebe die Rede war? – Schwöre es, schwöre es bei dem Andenken an Deine Mutter , und wenn Du das kannst im Angesicht meines letzten Lagers – so will ich Dir glauben, daß meine eigenen Augen falsch gesehen haben!“

Claudine stand wie leblos. Ihre Lippen bewegten sich zum Sprechen, aber es kam kein Ton heraus, und plötzlich neigte sie den Kopf wie vernichtet.

Die Herzogin sank in die Kissen zurück. „Den Muth hast Du doch nicht!“ murmelte sie.

„Elisabeth,“ rief Claudine jetzt, „glaube mir! Glaube mir! Mein Gott, was soll ich nur thun, daß Du mir noch einmal glaubst! Ich wiederhole es Dir, Du bist im Irrthum –“

„Sei still,“ sagte die Herzogin mit verächtlichem Lächeln.

Seine Hoheit war eingetreten. „Wie geht es Dir, Liesel?“ fragte er herzlich und beugte sich über sie, indem er ihr das feuchte Haar aus der Stirn zu streichen versuchte.

„Fasse mich nicht an!“ stieß sie hervor und ihre Augen wurden angstvoll groß. „Es ist ja bald vorbei,“ flüsterte sie dann.

Claudine lehnte fassungslos an der Thür; der Herzog trat zu ihr und fragte leise und besorgt. „Phantasirt Ihre Hoheit?“

Claudine, der Verzweiflung die Brust zu zersprengen drohte, preßte den schluchzenden Schrei, der sich ihr entringen wollte, mit dem Tuch zurück und wankte in das Nebenzimmer.

Er folgte ihr ängstlich. „Was ist geschehen?“

Die Augen der Kranken richteten sich auf die Thür, durch welche jene beiden verschwunden waren. Der ganze furchtbare, gewaltsam zurückgedrängte Schmerz durchrüttelte sie und verwirrte ihre armen Gedanken. Sie lag mit geballten Fäusten und glühenden Augen. Wie, nicht einmal der Sterbenden wollte sie bekennen? Und sie hatte es so gut gemeint – sie wollte in ihrem letzten Willen bestimmen, daß sie sich angehören sollten, die beiden, für das Leben. Das sollte die Rache sein für ihr gebrochenes Glück. Und sie, sie – welch ein Abgrund von Schlechtigkeit wußte dieses Geschöpf in sich bergen, das auch jetzt noch den Himmel anrief als Zeugen seiner Unschuld!

Eine wahnsinnige, erstickende Angst legte sich auf ihre schmerzende Brust. Ihr Gemahl kam eben wieder herein; er trat an das Fußende des Bettes und blickte sie seltsam forschend an. Claudine, die sich gewaltsam gefaßt hatte, trug ein Glas in der Hand. „Trinke, Elisabeth,“ bat sie, während sie sich niederbeugte und ihren Arm unter den Kopf der Kranken schob. „Trinke, Dir ist so heiß – es sind die Tropfen, die Dir immer so gut bekommen.“

Bewegungslos lag die Herzogin mit fest zusammengepreßten Lippen. Ihre großen Augen hingen mit unheimlicher Starrheit an dem blassen Gesicht des Mädchens und wanderten dann zu ihrem Gatten hinüber. Das Glas in Claudinens Hand begann zu zittern. „O, trinke doch!“ bat sie mit versagender Stimme.

Dann ein schriller Aufschrei, und das Glas ward aus Claudinens Hand geschleudert.

„Gift!“ schrie die Herzogin gellend und saß im Bette hoch mit dem Ausdruck einer Wahnwitzigen, die Hände verzweiflungsvoll ausgestreckt. „Gift! Hilfe! – Geht es Euch denn noch nicht schnell genug?“

Dann sank sie erschöpft zurück und ein erneuter Blutstrahl überschwemmte das weiße Gewand und das Bett.

Claudine, die in die Kniee gesunken war, sprang empor; auch sie sah aus wie eine Irrsinnige. Mit übermenschlicher Kraft nahm sie sich zusammen, ging zur Glocke und half dann die Kranke emporrichten und an die Brust des Herzogs lehnen, in dessen bleichem Gesicht eine tiefe Erschütterung sich ausprägte.

„Liesel,“ murmelte er, „aber Liesel – großer Gott! –“

Sie lag mit geschlossenen Augen wie eine Sterbende.

Und nun ward es lebendig im Zimmer. Mit besorgter Miene stand der alte Medizinalrath vor der Patientin; dann sah er nach der Uhr, fühlte den matten Pulsschlag und schüttelte den Kopf. „Um neun Uhr kann er hier sein, Hoheit,“ flüsterte er der weinenden Herzogin-Mutter zu, „doch – bis dahin – nur Ruhe jetzt, Ruhe, keine Angst zeigen. Es ist am besten, Hoheit bleiben in der gewohnten Umgebung; ich werde mich einstweilen im Nebenzimmer aufhalten.“

„Claudine!“ flüsterte die Kranke, „Claudine!“

Die Herzogin-Mutter sah sich um nach der Gerufenen; sie war verschwunden. In ihrer Angst ging die alte Dame auf den Korridor hinaus und fragte nach dem Zimmer des Fräulein von Gerold. Aber die Thür war verschlossen und innen regte sich nichts.

Claudine war zusammengebrochen in ihrer Stube; einen klaren Gedanken hatte sie nicht mehr. – Dahin war es gekommen, dahin?! Die Welt hielt sie für eine Gesunkene, für die Geliebte des Herzogs – sein eigenes Weib starb in diesem Wahne!

O, diese törichte Vermessenheit ihres wahnsinnigen Stolzes! Und wenn sie die Sterne vom Himmel herunter holen könnte als Zeugen ihrer Reinheit – niemand würde ihr glauben, niemand, die Sterbende nicht und die Lebenden nicht, und jener eine nicht, den sie zurückstieß, als er sie warnte! Gott allein wußte es, daß sie rein, aber Gott thut keine Wunder mehr. Verloren! Verloren! – Der Schandfleck ihrer Familie war sie geworden, das ganze Land würde mit Fingern auf sie weisen. „Seht, seht, das ist Die, um derentwillen unserer armen Fürstin das Herz brach!“

Wer sollte sie retten? Der Herzog? – Er konnte nicht für sie in die Schranken treten; sie hätten alle gethan, als ob sie ihm glaubten, und hätten gelacht hinterher. – Barmherziger Gott, was that sie den Menschen, daß man sie haßte, so bitter haßte?

Wenn sie sterben könnte! Sie nähme damit den Schimpf nicht von sich, aber sie wäre doch todt, sie würde nichts mehr fühlen. Sie dachte und dachte; der kleine Weiher dort unten im Park – sagte eine Stimme in ihr. Es ist so still dort und so kühl – so kühl. Dort fände man sie dann vielleicht, und die Menschen würden sagen: „Sie hatte doch noch Ehrgefühl, diese Claudine; sie konnte nicht leben mit der Schuld auf dem Herzen!“ Und nur einer vielleicht würde sprechen, wenn er an den Sarg trat. „Meine Schwester, mein reiner stolzer Liebling – ich glaube an Dich!“

Und dort drüben in Neuhaus würde ein kleines dunkles Mädchen seinen Kopf an die Schulter des schönen Mannes schmiegen und eine süße Stimme würde sagen. „Was geht es mich an, Lothar, daß eine Deines Stammes auf den Namen Gerold Schande häufte? Vergiß es, ich liebe Dich dennoch!“ –

Ein paar harte Schläge an die Thür ließen sie emporfahren.

„Fräulein von Gerold,“ rief gedämpft die spitze Stimme des Fräulein von Böhlen, „die Herzogin-Mutter erwartet Sie!“

Mechanisch schritt sie hinaus, vergessend, daß ihr das Haar gelöst auf den Rücken herab hing und die goldigen Strähne ihr [328] über die Stirn fielen; vergessend, daß sie nur in dem losen Hauskleide war. Wie eine Irre trat sie ein in das noch nicht erhellte Gemach, auf dessen buntem Teppich der Mondschein in zwei breiten schimmernden Streifen lag.

„Claudine!“ klang es mild vom Fenster her.

Sie kam herüber und verneigte sich.

„Setzen Sie sich, Claudine.“

Aber sie machte keine Bewegung, sie blieb wie gelähmt. „Die Herzogin stirbt?“ fragte sie heiser.

„Es steht in Gottes Hand, Claudine.“

„O, durch mich, durch mich!“ murmelte das Mädchen.

Die Herzogin antwortete nicht. „Ich habe eine Frage an Sie zu richten,“ begann die alte Dame endlich, „sie ist seltsam in dieser Stunde, Claudine, wo der Todesengel vor der Pforte des Hauses steht; aber der, für den ich fragen soll, hat mir zur Pflicht gemacht, es gleich zu thun. Baron Gerold bittet Sie, Claudine, seinem verwaisten Kinde die Mutter, ihm die Gattin ersetzen zu wollen.“

„Hoheit!“ schrie Claudine auf. Sie trat einen Schritt zurück und stützte sich schwer aus den Marmorsims des Spiegels. „Ich danke,“ sagte sie dann „ich verlange kein Opfer von ihm.“

„Gut!“ erwiderte die alte Hoheit streng, „Sie hatten es jetzt in der Hand, mit einem Schlage alle Lästerzungen verstummen zu lassen; Sie hatten es in der Hand, ein entfliehendes Leben für kurze Zeit zu erhalten, damit es in Frieden scheiden konnte.“

„Hoheit!“ stöhnte Claudine.

„Meine arme unglückliche Tochter!“ seufzte die Fürstin.

„Hoheit, mein Leben für die Herzogin,“ flehte das Mädchen, „nur diese Demüthigung nicht!“

„Ihr Leben? Nun, das sagt sich so leicht, Claudine –“

„O, daß ich es beweisen dürfte!“ rief sie dann und trat mit gefalteten Händen vor den Stuhl der Fürstin. Sie stand just in dem vollen Mondesstrahl, und der zeigte die halberloschenen Augen, das ganze verzweiflungsvolle Bild des Mädchens.

Die Herzogin erschrak. „Claudine! Aber Claudine!“ sagte sie begütigend.

„Glauben Hoheit denn wirklich, daß ich eine Ehrlose bin?“ fragte sie. Es klang so seltsam hastig, so gebrochen.

„Nein, mein Kind, denn eine solche würde Baron Gerold nicht zum Weibe begehren!“

Sie wich zurück „Darum, nur darum!“ stammelte sie.

„Es ist mir sehr schwer geworden, dem Geflüster Glauben zu schenken,“ fuhr die Herzogin fort. „Aber, Kind, ich kenne das Leben; ich kenne meinen heißblütigen Sohn, kenne seine Macht über die Herzen der Frauen – und Dich, die Du vor ihm geflohen, Dich weiß ich plötzlich täglich ist seiner Nähe! – Kind, Kind, ich glaube es Dir, daß Du nur die Freundin der Herzogin bist, aber Du hast Dich vermessen, freventlich mit Deinem Ruf zu spielen; Du hast nicht verstanden, den Schein zu meiden, und darum – erfasse die Hand, die sich Dir entgegenstreckt,“ setzte die Herzogin dringend hinzu. „Keiner wird es wagen, selbst die tollste Lästerzunge nicht, zu behaupten, daß Lothar von Gerold ein Weib an sein Herz zieht, das nicht rein ist wie die Sonne. Und er, mein Sohn – niemals würde sein Blick wieder diejenige suchen, die eines Andern Eigenthum ist.“

„Ich bin fassungslos, Hoheit,“ sagte Claudine.

„Du mußt Dich fassen, mein Kind; er wartet unten in Bangen und Hoffen.“

„Hoheit,“ bat Claudine, „er liebt mich nicht – es ist ein Opfer, das er der Ehre unseres Namens bringt. Ich kann es nicht annehmen; haben Hoheit Erbarmen mit mir!“

„So bringt ein Opfer!“ rief die Fürstin, gereizt durch den Widerspruch. „Ist es Ihre Ehre nicht werth, ein Opfer zu bringen? Ist es die nicht werth, die dort drüben mit dem Tode ringt?“

„Hoheit,“ flüsterte Claudine, und ein Gedanke flog durch ihr armes gemartertes Hirn, „ich will – ich will mit Baron Gerold sprechen.“

Die Herzogin hatte Erbarmen mit dem verzweifelnden Mädchen. Sie goß ein Glas Wasser ein und brachte es ihr. „Beruhige Dich erst, dann mag er kommen,“ sprach sie mild und führte die Zitternde zu einem Sessel.

„Der Herr Medizinalrath!“ sagte Fräulein von Böhlen eintretend. Ihr auf dem Fuße folgte die kleine Gestalt des Arztes.

„Hoheit verzeihen mein ungestümes Eindringen,“ begann er hastig; „ich erachte es jedoch für Pflicht, Ew. Hoheit mitzutheilen, daß die erlauchte Patientin sich in größter Lebensgefahr befindet. Hoheit sind durch den Blutverlust vollständig erschöpft, bis auf den Tod. – Professor Thalheim schlägt eine Transfusion vor; ich bin nicht abgeneigt, man soll nichts unversucht lassen. – Seine Hoheit ist entschlossen, das erforderliche Blut zu geben, jedoch – da es immerhin keine gleichgültige Operation ist – sie kann Folgen haben, die das Leben gefährden, wie Blutvergiftung und dergleichen – so müssen wir von der Person Seiner Hoheit absehen, da auch das Hausgesetz ausdrücklich –“

Er stockte. Claudine war von dem Sessel emporgesprungen und streckte die Hand gegen ihn aus. „Herr Medizinalrath, ich bitte, diejenige sein zu dürfen, die –“

„Sie?“ fragte der alte Herr und schaute verwundert in das blasse Mädchengesicht, aus dessen bewegten Zügen ein inniges Flehen sprach, „wahrhaftig, Fräulein von Gerold? Nun, dann kommen Sie, aber rasch! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Doch – halt – meine Gnädige, ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, daß wir Ihnen die Pulsader öffnen müssen.“

„Ach, lieber Herr Doktor!“ sagte Claudine mit einem weichen Tonfall und einem Achselzucken, das bedeutete: wenn es weiter nichts ist! Und sie eilte ihm voraus, die Etikette vergessend in der Angst, ein Anderer könne ihr zuvorkommen.

