Die Gartenlaube (1888)/Heft 21
Am deutschen Rheinstrom, wo die Burgen ragen
Und niederträumen in die breite Fluth,
Das Haupt umrauscht von halbverscholl’nen Sagen,
Am deutschen Rheinstrom reift der Rebe Blut.
Geküßt vom glühendheißen Sonnenschein,
Und spendet, sie begeisternd zu Gesängen,
Den deutschen Zechern diesen deutschen Wein.
Im deutschen Walde, wo die Tannen rauschen
Und hohe Eichen nickend Märchen tauschen
Und schatt’ge Bogen wölben über euch:
Dort sprießt ein Kraut, anmuthig und bescheiden.
Des Waldes Meister durch den süßen Duft.
So linde Würze streut es durch die Luft.
Und hell ergießt sich in die weite Schale
Der edle Wein, gereift am deutschen Strom,
Und eh’ den Trank wir schöpfen in Pokale,
Nun aber rinnt mit wohligem Behagen
Das goldig kühle Naß durch unser Blut,
Wie Märchenzauber aus der Vorzeit Tagen,
Wie Waldesschatten und wie Sonnengluth.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Operation war vorüber; die Herzogin hatte Farbe bekommen und ihr Puls schlug kräftiger. Das gesunde Lebensblut Claudinens schien ihr neue, frische Kraft verliehen zu haben; es war wie ein Wunder anzusehen. Sie lag sanft schlafend, während in das geöffnete Fenster der duftige Hauch der Sommernacht wehte und eine tiefe Stille in dem Gemach herrschte. Regungslos saß die Diakonissin im Schatten des Bettvorhanges, so daß man nur die sanften regelmäßigen Athemzüge der Kranken hörte.
Claudine stand in ihrem Zimmer mit verbundenem Arm. Sie fühlte sich matt; das war aber nicht allein die Folge des fehlenden Blutes, die ganze erschöpfende Aufregung des Tages machte sich geltend. Ihre Füße wollten sie kaum noch tragen, und dennoch wies sie mit einer an Eigensinn grenzenden Konsequenz die Aufforderung, sich zu legen, zurück. Sie habe noch mit Baron Gerold zu sprechen, sagte sie, und wünsche dann sofort nach Hause zu fahren.
Die alte Herzogin, die ihr vom Bette Ihrer Hoheit in überströmendem Dankesgefühl nachgefolgt war, bat wie eine besorgte Mutter, doch heute von dieser Unterredung abzustehen, sie müsse sich schonen nach der Operation; allein Claudine blieb bei ihrem Verlangen. „Ich thue nichts halb!“ erklärte sie mit ungewöhnlicher Ruhe und ernstblickenden Augen.
Der Professor, den man zu Hilfe rief, wurde fast unangenehm. „Gut,“ sagte der durch sein kategorisches Wesen bekannte Herr, „so mag denn diese Unterredung stattfinden, aber die Fahrt muß unterbleiben. Und nun trinken Sie ein Glas Wein!“ Er hielt ihr das Glas an die Lippen mit einer Miene, die keinen Widerspruch zuließ; widerstrebend nippte sie ein wenig. Als sie aber Schritte auf dem Korridor hörte, wandte sie das Antlitz der alten Herzogin zu. „Hoheit wollen mir gestatten, allein mit meinem Vetter zu reden!“
Die alte Hoheit zog sich kopfschüttelnd und betrübt zurück; Frau von Katzenstein und der Professor folgten ihr.
„Alles Glück mit Ihnen, lieber Baron“ flüsterte die Herzogin dem blassen Manne zu, der sie beim Vorübergehen mit tiefer Verbeugung grüßte.
„Nicht aufregen, Herr Baron,“ warnte der Professor im Vorübergehen; „sagen Sie ‚Ja‘ zu allem, und wäre es auch noch so wunderlich!“
Fast ungestüm trat er ein. Er war zuletzt ruhelos im Parke umhergewandert, wo ihn der suchende Lakai gefunden, ohne eine Ahnung von allem, was im Schlosse inzwischen geschehen war. Seine erschreckten Blicke fielen auf die Binde, in der Claudinens Arm hing, auf das lose weite Morgenkleid, auf die halbgelösten Haare und das farblose, entstellte Gesicht des schönen Mädchens.
Was ging hier vor? fragten seine Augen, aber über seine Lippen kam kein Wort; er deutete nur stumm auf den Verband am Arme.
„Eine Kleinigkeit,“ erwiderte sie, indem sie auf einen Stuhl wies; „nichts weiter als eine winzige Wunde, entstanden durch das Instrument des Arztes, der etwas Blut für die Herzogin gebrauchte. Kommen wir nun zur Sache, Baron!“
„Und das sagen Sie, als ob es so garnichts wäre?“ rief er außer sich. „Wissen Sie, daß das gleichbedeutend sein kann mit dem Tode?“
„Sie vergessen, daß eine Autorität die Operation leitete, und – wenn auch –“
„Sie haben freilich auch so gar niemand auf der Welt, dem Sie Schmerz bereiten würden mit Ihrem Verlust; keinen, den Sie vorher fragen mußten: ‚Darf ich es thun? Habe ich das Recht, meine Gesundheit, möglicherweise mein Leben, aufs Spiel zu setzen?‘“
„Doch,“ erwiderte sie, „einen habe ich – Joachim – aber es war keine Zeit dazu.“
„Joachim!“ wiederholte er mit der nämlichen Bitterkeit. „Ich, der ich eben um Ihr Leben gebeten hatte für mich, für mein Kind, ich war Ihnen keines Gedankens werth!“
Er hatte leise, schmerzlich gesprochen. Ihr war es plötzlich, als erfasse sie ein Schwindel, und sie ließ sich erschöpft in den Sessel nieder, neben dem sie gestanden hatte.
„Ich wollte ja mit Ihnen darüber reden,“ begann sie wieder und sah an ihm vorbei; „ich versprach es der Herzogin-Mutter; es soll nicht lange dauern. Sie sind so unsagbar großmüthig, Vetter – ich weiß in der That nicht, wie ich Ihnen danken soll; ich könnte es eigentlich nur, indem ich Ihre Großmuth zurückweise und –“
Er stand unbeweglich und sah sie an.
„Und das würde heißen,“ fuhr sie sort, „ein Mittel zurückweisen, welches einer Schwerkranken das Leben etwas verlängern könnte – so sagt die Herzogin-Mutter. Ich darf es also nicht; vergeben Sie mir! Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: verlobt sein, heißt nicht: ‚verheirathet sein‘. Wenn die Herzogin genesen sollte, so – so gehen wir aus einander; wenn sie sterben sollte – natürlich ebenfalls, es gilt ja nur ein Beruhigungsmittel; es ist ein wenig gewaltsam, ich weiß, aber – eine Verlobung ist nur ein Versprechen, und bekanntlich werden nicht alle ‚Versprechen‘ gehalten. Gott weiß, wie oft es geschehen mag, daß zwei sich trennen vor der Ehe; es ist keine Schande – ich – ich –“
Sie hatte rasch und immer rascher gesprochen; jetzt lehnte der blonde Kopf schwach und mit geschlossenen Augen an den Polstern. Er war näher getreten, in seinem Gesichte zuckte es seltsam.
„Ich,“ begann sie wieder, „ich werde nicht fortkönnen von hier, aber Sie, Lothar, Sie sind frei; Sie finden nach der leider nicht zu umgehenden Veröffentlichung dieser Verlobung leicht einen Grund, um in irgend einen fernen Weltwinkel zu gehen, bis –“ und sie richtete sich plötzlich empor – „ich spreche dies nicht für mich, bei Gott nicht! Was liegt an mir? Mein reines Gewissen genügt mir vollkommen – aber die Aermste dort drüben – begreifen Sie, Lothar?“
„Wir sollen also ein wenig Komödie spielen?“ fragte er.
„Nicht lange! Nicht lange!“ flüsterte sie, während ihre schönen glanzlosen Augen ihn, wie um Verzeihung bittend, ansahen.
Er ergriff plötzlich ihre Rechte mit einer ungestümen leidenschaftlichen Bewegung.
„Es sei,“ sagte er, „aber Sie sind krank, und vor allem, ehe die Komödie beginnt ...“
„Lassen Sie sie gleich beginnen,“ bat sie; „gehen Sie zur Herzogin-Mutter und melden Sie, daß ich Ihnen mein Jawort gab. Indessen rüste ich mich zur Heimfahrt; ich bin so müde, so sterbensmüde.“
„Ich werde gehen“ sagte er ruhig, „und Sie werden sich legen, Sie werden nicht nach Hause fahren.“
„Ich werde es doch!“ rief sie heftig und wechselte die Farbe; „vergessen Sie nicht, daß es eben nur eine Komödie ist, daß sie sowohl wie ich trotzdem unseren eigenen Willen vollkommen behalten!“
Er bezwang sich und ging.
„Sagen Sie Ja!“ hatte der Arzt gerathen, „nur – Ja!“ Claudine starrte ihm nach wie im Traume; sie fühlte ihre Kräfte schwinden, mehr und mehr, fühlte sich so schwach und gedemüthigt! Am liebsten hätte sie sich den Verband vom Arme gerissen und ihr Leben mit dem Blute dahinfließen lassen; unwillkürlich zuckten ihre Finger nach der Binde. Es ward ihr so sonderbar mit einem Male vor Augen, so roth wie Blut, so schwebend und so wogend, als ob ihr Stuhl zu schwanken beginne. Sie wollte sich festhalten an der Lehne und griff in die Luft hinaus. „Halt ein!“ flüsterte sie; aber im rasenden Wirbel drehte es sich um sie; ihr Kopf sank zurück; sie fühlte sich wie hoch gehoben, dann fühlte sie nichts mehr.
Die Diakonissin, die auf Befehl des Arztes herübergeschlichen war, um nach der fieberhaft Erregten zu sehen, fand Claudine bewußtlos. Mit der lautlosen Sorgfalt ihres Berufes holte sie sich Hilfe und legte die Ohnmächtige auf die Chaiselongue, wo sie bald wieder zu sich kam.
„Es ist nichts wie Erschöpfung, Herr Baron,“ sagte der kleine Medizinalrath, den Lothar aus dem Kavalierzimmer geholt [343] hatte, wo die beiden Aerzte mit dem Kammerherrn saßen. „Nichts weiter. Lassen Sie die Patientin ganz ungestört, morgen wird sie wohl und frisch sein. Ich bitte Sie, bei solcher Jugend und Kraft! Fahren Sie ruhig nach Neuhaus, lieber Baron!“
Herr von Gerold wies die Kammerjungfer selbst an und schärfte ihr ein, die Diakonissin zu rufen, falls ihr irgend etwas bedenklich erscheine bei dem gnädigen Fräulein; dann bat er auch Frau von Katzenstein, die Kranke zu beaufsichtigen.
Die alte Dame wollte eben noch einmal zu Claudinen hineingehen, um ihm Nachricht von ihr zu holen; er stand indeß wartend im Korridor. Jetzt hörte er Claudine drinnen sprechen – mit wem wohl? Deutlich konnte er jedes Wort verstehen, Frau von Katzenstein hatte die Thür nicht fest geschlossen.
„Vergeben Sie mir!“ scholl laut die Stimme der Prinzeß Helene, aber es klang nicht flehend, es klang wie befehlend.
Lothar runzelte die Stirn; er hatte Mühe, an sich zu halten, um nicht sofort hinein zu gehen.
Frau von Katzenstein kam diskret zurück. „Durchlaucht ist bei Fräulein von Gerold,“ flüsterte sie.
„Se. Hoheit haben mir befohlen, Sie um Verzeihung zu bitten, Fräulein von Gerold,“ klang es abermals da drinnen. „Ich bitte Sie also hiermit um Verzeihung. Haben Sie es gehört?“
Außer sich trat der Baron über die Schwelle des matt erleuchteten Zimmers. Ueber das weiße Mädchengesicht dort in den Kissen der Chaiselongue ergoß sich Purpurgluth, als sie ihn erblickte.
„O mein Gott!“ stammelte sie und machte eine abweisende Bewegung mit der gesunden Hand. Ein furchtbares Herzklopfen nahm ihr die Sprache.
Es hatte sie nicht befremdet, daß er hier eingedrungen; sie dachte weiter nichts, als daß jetzt ein vernichtender Schlag auf dieses trotzige Geschöpfchen fallen müsse, das da so hochmütig an ihr Lager getreten war, um auf höheren Befehl „abzubitten“.
Die Prinzessin hatte ihn nicht bemerkt; sie stand da wie die verkörperte Opposition; ihre Zerknirschung verwandelte sich, angesichts der Verhaßten, in Empörung.
„Sie wollen wohl nicht?“ fragte sie. „Ich habe nicht lange Zeit zu warten, ich muß nach Neuhaus; Mama hat Frau von Berg nach mir geschickt; ich fahre aber nicht mit ihr, ich will nicht. Ich werde Baron Gerold um seinen Wagen ersuchen. Also zum dritten Male – ich bitte Sie um Verzeihung, Fräulein von Gerold!“
„Prinzessin, ich weiß zwar nicht, wofür eine Verzeihung erbeten wird – aber von Herzen gern,“ erwiderte Claudine mit bebenden Lippen.
„Durchlaucht, auf diese Weise eine schwer Gekränkte und Leidende um Verzeihung zu bitten, ist nett,“ scholl jetzt Lothars erregte Stimme.
Die Prinzessin wandte sich wie von einem elektrischen Funken berührt. Claudinens Augen sahen mit flehender Angst zu den seinen hinüber; sie hielt den Athem an – o, sie mußte ja aus eigner Erfahrung, wie furchtbar sie wirken kann, die Gewißheit, den geliebten Mann verloren zu haben!
„Es gehört die ganze große Güte und Selbstlosigkeit meiner Braut dazu, um Ew. Durchlaucht die so eigenthümlich erbetene Verzeihung zu gewähren.“
Da war es gesprochen. Eine Todtenstille herrschte im Gemach; Claudine sah wieder jene rothe heiße Fluth vor ihren Augen. Wie? Konnte ein Mann so schonungslos verfahren mit der, die er liebte, um die er geworben seit Wochen schon? War es ein Akt der Verzweiflung, weil er sie aufgeben mußte?
Sie streckte die Hand aus. „Prinzessin,“ sagte sie matt, als wollte sie um Verzeihung bitten.
Aber die zierliche weiße Gestalt schwankte nicht, wie Claudine gefürchtet hatte; sie schüttelte das dunkle Köpfchen mit dem kurzen Gelock stolz in den Nacken zurück. „Meinen Glückwunsch,“ sprach sie kurz. Einzig in der forcirten lauten Stimme erkannte Claudine die furchtbare Erschütterung des Mädchens, dessen glühende Liebe soeben den Todesstreich empfangen hatte.
Die Prinzessin übersah die Hand, die sich ihr bot; stolz neigte sie den Kopf. „Begleiten Sie mich, Baron!“ sagte sie befehlend.
Lothar faßte statt ihrer die dargebotene Hand und führte sie an die Lippen; Claudine entzog sie ihm hastig und unwillig.