Die alte Hoheit hatte kaum recht verstanden. Transfusion? Was ist Transfusion? Als sie in das Vorzimmer der jungen Herzogin trat, waren die Aerzte bereits um die Kranke beschäftigt; vor Claudine stand eine Diakonissin, die den Aermel von des Mädchens weißem Kaschmirkleide zurückstreifte. Die alte Dame legte ihrem Sohne die Hand auf die Schulter; er war eben vom Bette der Herzogin zurückgekommen in das kleine Gemach, wo Frau von Katzenstein und die Kammerfrau mit angstvollen Gesichtern standen.

„Adalbert,“ fragte sie leise, „Adalbert, was ist das eigentlich? Der Medizinalrath sagte, sie schneiden ihr die Pulsader auf, um ihr Blut in Liesels Adern zu leiten?“

Er nickte zerstreut; er wandte kein Auge von dem traurig lächelnden Mädchenantlitz.

„Um Gotteswillen, Adalbert,“ fuhr die alte Hoheit fort, „sollen wir erlauben, daß Fräulein von Gerold – es scheint doch eine gefährliche Sache –“

Jetzt sah er sie groß an. „Nicht wahr,“ fragte er leise und bitter, „das erfordert etwas mehr Muth, als dazu gehört, aus sicherem Versteck den Pfeil zu schleudern, der ein armes Weib tödlich verwundet, oder den Ruf eines schuldlosen Mädchens in den Koth zieht? Ich kann es nicht verhindern, daß sie sich zu diesem Opfer versteht,“ sprach er achselzuckend weiter, „ich am allerwenigsten; man könnte ja sonst sagen, ich sei mehr für ihr Leben besorgt, als für das meiner Gemahlin.“

Eine Diakonissin schloß jetzt die Vorhänge, nur Claudinens weiße schöne Gestalt sah man noch einen Augenblick inmitten des Zimmers. Sie stand wie eine Opferpriesterin der Barmherzigkeit. „Von Arm zu Arm, Kollege,“ klang eben des Professors Stimme, „es ist sicherer.“

Aber der Herzog sah es nicht mehr und hörte die Worte nicht mehr, er hatte schon das Zimmer verlassen. Er durchmaß in furchtbarer Erregung den Salon der Herzogin, den nämlichen, ist welchem er Claudine von seiner Neigung gesprochen. Er hätte Jahre seines Lebens ist diesem Augenblick gegeben, um jene Stunde ungeschehen zu machen. „Armes Mädchen, armes Weib!“ Das hatte er nicht gewollt! Er hatte nach diesem Glück gestrebt mit dem Verlangen eines Menschen, der gewohnt ist zu siegen. Für die schöne Hofdame seiner Mutter hatte er eine aufrichtige starke Neigung gefühlt; sie wies ihn zurück, und er ließ sich zurückweisen; zum ersten Male beugte er sich vor einem charaktervollen Weibe, und sein Vergehen wurde zum Verhängniß – Wer um Gotteswillen mochte Claudine bei der Herzogin verleumdet haben?

[329]

Vorstehhunde.
Originalzeichnung von H. Sperling.
Der Retriever.      Der englische Setter.
Der Pointer und der irische Setter.       Der Griffon.
Der kurzhaarige deutsche Vorstehhund.

[330] Auf dem Kaminsims brannte ein einziges Licht des Armleuchters, genau wie an jenem unseligen Abend.

Ueber die Stirn Sr. Hoheit rann kalter Angstschweiß.

„Nur noch soviel Frist,“ sagte er halblaut, „um ihr alles zu erklären, nur soviel, daß sie nicht sterben muß in dem Glauben, ich sei schuldig.“

Es ist doch etwas Großes, Heiliges um die Liebe einer Frau. Sie hatte ihn vergöttert trotz aller seiner Fehler, trotz aller Kälte, aller Gleichgültigkeit. Er glaubte ihre Augen auf sich gerichtet zu sehen mit dem alten innigen Leuchten, von dem er so oft ungeduldig den Blick gewandt. Er hörte die sanfte Stimme, wie sie in dem scherzhaft angenommenen Landesdialekt sprach. „Gelt, mein Adalbert?“ Sie hatte immer so still dahin gelebt, so dankbar für jeden Liebesbrocken, den er ihr zuwarf, so selig über ein zärtliches Wort, so bescheiden in ihren Ansprüchen. Ihre kleinen Fehler, ihre Schwächen, die ihn so unerträglich gedünkt, wie gering erschienen sie ihm in dieser Stunde!

Er stand am Fenster still und dachte an den Tag heute vor elf Jahren. Auch damals hatte man um ihr Leben gebangt; er sah sich an ihrem Lager, an der Wiege seines Erstgeborenen – sie hatte so blaß dagelegen, nur ihre Augen hatten gestrahlt, trotz aller Mattigkeit hatte sie so stolz gelächelt. Er hatte damals nur formelle Dankesworte gehabt für sie, sein ganzes Interesse war dem Kinde zugeflogen, dem Erben – sie hatte ja nur ihre Pflicht erfüllt. –

Er lehnte plötzlich den Kopf an die Scheiben und wischte sich heimlich über die Augen. Wollte man noch nicht berichten, wie es dort drüben stand?

Das ganze Schloß lag wie unter einem unheimlichen Banne; auf den Korridoren brannten die Lampen trübe und standen die Lakaien mit verstörten Gesichtern; unten im Kavalierzimmer saßen die Herren des Hofes zusammen, aber sie sprachen nur flüsternd mit einander. In den Räumen der fürstlichen Kinder blickten sich die Gouvernante und die Wärterin des kleinen Prinzen traurig in die Augen, und in den Souterrains wisperte die Dienerschaft und erzählte sich grausige Geschichten. Die alte Leinenschließerin hatte deutlich vorhin im Mondschein die weiße Frau auf der großen Treppe im linken Flügel gesehen; so ganz langsam, Stufe für Stufe sei sie gegangen, so schwer und gebückt, wie das Gespenst bei bevorstehenden Todesfällen zu gehen pflegte; und die Alte machte es vor und die Augen der Zuhörer wurden groß vor Entsetzen.

Alle wußten, daß noch ein letzter Versuch unternommen werde zur Rettung der Kranken; der Name des Fräulein von Gerold war in aller Munde.

In Herrn von Palmers Zimmer saß Frau von Berg; sie war von der Durchlauchtigsten Mama geschickt, die Prinzessin zu holen. Da hatte sie denn die Gelegenheit benutzt, dem Freunde „Guten Abend“ zu bieten, nach dem Stande der Dinge zu fragen und das Unerhörte zu vermelden, daß der Baron in Gegenwart der Prinzeß Thekla bei der Herzogin-Mutter um seine Kousine angehalten habe.

Die schöne Frau war einfach fassungslos darüber. „Wenn ich nur die Prinzeß erst glücklich im Wagen hätte!“ klagte sie in dem Gemache auf und ab schreitend, während Herr von Palmer sich nervös im Schaukelstuhl wiegte, „sie macht noch die größten Tollheiten in ihren Bußanwandlungen.“

Ja, die Prinzessin, wo war die Prinzessin?

Die alte Leinenschließerin hatte die weiße Frau gesehen; es war die kleine Prinzeß gewesen; und daß sie so schwer und gebückt ging, das machte die Seelenangst bei der Nachricht, daß es mit Ihrer Hoheit zum Sterben komme und daß auch Fräulein von Gerold in Gefahr sei. Sie hatte es aus den abgerissenen Worten der alten Kammerfrau entnommen, die sie unten getroffen bei der Leinenschließerin, als sie aus dem Garten zurückkehrte, in den die Angst sie getrieben, weit, weit dort unten, wo man nichts mehr sah vom Schlosse, in welches das Unglück eingezogen durch ihre Schuld.

Als sie dann mit wankenden Schritten hineingegangen in eins der Gemächer der Herzogin, da hatte der Herzog am Fenster gestanden, und als er sich umgewendet, hatte sie in der trüben spärlichen Beleuchtung auf dem schönen, sonst so kühlen, unbewegten Gesichte desselben eine tiefe Erschütterung gesehen, und an den Augen Thränenspuren. Das war mehr, als sie ertragen konnte!

In undeutlicher verworrener Weise, fast schreiend, klagte sie sich an und gestand alles, indem sie vor ihm auf den Knieen lag, seine Hand in der ihren. Er unterbrach sie mit keinem Worte, er that nur eine Frage, als sie erschöpft schwieg.

„Den Brief, Helene? Wie, um Gotteswillen, kamen Sie zu dem einzigen Brief, den ich je an Claudine geschrieben und der offenbar völlig falsch verstanden worden ist von der Herzogin?“

„Hoheit baten darin, daß Claudine trotzdem eine Freundin Ihrer Gemahlin bleiben sollte.“

„Trotzdem ich Fräulein von Gerold beleidigt hatte – allerdings!“

„Vetter, Vetter, bestrafen Sie mich!“ rief die Prinzessin außer sich, „sagen Sie, was ich thun soll, um wieder gutzumachen –“

Er zuckte die Schultern. „Wie kamen Sie zu dem Briefe?“

„Frau von Berg –“ stammelte die Prinzessin und sank wie gebrochen zusammen. Der Herzog hob sie empor und geleitete sie zum nächsten Fauteuil. Er hatte kein Wort mehr für sie; er wandte sich kurz und verließ das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




Entfettung.
Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch.

Seitdem vor 25 Jahren der dickleibige Engländer William Banting in einem Aufsehen erregenden, an das Publikum gerichteten öffentlichen Briefe (Letter on corpulence addressed to the public) eine einfache diätetische Behandlungsweise allen jenen empfahl, die sich ihres belästigenden Fettüberflusses entäußern wollen, sind mannigfache und zahlreiche Entfettungsmethoden aufgetaucht und verschwunden, angepriesen und verlassen worden. Der gesunde Gedanke aber, welcher in jenem drastisch schildernden Schriftchen des praktischen Engländers scharfen Ausdruck fand, ist lebendig geblieben und sowohl die Erforschung der als Fettleibigkeit bekannten Stoffwechselerkrankung als die Aufhellung der Ernährungsvorgänge des menschlichen Körpers haben dargethan, daß die Behandlung des in Rede stehenden Leidens vor allem eine diätetische, auf zweckentsprechende Aenderung der Ernährungs- und Lebensweise des Individuums gerichtete sein muß.

Um die Fettleibigkeit und ihre Folgezustände, welche wir in einem früheren Artikel („Gartenlaube“ Jahrgang 1885, Nr. 16) geschildert haben, zu bekämpfen, giebt es sehr viele Mittel und Methoden. Die Abnahme des übermäßigen Fettes kann in der mannigfachsten Weise sehr gründlich und sehr rasch zu Stande gebracht werden: durch Hungern oder einseitige Ernährung, durch Abführen oder Schwitzen, durch Dürsten oder Abhetzen – aber dies sind keineswegs schonende, für den Normalbestand des Organismus ungefährliche, sondern ins Gegentheile sehr angreifende, den ganzen Aufbau des Körpers leicht schädigende Mittel. Im großen Publikum herrscht in dieser Richtung sowie in den meisten die Gesundheit betreffenden Dingen oft ein ganz merkwürdiger Unverstand. Der hochgradig Fettleibige, welcher sich durch den Fettballast irgend unbehaglich fühlt, will durchaus in möglichst kurzer Zeit die denkbar größte Fettmenge verlieren, und so entsteht eine Jagd nach dem Arzte und der Methode, die am meisten Kilo Fett zum Schwinden bringen. Pillen, mittelst deren versprochen wird, das Fett nur so weg schwinden zu lassen, finden reißenden Absatz, und Aerzte, welche rasch abmagernde Mittel geben, haben riesigen Zulauf. Solche rasche und gewaltsame Verminderung des Körperfettes hat aber die wesentlichsten Nachtheile, indem hierdurch eine schwere mechanische Störung wichtiger Organe, besonders eine bedrohliche Erschütterung der Struktur des Herzmuskels herbeigeführt, andrerseits auch eine bedeutende Schädigung des Eiweißbestandes des Organismus, eine fühlbare Beeinträchtigung der Ernährung der Muskeln und Nerven sowie der Bildung der rothen Blutkörperchen veranlaßt wird.

Nur auf schonende Weise darf vielmehr eine allmähliche und stetige Förderung des Fettverbrauches erzielt, nur in einer [331] den Gesetzen des Stoffwechsels sorgfältig Rechnung tragenden Art darf der Fettansatz verhütet werden. Da wir wissen, daß nicht bloß das Fett der Nahrung den Fettansatz begünstigt, sondern daß sich auch aus dem Eiweiß Fett abspaltet und die in den Nahrungsmitteln enthaltenen Kohlenhydrate (Stärkemehl, Dextrin, Zucker und Gummiarten) vorzügliche Fettsparer sind, so vermögen wir den stärkeren Fettansatz im Körper dadurch in erster Linie zu verhüten, daß wir dem Fettleibigen überhaupt nicht zu viel Nahrungsstoffe zuführen, das heißt nicht wesentlich mehr, als zu seiner Erhaltung absolut nothwendig sind. Die Menge der zu gestattenden Nahrungsstoffe muß mit Rücksicht auf das Alter, die körperliche Größe, die Gewohnheit und die Blutbeschaffenheit des Individuums sorgfältig normirt werden. Die Kost soll eine gemischte sein, derart, daß die Nahrungsmittel vorwiegend Eiweiß, daneben geringe Mengen Kohlenhydrate und nur äußerst wenig Fett enthalten. Als Mittel für die Kostnorm des erwachsenen Fettleibigen möchte ich angeben, daß sie täglich 160 Gramm Eiweiß, 10 Gramm Fett und 80 Gramm Kohlenhydrate enthalten.

Vorwiegend, aber keineswegs (wie nach Banting) ausschließlich, soll also die Kost der Fettleibigen aus Fleisch bestehen, welches das zweckmäßigste Nahrungsmittel ist, um den Eiweißbedarf zu decken. Da unleugbar der Satz Geltung hat. „Fett der Nahrung macht wieder Fett“, so lege ich Gewicht darauf, daß solche Fleischarten gewählt werden, welche großen Eiweißgehalt mit wenig Fettgehalt verbinden, und hiervon nur die mageren Fleischstücke. Am fettreichsten ist aber unter den Fleischarten das Schweinefleisch, dann Kalbfleisch, demnächst Hammelfleisch, dann kommt erst Rindfleisch. Ferner reihen sich daran betreffs des Fettgehaltes in absteigender Linie: das Fleisch der Ente, von Reh, Krammetsvogel, Haushuhn, Feldhuhn, Taube. Von Fleischkonserven ist geräucherte Ochsenzunge am fettreichsten, demnächst geräucherte Gänsebrust, minder fett Rauchfleisch vom Ochsen und am fettärmsten geräucherter Schinken. Würste sind im Allgemeinen nicht empfehlenswert, weil sie viel Fett neben verhältnißmäßig wenig Eiweiß enthalten. Das Fleisch der Fische kann, schon um Abwechselung in den Speisezettel zu bringen, genossen werden; doch darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, daß der Eiweißgehalt des Fischfleisches ein weit geringerer ist als derjenige des Fleisches von Säugetieren und Vögeln. Die bedeutend fettreichen Lachs, Bücklinge, Sprotten, Heringe und Kaviar sollen vom Speisezettel der Fettleibigen gestrichen werden. Am wenigsten Fett hat der Schellfisch, ihm zunächst der Hecht, fettreicher ist der Karpfen. Austern und Krebse sind nicht reich an Fett, können daher von Fettleibigen, wenn diese sonst gute Verdauungsorgane haben, genossen werden.

Mit dem Genusse von Fleisch ist der von Gemüsen zu verbinden, doch sollen die letzteren nie mit Butter, Schmalz oder Oel angemacht werden. Die Kartoffeln, als am reichsten an Kohlenhydraten, dürfen nur in geringer Menge genossen werden. Frisches Obst, besonders Pflaumen, Erdbeeren, Himbeeren, Heidelbeeren, ferner grüner Salat sind gestattet. Süßes Kompot, Krême, Gefrorenes sind wegen ihres Zuckerreichthums von der Tafel zu verbannen. Sämmtliche Käsearten sind wegen ihres sehr bedeutenden Fettgehaltes ungeeignete Nahrungsmittel.

Brot darf nur in solcher Menge genossen werden, daß die oben angedeutete Menge der Kohlenhydrate in der Nahrung nicht überschritten werde, also etwa 50 Gramm Weißgebäck des Morgens, 25 Gramm des Mittags und 20 Gramm des Abends. Dem frischen, brosamenreichen Brote ist geröstetes Brot, Zwieback ohne Zucker und Mandeln, Grahambrod vorzuziehen. Die an Fett und Kohlenhydraten so reichen Mehlspeisen, Backwerke, Konfituren, Lebkuchen sind gänzlich zu meiden.

Von Getränken sind fette Bouillon, nicht abgerahmte Milch, ferner Chokolade und Kakao, die letzteren wegen ihres bedeutenden Gehaltes an Kohlenhydraten und Fett, schädlich; ebenso müssen des Alkoholgehaltes wegen Bier, Branntwein und Likör vermieden werden, in gleicher Weise die an Kohlenhydraten reichen Champagner und süßen Ungarweine. Als Frühstücksgetränke ziehe ich bei Fettleibigen den Thee dem Kaffee vor, weil der erstere eine weit größere Vermehrung der Kohlensäureausscheidung durch die Lungen und eine intensivere Steigerung der Hautausdünstung verursacht. Zum Mittagsmahle sind 1 bis 2 Gläser leichten, guten Weißweines gestattet. Um den Verdauungsakt nicht zu beeinträchtigen, soll während der Mahlzeiten nicht viel Wasser getrunken werden.

Sonst bin ich aber bei Fettleibigen mit guter Blutbeschaffenheit und kräftiger Herztätigkeit gegen die in letzter Zeit so vielfach empfohlene und geübte Wasserentziehung. Ich gestatte solchen Fettleibigen den Tag über, so viel sie wollen, reines gutes Trinkwasser oder kohlensäurehaltiges Wasser, Sodawasser, Selterswasser, Säuerlinge zu trinken. Ein reichlicher Wassergenuß vermag direkt auf den Fettumsatz fördernd einzuwirken, die Verbrennung des Körpermateriales zu erhöhen, die Absonderungen und Ausscheidungen zu vermehren. Bei strenger Entziehung des Wassers, dessen Einführung als Getränk eine mächtige auslaugende Kraft auf den Körper übt, kann es leicht zu einer Stauung der Auswurfstoffe im Körper und zu einer Ueberladung der Gewebe mit denselben kommen; dadurch wird weiters die Entstehung von Gicht, die Bildung von Gallensteinen und Harnsteinen bei Fettleibigen begünstigt. Blutarme Fettleibige dürfen nicht so viel trinken wie blutreiche; sonst ist es nur bei gewissen Stauungserscheinungen im Gebiete des Venensystems gerechtfertigt, die Flüssigkeitseinnahme herabzusetzen.

Von großer Wichtigkeit bei der diätetischen Behandlung des Fettleibigen ist es, diesen, der als Wohlleber häufig in der unregelmäßigsten Weise ißt und trinkt, an eine bestimmte Regelmäßigkeit der Mahlzeiten zu gewöhnen. Mit eiserner Strenge muß daran festgehalten werden, daß zu festgesetzten Zeiten dreimal bis viermal des Tages gespeist, in der Zwischenzeit aber keinerlei Nahrung genossen werde; bei keinem Mahle jedoch darf das Gefühl der Uebersättigung auftreten. Darum ist auch in der Küche dafür zu sorgen, daß alle pikanten Zuthaten und reizenden Saucen zu den Speisen vermieden werden, um den Appetit nicht in einer Weise anzuregen, daß dessen Befriedigung über das erlaubte Maß der Nahrungsmenge hinausgreife.

Wenn die oben kurz angedeutete Regelung der Ernährung das erste Gebot einer rationellen Entfettungsmethode ist, so muß als zweites die geeignete körperliche Bewegung bezeichnet werden. Es ist bekannt, daß hochgradig fettleibige Personen zumeist sehr behäbig, zu größeren körperlichen Anstrengungen ebenso wenig wie zu geistigen Arbeiten aufgelegt sind, und in der stetigen Ruhe, welche die Dicken so sehr lieben, ist gerade ein Anlaß zu stärkerem Fettansatze gegeben.

Wenn der Körper arbeitet, ist der Verbrauch von Fett gesteigert. Durch die Aufnahme von Sauerstoff in erhöhter Menge und durch die vermehrte Kohlensäureausscheidung, welche mit starker Muskelthätigkeit verbunden ist, wird der Fettvorrath des Körpers am wirksamsten angegriffen. Das wissen die Jockeys, welche bei den Pferdewettrennen eine solche große Rolle spielen, ganz genau und bedienen sich darum auch zu dem Zwecke, um sich auf das geeignete Körpergewicht zu bringen, also um abzumagern, der Methode, täglich große Lauftouren mit möglichster Schnelligkeit durch zwei bis drei Stunden vorzunehmen. Der Altmeister der Heilkunde, Hippokrates, empfiehlt bereits fettleibigen Personen, sich nüchtern vor dem Frühstücke durch einen längeren Spaziergang zu ermüden. Es ist in der That von großer Wichtigkeit, daß Fettleibige geeignete Körperbewegungen vornehmen daß sie durch häufiges Spazierengehen, größere Fußtouren, Bergsteigen, Reiten, Turnen, Schwimmen etc. ihre Muskeln in Uebung halten. Aber auch hierbei ist vor Uebertreibungen eindringlich zu warnen. Das richtige Ausmaß der körperlichen Bewegung kann nur der Arzt noch sorgfältiger Untersuchung des Fettleibigen, besonders mit Rücksichtnahme auf die Leistungsfähigkeit seines Herzens, bestimmen, und immer muß das allmähliche Steigern der Körperbewegung überwacht werden. Im Beginne einer jeden Entfettungskur darf der Fettleibige nur so viel Körperbewegung vornehmen, als für ihn und für sein vom Fette bedrängtes Herz ohne Ermüdung möglich ist. Mit der Zeit, mit der Abnahme des Körpergewichtes und mit der Gewöhnung des Herzens an die Arbeit kann die Bewegung in der Ebene vermehrt werden; dann können sich die Spaziergänge auf kleinere Anhöhen ausdehnen und allmählich kann auch das Besteigen von Bergen unternommen werden.

Bei blutarmen Fettleibigen und wenn das Herz sehr geschwächt ist, erscheint angestrengtes Bewegen, forcirtes Bergsteigen oft als ein höchst gefährliches Unternehmen. Ich habe gerade in den letzten Jahren, wo das Wort „Terrainkur“ vielfach mißbraucht ward und wo Fettleibige ohne die nöthige Auswahl es als Entfettungspflicht betrachten, auf den Bergen herumzukeuchen, [332] durch solche forcirte Bewegung wiederholt heftigste Anfälle von Uebermüdungssymptomen des Herzens, Athemnoth, ja auch plötzliche Todesfälle eintreten sehen. Welche Art von Bewegung und Arbeit für den Fettleibigen die zweckentsprechende ist, dies vermag nur in jedem einzelnen Falle beurtheilt zu werden.

Der Mahnung, mäßig zu essen und angemessen sich zu bewegen, schließt sich als dritte diätetische Vorschrift die der Enthaltsamkeit bezüglich der Dauer des Schlafens an. Im Schlafe ist der Stoffumsatz herabgesetzt, besonders die Kohlensäureproduktion vermindert und dadurch der Umsatz des Fettes ein geringerer. Eine längere Dauer des Schlafes vermag bei gleichbleibender Nahrung den Ansatz von Fett im Körper wesentlich zu fördern, während umgekehrt Verkürzung der Schlafenszeit den Fettumsatz steigert. Es ist darum gerechtfertigt, den Fettleibigen die Zeit des Schlafes auf täglich sieben Stunden zu beschränken und namentlich das Schlafen am Tage, besonders nach der Mahlzeit strenge zu verbieten. Um diese Neigung zum Schlafe, welche bei manchen Fettleibigen nach dem Essen ganz unüberwindlich scheint, zu bekämpfen, ist es zuweilen räthlich, daß nach jeder Mahlzeit sogleich eine tüchtige Fußtour vorgenommen werde. Das Schlafzimmer soll sehr geräumig und tagsüber sorgfältig gelüftet sein, damit der Fettleibige auch des Nachts eine möglichst sauerstoffreiche Luft einathme.

Hier sei es gleich betont, wie überaus wichtig überhaupt für Fettleibige der Genuß einer reinen, frischen, sauerstoffreichen Luft, besonders also der Aufenthalt in waldiger hochgelegener Gegend ist. Die sauerstoffreiche Luft regt die Lungen zu stärkerer Gymnastik an und befördert dadurch den Stoffumsatz. Die kühle dünne Höhenluft veranlaßt häufigere und ausgiebigere Athemzüge als die dicke, erschlaffende warme Luft der Ebene. Zum Gebrauche einer Luftkur empfehlen sich daher für Fettleibige mittelhoch gelegene Gegenden, welche gegen heftige Winde geschützt sind und gut gepflegte, mannigfache Spazierwege vom ebenen Boden zu den Bergen bieten.

Zu den diätetischen Entfettungsmitteln gehören auch die den Stoffwechsel anregenden Bäder, und zwar besonders die mächtig hautreizenden Bäderarten, mäßig warme (26° R.) Bäder mit Zusatz von Soda oder Kochsalz (2 Kilo auf das Bad), kalte Bäder und Douchen, sowie Dampfbäder und römisch-irische Bäder. Da es erwiesen ist, daß durch wärmeentziehende Maßnahmen eine vermehrte Wärmeproduktion im Körper auf Kosten stickstofffreier Körperbestandtheile, also vorwaltend des Fettes stattfindet, so lege ich ein großes Gewicht auf Durchführung kalter Abreibungen, am liebsten des Abends vor dem Schlafengehen. Am mächtigsten wirkt auf Steigerung der Fettverbrennung die intensive Schweißerregung durch Dampfbäder und heiße Luftbäder. Ich fand durchschnittlich nach solchen Bädern eine Abnahme des Körpergewichtes um 400 Gramm nach jedem Bade. Allein es ist sogleich hinzuzufügen, daß die Anwendung der Dampfbäder und heißen Luftbäder bei Fettleibigkeit die höchste Vorsicht erfordert und nur dort zu gestatten ist, wo die Herzthätigkeit normal von Statten geht und die Blutgefäße noch keine Verknöcherung nachweisen. Im Gegenfalle können schlimme Folgen, zuweilen auch plötzlicher Tod durch Hirnschlagfluß oder Herzlähmung eintreten. Ich muß es als sträflichen Leichtsinn bezeichnen, wenn Fettleibige ohne ärztliche Erlaubniß, wie dies nur allzu oft geschieht, Dampfbäder nehmen.

Die von mir empfohlene diätetische Entfettungsmethode gestaltet sich bei noch kräftigen Fettleibigen im allgemeinen (die Details richten sich, wie bereits erwähnt, nach der Individualität) etwa folgendermaßen.

Früh zeitlich, im Sommer um 5 Uhr, im Winter um 6 Uhr: Trinken von 1 Glas (¼ Liter) kaltem Wasser oder Selterswasser, dann 1 Stunde spazierengehen. Hernach Frühstück: eine Tasse Thee mit Milch ohne Zucker, 50 Gramm Zwieback und 25 Gramm kaltes mageres Fleisch, Schinken Roastbeef oder Kalbfleisch. Kein zweites Frühstück.

Vormittags 2 bis 3 Mal wöchentlich ein Bad von 25° R. mit Zusatz von 2 Kilo Soda, von 15 Minuten Dauer mit nachfolgender kalter Regendouche. Wenn Herz und Gefäße vollkommen gesund sind, 2 bis 3 Mal wöchentlich Dampfbad mit nachfolgender kalter Abreibung.

Mittagsmahlzeit: eine Tasse nicht fetter Fleischbrühe, ein magerer Rinder- oder Kalbsbraten oder Geflügel (200 Gramm) mit Gemüse: Spinat, Blumenkohl, etwas (25 Gramm) Weißbrot, im Sommer frisches Obst, etwas (1 bis 2 Weingläser) leichter Weißwein. Während der Mittagsmahlzeit kein Wasser trinken! Nach dem Essen nicht schlafen!

Nachmittags, um 4 oder 5 Uhr: eine Tasse Thee oder Kaffee mit etwas (20 Gramm) Zwieback.

Abends: Braten, kalt oder warm, 150 bis 200 Gramm, mit Weißgebäck (20 Gramm).

Tag über fleißige Bewegung, im Ganzen steigend bis zu 20 000 oder 25 000 Schritten täglich.