„Wozu?“ fragte sie und drehte den Kopf nach der Wand; „das ist überflüssig bei unserem Abkommen.“
Sie waren gegangen. Claudine klingelte und ließ sich bei der Nachttoilette helfen und die Lichter löschen. Frau von Katzenstein schlich behutsam durch das dämmernde Gemach dem Bette zu – es rührte sich nichts hinter den Vorhängen, die Patientin schlief wohl schon den Schlummer der Erschöpfung? Als Frau von Katzenstein aber genauer hinsah, erblickte sie das Mädchen im Bette sitzend.
„Aber, Claudine, Sie ruhen noch immer nicht?“ flüsterte die freundliche alte Dame besorgt und drückte einen Kuß auf das schöne Antlitz. „Eben erfahre ich Ihre Verlobung,“ setzte sie bewegt hinzu, „Gott segne Ihren Herzensbund, meine liebste Gerold!“ Dann ging sie still hinaus.
Claudine griff sich wild an die Stirn. „Herzensbund!“ sagte sie bitter, „welch furchtbarer Hohn!“
Sie grübelte und grämte sich bis über Mitternacht hinaus, bis sich ihre Gedanken verwirrten. Der schrecklichste Tag ihres Lebens war vorüber; was würde ihm nun noch folgen an Qual und Herzenselend?
In der Frühe des folgenden Tages ward Claudine aus schwerem bleiernen Schlaf geweckt durch einen Boten der Herzogin-Mutter, welche ihr einen köstlichen Blumenstrauß nebst einem Brillantring sandte.
Es that ihr weh, sich auf das Gestern besinnen zu müssen, und nur mit Anstrengung konnte sie sich erheben. Die Kammerfrau der Herzogin erschien, als sie eben angekleidet war, und beschied sie in das Krankenzimmer.
Mit müden Schritten trat sie über die Schwelle desselben; das ganze purpurrothe Gemach war von Sonnenglanz erfüllt, am Lager seiner Gemahlin stand der Herzog mit den kleinen Prinzen, die beiden jüngsten hielten Rosen in den Händen, der Aelteste etwas anderes, das funkelte und blitzte.
Der Herzog schritt ihr entgegen und küßte ihr die Hand.
„Nehmen Sie meinen und meiner Söhne innigsten Dank für Ihren freudigen Opfermuth,“ sprach er, indem er sie zum Bette führte; „sehen Sie selbst, gnädiges Fräulein, er hat Großes vollbracht!“
Die Herzogin streckte ihr die Hände entgegen, während der Erbprinz sich jubelnd an sie hing. „Ich habe ja immer gewußt,“ sagte er, „Sie haben Kourage, Fräulein von Gerold, und dies geben wir Ihnen, ich und mein Bruder, weil Sie Mama wieder gesund gemacht haben.“
Er reichte ihr ein kostbares Schmuckstück und die Händchen der Andern hielten ihr stumm die Rosen entgegen.
„Claudine,“ flüsterte die Herzogin.
Sie kniete in alter Gewohnheit am Bette nieder, aber der Kopf legte sich nicht wie sonst zutraulich an die Wange der Freundin; sie verharrte wie eine jener gemalten alten Beterinnen in der Schloßkirche, mit niedergeschlagenen Augen und unbeweglicher Miene. „O, warum den Dank! Ich that ja nichts,“ sagte sie.
Die Herzogin gab, von ihr ungesehen, ihrem Gemahl ein Zeichen, sich zu entfernen; leise trat er hinaus, die beiden ältesten Prinzen folgten ihm; nur das Baby blieb auf dem Bette sitzen und spielte mit den Rosen.
„Dank, Claudine, tausendfachen Dank! Und nimm auch meinen treuesten Glückwunsch zu Deiner Verlobung; ich erfuhr sie vorhin durch Mama. Es hat mich überrascht, Claudine; warum sagtest Du mir nie davon, daß Du ihn liebst?“
Claudine blieb stumm; dann erschrak sie. Wenn sie ihre Rolle so schlecht spielte, dann war ja die ganze Komödie vergeblich! Hier galt es also vor allen Dingen, sich muthig zu zeigen.
„Mir wurde es so schwer, darüber zu sprechen“ stammelte sie; „ich wußte ja nicht, ob er mich wieder liebt.“
Die Herzogin drückte ihr die Hand.
„Claudine,“ flüsterte sie, „weißt Du – der Herzog dauert mich, denn er liebt Dich!“
„Hoheit, nein!“ rief das Mädchen, „er liebt mich nicht!“
„Doch, Claudine,“ versicherte die Kranke, „sieh, ich hatte ja einen Brief von ihm in Händen – an Dich.“
Claudine fuhr empor. „Einen Brief? Ich habe nur einen von Sr. Hoheit erhalten, und der –“
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[345] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [346] „Pst!“ flüsterte die Herzogin. „Ganz recht! Ich verstand ihn gestern nicht, heute erklärte mir Adalbert seine Bedeutung selbst. Er hat mir alles gesagt; es ist ihm nicht leicht geworden. Ich weiß alles, Claudine, und er dauert mich, weil Du ihm nun verloren bist.“
„Elisabeth!“ stotterte das Mädchen, dem aus Mitleid fast die Sprache versagte. „Es war ein Irrthum Sr. Hoheit, und welcher Mensch –“
„Ja, ein Irrthum! O, ich verstehe, ich kann es begreifen; aber hier innen ist’s so öde, so still geworden, Claudine.“ Sie legte einen Augenblick eine Hand auf die Brust und strich dann schmeichelnd über Claudinens Arm, der in der Binde hing.
„Elisabeth,“ sprach diese, „Du bist immer eine so fromme Natur gewesen, Du richtest sonst so mild die Handlungen der Menschen; willst Du hier ein harter Richter sein?“
Die Herzogin schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe verziehen. Die kleine Spanne Zeit, die mir noch bleibt zum Leben, soll freundlich verfließen. Ach, Claudine, zum ersten Male, seit ich sein Weib bin, hat er heute früh mit mir gesprochen, wie ich es immer ersehnt habe wachend und träumend; herzlich und aufrichtig, mild und gut hat er gesprochen. Es kommt zu spät, ja, ja – aber es ist so schön, so süß, und deshalb habe ich ihm verziehen. – Es ist nur noch ein Rest,“ und sie dämpfte ihre Stimme, „so ein Rest dummer Eitelkeit in mir. Weißt Du, ich wollte ihm immer gefallen und bedachte gar nicht, daß ich ein so elendes krankes Geschöpf bin. – Da habe ich mir rasch den Spiegel hier genommen und hineingeschaut; es that ein bißchen weh zuerst, aber dann –“
Sie verstummte, und in ihren Augen schimmerte es feucht, während sie sich zum Lächeln zwang.
Claudine konnte es nicht hindern, ihr rollten ein paar große Thränen über die Wangen.
„Er dauert mich so,“ sagte die Herzogin noch einmal; „ich will gut und geduldig und liebevoll gegen ihn sein. – Und wer mir noch leidthut,“ fuhr sie fort, „das ist Helene – sie liebt Deinen Bräutigam.“
„Ja!“ hauchte das Mädchen.
„O, Du schönes, von Gott begnadetes Geschöpf Du,“ sagte die Kranke, „dem aller Herzen sich zuneigen! Wie mag es wohl sein, wenn man so geliebt wird?“ Es klang so traurig, so hoffnungslos.
Claudine stand auf und wandte sich zum Fenster; sie durfte nicht zeigen, wie weh ihr war.
„Ich will Dich nicht länger zurückhalten, Claudine,“ fuhr die Herzogin fort; „Du hast so viele, viele Pflichten heute. Du mußt Dich Mama als Braut präsentiren und Deinem Kindchen als Mutter, und Ihr werdet so viel zu sprechen haben, Du und Er. – Geh’, Claudine, geh’ mit Gott!“ Sie lächelte; der kleine Prinz hatte ihr jauchzend das Spitzenhäubchen von dem dunklen Haar gezogen und brachte seinen geöffneten Mund an ihre blassen Lippen. Hastig wandte sie das Gesicht. „Mein Liebling,“ hörte Claudine sie flüstern, „Mama darf Dich so nicht küssen, Mama ist krank.“
Das erregte Mädchen vermochte kaum mit Fassung die durchsichtige Hand zu küssen und ruhig hinauszugehen. Sie sank in ihrem Zimmer auf einen Sessel und barg die weinenden Augen in den Händen. Verwundert schaute das Kammermädchen sie an. Das sollte eine Braut sein? Eine reiche glückliche Braut, die da so blaß und finster saß? – Die Zofe bückte sich und nahm ein Etui auf, das eben achtlos von dem Schoß ihrer Dame geglitten; es war beim Fallen aufgesprungen und den überraschten Augen der Dienerin sprühte es buntfarbig entgegen, ein wunderbares Halsband aus Brillanten. Claudine beachtete es nicht; sie fühlte nur eines, sie würde die Verstellung, welche nun beginnen sollte, nicht ertragen. – –
Gedankenlos kleidete sie sich endlich um. Da das Kleid von gestern verdorben war und sie keine weitere Toilette hier hatte, war sie genöthigt, ein schwarzes Spitzenkleid anzulegen, welches sie mit ein paar Rosen aufputzen wollte. Diese aber, farblos wie ihr Gesicht, machten die dunkle Toilette nicht freundlicher, ebenso wenig als die weiße Armbinde, welche sich grell von dem Schwarz der Robe abhob. So ging sie am Arme Lothars in die Gemächer der alten Herzogin, wo Beide dann bei einem Dejeuner, zu dem das Brautpaar von Seiner Hoheit befohlen wurde, die Glückwünsche des kleinen Hofstaates entgegennahmen.
Am frühen Nachmittag fuhr Lothar mit ihr in seinem Wagen nach Neuhaus. Die ganze Dienerschaft des Gutes war auf der Freitreppe versammelt und rief dem jungen Paar ein schallendes Hurrah! entgegen. Beate stand mit ausgebreiteten Armen, in der rechten Hand einen Rosenstrauß, auf der Schwelle; neben ihr die alte Dörte, welche die Kleine im weißen Kleidchen auf ihren Armen tanzen ließ. Ueber Beatens großes lachendes Gesicht liefen die hellen Freudenthränen.
„Dina, Herzenskind,“ rief sie, das Mädchen an sich ziehend, „wer hätte Das gedacht!“ Und sie riß das Kind von dem Arm seiner Wärterin. „Da hast Du eine Mutter, Du Wurm! Und was für eine!“ jubelte sie.
Lothar wehrte der allzu lauten Freude mit einem Blick auf die stumme Claudine.
„Sie kann Leonie ja nicht halten, Beate,“ sagte er und gab das Kind der Wärterin zurück, um gleich darauf seine Braut in das nächste Zimmer zu führen, sie den Blicken der Leute entziehend. „Du quälst mir Claudine heute nicht mit Fragen, sorgst jetzt für eine Erfrischung, Schwesterchen, und dann machst Du mit uns eine Spazierfahrt nach Brötterode.“
„Aber, Lothar, da ist ja heute großes Konzert vor dem Kurhause –“
„Gerade deshalb, liebe Beate!“
Die Schwester ging kopfschüttelnd, ihre Befehle zu geben, und während sie rasch Toilette machte, murmelte sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, vor sich hin: „Ich denke, Brautleute sitzen immer am liebsten in einer einsamen Laube, und die, welche sonst von Natur nicht zu solchem Trarah neigen, fahren am ersten Verlobungstage mitten hinein unter die Lästermäuler!“
Nahezu sechs Jahre mußten seit dem Tod des greisen Helden verfließen, ehe seiner eignen Bestimmung gemäß Garibaldis Memoiren das Licht erblickten.
Wer nun ein Buch der Abenteuer erwartet hat, farbenreich wie das Leben des Schreibers selbst, der mag den Band etwas enttäuscht bei Seite legen; denn allzugroß im Verschweigen verschmäht der Verfasser das pittoreske Detail oder er hat dasselbe vermutlich bei der letzten Ueberarbeitung ausgeschieden, wiewohl das Manuskript davon keine Spuren zeigt. Ein seltsames Buch ist es, ohne Plan und Ordnung, abrupt und fragmentarisch, oft schwungvoll bei kleinen Ereignissen verweilend, wenn die Erinnerung feuriger Jugendeindrücke den Verfasser hinreißt, und dann wieder mit trockenen Daten über das Größte weggehend.
Doch wer die Sprechweise der Bewohner der Riviera kennt, in der sich die Erfahrung des Seemanns mit der Poesie des Kindes paart, für den haben die schlichten Zeilen einen eigenen und wohlbekannten Reiz; es weht daraus hervor wie frische salzige Seeluft, gemacht mit exotischen Düften der Tropenwelt.
Ebenso merkwürdig ist der Inhalt, nicht weil er die bekannte Gestalt mit neuen Zügen ausstattet, sondern weil er zeigt, wie sich sein eigenes Schicksal in der Brust des Helden spiegelt. So berührt es vor allem charakteristisch, daß Garibaldi wie die Condottieri des Mittelalters sich bei jedem Anlaß nicht seinem Genie, sondern zumeist dem Glück verpachtet bekennt, und dieses Glück, das an der Person des Feldherrn haften muß, ist für ihn ebenso wenig wie für Napoleon I. ein blindes Ungefähr; er fühlt seine ganze Auszeichnung – und wer möchte leugnen, daß dieser tollkühne General, von dem in den Schlachten zweier Welttheile die Kugeln abzuprallen scheinen, der Seefahrer, der aus Stürmen und Schiffbrüchen wieder und wieder den Rettungsweg findet, der Mann, der mit der zwingenden Persönlichkeit seine Landsleute wie ein Taumeltrank ergreift, der nicht schlafen kann, [347] so lang ein Stein an dem Gebäude Italiens fehlt, daß er wirklich der Mann der Vorsehung gewesen?
Nur zwei Züge findet Garibaldi aus seiner Kindheit und Knabenzeit erzählenswerth: daß er mit sieben Jahren einmal aus Ungeschick einer Grille ein Beinchen ausgerissen und sich viele Stunden lang nicht darüber zu trösten vermochte und daß er in diesem Alter einer armen Frau, die beim Waschen ins Wasser gefallen war, das Leben rettete, obwohl ihm eine umgebundene Jagdtasche das Schwimmen erschwerte; denn er war „als Amphibium zur Welt gekommen“, und dieser Vertrautheit mit dem furchtbaren Element hatten bekanntlich viele seiner Mitgeschöpfe ihre Rettung zu danken.
Diesen frühen Trieb der Nächstenliebe wie überhaupt alles Gute seiner Natur dankt er, wie er bekennt, einzig seiner Mutter, welcher er durch seine gefahrvolle Laufbahn so vielen Kummer bereitet. Daß er auch ihre letzten Jahre nicht zu versüßen vermochte, bleibt das Bedauern seines ganzen Lebens. Oft beim Toben des Oceans oder im Schlachtensturm erscheint ihm als plötzliche Vision das Bild der zärtlichen Mutter auf den Knieen im Gebet für ihn und er fühlt sich gefeit und stark gegen alle Gefahren, bis ihm einmal während seines zweiten Exils bei einem der fürchterlichsten Wirbelstürme auf dem Stillen Ocean ein Traumgesicht ihren wirklich um diese Stunde erfolgten Tod verkündigt.