Vor dem Schlafengehen: ein Glas kaltes Wasser (oder Selterswasser) tanken; dann kalte Waschung und Abreibung des ganzen Körpers.

Bei der sachgemäßen Durchführung dieser diätetischen Maßregeln habe ich in außerordentlich zahlreichen Fällen eine allmähliche, aber stetige, langsame, aber dauernde Abnahme des überflüssigen Fettes gesehen, ohne daß der Kräftezustand der betreffenden Personen dabei wesentlich herabgesetzt wurde. Will man eine bedeutendere Abnahme des Körperfettes erzielen und handelt es sich um hochgradige Formen von Fettleibigkeit, so empfiehlt es sich, mit diesen diätetischen Maßnahmen eine mehrwöchentliche Brunnenkur vorzunehmen. Auf solche kombinirte Weise gelingt es oft, die gewünschte Entfettung in kurzer Zeit herbeizuführen und mancher durch die Fettleibigkeit vermochten Lebensbedrohung vorzubeugen.[1]

  1. Der Verfasser hat soeben (bei Enke in Stuttgart) ein vorzügliches Werk „Die Fettleibigkeit“ veröffentlicht, welches seine zahlreichen Erfahrungen über die Fettleibigkeit zusammenfaßt. D. Red.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Der Student von Salamanca.
Novelle von Rosenthal-Bonin.

Auf der Plaza Mayor der berühmten Universitätsstadt Salamanca hielt Señor Lorenzo Porja einen Tabakladen. Das Geschäft blühte; Don Lorenzo – man nannte ihn nach Landessitte nur bei dem Vornamen – hatte den besten und billigsten Tabak, und das schien den Bürgern und Bürgerinnen von Salamanca natürlich; denn Don Lorenzo kaufte stets baar ein, er war ein reicher Mann und fabrizirte mit einer großen Zahl von Arbeiterinnen seine Cigarros und Papiros, seinen Pfeifen-, Kau- und Schnupftabak selber. Lorenzos Laden wurde stark besucht; ein Dutzend Strohstühle, welche darin umherstanden, war den ganzen Tag von jungen Leuten besetzt, die dort plauderten und rauchten.

War nun auch Lorenzos Laden elegant und gemüthlich, sein Tabak vortrefflich, so beruhte doch die Anziehungskraft des Geschäftes nicht allein auf diesen beiden Eigenschaften.

Eine mindestens ebenso große Anziehungskraft übte Donna Inesilla aus, die Tochter des Ladeninhabers, ein blühendes und lebhaftes Mädchen, das zudem noch in dem Ruf schweren Reichthums stand; denn ihr mütterliches Erbtheil überwog das Vermögen ihres Vaters, welches ihr so auch einst zufallen mußte, um das Doppelte, und das wußte man in Salamanca genau genug.

Eine Schönheit konnte Inesilla nicht genannt werden, namentlich nach spanischen Anschauungen nicht; sie war von kurzem, untersetztem Körperbau, stark, hatte sehr rothe krause Haare, hellblaue Augen und nichts weniger als feine Gesichtszüge; aber ihre siebzehn Jahre, ihr Verstand und guter Humor, dann nicht zum wenigsten ihr Vermögen ließen sie als die wünschenswertheste Partie in ganz Salamanca erscheinen – und wenn Inesilla gewollt hätte, wäre sie seit zwei Jahren schon auch nach hochgesteigerten Ansprüchen gut verheiratet; denn sie erhielt das Jahr wenigstens zwölf Anträge von den beliebtesten Caballeros der ganzen Provinz Leon. Aber Inesilla wollte nicht. Sie plauderte und scherzte mit allen Bekannten ihres Vaters, bediente [333] die Kunden liebenswürdig, gefällig, eifrig, nahm auch mit fröhlichster Laune alle Schmeicheleien, Rosenknospen, Nelken und Veilchen der jungen eleganten und uneleganten Welt Salamancas entgegen; so wie jedoch jemand ernsthaftere Augen machte, ihre Hand zu halten versuchte, zu einer Zeit kam, wo zufällig kein Kunde im Laden war, verschwand Inesilla durch die goldbefranzte Gardine der Hinterthür und Don Lorenzo trat dem Ankömmling gegenüber und öffnete bedächtig den Glaskasten der Cigaretten. Das wirkte so verstimmend auf die hoffnungsreichen Caballeros, daß sie gewöhnlich vierzehn Tage lang bei Lorenzos Konkurrenten an der nächsten Ecke ihren Tabacksbedarf kauften, bis schließlich die bessere Qualität und der geringere Preis sie zu dem Laden an der Plaza Mayor zurückführte. Als gesetzte, nur noch etwas wehmüthig blickende ernsthafte junge Leute traten sie wieder ein; dann war Inesilla von verdoppelter harmloser Liebenswürdigkeit und heilte mit weichstem Herzen die Wunden, welche sie hatte schlagen müssen.

Siebzehn Jahre aber sind in Spanien für ein Mädchen schon ein Alter, und Don Lorenzo sah sich seit einiger Zeit ernsthafter nach Schwiegersöhnen um; er nannte so halb im Scherze vor Inesilla eine ganze Anzahl Namen begüterter und angesehener Männer, meist von Gutsbesitzern und Fabrikanten, deren Haus seine Tochter als Frau schmücken würde; während sie selbst sich am glücklichsten dabei fühlen dürfte; doch Inesilla erklärte stets kurzweg, daß sie noch Zeit habe, eine Versorgung nicht zu erstreben brauche und ihre Schönheit von der Art sei, daß die Zeit daran nichts verderben könne.

„Ich habe eine dauerhafte und solide Häßlichkeit“, sprach sie zu ihrem Vater, „die man später bewundern wird, indem man mir bei siebenundzwanzig noch sagen muß – ‚Sie haben sich seit Ihrem siebzehnten Jahre gar nicht verändert, Fräulein!‛

Solcher Vorzüge können sich wenige Mädchen rühmen. Also, Vater, liegt bei mir kein Grund vor, mich schnell zu verheirathen.“

Don Lorenzo schüttelte zu solchen Reden den Kopf und entgegnete: „Jugend ist etwas Unwiederbringliches und ein Mädchen, das nicht alt heirathen muß, sollte es jung thun.“ – Da ihm aber Inesilla im Geschäft eine außerordentliche Hilfe und nebenbei ein vortrefflicher Kundenmagnet war, er auch im allgemeinen gegen ihre Darlegungen nicht viel einzuwenden fand, so betrieb er seine Verheirathungspläne lau genug und ließ seine Tochter gewähren.

Seit einigen Wochen jedoch ging Inesilla viel spazieren; sie hatte sich plötzlich zu diesem Zweck eine Freundin angeschafft, ein älteres, armes Mädchen, das sie nun reichlich unterstützte. Da es in Salamanca für ungehörig gilt, wenn ein junges Mädchen ohne Dueña, ohne Hüterin, ausgeht, so wandelte denn die Tochter Don Lorenzos mit ihrer Schutzfreundin auf den Wällen der Stadt, auf der Alameda und im Parke oft und lange umher.

Vater Lorenzo fiel das auf. „Du bist ja plötzlich eine gewaltige Spaziergängerin geworden und überläßt mir stundenlang den Laden,“ äußerte er sich zu seiner Tochter; „die Sonne brennt Dich ja ganz kupferroth.“

„Ich habe gehört, viel in der Luft sein und umhergehen ist ein Mittel gegen Bleichsucht, und da ich in der letzten Zeit mich oft müde und matt gefühlt habe, will ich alles thun, um diesem schlimmen Leiden vorzubeugen,“ antwortete sie, verließ so schnell als nur thunlich den Laden und eilte auf ihr Zimmer; dort ergriff sie hastig den Spiegel und schaute ihr Gesicht an.

Das war seltsam.

Inesilla sah nicht viel in den Spiegel, weil, wie sie sagte, sie anderwärts Schöneres sehen könne – und nun veranlaßte ein


Der Löwenbräukeller in München.

[334] scherzhaft hingeworfenes Wort ihres Vaters sie sofort, beinahe ängstlich, ihr Gesicht zu betrachten und zu untersuchen, ob an der Aeußerung ihres Vaters etwas Wahres sei und die Sonne sie wirklich roth brannte; sie glättete sich sogar ein Fältchen auf der Stirn mit einem Falzbein und suchte die starken Lippen ihres Mundes durch eine besondere Muskelbewegung einzuziehen.

Das hat bei einem Mädchen von der Art Inesillas etwas zu bedeuten, und wirklich: es hatte sich etwas Merkwürdiges ereignet.

Seit zwei Monaten wünschte sie schön zu sein, gerade von dem Zeitpunkt an, da sie eine so plötzliche Leidenschaft für das Promeniren faßte.

Wie ein Blitz hatte es nämlich in ihr Herz eingeschlagen, als sie bei einem Gang durch den Park an einem armen Studenten vorüberkam, der dort einsam auf einer der Steinbänke saß.

Das schwarze Barett auf dem Kopfe, umflossen von dem langen schwarzen Talar, neigte er sich über ein Buch in seiner Hand. Er sah bleich und trübe, mager und eingefallen aus; seine Hände zitterten, er athmete schwer – aber schön war er, wie die Tochter Lorenzos noch nie einen Menschen gesehen! Das scharfe, edelgeschnittene Gesicht mit der durchsichtig blassen Farbe, die dunkeln Augenbrauen, der feine volle Mund, alles war vom schönsten Ebenmaß – und als er jetzt aufsah mit dunkeltiefen, braunen Augen, stockte Inesilla der Athem; sie konnte keinen Schritt weiter; es war ihr, als seien ihre Füße in den Boden gewurzelt; sie wollte fliehen, davonstürzen und konnte es nicht. Ihr Herz hatte, so schien es ihr, mit einem Male zu schlagen aufgehört; das alles dauerte freilich nur einige Sekunden; doch Inesilla kamen sie wie eine selig schreckliche Ewigkeit vor. Sie fühlte, daß sie purpurroth wurde – nun hatte sie auch über ihre Füße wieder Gewalt. Sie verneigte sich wie entschuldigend vor dem armen Menschen, der dort auf der Bank saß, und ging erst langsam, dann schnell wie in eiliger Flucht nach Hause.

Der Student war nach ihrem Weggange von seinem Sitz aufgestanden und hatte ihr einen Moment erstaunt und neugierig nachgesehen; dann sank er mit einem tiefen Seufzer aus die Bank zurück, noch bleicher als zuvor, und preßte die Hände auf seinen Magen, denn er fühlte sich fast ohnmächtig vor Hunger.

Es giebt in ganz Spanien, besonders aber in Salamanca, fast nur arme Studenten; diese rekrutiren sich meist aus den Kreisen schlechtgestellter Beamten oder gänzlich verarmter Adeliger. Sie gehen oft zur Universität, ohne mehr zu besitzen, als ein kleines Felleisen mit Wäsche, und sind dann der Mildthätigkeit und Gutherzigkeit der Bürger und Bürgerinnen der Stadt überlassen; oft erbetteln sie, so zu sagen, abends vor den Häusern singend und Guitarre spielend die paar Realen, welche sie vor dem Verhungern schützen, oder gewinnen sich durch Protektion Freitisch bei begüterten Familien oder in geistlichen Kollegien. Den Theologen geht es noch leidlich; denn diese kommen meist in Stiften unter; am übelsten sind die armen Philologen dran, wenn sie keine Gönner haben. Und das war leider der Fall von Pablo Verros, dessen Bekanntschaft wir eben im Parke gemacht haben.

Seit einem halben Jahre studirte der zwanzigjährige junge Mann Rhetorik und Dichtkunst, wie es in Spanien heißt; er war fleißig und begabt, seine lateinischen Verse wurden bewundert, und er war der beste Virgilübersetzer im Colegio del Rey; doch die Magenfrage überwog bei ihm schließlich die Frage nach den Wissenschaften, und wenn dem alten lateinischen Spruch zufolge ein voller Magen nicht gern studirt, wird wiederum ein Mensch, der nicht gefrühstückt hat, nicht weiß, wo er zu Mittag essen und zum Abendimbiß an Stück Brot hernehmen soll, und dem es wochenlang so geht, noch weniger gern studiren; er wird bald Tag und Nacht nur darauf sinnen, auf welche Weise er seinen Hunger stillen kann.

So ging es Pablo Verros.

Wohl war er schön und vieler Frauen und Mädchen Blicke streiften ihn mit einer Theilnahme, die besagte: dir würden wir gern helfen, du schöner Bursch! Freundlich kamen ihm die Bürger entgegen und wenn er sich bemüht, hätte er sicher auch Gönner gefunden.

Pablo Verros jedoch verstand es nicht, sich solche zu verschaffen; er beachtete die Blicke der Frauen nicht und war so schüchtern, daß er heftig erröthete und sofort die Augen niederschlug, sobald ein Mädchen ihn ansah.

Heute hatte er seltsamerweise in die Augen eines Mädchens geschaut, lange sogar – aber nicht infolge eines Gefühls, das aus dem Herzen stammte, sondern halb stumpf und geistesabwesend vor Hunger. Trotzdem hatte sich seltsamerweise seiner Phantasie das Bild dieser Frauenerscheinung eingeprägt, wie sie dastand, den Blick voll unsäglichen Mitleides und Bewunderung – sie hatte ihn sogar gegrüßt … Kannte sie ihn denn? Er erinnerte sich nicht, sie je gesehen zu haben … Weshalb betrachtete sie ihn so? Gewiß, weil er so elend aussah! Ja, in ihren Blicken lag so viel Theilnahme … aber auch noch etwas anderes sprachen ihre Augen … und Pablo Verros sann lange noch auf seiner Bank sitzend nach und kaute und sog an frischen Ulmenblättern, ein von ihm oftmals erprobtes Mittel, den bittersten Hunger zu betäuben.

Als Inesilla von diesem verhängnisvollen Spaziergang nach Hause kam, warf sie sich auf das Bett – ein solches dient in Spanien am Tage als Sofa – und weinte aus voller Seele, aus Mitleid mit dem armen Menschen; denn daß er bitterarm sein mußte, das sah sie an seinem verhungerten Gesicht, an seinen zitternden Händen, an seiner abgeschabten Kleidung, an seinen zerrissenen Schuhen. Dann aber weinte sie auch, weil dieser Mensch so schön war, daß er ihr das Herz mit schmerzlicher Gewalt gepackt hatte, mit einer Macht, die sie hinzog zu jenem ihr bisher ganz Fremden, sich ihm an den Hals zu werfen, ihn heiß zu küssen und, wenn es sein müßte, seine Armuth mit ihm zu theilen.