Welch eine Laufbahn in diesen dürftigen Blättern! Von der Heimath ausgestoßen, die er zu früh befreien gewollt, und zur Befreiung eines fremden Landes über den Ocean berufen, heut’ siegreich, morgen geschlagen, schiffbrüchig an den Strand geworfen, dann aufs neue Herr der Gewässer, vom Korsaren, den die Schiffe von Montevideo verfolgen, zum Befehlshaber der ganzen Land- und Seemacht dieser Republik aufgestiegen – und wenige Jahre darauf in der zweiten Verbannung als Lichterfabrikant wiederum auf amerikanischem Boden und vergebens auf einem englischen Schiff den Posten eines Lastträgers erbittend!
Doch die Thaten des Helden gehören der Weltgeschichte an; wir gehen lieber den wenigen persönlichen Zügen nach, die hier nicht wie in den von fremder Hand geschriebenen Biographien von den Ranken der Legende umwuchert sind.
Schon die erste Anekdote zeigt den ganzen Mann.
Im Dienst der kleinen Republik von Rio-Grande, die gegen das mächtige Brasilien Krieg führte, bietet er auf einem Fischerboot allein mit zwölf Genossen dem ganzen Kaiserreich Trotz und läßt zuerst das Banner der Unabhängigkeit auf jenen Gewässern flattern. Doch als dem jungen Korsaren als erste Prise eine brasilianische Kaffeeladung in den Weg kam und von den zu Tode erschrockenen Passagieren einer ihm knieend ein Kästchen mit drei kostbaren Diamanten überreichte, wies Garibaldi nicht nur das Geschenk zurück, sondern schärfte den Seinigen aufs strengste ein, alles Privateigenthum zu schonen, und ließ Bemannung und Passagiere außer ihrem eigenen Gepäck noch so viel sie wollten an Lebensmitteln ausschiffen und mit sich nehmen.
Mit dem weggenommenen brasilianischen Schooner „Luisa“ erreichte man die Küste von Uruguay; doch der Staat von Montevideo hatte gegen alles Erwarten das Banner von Rio-Grande nicht anerkannt und einen Haftbefehl gegen Garibaldi erlassen. Eilig schifft er sich wieder ein und steuert trotz gefährlicher Winde den Rio de la Plata hinauf, jedoch ein seltsamer Zwischenfall bedroht unterwegs sein und seiner Gefährten Leben. Bei der Ueberstürzung der Abfahrt hatten die Matrosen ohne Wissen des Kommandanten alle Waffen in eine Kajüte neben den Kompaß geworfen, um sie näher zur Hand zu haben. Zum Glück mochte Garibaldi in jener Nacht nicht schlafen und hielt sich in der Nähe des Steuers, um nach der ihrer gefahrvollen Riffe wegen berüchtigten Küste zwischen Maldonado und Montevideo auszuspähen. Die Nacht war dunkel und stürmisch; nichtsdestoweniger vermochte das geübte Seemannsauge mühelos die Küste zu erkennen, die trotz der entgegengesetzten Manöver des Steuermanns näher und näher kam. Um Mitternacht ertönt der Ruf „Land!“ Doch es ist eine schwarze Klippenmasse, die den Erschrockenen entgegenstarrt, und schon ist das Schiff von ihren unwiderstehlichen Strudeln ergriffen. Alles scheint verloren, die Bemannung ist kopflos; aber Garibaldi zwingt das Schicksal, indem er selbst mit sicherem Blick und festem Kommando das Schiff zwischen den grauenvollen Riffen durchsteuert, wo bei der leisesten Berührung das schwache Fahrzeug zerschellen mußte. Erst als die Gefahr vorüber war, erfuhr er die Ursache desselben; die schwere Eisenmenge, die neben dem Kompaß aufgehäuft lag, hatte auf die Magnetnadel eingewirkt und war schuld, daß das Schiff seinen Kurs verlor.
So gelangte man glücklich an das Vorgebirge von Jesus Maria, doch nun brach bei der kleinen Bemannung der Hunger aus. Vier Meilen landeinwärts hatte Garibaldi zwar eine kleine Farm entdeckt, aber sein Schiff durfte sich nicht an das ungastliche Ufer wagen; es fehlte das Boot, um zu landen, und der Wind, der von den Pampas her blies, der gefürchtetste in jenen Regionen, hätte selbst einem starken Nachen die Landung erschwert – wie viel mehr dem wunderlichen Fahrzeug, dem Garihaldi sich mit einem Matrosen anvertraute! Er ließ nämlich ein Brett an zwei Fäßchen befestigen, pflanzte als Mast eine Stange darauf, woran die Kleider aufgehängt wurden, und mit diesem Floß schwammen die Beiden, nachdem sie lange genug in der Brandung umher gewirbelt, wie durch ein Wunder aus Land.
Von den Felsen der Küste erblickt Garibaldi zum ersten Mal die Pampas, und die wilde, freie, jungfräuliche Natur entzückt sein europäisches Auge. Er sieht den Strauß, die Gazelle, die beim Anblick des Menschen die Flucht ergreifen, den Büffel, der sich ihm drohend in den Weg stellt, den wilden Hengst, den „Sultan der Wüste, umgeben von seiner reizenden Odaliskenschar“, der sich neugierig nähert und mit ihm scherzen möchte. Doch wie groß ist das Erstaunen des jungen Korsaren, als er auf der einsamen Farm inmitten der Wildniß eine reizende junge Frau findet, die Gattin des Verwalters und obendrein Dichterin! Er wird von ihr aufs gastlichste bewirthet; sie spricht ihm von Dante und Petrarca, sie schenkt ihm die Gedichte von Quintana und recitirt ihm ihre eigenen, die er, obwohl nur ein schwacher Kenner des Spanischen, von Herzen bewundert, und daß er ihr ein ganzes Kapitel seiner kargen Memoiren widmet, beweist den tiefen Eindruck, den die romantische Begegnung auf ihn hervorgebracht hat.
Endlich erschien auch der Gemahl und mit ihm wurde Garibaldi über ein Stück gehörntes Schlachtvieh handelseinig, das alsbald an den Strand geführt, geschlachtet und zerlegt wurde, und mit dieser köstlichen Fracht, die er sorglich an den Mast seines improvisirten Fahrzeugs band, erreichte er unter vermehrten Schwierigkeiten und Gefahren endlich wieder das Schiff, wo seine Gefährten unterdessen noch mehr um die Sicherheit des Ochsen als um seine eigene gezittert hatten.
Des andern Tages kamen zwei Schaluppen von Montevideo aus in Sicht. Sie schienen zwar nichts Böses im Schilde zu führen; dennoch schöpfte Garibaldi Verdacht und ließ für alle Fälle die Waffen bereithalten. Das größere der beiden Boote, auf dem nur drei Mann zu sehen waren, kam ganz nahe heran; plötzlich ertönt eine Stimme vom Bord, die unser Korsarenschiff auffordert, sich zu ergeben, und zugleich füllt sich das Deck mit Bewaffneten. Schnell hat sich ein erbittertes Gefecht entsponnen, das erste in Garibaldis kriegerischer Laufbahn. Die italienische Bemannung wehrt sich mit Löwenmuth, und es gelingt ihr, den Feind in die Flucht zu schlagen, doch ihr tapferer Steuermann ist gefallen, Garibaldi selbst auf den Tod verwundet und keiner an Bord, der die geringsten geographischen Kenntnisse besäße. In dieser Noth wurde vor dem schwerverletzten Kapitän die Seekarte ausgebreitet, und er bezeichnete noch mit halbverlöschendem Blick einen Punkt im Flusse Paranà, den er mit größeren Lettern geschrieben sah.
Auf diese Weise kamen sie endlich nach Galeguay, wo Garibaldi von der Bevölkerung freundlich aufgenommen und seine Wunde geheilt wurde; nur durfte er sich ohne Erlaubniß der Regierung nicht entfernen – mit einem Wort, er war gefangen, und diese Lage auf die Länge zu ertragen, war Garibaldi nicht der Mann. Er wagt einen unglücklichen Fluchtversuch, wird eingeholt und mit gebundenen Händen, die Füße unter den Sattel festgeschnallt, wie ein Missethäter noch Galeguay zurückgeführt.
Unter dem Gefängnißthor erwartete ihn der Kommandant Millan, der, nicht ahnend, weß Geistes Kind er vor sich hatte, ihn nach seinen Mitschuldigen fragte und auf Garibaldis Weigerung, die Freunde zu verrathen, wüthend mit der Peitsche auf den Gefesselten einhieb. Doch dieser blieb bei seinem Nein, und nun schritt der würdige Kommandant zur Folter. Man schlang dem Gefangenen ein Seil um die rückwärts gebundenen Hände und ließ ihn so zwei Stunden lang an einem Balken aufgehängt in der Luft schweben.
[348] „Mein Körper brannte wie eine Esse,“ schreibt Garibaldi, „und mein Magen trocknete das Wasser, das ich unaufhörlich einschlang, wie glühendes Eisen auf. – Als sie mich losbanden, stöhnte ich nicht mehr; ich war leblos, ein todter Körper, und so legten sie mich in Ketten. Ich hatte vierundfünfzig Stunden mit gebundenen Händen und Füßen in einem Sumpfland zurückgelegt, und die Moskitos, die in dieser Jahreszeit unerträglich sind, hatten mich schrecklich zugerichtet. Und dann die Folter Millans! O, ich hatte viel gelitten, und jetzt lag ich gefesselt neben einem Meuchelmörder.
„Mein Gastfreund war eingekerkert, die Dorfbewohner in Schrecken, und ohne die Großmuth eines weiblichen Wesens wäre ich nicht mehr am Leben. Frau Alleman, ein Engel an Güte, ließ sich durch die allgemeine Furcht nicht einschüchtern und kam dem Gefolterten zu Hilfe. Dank meiner unvergleichlichen Wohlthäterin litt ich im Gefängniß keine Noth.“
Zehn Jahre später in den Kämpfen von Montevideo gegen die argentinische Republik führte der Zufall Garibaldi nebst andern Gefangenen auch diesen Millan in die Hände. Garibaldi gab seinen Peiniger frei, ohne ihn nur angeblickt zu haben, und so hoch steht er über jedem Gedanken an sich selbst und jedem Rachegefühl, daß er dieses Umstands in seinen Memoiren nicht einmal gedenkt.
Nach zwei Monaten erlangte er seine Freiheit wieder, und bald war er aufs neue im Dienste der kleinen Republik, für die er mit mehreren tapferen Landsleuten ohne Sold, nicht immer siegreich, aber immer mit abenteuerlicher Verwegenheit kämpfte. Das Ewig-Weibliche wirft seinen Zauber über diese Periode, die dem greisen Helden, noch während er seine Memoiren niederschreibt, als die glücklichste seines Lebens erscheint. Bei einem Ueberfall hält er mit seinen Getreuen zu vierzehn gegen hundertundfünfzig Mann Stand, und süßer als der Sieg ist ihm zu hören, daß die schöne Manuela, die, obwohl Braut eines Andern, von ihm mit reiner stiller Liebe geliebt wird, für sein Leben gezittert hat.
„Ja, wunderschöne Tochter des Kontinents!“[2] ruft er aus, „ich war glücklich, Dir anzugehören, gleichviel auf welche Weise! Du zum Weib eines Andern bestimmt! Mir aber bewahrte das Schicksal eine andere Brasilianerin auf – für mich die Einzige auf Erden – die ich heute beweine und mein Leben lang beweinen werde. Auch sie lernte mich im Mißgeschick, schiffbrüchig kennen, und mehr vielleicht als mein Verdienst zog sie mein Unglück an, und das Unglück vermählte sie mir auf ewig.“
In der Lagune dos Patos wurden zwei Schaluppen ausgerüstet und unter Garibaldis Oberbefehl gestellt, damit er zur See die Bewegungen der Landmacht unterstütze. Wie aber die kleine Flotte nach dem Ocean bringen, da die beiden Ausflüsse der Lagune durch starke kaiserliche Festungen vertheidigt sind? Doch Garibaldi findet Rath. Er läßt seine beiden Schiffe auf zwei Karren laden, die von je fünfundzwanzig Paar Ochsen durch das Bett eines kleinen Stromes nach dem See Tramandahy gezogen werden, der seinerseits ins Meer mündet. Nach längerem Kampf mit den Wellen gelingt es, von hier mit der Hochfluth den Ocean zu gewinnen, der den Verwegenen umsonst seine donnernde Warnung entgegenbrüllt; sie haben einen Weg hinter sich, den vor ihnen nie ein Fahrzeug gewagt hat – aber nicht zu ihrem Heil. Denn die leichte Brise, mit der sie ausschifften, verwandelte sich am zweiten Tag in tobenden Sturm und zwang die Schiffe, an der feindlichen Küste Landung zu suchen. Doch das kleinere und schwerer belastete, der „Rio Pardo“, den Garibaldi selbst befehligte, wurde von einer furchtbaren Welle quer gefaßt und umgeworfen. Garibaldi, vom Fockmast ins Meer geschleudert, verlor die Besinnung keinen Augenblick; er sammelt, was er an Rudern und treibenden Planken fassen kann, und schwimmt damit ans Schiff, um sie den Freunden zu bringen. Luigi Carniglia, der tapfere Oberbootsmann, dem Garibaldi seine Rettung aus früheren Gefahren dankte, hing hilflos an Bord geklammert, denn eine enge wasserschwere Tuchjacke machte ihm jede Bewegung unmöglich. Garibaldi sieht es und eilt zu Hilfe; mit einer Hand sich am Schiffe haltend, hat er schon mit seinem Taschenmesser den Sammetkragen abgetrennt und ist im Begriff, dem Freund die unselige Jacke vom Leib zu schneiden, als eine fürchterliche Welle über sie hereinschmettert und das Schiff mit allen, die daran hängen, in den Abgrund reißt. Garibaldi selber schoß wie ein Pfeil auf den Grund, und als er wieder auftauchte, war sein unglücklicher Freund auf immer verschwunden. Jetzt blieb auch ihm nichts übrig, als an seine eigene Rettung zu denken, und er war unter den Ersten, die das Ufer erschwammen. Aber zurückblickend sieht er seinen Jugendfreund, seinen Edoardo Mutru, der mit ihm verbannt worden und um seinetwillen über den Ocean gekommen war, ermattend mit den Wellen ringen; denn das Holzstück, das ihm Garibaldi gereicht hatte, war ihm durch die Wuth des Meeres entrissen worden. Garibaldi springt aufs neue in die Fluth. Schon ist er dem Freund nahe; durch eine Planke hofft er ihn zu retten – vergebens! Eine Welle verschlingt beide; Garibaldi arbeitet sich hervor, aber der Freund, nach welchem er verzweifelt ruft, erscheint nicht wieder.
Sechzehn seiner Gefährten theilten dasselbe Los, unter ihnen seine sechs Landsleute. Erprobte Schwimmer sind zu Grunde gegangen, und viele, die nicht schwimmen konnten, wurden gerettet! Vergebens sucht er unter den Ueberlebenden ein italienisches Gesicht, sie sind alle todt und er sieht sich allein auf der Erde. Am Strand niedergeworfen, überläßt er sich seinem Jammer, und das so mühsam gerettete Leben scheint ihm eine Last.
Wir haben diese Episode so ausführlich erzählt, weil sie auf Garibaldis Schicksal von weitestgehendem Einfluß war. Die Herzenseinsamkeit, in die ihn der Tod so vieler treuer Freunde versetzte, erweckt ihm einen Gedanken, den seine abenteuervolle Laufbahn bisher ferngehalten; ihm fehlt ein Wesen, das immer um ihn sei und sein ganzes Leben theile; er weiß, einen Freund zu gewinnen, braucht es Jahre; er aber will sogleich geliebt werden, und so beschließt er, ein Weib zu nehmen.
Einer wildschönen Blüthe der Poesie gleicht seine erste Begegnung mit Anita.
Vom Bord der „Itaparika“, die Garibaldi nach dem Schiffbruch des „Rio Pardo“ befehligte, späht er eines Tages nach dem malerischen, an einem Hügelabhang gelegenen Dorfe Barra, und durch das Fernglas erblickt er ein Mädchen, dessen Erscheinung ihn mit umwiderstehlicher Gewalt ergreift. Augenblicklich läßt er sich in dieser Richtung übersetzen, und ein Ortsbewohner, den er flüchtig kennengelernt hatte, lud ihn zu einer Tasse Kaffee in sein Haus. Beim Eintritt fiel sein erster Blick auf die Gesuchte. Es war der Blitzschlag der Leidenschaft: beide stehen sich stumm und entzückt gegenüber, als ob sie sich nicht zum ersten Male sähen, und jedes sucht in den Zügen des andern nach einer Erinnerung.
Doch lassen wir ihn selbst erzählen. „Ich grüßte sie endlich und sagte: ‚Du mußt mein sein!‘ Da ich des Portugiesischen wenig mächtig war, sprach ich die verwegenen Worte aus italienisch. Gleichviel, ich wirkte magisch in meiner Frechheit. Ich hatte einen Bund geschlossen, den nur der Tod zerreißen konnte, ich hatte einen verbotenen Schatz gefunden, aber einen Schatz von hohem Werth.
„Wenn ein Unrecht geschehen ist, so war es ganz auf meiner Seite – und es ist ein Unrecht geschehen. Ja – zwei Herzen schlossen sich in gewaltiger Liebe zusammen und die Existenz eines Unschuldigen ging darüber in Stücke. Sie ist todt, ich unglückselig, und er gerächt! Ja, gerächt! Das große Unrecht, das ich begangen, ward mir bewußt am Tage, wo ich noch in der Hoffnung, sie lebend wiederzuhaben, die Hand einer Leiche drückte und Thränen der Verzweiflung weinte. Ich habe schwer gefehlt und ich allein!“
Diese Worte haben so viele Mißverständnisse[3] hervorgerufen, daß sie einer Erklärung bedürfen: Anita war unvermählt, als Garibaldi sie auf sein Schiff entführte; sie wurde ihm in rechtmäßiger Ehe angetraut, wie die noch vorhandene Urkunde aus San Francisco d’ Assisi in Montevideo beweist, und es ist die rührende Anekdote überliefert, daß Garibaldi, der von der Regierung keinen Sold bezog, den Priester mit seiner silbernen Taschenuhr, dem einzigen Besitzthum, das er aus dem Schiffbruch gerettet hatte, bezahlen mußte. Doch der Fluch ihres Vaters, der ihr ein anderes Schicksal bestimmt hatte, folgte dem jungen Weibe in ihr neues Leben.
Von jenem Tage an ficht die brasilianische Amazone unzertrennlich an der Seite ihres Gatten, „die Schlachten sind ihr [349] ein Spiel, die Beschwerden des Lagerlebens ein Zeitvertreib“. In seiner Abwesenheit ist sie es, die den ersten Kanonenschuß auf die feindliche Flotte feuert, sie wird die Vorsehung der Verwundeten; sie ermuthigt die Wankenden, hält die Fliehenden auf, thut unter den feindlichen Feuerschlünden Adjutantendienste oder stellt sich selbst mit ihrem Karabiner in die Reihe der Kämpfer. Sie irrt durch das Schlachtfeld, um die Leiche ihres Geliebten zu suchen, dessen Tod ihr fälschlich gemeldet wird; aus der Gefangenschaft entkommt sie zu Pferd und durchschwimmt, an die Mähne ihres Thieres geklammert, geschwollene Ströme. In einer Hütte bringt sie ihren Erstgeborenen, den kleinen Menotti, zur Welt, auf dessen Stirn eine Narbe an ihren schweren Sturz vom Pferde erinnert. Doch während der Vater fort ist, um die nöthigsten Bedürfnisse zu beschaffen, bricht eine Abtheilung feindlicher Infanterie unter dem schrecklichen Moringua in ihren Zufluchtsort ein und metzelt alles vor sich nieder. Anita gelingt es zu entfliehen; ihren zwölf Tage alten Säugling vor sich auf dem Sattel, flüchtet sie mit Garibaldis Matrosen bei stürmendem Ungewitter in den Wald. Ein anderes Mal irrt sie mit seinen zersprengten Scharen in endloser Wildniß, ohne Nahrung, bei immer strömendem Regen auf steilen Felsensteigen, zwischen wilden Volksstämmen durch, über reißende Bergströme, wo der Vater den drei Monate alten Menotti in einem um den Nacken geschlungenen Sacktuch trägt, um ihn durch den Athem warm zu halten. In immer gleicher Begeisterung theilt sie sein immer wechselndes Glück, das ihn noch zum Viehhändler, zum Makler, zum Privatlehrer der Mathematik und dann wieder zum Begründer und Kommandanten der ruhmreichen italienischen Legion in Amerika macht – und sie ist es, die in Garibaldis Seele die unausrottbare Ueberzeugung pflanzt, daß das Weib von höherer Natur sei als der Mann, also auch kühner, ritterlicher; nur die knechtische Erziehung, zu der es verdammt sei, mache die Beispiele davon seltener.
Doch das ungetrübte Liebesglück der armen Anita hat nun am längsten gedauert; ihr droht eine furchtbare Rivalin, von der der leiseste Wink genügt, ihr den Helden aus den Armen seines Glückes zu reißen: diese Rivalin heißt Italien. Denn „der Italiener ergötzt sich nicht am blauen Himmel des Auslandes, an den Reizen einer fremden Schönen; er verpflanzt sich nicht wie die Söhne des Nordens auf immer in ein fremdes Land. Er vegetirt, er wandelt düster und gedankenschwer auf der fremden Erde und nie verläßt ihn das Heimweh nach dem wunderschönen Vaterland und das Berlangen, für seine Befreiung zu kämpfen.“[4]
Auf die erste Nachricht von den freiheitlichen päpstlichen Reformen führte er seine „Italienische Legion“ über den Ocean und legte dem König Karl Albert von Savoyen, der ihn vor vierzehn Jahren zum Tode verurtheilt hatte, seinen ruhmreichen Degen zu Füßen. Anita mit den Kindern war ihm schon auf die italienische Erde vorangeeilt, der sie eine glühende Hingebung entgegenbrachte und die ihr zum Dank nichts zu bieten hatte als ein Grab. In Garibaldis Memoiren begegnen wir ihr erst wieder beim Rückzug von Rom, wohin sie ihrem Gatten gegen seinen Willen gefolgt war. Noch einmal endlose Märsche im glühenden Sonnenbrand über schroffe Gebirgspässe, pesthauchende Sümpfe, bei Tag ohne Nahrung und Nachts ohne Schlaf: so windet sich das decimirte, demoralisirte Häuflein zwischen den französischen Kolonnen durch, ein österreichisches Korps auf den Fersen und unter den zu Tode Gehetzten Anita zu Pferd in Männerkleidern, ein Kind unter dem Herzen und schon jenes schleichende Fieber in den Adern, das ihr nur noch wenige Tage vergönnte. Doch keine Klage kommt über ihre Lippen – kann sie der Sache ihres Gatten keinen Vorschub mehr leisten, so wird sie ihm doch nimmermehr eine Last oder ein Hinderniß sein. Noch einmal wallt ihre starke Seele auf, als sie nahe der Grenze von San Marino ihre Nachhut vor den noch nicht einmal recht zum Vorschein gekommenen Oesterreichern die Flucht ergreifen sieht, und sie wirft sich mit dem englischen Obersten Forbes entrüstet den Fliehenden in den Weg.
Unweit des Adriatischen Meeres im damaligen Kirchenstaat erhebt der Monte Titano sein steiles Zackenhaupt und aus seinem schroffsten Scheitel liegt das befestigte Städtchen San Marino, die kleine uralte Republik. Auf diesen neutralen Boden warfen sich die Verfolgten und legten vor den Thoren der Stadt die Waffen nieder; doch auch dort war ihres Bleibens nicht. Der kleine Staat konnte die Geächteten nicht in seinen Mauern behalten; Garibaldi wies jeden Pakt mit den Fremden zurück, und so beschloß er, sich mit wenigen treugebliebenen Gefährten einen Weg nach Venedig zu bahnen. Er beschwor Anita, in der gastlichen Stadt zurückzubleiben, die wenigstens dem unglücklichen Weibe ein Asyl und Pflege bieten konnte; doch sie wollte von keiner Trennung mehr hören; verzweifelt klammerte sie sich an den bedrängten Gatten an, und alles, was ihr gequältes Herz fern von ihm gelitten hat, seitdem sie den amerikanischen Boden verließ, macht sich in dem verzweifelten Ausruf Luft: „Ich sehe, Du willst mich verlassen!“
Ihm blieb nichts übrig als nachzugeben, und in der Nacht wurde die kranke Frau, in der unterdessen das bis dahin versteckte Fieber mit voller Gewalt ausgebrochen war, die schwierigen Bergpfade hinunter in die Ebene geschleppt. In der nächsten Nacht erreichten sie Cesenatico, und durch einen Handstreich gelang es Garibaldi, mit unsäglichen Mühen bei hohem Meer dreizehn requirirte Schiffernachen flott zu machen, in denen er mit den Seinigen nach dem noch kämpfenden Venedig überzusetzen hoffte. Aber Anita litt unsäglich und keine Linderung war zur Hand; brennender
[350] Durst verzehrte ihr Eingeweide und es fehlte selbst an Wasser. Den ganzen Tag segelten sie mit gutem Fahrwind an der italienischen Küste hin, doch mit Mißfallen sah Garibaldi den Vollmond, den alten Gefährten des Seemanns, mit niegesehener Pracht aufgehen, und in der That, der Mond wurde ihnen verderblich.
Das österreichische Geschwader lag in diesen Gewässern, und bei der großen Helle, die sich über das ganze Meer verbreitete, wurden die kleinen Nachen zuerst von einer Brigg entdeckt, die sich sogleich zur Jagd anschickte und im Nu das ganze Geschwader alarmirte. Garibaldi, taub gegen den Kanonendonner, nahm seine ganze Seemannskunst zusammen, um sich noch einmal, wie so oft schon, zwischen der Küste und den feindlichen Schiffen durchzuretten; aber seinen Genossen schwindet der Muth, ihre Nachen weichen zurück und er mit ihnen, um sie nicht zu verlieren. Bei Tagesanbruch sind sie völlig von dem viel beweglicheren Geschwader umringt; es bleibt kein Ausweg als der Küste zuzusteuern, wo sie, von feindlichen Booten und von Kanonenschüssen verfolgt, mit nicht mehr als vier Nachen ankommen; alle übrigen haben sich längst ergeben.
„Man denke, was meine Lage in diesen fürchterlichen Augenblicken war: mein unglückliches Weib sterbend, in unserem Rücken der Feind und vor uns eine Küste, wo aller Wahrscheinlichkeit nach andere zahlreiche Feinde auf uns warteten, nicht nur Oesterreicher, sondern auch Päpstliche, die sich damals in wüthender Reaktion befanden.
Doch gleichviel, wir mußten landen, ich nahm meine theure Genossin, trug sie ans Land und legte sie am Ufer nieder. Meine Gefährten, die mich durch Blicke befragten, hieß ich sich zerstreuen und jeden einzeln eine Zuflucht suchen. – Mir selbst war es unmöglich weiterzugehen, da ich mein sterbendes Weib nicht verlassen konnte.“
So trennte er sich von den Besten, die ihm geblieben waren, von Ugo Bassi, dem Priester und Soldaten, und Ciceruacchio mit seinen beiden Söhnen, darunter ein Junge von dreizehn Jahren! Sie fielen mit andern seiner Getreuesten den Feinden in die Hände und beim Bericht ihres Märtyrertods klingt es aus der Erzählung des greisen Helden wie ein Schrei des Schmerzes und der Wuth.
Er selbst blieb mit seiner Anita und einem Offizier in einem Moorhirsenfeld nahe beim Ufer zurück, unschlüssig, was er zunächst beginnen solle. Am Ende sandte er den unerschrockenen Begleiter auf Kundschaft aus und sah ihn nach kurzem Warten mit einem Andern zurückkommen, in dem er zu unbeschreiblicher Freude einen seiner besten Offiziere von der Vertheidigung Roms her, den Obersten Rino Bonnet, erkannte. Mit einem Jubelruf warf er sich dem Waffenbruder an den Hals; Bonnet, der in der Gegend ansässig und begütert war, hatte den Kanonendonner gehört und da er Garibaldis Landung vermuthete, war er herbeigeeilt, um ihm mit äußerster Lebensgefahr beizustehen. Mit seiner Hilfe konnte Garibaldi die unglückliche Frau in eine Hütte zu armen Leuten bringen, wo wenigstens ihr quälender Durst gestillt wurde. Doch auch hier war ihr keine Ruhe gegönnt; schon war der Feind den Geächteten auf der Spur und ihre Sicherheit erforderte schleunigen Aufbruch. In ein anderes Haus zu Bonnets Schwester gebracht, wurden sie zwar herzlich empfangen, durften aber auch dort nicht verweilen. Mit Aufbietung all seines Einflusses gelang es Bonnet, von hier aus die gefährliche Flucht durch die Thäler von Comacchio zwischen Sbirren und Spionen hindurch zu bewerkstelligen und Anita wurde auf einer Matratze liegend bei Nacht in einem elenden Karren nach Mandriola bei Sant’ Alberto geführt, wo sie erst am folgenden Nachmittag ankamen. Den Arzt, dem er zufällig in dieser Farm begegnete, beschwor Garibaldi, die Kranke zu retten. Aber während man sie auf ihrer Matratze die kleine Treppe hinauf nach einem oberen Zimmer trug, erlosch ihr Leben. Als Garibaldi sie zu Bette legte, gewahrte er in ihrem Gesicht einen fremdartigen Ausdruck; erschrocken griff er nach ihrem Puls, der schlug nicht mehr – seine heißgeliebte Anita, die Mutter seiner Kinder, war eine Leiche.