Es war dies ein schreckliches Gefühl. Sie, eine gut erzogene Tochter, die so vernünftig war und so ruhig über alle Männer dachte, traf die Erscheinung dieses armen Studenten wie ein Blitz; sein Anblick zerschmetterte ihren Gleichmuth und ihre Ruhe und erfüllte sie mit einer ihr ganz unbekannten Leidenschaft.

War er ein Zauberer, hatte er überirdische Mittel an der Hand, Mädchen zu verwirren, zu bethören, sich zu eigen zu machen? Sie hatte ihn so nur einen Augenblick gesehen! Stand er mit dem Bösen im Bunde, der ihm diese Macht verliehen? Aber ein Zauberer hungert nicht und diesem Manne lag der Hunger auf dem Gesicht – und welcher Schmerz, welcher tiefe Gram in seinen schönen Auge, das ihr diesen Brand in die Seele geworfen!

Inesilla hörte plötzlich zu weinen auf.

Warum sollte sie nicht lieben, fragte sie sich, und weshalb nicht einen armen Studenten? War denn das etwas Schreckliches, überlegte sie weiter, mußte denn ihr zukünftiger Mann durchaus ein Gutsbesitzer, ein Fabrikant und reich sein? Hatte sie nicht selbst viel Vermögen und das Recht, sich einen Mann zu wählen, warum durfte das kein Student sein? Werden diese nicht geachtete, ja oft sogar berühmte Männer, Aerzte, Advokaten, Professoren, Minister selbst? Weshalb sollte es ein Unglück sein, einen Studenten zu lieben, und aus welchem Grunde „heulte sie so darüber,“ sagte sich Inesilla mit ihrem wiederkehrenden Humor, „in einen Studenten sich sterblich verliebt zu haben?“ Ihr Vater würde freilich große Augen machen, wenn sie ihm das entdeckte, und es dürfte einen heißen Kampf absetzen; aber schließlich würde sie doch siegen – das traute sie sich zu, das wußte sie … plötzlich verdüsterte sich ihr Gesicht; sie sprang auf vom Bette und eilte zum Spiegel, sah dort hinein und warf ihn wieder fort.

„Wird er mich denn wollen?“ rief sie fast laut aus. „Ich bin häßlich; wird ein so feiner, schöner Mensch mich nehmen mit dem rothen dicken Gesicht und den großen ausdruckslosen Augen und den rothen Haaren?“ Und jetzt eilte Inesilla zum großen Wandspiegel, setzte sich davor, betrachtete sich eingehend und lange, band ihr Haar auf und versuchte sofort eine neue Frisur. „Man kann nicht wissen,“ murmelte sie dabei, „ich habe etwas Eigenes. Man sagt, daß die Gegensätze sich anziehen; vielleicht liebt gerade der Schöne mich, wie ich, die Unschöne, ihn – die Natur soll ja ungeheuer weise sein, hat der französische Gelehrte einst im Laden mir erklärt, sie soll die Gegensätze auszugleichen sich bestreben. Vielleicht ist es eine solche ungeheure Weisheit der Natur, daß wir uns beide haben sollen. Ich will sie darauf hin jetzt prüfen,“ schloß Inesilla ihren stillen Monolog, machte sich die neue schöne Frisur fertig, verschaffte sich eine ältere Freundin, studirte von nun an ihr Gesicht noch eifriger in dem Spiegel und machte fleißig Spaziergänge nach den Wällen und besonders nach dem Park hin.

Schon am dritten Tage nach der ersten Begegnung traf sie Pablo auf derselben Bank unter den Ulmen.

[335] In ihrer resoluten Art nahm sie mit der Freundin, die sie in ihr Geheimniß eingeweiht, auf der Bank neben dem Studenten Platz.

Sie grüßte beim Niedersitzen leicht, sah dann in das Grün, wo das Sonnenlicht lieblich still zwischen den Blättern flimmerte, und fragte nach einigen Momenten des Schweigens den jungen Mann, ob sie ihn auch nicht im Lesen störten.

„Nein, durchaus nicht,“ stotterte Pablo – er wolle im Gegentheil, falls er den Damen hinderlich sei, eine andere Bank aufsuchen.

Das konnte Inesilla nun keineswegs zugeben. „Ich liebe die Gelehrten,“ sagte sie, „und ihre Gespräche. Was für ein Buch studiren Sie da, Señor?“ erkundigte sie sich teilnahmsvoll.

„Den ‚Virgil‛, Señora.“

„Wer ist das – hieß nicht ein alter Zauberer so?“ warf Inesilla ein, den jungen Mann neben sich einen Moment fast ängstlich anblickend.

„Nein, ein Zauberer war Virgil nie – die mittelalterliche Sage machte ihn zu einem solchen. Virgil war ein altrömischer Poet, der die Erzählung von Aeneas und Dido und Lobgesänge auf den Ackerbau gedichtet hat.“

So erläuterte der Student. Das interessirte Inesilla sehr und sie ließ sich von Virgil und dem Inhalt seiner Dichtungen erzählen.

Sie war ganz Ohr und ihr Auge hing an dem schönen, beredten Munde des Studenten, der jetzt dieser so aufmerksamen und ihn bewundernden Zuhörerin größere Stücke des römischen Dichters vorlas, übersetzte und mit Eifer und mit Begeisterung erklärte.

Inesilla erkundigte sich nach dem Namen und den Verhältnissen des Studenten. Sie erfuhr, daß Pablo Verros der Sohn eines verarmten Gutspächters sei und „auf das höhere Lehrfach“ studire, was ihm freilich seine Mittellosigkeit sehr erschwerte. Das letzte sprach er leise, höchst schüchtern, nur andeutend, so zu sagen.

Die Damen standen auf. Inesilla erklärte sich tief in der Schuld für die angenehme genuß- und lehrreiche Stunde, die sie dem Señor verdanke, und sprach die Hoffnung aus, daß sie wohl öfter noch sich begegnen dürften, da sie in Salamanca wohne, auf der Plaza Mayor, und der Herr ja seines Studiums wegen gewiß noch eine Zeit lang hier bleiben werde. Dann empfahlen die Damen sich – Inesilla mit einem Blick in Pablos Augen, der sehr viel sagte und den jungen Mann erröthen, im tiefsten Herzen erbeben machte.

Darauf sah er die beiden Gestalten in dem verschlungenen Wege hinter dem Springbrunnen verschwinden. Eine Zeit lang saß er noch in tiefem Nachdenken da; dann ergriff er sein neben ihm liegendes Buch und wollte sich erheben, als seine Hand auf ein kleines Päckchen glitt.

Erstaunt betrachtete er es, es fühlte sich hart an – er öffnete es und hielt ein Zwanzigfrankenstück in der Hand. Erschreckt und gedemüthigt zugleich sprang er auf; er wollte den Damen nacheilen, denn nur von diesen konnte es kommen. Da flatterte aus dem Papier ein Zettel auf die Erde; er nahm ihn auf – er sah Schriftzüge auf demselben und Pablo las. „Als Honorar für die geistvolle Unterrichtsstunde. Inesilla.“

Jetzt erinnerte Pablo sich, daß er die junge Dame hatte etwas schreiben und die andere dann ein Blatt Papier zusammenfalten sehen.

„Sie ist ohne Zweifel reich,“ sprach er vor sich hin, stets eifrig in den Zettel schauend. „Als Honorar für die Stunde – ich verschmachte fast vor Hunger – das ist kein Almosen; von ihr möchte ich kein Almosen; es ist mit meinem Geist, mit meinen Kenntnissen verdient“ – überlegte er weiter; „wenn es auch mit großer Freundlichkeit und heimlich mir gegeben worden,“ setzte er etwas bedenklich hinzu; „aber ich darf es nehmen,“ schloß Pablo seine Erwägungen und ging, das gewaltige Stück Geld krampfhaft fest in der Hand haltend, zu einem Restaurant, wo er mit dem tiefsten Dankesgefühl für die großmütige eigenartige interessante Schülerin seit langer Zeit sich wieder einmal satt aß.

Inesilla war nach dieser Unterrichtsstunde im Parke noch entzückter von dem armen Studenten als vorher; er übertraf alle ihre Ideale und Träume von einem Manne. Bisher hatte sie nicht viel über die Männer nachgedacht, am wenigsten über Gelehrte; sie ahnte gar nicht, was höher Gebildete wissen könnten; denn außer Lesen, Schreiben und Rechnen verstand sie nichts, und von Büchern hatte sie nur das Leben der Heiligen von Pater Antonio und ein Märchenbuch gelesen – und jetzt strahlte auf sie, die eine sehr bildungsfähige Seele hatte, eine solche Fülle von Wissen, vorgetragen von dem schönen, jungen Mann, in jugendlich schwungvoller poetischer Form, daß ihre Neigung zu heller Flamme emporlohte und dieser arme Student ihr ganzes Leben derart erfüllte, daß gar nichts weiter daneben Platz fand. Das Geschäft, ihr Vater, Freunde, Bekannte, alles war ihr Nebensache; sie war glückselig, nach der zweiten von ihr klug eingefädelten Unterrichtsstunde eine merkbare Theilnahme des jungen Pablo für sich wahrgenommen zu haben, einen Blick, der wärmer war als seine früheren; er hatte ihren Händedruck beim Abschied zwar nur zart, aber doch so gefühlvoll erwidert und sie schwelgte nun in der sicheren Hoffnung, wenn nicht jetzt schon, so doch in kurzer Zeit von dem schüchternen jungen Mann so tief, wie sie es wünschte, wiedergeliebt zu werden.

Jedoch nicht nur Inesilla war selig vor Zukunftsträumen; auch ihr Vater trug sich mit rosigen Hoffnungen.

Er hatte nämlich einen neuen Artikel, den erst ganz vor kurzem ein italienischer Arzt erfunden, fabrizirt und baute darauf herrliche Luftschlösser seines Ehrgeizes.

Sein Ideal war, Hoflieferant des Königs Alphons in Madrid zu werden; nur schien dies in dem abgelegenen Salamanca fast ein Ding der Unmöglichkeit. Da erfuhr er das Geheimniß der Hanfcigarette, der Papiros canabicos; er wußte, daß König Alphons sehr an Asthma litt, und diese Cigaretten hatten die Eigentümlichkeit, das Herz so zu erleichtern, die Stimmung derartig zu heben, den Pulsschlag auf solche Weise anzuregen, daß hierdurch die Atemnot überwunden ward und eine außerordentlich heitere und behagliche Stimmung den Raucher ergriff.

Von diesen Cigaretten trachtete er, dem König ein Geschenk zu machen.

Er hatte beschlossen, zehntausend Stück dieser Gattung zu fabriziren, dieselben hochelegant umhüllt und noch mit dem medizinischen Zeugniß versehen nach Madrid an den König zu senden, und er zweifelte keinen Augenblick daran, als Erkenntlichkeit dafür den Hoflieferantentitel zu bekommen.

Vorerst, bis das Quantum fertig war, mußte jedoch, damit kein anderer etwa die Waare auf den Markt liefere, über die ganze Angelegenheit tiefes Schweigen bewahrt werden, und wirklich erfuhr niemand etwas, als der ins Vertrauen gezogene Arzt, welcher sich gleichfalls Außerordentliches für seine Person von diesem Unternehmen versprach.

So machte denn der Mediziner Hanfextrakt; Don Lorenzo tränkte damit den feinsten türkischen Tabak, trocknete das Präparat sorgfältig und ließ es in Papier füllen. Fünftausend waren schon fertig; noch zwei Monate, und das kostbare Geschenk konnte abgehen, und Lorenzo sah im Geiste schon das vergoldete Schild über seinem Ladeneingange mit der Inschrift „Provedor de la Corte d. S. M. del Rey“

Wäre er nicht so in seiner Arbeit und in seinen Träumen befangen gewesen, so hätte er sicherlich das verwandelte Wesen und die häufige Abwesenheit seiner Tochter wahrnehmen müssen. Dieser Umstand ermöglichte es Inesilla, so viel Unterrichtsstunden zu nehmen, als sie wollte, und ihren Geist ebenso wie ihre Liebe auszubilden. Nach beiden Richtungen hin machte sie reißende Fortschritte.

Ein Wurm nagte jedoch an ihrem Herzen, die Frage nämlich: liebte Señor Pablo sie auch wirklich?

Er war so zurückhaltend – nahm er ihre Hand einmal, so ließ er sie gleich wieder los; schaute sie ihm tief in die Augen, so schlug er die seinen nieder – ja trotzdem sie es ihm so nahelegte und eines Tages sogar ohne die Dueña in den Park kam, hatte er ihr nicht einmal einen Kuß gegeben. Zwar leuchteten seine Augen, wenn er sie erblickte, und zitterte seine Hand, wenn sie die ihrige ganz zufällig auf dieselbe legte; auch ging er täglich zweimal an ihrem Laden vorüber und warf einen Blick hinein, der ihr wie ein Feuerstrom in das Herz fuhr; er fehlte auch nie bei einer Unterrichtsstunde im Park, und selbst beim schlechtesten Wetter war er mit einem großen Regenschirm da und wartete geduldig; aber weshalb drückte er ihre Hand nicht [336] wieder, weshalb nahm er nicht ihren Kopf plötzlich zwischen seine Hände und küßte sie; weshalb erklärte er sich, nicht, da er doch wußte, daß sie ihn liebte, wissen mußte, daß ein Mädchen nicht thun konnte, was seine Sache war? Empfand er nur warme Freundschaft für sie? Liebte er sie nicht so stark, um sein Leben an das ihre zu knüpfen? Diese quälenden Fragen legte sich Inesilla unzählige Male vor, zweifelte, bangte, grämte sich und beantwortete sich doch die große Frage schließlich zu ihren Gunsten.

Das Räthsel dieses Benehmens von seiten des jungen Studenten war sehr einfach zu lösen. Inesilla gefiel ihm in ihrem Wissenseifer außerordentlich, er fand ihr blühendes, gutherziges, geistvolles Gesicht schön, er liebte sie wahrhaft; doch wie durfte er, ein bettelarmer Student, sich Hoffnung auf das reichste Mädchen der Stadt machen? Der Vater würde sie ihm niemals geben! Auf was hin sollte er sie heirathen, was konnte er ihr bieten? Es wäre gewissenlos und frech von ihm gewesen, ein Liebesverhältniß mit dem Mädchen einzugehen, und er machte sich die schwersten Vorwürfe, daß er zu den Rendezvous im Parke ging.