So endete Anita Ribeira Garibaldi am 4. August 1849 wie ein gehetztes, verwundetes Wild ihr Leben. Kaum blieb dem verfolgten Mann die Zeit, der Geliebten die Augen zuzudrücken und den Anwesenden ihre Bestattung ans Herz zu legen: so eilig wurde er von diesen aus dem Hause gedrängt, das er durch längeres Bleiben in Gefahr brachte. Schon erschienen die österreichischen Soldaten unter den Fenstern, und allein mit einem Führer setzte er taumelnd und fassungslos seine Flucht durch die feindliche Gegend fort.
Und hier ist auch das tiefste Interesse an diesen Memoiren zu Ende. Wohl folgen neue Abenteuer, neue Schicksalswendungen, jäher und wunderbarer als die früheren; wohl folgt das unsterbliche Heldengedicht der Tausend von Marsala, aber ein Gluthstrom von
Patriotismus hat alles Persönliche weggeschmolzen, kaum daß noch da oder dort eine Gestalt deutlich hervortritt; selbst wo der General von seinen Söhuen spricht, sind sie nur die Untergebenen des Feldherrn und für ihn „wie ein anderer Mann“. Keines Weibes Name wird mehr in dem Buch genannt. Bekanntlich hielt es Garibaldi im Leben anders, aber sein Schweigen beweist, daß er wenigstens den ungeheuren Abstand zwischen dieser und jeder späteren Liebe zu messen wußte: in die Unsterblichkeit nimmt er nur seine Anita mit hinüber.
Ein halbvergessenes Metall.
Wer kennt sie heutzutage noch, die alten urbehäbigen zinnernen Teller und Kaffeekannen, die uns so gutmüthig anblinkten und an denen wir den Namen der Großmutter mitsammt dem Datum ihrer Hochzeit zum so und so viel hundertsten Male lasen?
Das Zinn, das mildglänzende, weichgriffige Familien-, Küchen- und Hausmetall, ist abgesetzt und verdrängt worden – durch was? Durch frostiges, klirrendes Porzellan und Steingut. Die zierlich gravirten Zinnteller aber, die stolzen Humpen, die schönen Bratenplatten warf der Zinngießer betrübten Herzens in den Schmelztiegel und machte Biergläserdeckel daraus; denn das war in den letzten 25 Jahren fast der einzige Artikel, nach welchem bei ihm noch Nachfrage gehalten wurde.
Doch nicht nur in kunstgewerblichem und familiärem Interesse wünschen wir dem alten, lieben Metall erneute Beachtung; sollte sich der enorme Bedarf an Zinn, den einst die deutsche Familie hatte, in unserer Zeit nur zum Theil wieder hervorrufen lassen, dann würde sicher auch mehreren hundert armen deutschen Zinnbergleuten mit Tausenden von Angehörigen geholfen sein; ihnen ist gegenwärtig ein so karges und dabei mühseliges Brot zugemessen wie kaum einer anderen Berufsklasse.
Die Zinnerze sind keineswegs auf unserem Erdballe weit verbreitet; allerdings treten sie, wo sie einmal gefunden werden, nur massenhaft auf. In Europa produziren England und Deutschland Zinn, und zwar das letztere im sächsischen Erzgebirge in der Gegend von Altenberg und Ehrenfriedersdorf. Mächtige Fundorte sind die beiden holländischen Inseln im indischen Archipel Bangka und Billiton.
Das größte Zinnbergwerk auf dem Kontinent ist das von Altenberg im sächsischen Erzgebirge, wo in einem einzigen Bergwerk über 300 und im ganzen Distrikte etwa 500 Bergleute das Halbedelmetall zu Tage fördern.
Auf luftiger Höhe in der Nähe einer großen Basaltaustreibung liegt das freundliche, nach einem großen Brand fast völlig neu erbaute Städtchen. Was uns zuerst auffällt, das sind die mit rothem Staub bedeckten Menschen, die uns begegnen, die rothen Wege, im Winter der rothe Schnee und das massenhafte rothe Gestein, das an den Berggebäuden aufgestapelt liegt. In dem letzteren haben wir die Zinnerze vor uns, die Zinnzwitter, wie sie hier genannt werden; es ist das ein rother Porphyr mit einem Gehalt an Zinn, der sich dem „tauben Gestein“ gegenüber wie 1 zu 300 verhält. Man muß also 300 Centner Zinnzwitter zu Tage fördern und verarbeiten, ehe ein Centner Zinn gewonnen wird. Für den geringen Gehalt entschädigen jedoch die großartigen Massen, in welchen das Gestein vorkommt; in Altenberg, in Zinnwald und selbst noch in Graupen in Böhmen streicht es in massigen Bänken zu Tage aus, und dann läßt es sich auch verhältnißmäßig leicht abbauen, wie wir später sehen werden.
Von selbst wäre wohl niemand dahintergekommen, daß dieser rothe Bruchstein ein werthvolles Metall in sich berge; es mußte da schon ein Zufall zu Hilfe kommen. Im Jahre 1458 hatte ein Köhler im wilden Walde an einer Stätte, die heute ein Denkstein ziert, einen Meilerhaufen angerichtet und den Herd des Meilers von dem rothen Gesteine des Gebirgs aufgesetzt. Als der Meiler verglüht war und die Holzkohlen abgeräumt, zeigte sich das Gestein merkwürdig verändert; es war von der Feuersgluth zermürbt und hatte „berglauteres Zinn“ ausgeschwitzt.
Der rußige Gesell verwandelte sich natürlich sofort in einen Bergmann, und Frau Fama sorgte dafür, daß die Kunde von dem unverhofften Fund mit den üblichen Uebertreibungen in die Welt hinaus ging. Aus anderen Gegenden des Erzgebirgs, aus Böhmen und aus dem Harz strömten die Bergleute herbei und versuchten ihr Glück in Einzelbauen. Hundert Jahre nach dem „Fündigwerden“ nennt uns die Chronik gegen 380 Fundgruben bei Namen, und die neuaufgebaute Stadt zählte 500 Feuerstätten.
Wie noch heute in den Minendistrikten Nordamerikas vollzog sich auch hier, nur langsamer, der Prozeß der Konzentrirung aller Arbeitskräfte. Große Anlagen, wie Bergteiche, Entwässerungsstollen, Wasserhebemaschinen, wurden nothwendig, reiche Leute schossen Geld vor; man nannte sie fortan Bergherren, und der freie Bergmann, der bisher in [351] eigener Grube schürfte, wurde Lohnarbeiter. Im vorigen Jahrhundert vollzog sich eine weitere Konzentrirung; eine Anzahl kleinerer Gewerkschaften verschmolz sich zu einer einzigen großen Gewerkschaft unter dem Namen „Vereinigt Feld im Zwitterstock“. Diese Gewerkschaft besteht noch heute, obwohl sie schwere Zelten gesehen hat. Im vorigen Jahrzehnt war sie gezwungen, den Centner Zinn 17 Mark 50 Pfennig niedriger zu verkaufen, als er bei Wochenlöhnen von 5 bis 6 Mark zu erzeugen kostete; freilich wurde dabei der Reservefonds von 150 000 Mark bis auf 50 000 Mark aufgezehrt.
Besuchen wir den Zinnbergmann an seiner Arbeitsstätte.
Wenn die Sterne dem Morgen entgegenflimmern und langsam verblassen, verläßt er die schlafenden Seinen und pilgert oft stundenweit gen Altenberg, das Grubenlicht vor der Brust und Lebenssorgen darinnen.
Neben dem Huthaus steht das Bethaus. Der Obersteiger spricht ein kurzes Gebet zu dem großen überirdischen Bergherrn und dann geht’s hinab in die Tiefe. Vielleicht vergoldet gerade die Morgensonne die Fenster des Treibehauses, wenn sich vor dem Bergmann der schwarze Schlund aufthut, dessen Mündung kaum so groß ist wie eine Grabesöffnung.
Die Fahrten (starke Leitern) stehen fast senkrecht auf kleinen Bühnen, und nun denke man sich an diesen Gerüsten Hunderte von Menschen klammern, die in einem ganz bestimmten Tempo „einfahren“. Daneben, hinter einem Bretterverschlag von mehreren hundert Metern Höhe, werden die „Hunte“ mit den Erzmassen emporgetrieben, und auf der andern Seite des engen Schachtes ist die Wassersäulenmaschine eingebaut.
Tiefer und tiefer steigen wir hinab. Ein Blick nach oben zeigt uns das Mundloch des Schachtes wie einen blassen Nebelfleck am tintenschwarzen Nachthimmel. Nach unten blicken wir lieber nicht: die kleinen Lichtel da unten in dem grauenhaften Abgrund möchten uns unsicher machen. Endlich vermeldet der uns begleitende „Steiger“ „erste Gezeugstrecke“, die sogenannte „Kugelstollnsohle“, das ist, weniger bergmännisch ausgedrückt, das oberste Geschoß des Bergwerks. Ein dunkler, einsamer Felsengang nimmt uns auf und dieser führt zu einem ganzen Labyrinth solcher Felsengänge – alle einsam, öde, das Schweigen der Ewigkeit herrscht in ihnen – es sind verlassene Baue, schon vor Jahrhunderten verlassen.
Links und rechts von den Gängen liegen oft ungeheure Höhlen, die ihrer Größe nach mit Kirchengewölben wetteifern. Das sind alte Brennörter, wo man in früheren Jahrhunderten das Erz durch Ausbrennen gewann. Man sprengte zunächst kleine Höhlen in den Zinnzwitter und setzte diese mit dürrem Holz aus. Die Feuersgluth machte das Gestein der Decke mürbe, es brach in Massen herein. Aus den Trümmern wurde ein neuer Feuerherd ausgerichtet, bis abermals die Decke zusammenbrach, und so fort. Erst wenn man ungeheure Vorräthe von Schuttmassen angesammelt, dachte man ans Fördern derselben, und dadurch waren Hohlräume entstanden von ungeheurer Größe. In einem solchen könnte das Straßburger Münster aufrecht stehen, berichtet die Chronik. Aber der Berg rächte sich für solche Wühlerei in seinen Eingeweiden.
Schon 1545 fand ein großer Tagebruch statt, durch welchen 10 Bergzechen verschüttet wurden; 1578 folgten zwei andere Zechen nach; der größte Bergbruch aber vollzog sich am 24. Januar 1620. Es war eine stürmische Winternacht, erzählt der Chronist; der Schnee lag in Massen auf dem rauhen Gebirg, ruhig arbeitete der Bergmann in der Tiefe. Plötzlich, als eben die Glocke vier Uhr schlug, erfolgte ein Krachen, als wenn das jüngste Gericht anbrechen sollte, der Berg mit vier Göpeln und einem Dutzend Zechenhäusern ging in den Abgrund. Der in einem Augenblick entstandene Schlund hatte 304 Lachter im Umfang und war 30 Lachter tief (etwa 700 und 70 Meter). Glücklicherweise war ein Treibeschacht unbeschädigt geblieben und – welch ein Wunder! – man konnte Hunderte von Bergleuten bis auf vier Mann unversehrt herausfördern. Drei von den Verschütteten fand man nach drei Tagen auch noch lebend auf in einem Hohlraum inmitten des zerdrückten Gebirgs; nur der Vierte ward nie wieder gesehen.
Wir fahren noch zwei Gezeugstrecken tiefer und kommen endlich „vor Ort“, das heißt an die eigentlichen Abbauörter. Hier erhält das ganze Bergwerk ein anderes Gesicht. Wir stehen nicht mehr im festen Gestein, sondern befinden uns inmitten eines mehrere hundert Meter hohen Trümmerhaufens, wie man das schiebende Gebirg recht wohl nennen kann. Der Berg ist zermürbt und darum sind alle Gänge mit starken Hölzern ausgezimmert.
Aber wie sehen diese Zimmerungen aus?! Ganze Reihen von Stämmen sind zersplittert und zerborsten wie Streichhölzchen von dem furchtbaren Druck der Gebirgsmassen. Dem Laien ist es unbegreiflich, daß nicht täglich Unglücksfälle vorkommen; aber glücklicherweise ist der Druck des Gebirgs ein sehr gleichmäßiger, langsam wirkender, sodaß das kundige Auge des Bergmanns rechtzeitig an den Bewegungen erkennen kann, ob Gefahr an den Mann geht. Dieser Umstand macht es erklärlich, daß in den letzten 30 Jahren nur zwei größere Unglücksfälle vorgekommen sind.
Gerade diese beständig drohenden Gewalten sind gleichzeitig die besten Freunde des Bergmanns; sie erhalten ihn konkurrenzfähig, ja, das Bergwerk zu Altenberg würde wahrscheinlich längst zum Erliegen gekommen sein, wenn es nicht im „schiebenden Gebirg“ läge. Der natürliche Druck arbeitet dem Bergmann in die Hände und ermöglicht die Anlage von sogenannten „Schubörtern“. Jahrelang schieben sich an einem solchen Ort die Erzmassen ganz von selbst herein, der Bergmann braucht nur abzufahren.
Die „Bruchörter“ liegen im festeren Gestein; hier muß das Pulver die Hauptarbeit übernehmen; doch sind diese nicht beliebt, weil der Abbau nicht lohnt; sie müssen dennoch betrieben werden, am neue abbauwürdige Strecken aufzuschließen.
Böse Wetter, „Schwaden“, kennt glücklicherweise der Altenberger Zinnbergbau nicht. Es herrscht ein so frischer Wetterzug in dem tollen Durcheinander von Gängen, daß man einzelne mit Thüren versehen muß, um die Leute vor Erkältungen zu schützen. Die Zinnbergleute sind denn auch im ganzen gesünder als die Kohlen- und Silberbergleute, unter denen man weniger silberbehaarte Gestalten findet, als zu Altenberg.
Das Ausfahren auf den „Fahrten“ ist abermals ein mühselig Stück Arbeit, von dem nur ein Thürmer eine blasse Ahnung haben kann. Und doch wird es so gern gethan nach einer sieben- bis vierzehnstündigen Schicht. Die Freude der Erlösung und Auferstehung, wenn die letzte Sprosse erklommen und das goldene Licht des Tages noch über die Welt dahinfluthet, kennt der Bergmann allein.
Das Ausscheiden des Zinnes geschieht durch einen endlosen Schwemm- und Waschprozeß der zu Sand zerstoßenen Erzmassen. Siebzehn Pochwerke mit 1272 Pochstempeln, sowie 15 Wäschen mit 80 Stoß-, Schüttel- und Glauchherden sind thätig. Ihre Spuren sind noch viele Meilen von Altenberg sichtbar; sie färben die Müglitz und selbst noch die Elbe auf eine weite Strecke hin roth wie Zinnzwitter. Zuletzt erscheint das Zinnerz als ein grauer, unansehnlicher Sand, der sich erst im Schmelzofen zu dem weichen, geschmeidigen Metall veredelt. Man gießt es in Blöcke und in Stangen, und in dieser Form wandert es von Altenberg vorwiegend nach Wien, wo sich ein bedeutender Zinnbedarf für den Orient erhalten hat. Dort wird es in Zinnsalze zum Rothfärben aufgelöst.
Möchte es auch wieder Eingang in die deutsche Familie finden und wieder in seiner Ehrlichkeit und Gemüthlichkeit ein Schmuck des gutbürgerlichen Haushaltes werden, gegenüber manchen äußerlich schillernden, aber wenig haltbaren und gehaltvollen Erzeugnissen des modernen Kunstgewerbes.