Er nahm sich täglich vor, an ihrem Laden nicht mehr vorbeizugehen, das Mädchen zu meiden, sich zu verbergen vor ihr – und nach wie vor spazierte er am Geschäftslokal vorbei, nach wie vor warf er sehnsüchtig feurige Blicke zu ihr hinein, täglich kam er in den Park zu der bekannten Stelle. Seine Liebe wuchs im gleichen Maße mit seinen Gewissensbissen. Der Verstand kämpfte vergeblich mit dem Herzen, und hatte früher der Hunger an seinem Leibe gezehrt, so nagte setzt an ihm und brachte ihn körperlich noch tiefer herab – der Zwiespalt seiner Seele.

Plötzlich schien der Student spurlos verschwunden; er kam nicht mehr zu den Unterrichtsstunden im Park und ging auch nicht mehr am Laden vorbei – nirgends sah man ihn.

(Schluß folgt.)



Was uns der Büchertisch erzählt.

So wenig die Lieder im deutschen Dichterwalde je verstummen, so wenig erlahmt auch die Lust am Fabuliren, und in immer neuen Verwickelungen, in immer neuer Beleuchtung führen unsere Erzähler uns das Menschenleben vor – nicht bloß das Leben der Gegenwart, sondern auch dasjenige vergangener Zeiten. Und die Eigenart der Dichter selbst giebt ihren Schöpfungen stets den Reiz der Neuheit.

Auch viele unserer Poeten, die sich der gebundenen Rede bisher mit Erfolg bedienten, haben sich jetzt dem Roman zugewendet, darunter Wilhelm Jordan, der Dichter der „Nibelungen“, die er selbst als vorzüglicher Rhetor diesseit und jenseit des Oceans mit großem Zulauf und Beifall vorgetragen hat. Aus der sagenhaften Welt der Chriemhild und Brunhild, des Siegfried und Hagen ist er jetzt ganz in unser modernes Leben übergesiedelt und hat zwei Romane geschrieben, von denen der letzte, „Zwei Wiegen“ (2 Bde., Berlin, Grotesche Verlagsbuchhandlung), als ein ganz eigenartiges Werk betrachtet werden muß. Es ist keine jener leichtflüssigen Erzählungen, deren Strom das Schiff der Handlung mit vollen Segeln trägt: es sind da allerlei schwerwiegende Gedanken, welche theils der Erfindung zu Grunde liegen, theils in selbständigen Auseinandersetzungen sich breit einschieben in die Geschichte der menschlichen Schicksale, deren Verlauf die Spannung der Leser erregt. Wilhelm Jordan gehört nicht zu den Schöngeistern gewöhnlichen Schlags; er hat von Jugend auf eine tüchtige philosophische Bildung genossen, er war Politiker und Naturforscher, ist in sehr vielen Sätteln gerecht – und die Breite des Romans giebt ihm bequeme Gelegenheit, das alles, was er studirt und erfahren, in seinen Kapiteln abzulagern. Seine Darstellungsweise hat auch in den Versdichtungen etwas Wuchtiges und Schweres; das Streben, der Sprache das Gesetz zu diktiren und neue Wörter zu bilden, denen er das Gepräge seiner Eigenthümlichkeit ausdrückt, tritt auch in den Romanen unverkennbar hervor.

„Zwei Wiegen“ behandelt die Frage von der Erbschaft des Blutes, von jenem dem Menschen angeborenen Verhängniß. Da stehn zwei Geschlechter in schroffem Gegensatze, die Lelands stammen aus einer Glückswiege. Ein Ahnherr, ein Offizier des Großen Kurfürsten, war in schwedische Gefangenschaft gerathen, wurde aber aus Karlskrona mit Hilfe der Tochter des Kommandanten befreit und floh mit ihr über die Ostsee nach Memel. Das Holz des kleinen Segelboots, auf dem sie flüchteten, soll von einer heiligen Eiche stammen; aus diesem Holze ließ sich das glückliche Ehepaar die Wiege bauen. Die andere Familie, die Schönborns, wollte von einem Edelmann stammen, der ins heilige Land gereist, eine Urkunde im Kloster Oliva berichtete, wie derselbe im Schatten einer uralten Ceder auf dem Libanon gewohnt, in der Klause eines gelehrten Eremiten, welcher aus dem Samen der Riesenceder sich eine Baumschule junger Bäume zog.

Einen dieser Sprößlinge kaufte der Reisende nebst einem auf Pergament geschriebenen Spruch in gereimten lateinischen Versen, in denen ungefähr gesagt wurde, daß dieser Baum, wenn gepflanzt und großgepflegt im eignen Grund und Boden, das Gedeihen der Familie sichern werde und nicht nur, so lange er lebendig wachse, sondern sogar noch nach seinem Absterben, wenn dann sein Holz verwendet würde zu einer mit dem Kreuze geschmückten Wiege. Als Jürgen Schönborn verstorben, der schwächlich und verwachsen wie sein Bruder Jobs und seine häßliche einäugige Schwester Ulrike war, sollte das Gut Schönborn verkauft werden. Jürgens Sohn Leberecht konnte es später nicht behaupten. Bruder Jobs heirathete die Tochter eines Rechtsanwalts; sein körperliches Gebrechen erbte sich aus eine Tochter Jobaea fort, ein kluges frohsinniges Mädchen, aber häßlich und verkümmert, später durch ungeschickte Behandlung des Orthopäden körperlich fast gänzlich zu Grunde gerichtet. Das ist die Leidensgeschichte derer aus der Cedernwiege; aus der Eichenwiege aber ist ein herrlicher Sproß erstanden, Loris Leland, ein schöner kräftiger Jüngling, der eigentliche Held des Romans. Seine Liebe zu der schönen Müllerstocher, deren herzlose Eitelkeit er allmählich kennen lernt, sowie seine Werbung um die anmuthige Lenore, die ihm gegenüber als kleines Mädchen tapfer ein seltsames Abenteuer bestanden und die Erinnerung daran im Herzen trägt, bilden den Hauptinhalt des Romans, soweit es die Herzensgeschichte des Helden betrifft.

Es sind aber außerdem allerlei höchst merkwürdige Dinge darin; wir sprechen nicht von den Abhandlungen über Astronomie und Darwinismus und Erziehungskunst, von welcher letzteren uns eine ganz absonderliche Probe gegeben wird in der Menschendressur, welche der Hüne Liebherr in seiner Archenburg ausübt; wir sprechen besonders von den aufs ausführlichste erzählten Vorbereitungen zur Wasserfahrt der kranken Jobaea, deren Körper keine Erschütterung verträgt, und welche durch Loris auf dem Wasserwege den Ihrigen wieder zugeführt wird. Hier bereitet sich der Verfasser als ehemaliger Marinerath ein besonderes Fest: an diesen Detailschilderungen der Wasserstauungen, der Bach- und Seefahrt könnte mancher Wasserbauingenieur seine Freude haben.

Daß die Erbschaft des Blutes zum Verhängniß für die Einzelnen wird, ist allerdings der Grundgedanke des Romans, aber er zeigt auch, wie der menschliche Geist durch sein freies Streben jene Schranke zu überwinden vermag. Nikolaus Bajör, des Müllers Sohn, der verstoßene Krüppel, der stets mit seinen Raben erscheint, wird durch die Beihilfe von Loris ein hervorragender Künstler und die unglückliche nicht minder krüppelhafte Jobaea findet in ihrer für alles Schöne und Große empfänglichen Seele reichen Ersatz für körperliche Mißgestalt und versagte Lebensfreude.

Diese Jobaea ist übrigens ganz nach dem Leben gezeichnet. Von Königsberg aus besuchten Jordan und ich als junge Akademiker ein Fräulein Rosalie Schoenfließ in Insterburg, deren litterarischer Nachlaß später veröffentlicht wurde: sie ist das Modell, welches dem Dichter bei seiner Jobaea vorgeschwebt und dessen Züge er treu in der Erinnerung bewahrt hat.

Paul Lindau giebt in seinem „Berlin“ (Berlin u. Stuttgart, Spemann) Studien aus dem Leben der deutschen Reichshauptstadt. Dem ersten Roman „Der Zug nach dem Westen“ folgte der zweite „Arme Mädchen“. Beide sprechen für das Talent des Autors, anschaulich zu schildern, die Vorgänge gefällig darzustellen,

[337]

Liebesbotschaft.
Originalzeichnung von F. Fehr.

[338] die Gespräche geistreich zu beleben. „Arme Mädchen“ führt uns in die Kreise des Berliner Proletariats, aus denen die Heldin, Gretchen, sich nicht loszureißen vermag. Wo ihr eine glücklichere Lebensstellung winkt oder wo sie auch nur ein ausreichendes Unterkommen gefunden hat, da wird sie durch ihre Familie, besonders durch ihren trunkenen Vater, der sie wie ihr böser Gast verfolgt, selbst unmöglich gemacht. Auch als Pflegerin im Irrenhause kann sie sich nicht behaupten, seitdem der Vater dort herangebracht ist; sie sucht den Tod in den Wellen der Spree. Der Gemütszustand des armen Mädchens ist mit großer Feinfühligkeit geschildert und ein elegischer Hauch umschwebt dies ganze von rastloser Sehnsucht aufgezehrte Leben – die Odyssee des Proletariats.

Doch hier muß man mit dem Dichter rechten; er läßt ein braves und tugendhaftes Mädchen, das allen Versuchungen widersteht, rettungslos zu Grunde gehn, während eine allerdings aus den Kreisen der vornehmeren Armuth hervorgegangene Freundin, trotz einer Verirrung, die um so größer ist, je unbegreiflicher sie erscheint, ein wünschenswerthes Lebenslos erreicht. Das ist grausam, aber noch mehr, es wirkt entmuthigend und niederdrückend und giebt uns nicht die volle Lebenswahrheit wieder. Der Dichter hätte der unglücklichen Grete zum Kontrast ein anderes armes Mädchen gegenüberstellen sollen, dem die Armuth nicht das ganze Leben verkümmert, sondern das sich seine Zufriedenheit wahrt und ein stillbegnügtes Glück begründet; dadurch wäre, so sehr wir auch das Schicksal Gretchens beklagen müßten, doch eine moralische und künstlerische Befriedigung hervorgerufen und der Anschein vermieden worden, als solle das Geschick Gretchens nicht bloß ein zufälliges Menschenschicksal, sondern ein allgemein gültiges Abbild sein von der Nichtigkeit aller Bestrebungen der Armuth, auch ein bescheidenes menschenwürdiges Los zu erreichen.

Paul Lindaus erzählendes Talent bewährt sich in diesem Roman in glänzender Weise; er versteht es zu spannen und einzelne Schilderungen sind von ergreifender Wahrheit. Zu Jordans Darstellung mit ihrer Gedankenwucht, ihren naturwissenschaftlichen Exkursen, ihrem ins Breite gehenden Behagen steht Paul Lindaus leichtflüssige Erzählungsweise in schroffem Kontrast. Er ist kein sklavischer Nachahmer der Novellisten an der Seine, doch er hat ihnen die graziöse Leichtigkeit abgelernt, die uns von Kapitel zu Kapitel führt, ohne uns je zu ermüden. Alles giebt sich natürlich und ungezwungen und wir müssen dem geschmeidigen Erzähler scharf auf die Finger sehen, wenn wir ihn bei einer Unwahrscheinlichkeit ertappen wollen.

Wieder eine gänzlich verschiedene Physiognomie trägt Wilhelm Jensen zur Schau, dessen Geschichtencyklus „Aus schwerer Vergangenheit“ (Leipzig, B. Elischer) uns in die schreckensreiche Zeit des Dreißigjährigen Krieges versetzt, aus welcher der Autor schon so manche kleinere und größere Erzählung herausgegraben hat. Die Zeit mit ihrer abenteuerlich bunten Bewegtheit paßt für manche kecke Erfindung, wie sie der Dichter liebt, aber sie paßt auch für das Gewaltsame und Düstere, das er mit Vorliebe schildert. Eine abenteuerliche Geschichte ist die erste „Unter frommem Schutz“. Der Fähndrich Eitelwolf erschlägt seinen Hauptmann beim Würfelspiel und soll dafür gehängt werden. Auf dem Gange zum Galgen wird er durch die Aebtissin eines Klosters gerettet, welches das „Scherenrecht“ besitzt.

Unsere Leser besinnen sich, daß auch die „Gartenlaube“ eine illustrirte Novelette, welcher derselbe Stoff zu Grunde gelegt ist, gebracht hat (vergl. Jahrg. 1887, S. 297). Die Prinzessin-Aebtissin in der Jensenschen Erzählung, die den Fähndrich Eitelwolf gerettet hat, ist keine andere, als seine Jugendgeliebte Magdalis Hasenfratz, die nach mancherlei Abenteuern einen italienischen Principe geheirathet und nach dessen Tod zu hoher klösterlicher Würde emporgestiegen. Die beiden haben, nachdem auch er sie wieder erkannt, nichts Eiligeres zu thun, als aus dem Kloster zu entfliehen und sich dann von einem Priester, dem einzig Ueberlebenden einer verwüsteten Stadt, trauen zu lassen. Wie aus dem Ordensgewand der würdigen Aebtissin auf einmal wieder die übermütige, lebenslustige Jungfer Hasenfratz herausschlüpft, das ist schalkhaft und ergötzlich geschildert. Die zweite Geschichte „Auf der Lateinschule“ spielt großenteils in der Stadt Landshut, und da fehlt es nicht an Kriegsabenteuern, an Mord und Brand. Dem würdigen Rektor der Lateinschule wird von schwedischen Soldaten der Kopf vom Rumpfe getrennt; sein einst von der Straße aufgegriffener Famulus Konrad Mentelin und seine Tochter Helia, die einander in stiller Liebe zugethan sind, erleben wunderbare Schicksale, werden gerettet, ohne etwas von einander zu wissen, und finden sich zuletzt in Weimar wieder, nachdem Konrad unter den Fahnen des Herzogs Bernhard tapfer gefochten. „An der See“ ist eine Episode der Belagerung von Stralsund. Die Bewohner der Südwestküste von Rügen, tapfere Schiffer, bemächtigen sich eines von Wallenstein gebauten Schiffes. Dazwischen eine romantische, trotzige Liebe, die gehörig in Wasser gebadet wird, ehe der Alte darüber seinen lakonischen Segen spricht.