Alle Rechte vorbehalten.
Inesilla verging vor Schreck und Angst; sie machte sich alle möglichen furchtbaren Vorstellungen; sie sah Untreue, Nebenbuhlerinnen, Dolch und Revolver in den Händen von beleidigten Rivalen; denn sie fürchtete, ihr Verhältniß sei trotz aller Vorsicht bekannt geworden – da erfuhr sie, daß Pablo Verros krank, sehr krank sei und von einem bösen Fieber ergriffen im Universitätsspital liege.
Dorthin konnte sie unmöglich gehen, selbst als seine Verlobte nicht; sie mußte sich also in Geduld fassen und allen Kummer und alle Angst, alle Sorge allein für sich hinunterwürgen und froh sein, daß es ihr gelang, mittels kluger Vertheilung von Cigarros durch Lazarethdiener hier und da zu erfahren, wie es ihrem Freunde ging.
Die Krankheit dauerte wochenlang; dann kamen bessere Nachrichten und eines Tages hieß es, Señor Pablo würde am nächsten Sonntag, zwar sehr schwach, aber doch geheilt entlassen werden.
Dieser Sonntag war ein Festtag für Salamanca – die Studentenschaft hatte nämlich ankündigen lassen, daß sie ein Mandolinen- und Gesangskonzert Nachmittags zwei Uhr vor dem Café de Madrid auf der Plaza Mayor geben werde.
Solch ein Konzert war etwas Seltenes, ebenso amüsant wie schön, kostete nichts und ganz Salamanca hatte sich demnach am Konzertort eingefunden.
Man saß auf Strohstühlen an kleinen Tischen, zu zwei bis drei Personen an einem, vor dem Café auf der Straße, und die Tische reichten bis über den halben Marktplatz. Dort vorn hatte die konzertirende Studentenschaft Platz genommen, in ihren saubersten schwarzen Talaren und schwarzen Baretten (eigentlich sind es kahnförmige Hüte, die breit getragen werden). Alles befand sich in bester Stimmung, und man wartete, Kaffee, Chokolade und Limonade schlürfend, der schönen Dinge, die da kommen sollten.
Auch Inesilla saß mit ihrem Vater ziemlich weit vorn an einem Tischchen, unruhigen Herzens erwägend, ob der heute entlassene Pablo auch hier zugegen sein würde. Wohl nicht als Mitwirkender, denn dazu würde er zu schwach sein, doch als Zuhörer und Zuschauer, wie viele andere seiner Kameraden, und in dieser halben Erwartung hatte sie einen dritten Stuhl an den Tisch gezogen, den sie vorläufig mit ihrem Fächer belegte. Das Konzert nahm seinen Anfang.
[352] Von dem Tische mit den schwarzgekleideten jungen Leuten ertönten Guitarrenmusik und national schwungvolle Weisen. Die nach Hunderten zählende Zuhörerschaft lauschte so gespannt und lautlos, daß man in den Pausen hätte eine Stecknadel zur Erde fallen hören können. Da plötzlich stand Inesilla vor freudigem Schreck das Herz fast still, denn dicht bei ihrem Tische erblickte sie Pablo, der sich nach einem leeren Stuhl umschaute – jetzt wandte er sich um und bemerkte Inesilla bei ihrem Vater – er wurde purpurroth.
Inesilla rückte mit ihrem leeren Sessel; Don Lorenzo tupfte den jungen Mann auf den Arm und wies auf den Stuhl, und Pablo nahm ganz verwirrt unter einer tiefen Verbeugung Platz. Nach einigen Minuten, in welchen die jungen Leute in bedrückter schwüler Stille neben einander saßen, reckte Don Lorenzo den Kopf und blickte gewohnheitsgemäß nach seinem Laden hinüber; er sah ihn voller Leute und den Lehrbuben allein dort hastig herumhantiren, weshalb er sich erhob, seiner Tochter einige Worte zuflüsterte und dann, auf den Zehen durch die Tischreihen schreitend, seinem Geschäftslokal zueilte.
Inesillas Gesicht verklärte sich in geheimer Freude, während Pablos Gesichtszüge eine gewisse Aengstlichkeit und Unruhe zeigten. Das Mädchen drückte Pablo unter dem Tisch die Hand und bestellte bei dem Kellner, den Fächer vor dem Mund, eine „kleine“ und eine „ ganze“ Chokolade – die letztere präsentirte sie durch einfaches Umdrehen des Brettes ihrem Freund. Dann zog sie ein Schächtelchen Cigaretten aus der Tasche, setzte dies außerordentlich geschickt, daß niemand anders es bemerken konnte, vor Pablo hin und ermunterte ihn durch einen Wink, sich zu bedienen; sie selbst nahm für sich ein ganz kleines, feines Päckchen, das ihre Sorte enthielt, aus ihrem zierlichen Pompadour, zündete eines der Röllchen an und rauchte ganz glückselig.
Etwas verlegen – aber ohne sich anders helfen zu können, nahm Pablo das dargebotene Geschenk und brannte gleichfalls eine der großen, fein eingewickelten Cigaretten an.
Die Musik spielte munter und die beiden Liebesleute rauchten und fühlten ihre Herzen im Einklang mit den Worten des Dichters und den Tönen der Canzonetten.
Hätte Inesilla nun Französisch verstanden und gewußt, was das für Cigaretten waren, die sie ihrem Freunde anbot, und hätte Senior Pablo Verros eine Ahnung davon gehabt, was Cañamo-Cigaretten bedeuteten und welche Wirkung sie ausüben könnten, wenn man viel davon und dazu noch aufgeregt raucht, dann wäre diese wahrhafte Historie ungeschrieben geblieben und die Welt wüßte höchst wahrscheinlich nichts von Pablo und Inesilla in Salamanca und wie es ihnen ergangen. Pablo aber war ahnungslos und rauchte in tiefen Zügen.
Der Tabak war herrlich; er hatte noch nie solchen Duft gerochen und die Cigaretten besaßen einen so eigenen feinen Geschmack, und es ward ihm so wohl, so leicht, so frisch, so stark und heiter zu Muth, während er rauchte. Er brannte sich die zweite, dritte, vierte und fünfte an. Sein Herz schwoll vor Lebenslust und Lebensmut; die ganze Welt vor ihm verwandelte sich in ein Paradies. Alle Menschen bekamen Flügel und erhoben sich als Engel; eine Sphärenmusik ertönte vor seinen Ohren; sein liebekrankes Herz wurde von einer stürmischen Zärtlichkeit erfüllt, und diese gehörte dem wunderbaren Mädchen, das schon lange all sein Denken und Sinnen ausmachte und das da vor ihm saß und ihn so ermunternd und verheißungsvoll anschaute. – Die ganze irdische Welt versank unter ihm – er war plötzlich allein auf rosigen Wolken in ätherreinen, lichtdurchflutheten Himmelshöhen, und vor ihm stand Inesilla süß lächelnd erwartungsvoll … Ein Riesenmuth erfüllte seine Seele, er umschlang das Mädchen und gab ihr lange, süße Küsse … Da schlug ein dumpfer Schrei an seine Ohren – er wurde gewaltig gerüttelt; nicht paradiesische Stimmen umtosten und umbrausten ihn; man schien ihm sein Glück, seine Inesilla rauben zu wollen, doch er hielt sie eisenfest.
„ Pablo,“ ertönte es jetzt, „um der Liebe Gottes willen, Pablo, laß mich los! Wir sind ja auf der Straße, vor tausend Augen – Pablo, Du bringst uns beide in Schande und ich vergehe vor Scham!“
War das nicht die Stimme Inesillas, die so rührend bat und flehte?
Er öffnete die Arme und taumelte auf seinen Stuhl zurück. Ein dunkles Gefühl von etwas Schrecklichem, Unerhörtem, von etwas Ungeheurem, das er gethan, begann auf ihm zu lasten.
Seine Kollegen waren bei dieser merkwürdigen Scene zu ihm geeilt; sie wußten, daß er lange krank gewesen – war er jetzt plötzlich wahnsinnig geworden? Sie umstanden ihn, theilnahmsvolle Fragen an ihn richtend.
Ganz Salamanca war erstaunt über das, was sich da eben zugetragen. –
Es war aber auch etwas ganz Außergewöhnliches, das sich vor den Augen der Zuschauer also abspielte: eine Pause in der Musik war eingetreten. Die allgemein beliebte, kluge und tugendhafte Inesilla hatte sich eben erhoben, um, geleitet von ihrem Tischnachbar, wie das üblich, während der Pause vor den Tischen auf und ab zu promeniren – da hatte der Student, welcher den Ruf des sittsamsten und bescheidensten der ganzen Stadt genoß, plötzlich die Arme ausgebreitet, das Mädchen vor aller Welt an seine Brust gezogen, geküßt und sie so fest in seinen umschlingenden Armen gehalten, daß weder der Vater, der vom Laden aus diese Scene erblickte und voll Wuth herüberstürzte, noch viele andere Leute, die herzusprangen, im ersten Augenblick das vor Schreck halb todte Mädchen von dem Studenten befreien konnten.
War das nicht ein Ereigniß wie in einem Märchen? Befand sich Inesilla bei dem Ueberfall in einer furchtbaren Angst und Aufregung, so war die ihres Vaters nicht kleiner; jedoch galt diese zum wenigsten dem, der seine Tochter so unverschämt umarmt und geküßt hatte.
Don Lorenzos Gesicht war nämlich während des Ringens mit dem Studenten an dessen Mund gekommen und wie ein alles erleuchtender, aber auch eine furchtbare Gefahr ihm entdeckender Blitz war es ihm durch die Seele gefahren, daß der Student nach seinen so ängstlich geheimgehaltenen Hanfextraktcigaretten roch. Keine anderen hatten diesen Geruch – und nun wußte er sofort, wie das Seltsame hatte geschehen können. Seine Tochter mußte von den Cigaretten genommen und davon dem Studenten gegeben haben – der Mensch sah schwach und blaß aus, hatte sicher viele geraucht und einen starken und ganz eigenthümlichen Rausch bekommen. Das ging blitzschnell durch Lorenzos Kopf und rief in ihm eine gewaltige Angst und Sorge hervor. Er mußte schleunigst darüber Sicherheit haben, ob sich die Sache wirklich so verhielt – um von seinem Geheimniß retten zu können, was noch zu retten war.
Jetzt stand seine Tochter angstbleich und weinend in dem Laden, vor ihr Lorenzo, der von der Anstrengung des Kämpfens, Laufens und vor Schreck und Sorge nach Athem rang.
„Du hast von den Cigaretten aus meinem Zimmer genommen,“ brachte er endlich hervor. Seine Ladenthür hatte er sorgfältig verriegelt und die Neugierigen hinausgedrängt, sodaß er mit seiner Tochter allein war.
„Ja, Vater – ich hielt sie für gut und ich liebe ihn.“
„Wen liebst Du?“ fragte Don Lorenzo.
„Den Studenten, einen edlen, klugen, gelehrten Menschen, Pablo . . .“
„Du hast diesem Studenten von jenen Cigaretten gegeben?“ forschte Don Lorenzo dringlichst weiter.
„Ja, Vater!“
„Und Du hast keine von der Sorte geraucht?“ erkundigte sich seltsamerweise Don Lorenzo.
„Nein, Vater, meine kleine Sorte, Madrillena,“ antwortete Inesilla immer weiter weinend.
„Du sagst, Du liebst den Menschen – und er Dich auch?“ fragte da mit einem Mal, auf sonderbare Art, gleichsam scharf und weit in die Ferne hinaussehend, Don Lorenzo.
„Ja Vater – ich kann ohne Pablo nicht leben und, nach dem, was ich eben erfahren – so verrückt er war, seine Liebe muß ihn während der Krankheit halb wahnsinnig gemacht haben – liebt er mich auch.“
„So, das ist gut,“ sprach jetzt Don Lorenzo beinahe vergnügt zum größten Staunen Inesillas, „gehe auf Dein Zimmer, schicke den Lehrbuben in den Laden! Ich bin im Augenblick wieder da.“
Nach diesen Worten eilte der Vater Inesillas aus dem Laden zu den Tischen vor dem Café, ging auf Pablo zu, ergriff das Schächtelchen Cigaretten, das noch auf dem Tische lag, und steckte es eilig in die Tasche; dann faßte er den sonderbar steif dasitzenden Studenten am Arm, sah sorgfältig umher, ob auch nichts auf dem Boden lag, und führte den jungen Mann hinüber in sein
[353][354] Geschäftslokal und von dort in sein Zimmer, wo er den fast Willenlosen auf sein Bett niederlegte.
„Er war krank,“ flüsterte Lorenzo, „das ist gut – das paßt mir. Ohne die große Schwäche hätte er auch solch einen Rausch nicht bekommen,“ setzte Lorenzo sein Selbstgespräch fort; „ich muß nur Sorge tragen, daß niemand von seinem Zustand etwas merkt, daß keine Seele darauf kommt, daß der Student nur in einem absonderlichen Rausch so handelte – und daß nicht gefragt wird, wie so ein paar Schluck Chokolade, die er getrunken, einen solchen Rausch veranlassen konnten. Teufel, wenn man danach fragt, ist mein Geheimniß dahin und meine ganze schöne Spekulation todt und verloren.“
„Er liebt sie und sie liebt ihn,“ fuhr Herr Lorenzo zu überlegen fort, indeß er dem ganz Betäubten kalte Wasserumschläge auf Herz und Magen machte. „Nun, ich hatte mir einen andern Schwiegersohn vorgestellt als einen armen Studenten – aber Inesilla ist reich; ein absonderliches Mädchen ist sie auch, das die Reichsten, Schönsten und Vornehmsten ausgeschlagen hat – und wenn sie denkt, mit diesem Studenten glücklich zu werden, ihn zu heirathen – weshalb soll sie es nicht thun dürfen? Ich muß das Gerücht verbreiten,“ überlegte Don Lorenzo weiter, „daß der junge Mensch von heimlicher Liebe zu meiner Tochter, die ihn als Kunden kannte, so krank geworden wäre, daß er im Hospital gelegen hatte und dann beim Wiedererblicken von Inesilla im Konzert halb wahnsinnig geworden sei. Das einzige Mittel, den talentvollen Menschen zu retten, wäre, ihm meine Tochter, welcher der Student auch gut gefällt, zur Frau zu geben – dann schlage ich auch den ganzen Skandal auf eine schöne Weise für mich als Vater und für Inesilla sehr glücklich nieder.“
So denkend ging Lorenzo in den Laden und öffnete ihn. Die Kunden strömten setzt nur so heran und der Tabakshändler erzählte und erklärte setzt den unerhörten Vorgang aus diese Weise. – „Ich bin nicht abgeneigt, meine Tochter dem gelehrten und schönen jungen Mann zu geben, wenn meine Erkundigungen nach seiner Familie gut ausfallen; seine Armuth kann bei dem Vermögen meiner Tochter kein Hinderniß sein, zumal er Inesilla, die ich gefragt, gut gefällt.“
So schloß Don Lorenzo seinen Vortrag vor den eifrig aufhorchenden Kunden, und nach kaum einer Stunde wußte ganz Salamanca, was Lorenzo gesagt. Man pries des Vaters Milde und seinen Edelmuth und hatte die tiefste Theilnahme für den Studenten und für die kluge, geistvolle Tochter Lorenzos, die sich an den Stadtskandal nicht stieß und einen armen Studenten mit ihrem Reichthum glücklich machte. Während dessen war Pablo erwacht.