Die eigenartigste Erzählung ist „Ueber der Haide“, sie enthält stimmungsvolle Naturbilder, welche an diejenigen Adalbert Stifters erinnern; das Zigeunermädchen, das mitten unter dem raschelnden harten Blattwerke des Schilfs auftaucht, wird die Heldin romantischer Episoden, während die Liebe zwischen der Pfarrerstochter und dem jungen Studenten, dem Pflegesohne des Pfarrhauses, einen idyllischen Reiz bewahrt. Doch in das freundliche Leben der Lüneburger Haide bricht bald der Kriegslärm, bricht Freund und Feind verwüstend ein; grelle Brand-, Raub- und Mordscenen lösen sich ab, der Pfarrer selbst wird zu einem Ungläubigen und Gottesleugner, der seine Bauern in den Kampf führt, nur die beiden Liebenden finden ein friedliches Glück.

Die letzte Erzählung „Um ein Menschenalter später“ bringt uns noch einen Nachhall früherer Kämpfe in dem Zweikampf zweier Bürger der Reichsstadt Nördlingen, die in feindlichen Lagern sich an dem großen Krieg betheiligt hatten. Das Ganze führt zu versöhnlichem Abschluß; es hat einen mehr genrebildlichen Charakter; der verschnörkelte und verzierte Stil der Rede und des Lebens, der damals zur Geltung gekommen, wird von dem Autor mit Behagen ausgemalt.

Im höheren Idealstil der historischen Erzählung ist Karl Frenzels Novelle „Schönheit“ (Berlin, Gebrüder Paetel) gehalten. Die Handlung spielt in Florenz zur Zeit des Bußpredigers Savonarola, der nach dem glänzenden kunst- und lebensfreudigen Zeitalter der Medicis die Welt mit einem düstern, in Sack und Asche trauernden Bußgefühl zu erfüllen suchte. War doch damals aus dem Platze vor der Signoria eine riesige achtseitige Pyramide errichtet worden, in allen Farben schillernd, von Gold und Silber leuchtend; Masken und Larven, falsche Bärte und Harlekinskleider, Damenbretter und Schachspiele, elfenbeinerne Kämme und silberne Spangen, Schmuckgeräthe der Frauen und die Bücherrollen der Gelehrten, Lauten und Geigen, Würfelbecher und Gemälde bildeten sie in buntem Durcheinander und oben thronte als Krönung des Ganzen eine weithin sichtbare groteske Figur, halb wie ein Teufel, halb wie ein verlarvter Spaßmacher ausstaffirt, mit gelben Fledermausflügeln.

Und dieser Karneval ging in hellen Flammen auf unter dem Jubelgeschrei des Volks; stürmisch wie bei einer Feuersbrunst läuteten dabei alle Glocken. Das war der Höhepunkt der Bewegung, die der düstere Mönch hervorgerufen; am Schlusse der Erzählung sehen wir seinen Sturz, die Erstürmung des Klosters von San Marco durch das Volk von Florenz. Die Liebe Giulianos, eines Gegners der mönchischen Reformbewegung, zu Elena, die anfangs in die Pyramide der zum Feuer verdammten Weltlust die Sonette des Petrarca und eine Perlenkette trägt und so Giuliano zuerst begegnet, zieht sich durch die geschichtlichen Lebens- und Sittenbilder. Auf den Wunsch des Vaters hatte Elena den Lionardo Vacchi geheirathet, doch als sie in ihm einen Verräther erkannte, folgte sie ihrer Liebe zu Giuliano und begleitete diesen auf seine Villa in Fiesole. Als ihn die politischen Verwicklungen in die Stadt riefen und er dort längere Zeit verweilte, fühlte sie das Peinliche, Aussichtslose ihres Verhältnisses; auch sie begab sich insgeheim dorthin, sah ihren Giuliano mitten in glänzenden Festen, nach der Meinung des Volkes bereits mit der schönen Dame verlobt, die er zum Tanze führte; Elena begab sich dann in das Kloster von San Marco und ging bei der Erstürmung desselben durch das Volk zu Grunde, indem ihr eigener Gatte, der sich unter den wild Eindringenden befand, die Treulose durchbohrte.

Diese Erzählung hat ein farbenreiches Kolorit; lebendige Schilderungen wechseln ab mit sinnigen Betrachtungen und das Bild jener interessanten geschichtlichen Epoche tritt mit fesselnden Zügen vor uns hin.

Ins deutsche Mittelalter führt uns der fesselnde Roman von Julius Wolff „Das Recht der Hagestolze, eine Heirathsgeschichte aus dem Neckarthal“ (Berlin, G. Grotesche Verlagsbuchhandlung). [339] Julius Wolff ist durch seine volkstümlichen Neudichtungen älterer Sagen ein Liebling des Publikums geworden. Die neue Heirathsgeschichte knüpft an eine Rechtsbestimmung an, der zufolge der Landesfürst das Recht hat, die Güter eines Hagestolzen zu konfisciren, sobald derselbe das fünfzigste Lebensjahr überschritten hat. Wir werden nun in die Kreise der Raubritter eingeführt, die auf den Burgen am Neckar zwischen Heilbronn und Heidelberg hausen. Drei Brüder, drei Ritter von Steinach, leben hier zusammen; der eine von ihnen, Hans, eine ehrliche naive Natur, ist ein Hagestolz, der fast an jenes verhängnißvolle Alter heranreicht; er ist ein fanatischer Gegner der Ehe und hat besonders einen unüberwindlichen Abscheu gegen Schwiegermütter. Vom „Recht der Hagestolze“ weiß er nichts; wohl aber hat sein Bruder Bligger, ein Intrigant, doch der beste Kopf der raubritterlichen Familie, darüber Erkundigungen eingezogen und sich mit den andern Familiengliedern sowie mit den nächsten Freunden darüber verständigt, man müsse Hans verheiraten, damit sein Erbe nicht dem Pfalzgrafen anheimfalle. Eine schöne Witwe, die in der Nachbarschaft auf der Minneburg lebt, wird ausersehen, die Braut von Hans zu werden, obschon die Steinachs mit dieser Juliane von Rüdt auf gespanntem Fuße stehen und mit ihrem früheren Gatten in offener Fehde gelebt haben. Allerdings hatten Hans und Juliane früher einmal große Zuneigung für einander empfunden.

Die Erzählung führt uns nun vor, in welcher Weise die Anknüpfung zwischen den beiden Häusern ins Werk gesetzt wird, wie in Juliane und Hans wieder die alte Neigung erwacht, wie dieser aber trotz seiner Liebe anfangs seine Ehescheu bewahrt, während die Versöhnung der Familien plötzlich wieder einen harten Stoß erhält, als Juliane von einer intriganten Freundin in die Geheimnisse des Hagestolzenrechts eingeweiht wird und in der Bewerbung von Hans jetzt schnöden Egoismus sieht. Doch sie wird bekehrt, als sie erfährt, daß er sich für sie mit einem Nebenbuhler geschlagen; er wird durch seine leidenschaftliche Liebe von seinem Ehehaß geheilt, und so schließen sie nach einem romantischen Zwischenfall im Kloster Sinsheim den Bund fürs Leben.

Die Galerie der Frauencharaktere in diesem Roman wird ergänzt durch die muntere, unternehmungslustige Sidonie und die schöne eifersüchtige Jüdin Josephine.

An und für sich wird man dem Treiben der alten Raubritter nur geringe Sympathien entgegenbringen; doch der Dichter läßt auf ihr räuberisches Tagewerk und ihre blutigen Fehden nur hier und dort ein flüchtiges Streiflicht fallen. Dagegen führt er uns in die Gefühlswelt und das häusliche Leben der Burgbewohner und Burgbewohnerinnen; die Mädchenbilder sind reizend, wenn auch etwas modern; die Naturscenerie, die hohen Burgen am Neckar, die Flußufer, die anmuthigen Waldverstecke sind stimmungsvoll geschildert; hier und dort bricht auch ein kerniger Humor durch und das mittelalterliche Kolorit ist ohne zu aufdringliche Manierirtheit gewahrt, obschon man bisweilen glaubt, in diesen faustrechtlichen Kämpen verkleidete moderne Feudalherren und in diesen Ritterfräuleins moderne junge Pensionsdamen zu erblicken.

Wir sehen, unsere Erzähler schlagen sehr mannigfache Töne an; der Büchertisch erzählt uns viele spannende Geschichten, aber er erzählt uns auch, daß wir viele begabte Schriftsteller besitzen, welche nicht schablonenhaft schreiben, sondern ihre geistige Eigenart behaupten und für den Reichthum unseres deutschen geistigen Lebens auch auf diesem Gebiete Zeugniß ablegen.

Rudolf v. Gottschall.     





Blätter und Blüthen.


Der Berliner Bazar für die deutsche Bühnengenossenschaft. Seit dem 6. Mai ist in Berlin ein Bazar eröffnet, dessen Ertrag der Verbindung deutscher Schauspieler und Schauspielerinnen und ihren rühmenswerthen Tendenzen, für das Wohl des Standes in jeder Hinsicht zu sorgen, zu gute kommt. Die vornehme und reiche Welt, Künstler und Schriftsteller haben für die Ausstattung dieses Bazars willkommene Gaben beigesteuert.

Es war sehr schwer, das leichtlebige Theatervölkchen unter einen Hut zu bringen und in einer großen Organisation zusammenzuschließen. Nicht einmal ein Pensionsinstitut wie die „Perseverantia“, dem die Leitung des Berliner Hoftheaters ihre eifrige Fürsorge zuwendete, konnte früher Dauer finden. Und doch hat kein anderer Stand eine so prekäre Existenz wie derjenige der Schauspieler, und ein großes Proletariat erzeugte sich stets von neuem aus seiner Mitte. Abhängig von den Direktoren, die bei den kleinen Bühnen und Wandertheatern sich selbst stets an jenem Abgrunde bewegten, in dem die verkommenen Existenzen versinken, abhängig von ihrer durch Krankheit und Alter stets bedrohten Leistungsfähigkeit, sind sie mehr als die Mitglieder anderer Stände darauf angewiesen, durch festen Zusammenhalt sich zur Wehr zu setzen gegen die Heimtücke des Schicksals.

Als die Intendanten und Direktoren den Bühnenkartellverein begründet, um ihre Interessen zu wahren und besonders kontraktbrüchigen Künstlern den Paß zu verhauen, da kam auch die Bewegung in Schauspielerkreisen in Fluß. Die Vereinsbühnen wollten über ein Theatergesetz verhandeln; da meldeten sich auch die Künstler zur Betheiligung und ein zündender Brief Ludwig Barnays verlangte, daß jene Zusammenkunft zu einem allgemeinen Bühnenkongreß erweitert werde. Obgleich dies von Herrn von Hülsen abgelehnt wurde, so bot er doch die Hand zu Verhandlungen. Der Stein war einmal ins Rollen gekommen, ein allgemeiner Bühnenkongreß die Losung. Am 17., 18. und 19. Juli 1871 tagte derselbe in Weimar; hier wurde die Bühnengenossenschaft gegründet unter dem Vorsitze Hugo Müllers vom Wallnertheater, eines der eifrigsten und tätigsten Vorkämpfer der Interessen des Schauspielerstandes. Nicht leichtfertig stimmte man über die wichtigsten Vorlagen ab; sie wurden an Kommissionen zu eingehender Berathung verwiesen.

Die Hebel der Reform wurden überall an der rechten Stelle eingesetzt. Gegenüber der Willkür kleiner Theaterpaschas, welche sich ihre Theatergesetze nach Gutdünken ausarbeiteten, wurde ein allgemeines Disziplinargesetz entworfen, mit gleichem Recht und gleichen Verpflichtungen für alle, ebenso ein allgemeines Kontraktsformular. Bis zum heutigen Tage seit dem Beginne des Vereins dauert der Protest gegen das Gewerbegesetz, welches das Theater in unliebsame Nachbarschaft mit höchst zweifelhaften Vergnügungsinstituten brachte und trotz aller wenig beachteten Klauseln nie zu hindern vermochte, daß Bühnenleitungen in unfähige und unsaubere Hände kamen.

Das wichtigste aber war die Begründung des Pensions- und Hilfsvereins, durch welche dem Schauspielerstande die bange Sorge um die Zukunft genommen und eine frische und freudige Berufstätigkeit ermuthigt wurde. Wer heute die lange Liste der Pensionäre des Vereins durchsieht, deren Zahl über 500 hinausgeht, der muß sich von dem großartigen segensreichen Wirken der Bühnengenossenschaft überzeugen, die jetzt auf breiter Grundlage festgegliedert dasteht und die Früchte einsichtiger und entschlossener Selbsthilfe erntet. Nach vielen Tausenden zählen ihre Mitglieder und über alle deutsche Lande hat sie das Netz ihres Wirkens ausgespannt. Viel ist gethan, viel bleibt noch zu thun, auch für die Witwen und Waisen und der Berliner Bazar wird für die weitere Ausdehnung thätiger Fürsorge neue Mittel an die Hand geben.

Wie viele von den Tausenden, die sich der Bühne widmen, hegen vermessene Unsterblichkeitsträume und es ist wahrlich nicht verwerflich, in der Kunst das Höchste leisten zu wollen. Die Enttäuschungen bleiben nicht aus; die Stimmung der großen Mehrzahl der Künstler ist die der Resignation. Doch auch bei der Bescheidung auf das Nächste, bei solcher Herabstimmung kühnerer Hoffnungen bleibt ein dunkler Punkt in der Ferne, der auch die solide Tüchtigkeit lähmen kann: die Möglichkeit, der schwersten Noth zu verfallen bei jeder länger andauernden Erkrankung; ohne körperliche Rüstigkeit ist die Schauspielkunst ja kaltgestellt. Früher oder später wird der Künstler zum Invaliden und für ihn gab es bisher keine Invalidenversorgung. Jetzt hat sich der Künstlerstaat selbst organisirt und die Zukunft derer, die ihm angehören, sichergestellt. Das ist die Hauptbedeutung der Genossenschaft, die aber auch sonst tapfer den Kampf ums Dasein dem einzelnen Künstler kämpfen hilft.

Gern erweist sich das Publikum dankbar für jeden Kunstgenuß; die zahlreichen Wohlthätigkeitsspenden beweisen dies, welche der Genossenschaft zufließen und auch das ist ihr Verdienst, daß die Gebelaune der Kunstfreunde jetzt weiß, wohin sie ihre Spenden zu richten hat, wo sie aus besten aufgehoben sind und am gerechtesten vertheilt werden. Das hat auch die Theilnahme am Bazar in den weitesten Kreisen gefördert; auch er wird helfen, Leiden zu mildern und Thränen zu trocknen, etwas Sonnenschein zaubern in vergrämte, späte Lebensjahre und manchem Kunstveteranen einen Stab und eine Stütze bieten als Ersatz für den längst entblätterten Lorbeerkranz.





Ein Veteran des Jungen Deutschlands. Am 22. April starb in Dresden Gustav Kühne, im zweiundachtzigsten Lebensjahre, der letzte der Schriftsteller, welche einst zum Jungen Deutschland gerechnet wurden. Unsere Leser werden sich wohl darauf besinnen, daß bald nach der Julirevolution in Deutschland eine Zahl jüngerer Schriftsteller freigeistiger Richtung, welche ist der Litteratur und dem gesellschaftlichem Leben mit stürmischem Eifer Reformen anstrebten, unter diesem Namen zusammengefaßt wurde. Der Bundestag verbot ihre Schriften; es waren neben Heinrich Heine besonders Heinrich Laube und Karl Gutzkow, Männer von großem Talent, die sich später durch ihre Schöpfungen auf dem Gebiete des Dramas und Romans einen dauernden Ehrenplatz auf dem deutschen Parnaß eroberten. Gustav Kühne gehörte damals nicht mit zu den Geächteten; aber er schloß sich dieser Richtung an, wenn er auch unter den Stürmern und Drängern der maßvollste war.

Er hat ein hohes Alter erreicht; auf das Junge Deutschland sah er eine andere jüngere Generation folgen und neuerdings tauchte wieder ein junges Deutschland auf, welches eine Revolution der Litteratur auf seine Fahne schreibt.

Gustav Kühne war am 27. Dezember 1806 zu Magdeburg geboren; er studirte in Berlin, wo er zu den Füßen von Hegel und Schleiermacher saß. In die feinen Gedankengespinste dieser Hochmeister des deutschen Geistes vertiefte er sich mit andächtiger Hingebung und ein [340] feingeistiger Zug, eine Vorliebe für die Filigranarbeit des Denkens ist allen seinen Schriften eigen geblieben. Von 1835 bis 1842 redigirte er die „Zeitung für die elegante Welt“ in Leipzig, später 13 Jahre hindurch die „Europa“. Er gab diesen Blättern eine einflußreiche Stellung; man legte Gewicht auf sein kritisches Urtheil; er war ein Meister in litterarischen Porträts, die zwar nicht so scharfe Umrisse zeigten wie bei Gutzkow, aber dafür eine wahre und warme Farbengebung. Gustav Kühnes Verdienst nach dieser Seite hin ist noch nicht genugsam gewürdigt; seine Sammlungen „Weibliche und männliche Charaktere“, „Porträts und Silhouetten“, „Deutsche Männer und Frauen“ verrathen einen ernsten, würdigen, schwunghaften Geist und oft sind weiche und ergreifende Gemüthstöne darin angeschlagen.

Als Novellist und Romandichter wahrte er dieselbe Eigenart; er begann mit einer Erzählung „Eine Quarantaine im Irrenhause“ (1835), welche zuerst Aufssehen erregte; sie war ganz im Stile des Jungen Deutschlands gehalten, ein geistreiches Capriccio, tiefsinnig über den Räthseln des Menschenlebens brütend, oft etwas schwerwuchtig im Stil und die Kunstausdrücke der Schule nicht verschmähend. Farbenreich sind die geschichtlichen Romane Kühnes, besonders „Die Rebellen von Irland“ (3 Bände 1840); die Leiden des grünen Erin und der noch heute dort fortglimmende oder hell aufflammende Kampf gegen die englische Herrschaft sind mit warmer Empfindung, oft mit begeistertem Aufschwung geschildert. Auch die geschichtlichen Helden sind lebenswahr porträtirt. Doch gelingt es dem Autor nicht recht, uns für die Geschicke der Einzelnen und für seine freiererfundene Handlung zu erwärmen, seine Muse verweilt gern auf den Höhen der nationalen Bewegung . . . Das gilt auch von seinen „Klosternovellen“ (2 Bände) und von „Wittenberg und Rom, Klosternovellen aus Luthers Zeit“, sowie von seinem umfangreichen Roman „Die Freimaurer“ (1854) – überall ein warmer Pulsschlag für geistiges Streben im Kampfe mit den Dunkelmännern, lebendige Schilderung, wohlerwogene Gruppirung der Charaktere, aber selten packende Situationen und eine Spannung, die das große Publikum zu fesseln vermocht hätte. Gustav Kühne war auch in seinen Romanen zu sehr Geschichtsphilosoph, zu wenig Menschendarsteller.

Seine Dramen „Isaura“ und „Die Verschwörung von Dublin“ sind wenig gegeben worden; nur seine Fortsetzung des Schillerschen „Demetrius“ wurde mehrfach aufgeführt und besprochen. Auch mehrere Sammlungen von Gedichten hat Kühne herausgegeben; in den letzten Jahrzehnten allerlei Satirisches mit reformatorischer Richtung wie die „Römischen Sonette“ (1869).

Seit 1856 lebte Kühne in Dresden und abwechselnd auf seiner Villa in Hosterwitz; er befand sich in glücklichen Vermögensverhältnissen; nicht jedem deutschen Autor ist ein so sorgenloses Alter beschieden. Leider wurde Kühne 1884 von einem schweren Gehirnleiden befallen, so daß den letzten Jahren seines Lebens der Sonnenschein fehlte.

In unserer Litteratur wird er nicht zu den eigentlich schöpferischen Geistern gezählt werden, aber zu den Pfadfindern und Bahnbrechern von schwunghafter Gesinnung und umfassender Bildung.
†     


Der Löwenbräukeller in München. (Mit Illustration S. 333.) Die neue Zeit, welche mit so großer Vorliebe gerade den altehrwürdigsten Einrichtungen zu Leibe rückt, hat in München jetzt einen Grundpfeiler der Gesellschaftsordnung erfaßt und bereits bedenklich ins Wanken gebracht, nämlich den Begriff des „Kellers“. Sonst verstand man unter einem solchen einen weiten bretterumzäunten Kiesplatz rings um die Brauerei her, bedeckt mit zahllosen Bänken und Tischen, von welchen aus man sich mit dem Maßkrug durch das Gewühl zur Quelle im Innern durchkämpfte, um dann im Genuß der glücklich eroberten „Kellermaß“ und der schönen Abendluft über mangelnden Komfort, Bedienung und Beleuchtung ruhig hinwegzusehen. Mit humoristischem Schauder betrachteten die Fremden die Bierlachen auf den Tischen, die Rettig-, Salz- und Käsereste der Vorgänger. Die Eingeborenen genirte das nicht - Sie waren’s so von Jugend auf gewöhnt und „auf dem Keller“ ist es einmal nicht anders!

Und nun - welche Veränderung! Nun erhebt Sich seit einigen Jahren am Anfang der Nymphenburgerstraße ein Prachtbau mit Freitreppen, Terrassen und Bogenhallen, mit großen und kleinen Sälen, welche viele hundert Menschen fassen können. Der Löwenbräukeller, dessen große elektrische Lampen abends weithin strahlen, während an Sommerabenden aus dem Orchesterpavillon unter den schattigen Bäumen die verlockendsten Weisen klingen. Freilich halten sich die Alt-Münchener grollend fern; ihnen geht’s da zu „vornehm“ her und sie bleiben den alten, liebgewordenen Lokalen treu. Die Vielen aber, welche in reinen Tellern, Servietten und Gläsern kein Hindernis der Gemüthlichkeit erblicken, strömen allesammt dem Löwenbräu zu um in dem schönen, schattigen Garten, bei einem vorzüglichen „Stoff“ mit ihren Bekannten frohe Stunden zu verplaudern. Und in der That ist es ein vergnügliches Sitzen dort in der warmen Sommernacht, wenn der Vollmond sein ruhiges Licht über den ganzen Beleuchtungszauber ausbreitet und man in der reinen Luft von des Tages Last und Hitze aufathmet. Für die Ausstellungsbesucher des heurigen Sommers wird gewiß der Löwenbräukeller ein hervorragender Sammelpunkt werden!


Die Vorstehhunde. (Mit Abbildungen S. 329) Man hat auf verschiedene Weise die Entstehung der Vorstehhunde zu erklären versucht; manche meinten, man habe gewissen Jagdhunden das Vorstehen angelernt und diese Dressur habe sich dann vererbt, allein diese Theorie beruht auf Irrthum, denn Dressur vererbt sich nicht. Es muß vielmehr zuerst Hunde gegeben haben, welche die natürliche Anlage hatten, „vorzustehen“, und diese Eigenschaft hat sich vererbt und durch Auswahl bei der Züchtung bis auf den heutigen hohen Grad steigern lassen, indem man speziell solche Individuen paarte, welche jene Eigenschaft besonders zeigten. Nach der allgemeinen Annahme kamen die ersten Vorstehhunde aus Spanien und waren kurzhaarig. Die Engländer haben die Züchtung zuerst rationell betrieben und aus den stark gebauten spanischen Vorstehhunden den heutigen hochedlen, außerordentlich schnellen und ganz für ihre Verhältnisse passenden englischen Pointer herangebildet. Die Setters sind wohl aus Paarungen des kurzhaarigen Vorstehhundes mit den Wachtelhunden (spaniels) entstanden, und wir unterscheiden heute 1. die englischen Setter, weiß mit schwarzen, braunen oder gelben Flecken, 2. die irischen, einfarbig dunkelroth, zuweilen mit einer weißen Linie auf der Stirn, und 3. die schottischen oder Gordonsetters, schwarz mit rothbraunen Abzeichen.

Der deutsche kurzhaarige Hühnerhund, dessen Rassekennzeichen erst vor etwa sechs Jahren durch die Vereine zur Erhaltung und Veredelung der Hunderassen festgestellt wurden, wird nun auch seither eifrig nach diesem Vorbilde gezüchtet. Er ähnelt wieder mehr seinen Vorfahren aus Spanien; er ist stärker und schwerer als der englische Pointer, aber auch weniger schnell. Letzterer ist entweder weiß mit braunen oder gelben Flecken; der deutsche Vorstehhund einfarbig dunkelbraun oder weiß mit braunen oder gelben Flecken und ebenso besprenkelt.

Seitdem man auch in Deutschland die reinen Rassen eifrigst anstrebt, sind Kreuzungen mehr als je verpönt, besonders auch die gekreuzten Vorstehhunde, die sich durch den Kopf mit stark entwickeltem Hinterhauptbein, durch blutunterlaufene, tiefliegende Augen, triefende Lefzen und Kehlwamme so unvortheilhaft auszeichnen und auf guten Ausstellungen stets abgewiesen worden sind.

Die Griffons oder stichel- und rauhhaarigen Vorstehhunde, auch polnische Wasserhunde, italienisch Spinone genannt, verdanken ihre Entstehung ohne Zweifel den Paarungen der eigentlichen Vorstehhunde mit den Pudeln, sind demgemäß bald mehr, bald weniger stark behaart und danach benannt; der deutsche stichelhaarige ist im Gegensatz zu dem Griffon am Körper ziemlich kurzhaarig, an den Augenbrauen und an der Schnauze aber borstig; namentlich bei der Jagd auf die verschiedenen Wasservögel leisten diese Hunde vorzügliche Dienste und apportiren leicht und eifrig aus Wasser und Dickicht.

Zum letzteren Zweck, das heißt zum Apportiren überhaupt, hat sich der Engländer einen besonderen Hund gezüchtet, den Retriever, der einem kleinem Neufundländer mit kurzgewellten Haaren gleicht. Er ist der Assistent der Pointer und Setter und hat nichts zu thun, als das geschossene oder angeschossene Wild zu apportiren; denn demselben nachzueilen kann den englischen heißblüthigen Vorstehhunden nicht erlaubt werden, weil ihre höchst feine Dressur dadurch leiden würde.

Auf unserem Bilde finden wir diese Rassen in trefflichen Typen wiedergegeben, welche das Interesse unsrer Leser um so mehr verdienen, als Sie nach dem Leben gezeichnet worden sind.

Wir geben noch die Namen der Hunde auf unserer Abbildung an: der Pointer ist Naso II. von Naso aus der Miranda; der deutsche Hühnerhund unten links: Hector IV. von Hector I. aus der Minka; der englische Setter oben rechts: Tam of Braunfels von Tam O’shanter aus der Daisy; der irische Setter hinter dem Pointer „Ganymede.“ Der Retriever oben links: Jet II. In der Ecke unten rechts: ein Griffon.

G. Lang.     



Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)



E. P. in Berlin. Der von uns in Nr. 42 unseres Blattes, Jahrg. 1887[WS 1], nach Verdienst gewürdigte Verein deutscher Lehrerinnen in England entwickelt sich in erfreulicher Weise. Eine Erweiterung seines Daheims hat stattgefunden durch Erwerbung des Nachbarhauses. Doch trotz der reichen Spenden deutscher Fürstlichkeiten, deutscher Städteverwaltungen und von Privatleuten ist die ganze auf dem neuen Hause lastende Schuld noch nicht abgetragen und der Verein glaubt auch auf freiwillige Beiträge rechnen zu dürfen. Die Lage deutscher Frauen und Töchter im Auslande wird durch seine Bemühungen und durch jede Unterstützung, die ihm zukommt, wesentlich gebessert. An der Spitze steht Fräulein Adelmann, deren Adresse wir schon neulich angaben: 16 Wyndham Place, Bryanston Square, London W.

Alfred W. in H. Wir haben schon oft auf die Litteratur hingewiesen, welche über die Berufswahl handelt; vergleichen Sie gefl. die eingehende Briefkastennotiz in Nr. 10 des vorigen Jahrgangs.



In unserem Verlage ist erschienen und durch beinahe alle Buchhandlungen zu beziehen:
Altbayerische Culturbilder. Von Ludwig Steub.
Elegant broschiert (15 Bogen gr. Oktav) Preis 3 Mark.

Allen Freunden des verstorbenen Dichters sei diese ebenso gediegene als interessante Schrift des genauen Kenners von Land und Leuten in Altbayern bestens empfohlen.

Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nr. 12