Er schaute um sich und glaubte wieder im Spital zu sein. „Ich hatte einen Fiebertraum,“ murmelte er, „einen seltsamen, schrecklich schönen Fiebertraum – mir war, als dürfte ich Inesilla vor allen Leuten umarmen und ich that dies und küßte sie … Bin ich im Spital? Das scheint mir hier alles anders,“ dachte Pablo, jetzt den Raum betrachtend.
Als er sich vom Lager aufrichtete, trat Lorenzo heran, sah, daß der junge Mann erwacht war, eilte auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und bat ihn ruhig anzuhören, was er ihm zu sagen hätte.
„Junger Mann!“ sprach nun Lorenzo. „Ich weiß alles – Sie lieben meine Tochter und Inesilla liebt Sie – Sie waren krank vor heimlicher Liebe, ja, das war der Grund Ihrer Krankheit, und haben in einer wiederkehrenden Fieberphantasie meine Tochter beim Konzert umarmt und geküßt …“
Pablo fuhr wild empor und sah sich ganz irr um. „That ich das, that ich das wirklich?“ rief er entsetzt. … Don Lorenzo drückte ihn sanft nieder. „Ja, das ist wahr, das haben Sie gethan,“ sprach der Tabakshändler weiter.
Pablo stöhnte laut.
„Der Skandal ist groß,“ fuhr Don Lorenzo ganz freundlich fort, „ich habe ihn aber mit der Wahrheit entschuldigt – verstehen Sie, junger Mann, mit der vollen Wahrheit, und Sie sind es Ihrer, Inesillas und meiner Ehre schuldig, meine Tochter zu heirathen. Sie lieben sie doch wirklich?“
Statt einer Antwort schlang Pablo beide Arme um Don Lorenzo und küßte ihn auf beide Wangen.
„Es ist also keine Krankheitsphantasie, was ich da erlebe,“ flüsterte fassungslos der Student.
„Nein, es ist die wirkliche, reine Wahrheit,“ erwiderte Don Lorenzo, „das soll Ihnen Inesilla beweisen.“
Don Lorenzo ging aus dem Zimmer, hatte eine ganz kurze Unterredung mit seiner Tochter, und wenige Minuten darauf eilte diese in die Stube, wo Pablo sich befand, stürzte auf ihn zu, schlug die Arme um ihn und rief weinend: „Nein, Du sollst nicht wahnsinnig vor Liebe werden – was geht uns die ganze Stadt an – ich wußte nur nicht, ob Du mich liebtest – Du hast Dich darüber nie so recht stark geäußert. Hättest Du es gethan, so wärst Du vielleicht gar nicht krank geworden und diese dumme Sache vor der ganzen Stadt wäre nicht passirt.“
„Ach, ich glaubte nicht, zu Dir ausblicken zu dürfen, weil ich so arm war,“ gab Pablo zurück, „ich glaube wirklich, ich habe einen Fieberanfall gehabt. Mir war wunderbar zu Muthe; es kam mir vor, als wäre ich gar nicht mehr auf der Erde, sondern oben im Himmel – und da warst Du auch mit mir allein und sahest mich so liebevoll an – wie setzt.“
„Ja, wie jetzt und immer,“ rief Inesilla aus und küßte den jungen Mann auf den feinen, vollen Mund. „Jetzt können wir unser Leben lang uns so ansehen vor der ganzen Stadt, aber umarmen und küssen im Konzert, mitten auf der Plaza Mayor, im Angesicht von Salamanca darfst Du mich auch künftig nicht; ich habe an der einen Dummheit genug und werde viel schwatzen müssen, um den Skandal unter die Erde zu bringen.“
Das that denn auch Inesilla mit Eifer, Erfolg und Geschick. Ein Jahr später heirathete Inesilla ihren Pablo Verros, der sein Examen als Baccalaureus primo ordine gemacht hatte, und zu derselben Zeit ließ auch Don Lorenzo sein Hoflieferantenschild über dem Ladenangang befestigen.
Weder seine Tochter, noch ihr Mann erfuhren jemals etwas von der Wirkung der Papiros Cañamo, der Hanfextraktcigaretten, und beide hatten keine Ahnung davon, welchem seltsamen Zufall sie ihre so schnelle, glückliche Vereinigung verdankten.
Blätter und Blüthen.
Poeten der Gartenlaube. Daß sich in dem industriereichen Wupperthale eine so zahlreiche Kolonie talentvoller Dichter angesiedelt hat, ist längst bekannt, und wer sich für diese Dichter interessirt, den verweisen wir auf die Schrift von Albert Herzog „Die neuere Litteratur im Wupperthale“ (Barmen, D. B. Wiemann), in welcher sich ansprechende Porträts der Poeten finden, die dort längere oder kürzere Zeit verweilt haben. Drei von ihnen sind als fleißige Mitarbeiter unseres Blattes den Lesern desselben wohlbekannt und wir wollen nach Herzogs Mittheilungen kurze biografische Notizen über dieselben bringen.
Emil Rittershaus ist am 3. April 1834 zu Barmen geboren, aus einer dort seit Jahrhunderten ansässigen Familie. Er besuchte die Stadtschule und schon früh zeigte sich sein dichterisches Talent, vom vierzehnten Jahre ab erhielt er von seinem Lehrer die Erlaubniß, die deutschen Aufsätze in Versen schreiben zu dürfen. In Prima gründete er einen „Redeverein“. Doch sein Wunsch, die Universität zu besuchen und Naturwissenschaften zu studiren, stieß bei seinem Vater auf Widerspruch, er mußte den kaufmännischen Beruf ergreifen. Im Jahre 1856 verheirathete er sich mit Frl. Hedwig Lucas, die ihm stets eine gleichgesinnte, sein dichterisches Schaffen anregende Lebensgefährtin geblieben ist. In demselben Jahre gründete er ein eigenes Agentur- und Kommissionsgeschäft und machte größere Reisen durch Deutschland, England und die Schweiz. Damals erschien auch sein erstes Bändchen Gedichte, das sich im Jahre 1859 in einen stattlichen Band verwandelt hat. Der Dichter siedelte 1862 nach Barmen über, doch die nächste Zeit brachte ihm viel Leid und Bedrängniß; er arbeitete sich allmählich energisch aus ungünstigen Verhältnissen wieder empor, doch erst der große Erfolg seiner „Neuen Gedichte“ (1871), welche Ernst Keil mit Verzicht auf eigenen Gewinn zum Besten des Dichters herausgab, gab seinen Lebensverhältnissen eine erfreulichere Wendung. Seitdem veröffentlichte er noch Lieder „Am Rhein und beim Wein“ und das „Buch der Leidenschaft“ (1886) Sehr thätig war der Dichter stets, wo es gemeinnützige Interessen seiner Vaterstadt zu pflegen galt; eifrig betheiligte er sich bei der Gründung von Konsum- und Sparvereinen; er rief mit dem Oberbürgermeister Bredt den Barmer Verein für wissenschaftliche Vorlesungen (1868) ins Leben, ebenso den Allgemeinen Bürgerverein, dessen Vorsitzender er noch heute ist. In deutschen Landen hat er sich durch seine lebendigen und anregenden Vorträge bekannt gemacht.
Mit Recht rühmt Herzog den überzeugungsvollen warmen Ton der Rittershausschen Gedichte; man darf hinzufügen, daß da nichts Verschnörkeltes, Gesuchtes, Geistreichelndes zu finden ist, daß sie einfach und schlicht, aber in melodischer Form dem Herzen entströmen. Sehr gut steht ihm das poetische Heroldsamt in Prologen, Aufrufen, Festgedichten [355] zur Feier hervorragender Männer und Ereignisse zu Gesicht; er hat da einen vollen Ton, ohne in ein auf Stelzen gehendes Pathos zu verfallen; seine stimmungsvollen Naturbilder, seine einfache Gefühlslyrik, das Leichtflüssige und Herzerwärmende seiner Lieder: das alles hat ihm ein großes und dankbares Publikum verschafft.
Ein Dichter wesentlich verschiedener Art ist Viktor Blüthgen, der in den Jahren 1871 bis 1874 in Elberfeld lebte und dort für R. L. Friedrichs dessen theologisches Universallexikon zu Ende redigirte. Die Wiege Blüthgens stand nicht im Wupperthal, er ist am 4. Januar 1844 zu Zörbig in der Provinz Sachsen als Sohn eines Postvorstehers geboren, besuchte die lateinische Schule in Halle, studirte dort Theologie, lebte seit 1865 einige Jahre als Hauslehrer und Vorsteher einer Privatschule in Mücheln bei Merseburg und besuchte dann noch das Predigerseminar in Wittenberg. Dann kam er nach Elberfeld, schwer erkrankt, und fand hier Heilung. Eine Zeit lang war er Theaterkritiker der „Elberfelder Zeitung“; doch die Schauspieler wollten wegen seiner allzu scharfen Kritiken striken. Er legte diese Stelle nieder und veröffentlichte nun Gedichte und Märchen mit Ernst Scherenbergs Hilfe. Von Elberfeld begab er sich nach Marburg und dann nach Krefeld als Redakteur der „Krefelder Zeitung“. Hier gelangte die Aufforderung Ernst Keils an ihn, einen Roman für die „Gartenlaube“ zu schreiben. Dieser Roman „Aus gährender Zeit“ spielt im Wupperthal in dem Jahre 1849 und enthält eine Zahl aus dem Leben gegriffener Porträts. Im Jahre 1879 trat Viktor Blüthgen vorübergehend in die Redaktion der „Gartenlaube“ ein und wohnt seit 1881 in Freienwalde an der Oder. Seine Gedichte (1881) und Novellen (1880) haben einen feingeistigen Zug, einen romantischen Hauch, oft etwas Apartes und Ueberraschendes in ihren Wendungen; besonders haben seine Märchen, seine Bilder und Reime aus der Kinderwelt lebhaften Anklang gefunden.
Mehr an Rittershaus erinnert Ernst Scherenberg, der ebenso voll wie dieser in die Saiten zu greifen pflegt, sich wie dieser durch das zeitgeschichtliche Ereigniß begeistern läßt und auch in feinen stillen frohen oder schwermüthigen Klängen einfachen und warmen Gefühlsausdruck wahrt. Ernst Scherenberg ist ein Neffe des poetischen Schlachtenmalers Christian Friedrich Scherenberg, dessen Dichtung „Waterloo“ seiner Zeit Aufsehen erregte, und wurde am 21. Juli 1839 als Sohn eines Kaufmanns und Rheders in Swinemünde geboren; er besuchte anfangs das Gymnasium zu Stettin, dann auf Wunsch seines Vaters die Gewerbeschule; 1856 trat er als Lehrling in eine Maschinenfabrik ein, doch er glaubte Beruf für die Malerei in sich zu fühlen, und es gelang ihm nach vielen Schwierigkeiten, als Schüler der Akademie der Künste aufgenommen zu werden. Einige politische Gedichte, die durch Rudolf von Bennigsens Vermittlung in der „Zeitung für Norddeutschland“ zum Abdruck kamen, erregten Aufsehen und er ließ bald darauf seine erste Gedichtsammlung unter dem Titel „Aus tiefstem Herzen“ (1862) erscheinen. Besonders gelungen waren darin „Die kleinen Lieder“. Eine Art politischer Elegie war der Cyklus „Verbannt“, der Schicksale und Gefühle eines nach Amerika geflüchteten Freiheitskämpfers schildert. Die neuen Gedichte „Stürme des Frühlings“ (1865) führen den Namen von einer schwunghaften poetischen Epistel, welche 1862 veröffentlicht worden war; es weht ein echt patriotischer Geist in diesem Gedichte. Im Jahre 1870 übernahm Scherenberg die Redaktion der „Elberfelder Zeitung“, 1874 erschien eine Gesammtausgabe seiner Gedichte bei Ernst Keil in Leipzig; 1882 „Neue Gedichte“. Seit 1883 lebt Scherenberg als Sekretär der Handelskammer in Elberfeld.
Neben den zahlreichen anderen Dichtern des gesangesfreudigen Wupperthales stehen diese in erster Linie und ihr volkstümlicher Ton bei edler Haltung und gediegener dichterischer Form hat sie in unserer „Gartenlaube“ eingebürgert und den Lesern derselben werth gemacht.
Frühjahrsrennen auf Oberwiesenfeld. (Mit Illustration S. 344
und 345.) Später als in anderen Hauptstädten hat sich in dem gemüthlich
bürgerlichen München das elegante militärische Frühjahrsrennen entwickelt,
ist aber dafür auch sofort zum entschiedensten Liebling der ohnehin
stets festfreudigen Bevölkerung geworden. Am ersten Maisonntag flattern
draußen „am Kugelfang“ in Oberwiesenfeld die blauweißen Fähnchen im
Sonnenschein und schon um 1 Uhr strömt eine ungeheure Menge in die
Schranken um die Rennbahn ein. Erst einzeln, dann in immer dichterem
Zuge erscheint zu Fuß, in Droschke und Fiaker das bürgerliche München
mit Kind und Kegel, hinterher in elegantem Gespann Finanz und Aristokratie;
Galalivréen werden sichtbar, Silbergeschirr der schönen Pferde,
wehende Federbüsche, helle Damentoiletten und blitzende Uniformen;
endlich stiegen die Vorreiter einher und hinter ihnen, vier- und sechsspännig,
die Hofequipagen. Prinz Alfons, der Neffe des Regenten, lenkt
seinen herrlichen Isabellenzug selbst; hinter ihm kommt Prinzessin Gisela
mit ihren Kindern, die schöne Prinzessin Elvira in reizender Toilette,
Prinz Ludwig, der Sohn des Regenten, endlich, nach allen Seiten huldvoll
grüßend, dieser selbst. Nun nimmt das Rennen seinen Anfang und
verläuft unter lebhafter Theilnahme der Zuschauer auf den Tribünen und
dem weiten Festplatz. Fünfmal etwa wird gerannt; dreimal sind es nur
Offiziere, welche ihre eigenen oder die Pferde der Kameraden reiten, zwei
der Rennen aber sind zur Prüfung und Hebung der bayerischen Pferdezucht
bestimmt; hier lassen die Eigenthümer ihre Jockeys reiten. Bei
welchem der Rennen die Spannung am größten ist – wer könnte das
entscheiden? Jedenfalls werden die mannigfachen Preise heiß umworben
(manche davon und sehr werthvolle sind von den hohen Damen gestiftet)
und tausendstimmiger Beifallsruf lohnt dem Sieger, welcher dem andern
um eine Kopfslänge voraus aus Ziel fliegt. Gegen 4 Uhr löst sich das
bunte, wogende Gedränge wieder; der Hof voraus, dann alle Anderen
kehren zur Stadt zurück. Tags darauf findet dann noch ein zweites
Rennen statt; den Hauptglanz aber entfaltet das Sonntagsrennen, von dessen
bunter Zuschauermenge der Künstler uns ein getreues Bild gegeben hat.
Das Eichendorff-Denkmal. Am 2. Mai wurde in Neiße ein Denkmal
des Dichters Eichendorff in Gegenwart der königlichen und städtischen
Behörden, der Offiziere der Garnison, der Geistlichkeit beider Konfessionen
und eines überaus zahlreichen Publikums enthüllt. Das Denkmal
ist ein Werk des Bildhauers Seeger. Auf Stufen von hellgrauem
Granit erhebt sich ein schlankes Postament von dunkelgrauem Syenit
aus dem Fichtelgebirge, und dieses trägt die vorzüglich gelungene Bronzebüste
des Dichters und an der Vorderseite die Inschrift „Joseph von
Eichendoff 1788/1857“, umrahmt von einem bronzenen Eichenkranze
mit Harfe und dem Eichendorffschen Familienwappen. Der nach ihm benannte
Platz, auf dem das Denkmal steht, liegt am Ende der Friedrichsstadt;
zur Rechten erhebt sich das Haus, in welchem der Dichter gestorben;
vor sich hat man den Blick auf das grünende Glacis und den Jerusalemer
Friedhof, auf dem der Dichter und seine Gattin die letzte Ruhestätte gefunden
haben.
Wir haben erst vor kurzem am Jubiläumstag des Dichters seine Bedeutung gewürdigt. Dieselbe wurde auch in der Festrede des Justizraths Grauer dargelegt, welcher hervorhob, daß Eichendorff der einzige romantische Dichter sei, der noch wirklich im Geiste unseres Volkes lebe und das romantische Element bis in die neueste Zeit hinübergerettet habe. Einen Genossen hat indeß der schlesische Lyriker unter den Romantikern, dem man den gleichen Ruhm nicht bestreiten darf: Das ist der geniale Dramatiker Heinrich v. Kleist, der Dichter des „Käthchen von Heilbronn“ und des „Prinzen von Homburg“.
Abenddämmerung am Todten Meer. (Mit Illustration S. 353.) Kein Gras, kein Strauch, kein Baum – alles nackte, öde Felswand, die das dunkle Wasser einzwängt! Wie ein Fluch ruht es heute auf dem Orte, der vor langen Jahrtausenden wohl ebenso fruchtbar und herrlich gewesen wie die übrigen Theile Palästinas. Kein Fisch vermag in der bitteren Fluth zu leben und kein Zugvogel sucht hier auf seiner Wanderung Ruhe, weil er nicht ein Körnchen Nahrung, nicht einen Tropfen erquickenden Wassers fände und elend sterben müßte. Alles leichenartig: das schwärzliche Gestein, die nackten Baumstämme, die weiß und morsch gleich gebleichten Knochen in die Luft starren – das Stück Himmel, dessen grauen Nebelschleier nur selten ein Sonnenstrahl durchbricht, und die Wasserfläche, welche die Trauerfarbe von oben wiederspiegelt – todt – todt!
Der Legende nach liegen die sündigen Städte Sodom und Gomorrha tief unten begraben – und von da mag die uralte Sage weitergewandert sein nach allen Weltgegenden, den andern einsamen Seen zu, von welchen der Volksmund auch berichtet, daß Städte, Flecken und Schlösser mit allem, was gelebt und geatmet, in ihrem Grunde den ewigen Schlaf gefunden.
Das Todte Meer gehört zu den Seen ohne Abfluß, und zwar zu jenen, deren Niveau bedeutend tiefer liegt als das des Meeres. Der Forscher Lynch hat diese Entdeckung gemacht, als er aus seiner Expedition nach dem Jordan, an dessen Ausfluß also am Todten Meere selbst, eine Barometermessung vornehmen wollte. Da vor nicht allzu langer Zeit noch allgemein die Meinung herrschte, daß sämmtliche Seen einen unterirdischen Abfluß in das nächstgelegene Meer haben, mithin höher liegen müßten, konnte sich Lynch anfangs nicht erklären, warum die Quecksilbersäule in seinem Barometer nicht zur Skala herabsinken wollte. Erst als er das Gelände hinauf höher stieg, begann die Säule tiefer zu gehen um endlich auf 1300 Fuß das Niveau des Mittelländischen Meeres anzuzeigen!
Obwohl der Jordan seine ganze Wassermasse in diesen Binnensee ergießt, hat dies kein Steigen des Niveaus zur Folge, da die Hitze des Klimas mehr Wasser des 23 Quadratmeilen großen Sees zum Verdunsten bringt, als ihm zugeführt wird. Der bittersaure Geschmack des Wassers rührt zweifelsohne von der bedeutenden Menge von Erdharz her, das von Grund auf zur Oberfläche getrieben wird.
Heurich. Mit Bezug auf den bei der Elbarmee im Feldzuge 1866 üblichen Begrüßungsruf: „Lehm up!“ (vergl. S. 100 dieses Jahrganges) erlaube ich mir die Mittheilung, daß ein solcher Zuruf nicht zum ersten Male im Jahre 1866 bei einem Theile der preußischen Armee üblich war.
Schon während der Befreiungskriege hatte sich ein ähnlicher Ruf bei dem Yorkschen Armeekorps, aus ebenso unbedeutender Ursache wie 1866 bei den Bonner Husaren, zu einem Erkennungs- und Begrüßungsruf herausgebildet, der allmählich in der ganzen preußischen Armee üblich wurde; es war dieses der Ruf „Heurich!“ Derselbe Ruf wurde so eigentümlich accentuirt, daß man auf der Stelle hörte, ob ein echter „Heurich“, das heißt ein Preuße, oder ein Russe respektive Oesterreicher grüßte.
Förster erwähnt diesen Ruf in seiner „Geschichte der Befreiungskriege“ zuerst in dem Gefecht bei Wartenburg, am 3. Oktober 1813, wo nach errungenem Siege überall der kameradschaftliche Gruß „Heurich! Heurich!“ ertönte, da, wo Husaren und Füsiliere etc. zusammentrafen.
Es ist originell, daß auch hier, wie 1866 bei der Elbarmee, die „innerlich verwandten Waffen“ zuerst als diejenigen genannt werden, welche den Feldgruß, wenn ich ihn so nennen darf, ausriefen. Also damals schon: „Couleur!“
Förster giebt über die Entstehung des „Heurich“ folgende Auskunft: der Kompagniechirurg Eyrich – dieses ist sein durch den Taufschein und die Dienstlisten beglaubigter Familienname – machte 1812 den Feldzug in Rußland beim Yorkschen Korps mit und wurde zum Bataillonschirurg des Füsilierbataillons des 2. Ostpreußischen Infanterieregiments befördert. Die Fama sagt nun, Eyrich habe bei den Bauern Speck requirirt unter dem Vorwande, diesen zum Wundverbande zu brauchen; thatsächlich habe er den Speck aber zu seinen Mahlzeiten verwandt. In einem scherzhaften Heldengedicht aus den Kriegsjahren wurden des berühmten und berüchtigten Eyrichs, vulgo Heurich, Leben und Thaten besungen, darin heißt es:
„Es ist fürwahr eine Seltenheit,
Daß ein Feldscheer in jener Zeit
So hoch berühmt sich hat gemacht,
Daß sein Name zum Feldgeschrei ward in der Schlacht,
Wie dies zuging, ich sag’s euch unverhohlen:
Der Eyrich hatte eine Wurst gestohlen.“
[356] Es wird dann ausführlich erzählt, wie auf Yorks Befehl der Chirurg die Wurst wieder herausgeben mußte und wie dann der Soldatenwitz ein Scherzfragespiel daraus gemacht:
„Wer hat die Wurst gestohlen? Eyrich!“ Der Witz bestand darin, während des Marsches neue Fragen zu erfinden, wobei dann gewöhnlich gereimt wurde.
Bald hatten auch die Kosaken den Zuruf aufgeschnappt, sprachen jedoch den Namen nicht „Eyrich“, sondern „Heurich“ aus, was endlich allgemein wurde. Als nun erst York bei Möckern den Ostpreußen zurief: „Heurichs! Dort die Franzosen schenk ich Euch!“ woraus jene mit „Heu-rich“ und „Hurrah!“ in das feindliche Karree einbrachen und herbeifliegende Brandenburger Husaren, von Sohr geführt, mit demselben Zuruf begrüßten, ward „Heurich!“ das Feldgeschrei, an dem sich die Kameraden des Yorkschen Korps den ganzen Krieg hindurch erkannten.
Schließlich mag noch erwähnt werden, daß noch zur Zeit, als der Verfasser dieser Zeilen in den sechziger und Anfangs der siebziger Jahre dem 43. Ostpreußischen Infanterieregiment angehörte, bei manchen ostpreußischen Regimentern witzige Frage- und Antwortspiele bei den Mannschaften auf Märschen beliebt waren, ganz wie seinerzeit unter York.
Es wäre in der That interessant zu erfahren, ob im letzten Feldzuge bei irgend einem Truppentheile ein ähnlicher Erkennungsruf wie „Lehm up!“ und „Heurich!“ üblich gewesen ist.
Ein Sohn der Königin Elisabeth von England. In der freien Schule zu Shrewsbury befindet sich ein Register, in welches ein Sohn des Grafen Leicester und der Königin Elisabeth eingetragen ist. Dieses noch gut erhaltene Manuskript gehörte einem Priester der römisch-katholischen Kirche zu Shrewsbury, welcher 1555 unter der Königin Marie das dortige Pfarramt erhielt. Später trat er zur Hochkirche über und verwaltete sein Amt sechzig Jahre lang. Dieser Pfarrer, Sir John Dychar, mag der Königin Elisabeth nicht freundlich gesinnt gewesen sein, und die genannte Einregistrirung vielleicht darauf beruhen. Merkwürdig aber ist, das die Stelle durch darauf geschriebene Worte hat verwischt werden sollen; aber die erste Tinte ist die schwärzere und man liest deutlich „Henry Roidó Dudley Futher Plantagenet Filius O. E. reg. et Robt Comites Leicestr.“ Dies steht zu Anfang einer der ersten Seiten des Buches und augenscheinlich hat auf dieser Seite weiter unten mehr gestanden. Es ist aber ein viereckiges Stück aus dem Blatte geschnitten, und dadurch das Geheimnis gewahrt. Es existirt auch eine Tradition, das eine solche geheimnisvolle Person in der Freischule zu Shrewsbury erzogen worden sei, doch weiß man nicht, wo dieser Schüler hingenommen ist. Auffällig ist, daß der junge Sir Robert Dudley, als er nach seines Onkels Tode das Erbtheil seines Vaters antreten wollte und deshalb die nöthigen Schritte that, vom Oberhause die Weisung erhielt, darüber die Befehle des Königs zu erwarten. Hierauf bekam Sir Robert den Befehl, drei Jahre zu reisen, und König Jakob nahm indessen die Güter für die Krone in Beschlag. Später schenkte er sie seinem Sohne, dem Prinzen Heinrich, welcher großmüthig dem Verbannten für das Schloß Kenilworth und dessen Ländereien 14 500 Pfund Sterling auszahlen ließ. Sir Robert lebte von einer Pension des Großherzogs von Toscana und wurde von den Souveränen sehr geehrt. Kaiser Ferdinand I. verlieh ihm den Herzogstitel. Seine Gattin, eine Tochter Sir Thomas Leighs, war in England zurückgeblieben und starb im Alter von neunzig Jahren. – War dieser Sir Robert Dudley der Sohn aus einer geheimen Ehe Elisabeths mit dessen Vater und vielleicht die Ursache ihres Widerwillens, einen Nachfolger zu ernennen? War dies der Grund seiner Verbannung? Das Schicksal der Arabella Stuart lehrte den Erben von Kenilworth, daß vor dem grausamen und listigen Jakob niemand sicher war, sobald er selbst den entferntesten Anspruch auf die Krone machen konnte.
Von Franz Schrüfer in Bamberg.
Auflösung der Schach-Aufgabe Nr. 6 auf S. 292: | |||
Weiß: | Schwarz: | Weiß: | Schwarz: |
1 L g 5 – e 3 | K d 5 – e 6: | 1. . . . . . . . | L b 6 – e3: |
2. S e 4 – g 5 † | K e 6 – f 6 (d 5) | 2. S e 6 – c 7 † | K d 5 – e 4: |
3. D resp. B setzt matt. | 3. f 2 – f 3 matt. |
Varianten. a) 1. . . . .K d 5 – e 4: 2. S e 6 – g 5 †, K e 4 – d 5, 3. c 3 – c 4 matt. – b) 1. . . . .d 7 – e 6:, 2. c 3 – c 4 † etc. – c) 1. . . . ., L b 6 – c 7 2. S e 4 – g 5, L b 6 – e 3: a. B., 3. c 3 – c 4 matt. Dies ist die Drohvariante. – Auf 1. . . . . L a 5, L a 7, L c 5, L d S entscheidet 2. S e 4 (c 6) – g 5 (c 5) resp. Auch c 7 † etc.
Ein inhaltreiches, sehr gefälliges Problem.
Jean Dufresnes „Lehrbuch des Schachspiels“ erschien soeben in fünfter vermehrter Auflage, 608 Seiten stark, der Lehrtext unterstützt von 143 vorzüglich glossirten Musterpartien. (Verlag von Reclam in Leipzig.) Wir haben die Gediegenheit dieses Werkes schon wiederholt hervorgehoben
P. R. v. Bilguers „Handbuch des Schachspiels“ (Leipzig, Veit u. Comp.) wird im Laufe dieses Jahres in siebenter, verbesserter und umgestalteter Auflage die Presse verlassen. Einer besonderen Empfehlung bedarf dieses Hauptwerk des gesammten Schachlitteratur nicht mehr.
So manchem schon erwarb ich Ehren,
Der, um die Wissenschaft zu lehren,
Weitab von Wald und Flur und Feld
Nur lebt in seiner Bücherwelt.
Und doch hab’ öfter noch gegeben
Ich denen Kraft und neues Leben,
Die nach der Wandrung heißen Müh’n
Gefunden mich im Waldesgrün.
W. K. in Lübeck. E. Werners Roman „Ein Held der Feder” erschien im Jahrgang 1871 der „Gartenlaube“.
R. K. in Breslau. Den Besuchern des Bazars zum Besten der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger wird als bedeutsames Gedenkblatt eine „Illustrirte Bazarzeitung“ überreicht, welche Originalbeiträge hervorragender Dichter und namhafter Schriftsteller enthält.
G. F. in Halle a. S. Vergleichen Sie gefl. die Artikel „Wie verpflegen wir unsere gefiederten Hausfreunde?“ S. 696 der „Gartenlaube“, Jahrgang 1883, und „Abrichtung der Vögel“, Jahrgang 1876, S. 874.
F. B. in Braunschweig. Den Artikel „Der Vampyr-Schrecken im 19. Jahrhundert“ finden Sie im Jahrgang 1873 der „Gartenlaube“.
- ↑ Garibaldi, Autobiographische Memoiren, Florenz, Barbera. 1888
- ↑ So nennt man die Provinz von Rio-Grande.
- ↑ Vgl. Gartenlaube S. 163 des lauf. Jahrgangs.
- ↑ Garib. Mem.