Textdaten
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Autor: Elisabeth Bürstenbinder
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Titel: Ein Held der Feder
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14–28, S. 225–228, 241–244, 261–266, 277–280, 293–297, 309–312, 325–328, 341–344, 357–360, 373–376, 389–392, 405–408, 421–424, 450–452, 474–476
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[225]
Ein Held der Feder.
Von E. Werner.[WS 1]


Ein klarer Januartag lag über einer jener Städte des Mississippi, die noch vor zwei Jahrzehnten aus einem Dutzend roh gezimmerter Holzhäuser bestanden und sich im Laufe dieser Zeit mit dem schnellen Wachsthum der amerikanischen Ortschaften zu mächtigen, reich bevölkerten Handelsplätzen emporgeschwungen hatten. Die Mittagssonne fiel hell in die Fenster eines Landhauses, das, in einiger Entfernung von der Stadt gelegen, von einem Hügel die ganze Aussicht beherrschte, und sich durch die Pracht seiner Bauart und den Reichthum seiner Anlagen vor allen übrigen auszeichnete.

In dem reich ausgestatteten Parlour, dessen Einrichtung die ganze Fülle jenes Comforts zeigte, der dem reichen Amerikaner als unerläßliches Lebensbedürfniß gilt, saß eine junge Dame in eleganter Hauskleidung am Kamin. Es war ein Mädchen von vielleicht achtzehn bis zwanzig Jahren, das im vollsten Lichte des auf- und niedersinkenden Feuers, das Haupt nachdenklich auf den Arm gestützt, der Unterhaltung ihres Gegenübers zuhörte. Das dunkle Haar umgab ein Gesicht vom reinsten Oval und jenem matten, klaren Braun, welches das Antlitz bleich erscheinen läßt, die großen dunklen Augen und die mit vollendeter Regelmäßigkeit gezeichneten Züge gaben ihm unbedingt Anspruch auf Schönheit, und dennoch fehlte etwas in diesem schönen Gesicht. Es war jener Ausdruck von Heiterkeit und Unbefangenheit, der der Jugend so selten mangelt, jener Hauch von Schüchternheit, der den achtzehn Jahren fast immer eigen ist, und vor Allem jener Zug von Weichheit, den ein Frauenantlitz fast niemals ganz, und dann niemals zu seinem Vortheil, entbehrt. Es lag ein kalter Ernst in dieser ganzen Erscheinung, eine sichere Ruhe, ein unleugbares Selbstbewußtsein, und doch schien es nicht, als hätten schwere Lebensstürme oder frühzeitige bittere Erfahrungen dem jungen Mädchen jetzt schon die Errungenschaften späterer Jahre aufgezwungen; dazu war die Stirn noch zu klar, das Auge zu hell; angeboren oder anerzogen mußte dieser Ernst sein, durch den ihre Schönheit an Eindruck so mächtig gewann und an Anmuth so unendlich viel verlor.

Ihr gegenüber, gleichfalls im niedrigen Fauteuil, saß ein junger Mann in tadellosem Gesellschaftsanzuge. Es lag eine gewisse Aehnlichkeit in dem Aeußern der Beiden, die wohl nicht allein in der gleichen Farbe des Haares und der Augen ihren Grund hatte, sondern vielmehr in dem Ausdruck kalter Ruhe und selbstbewußten Stolzes, der Beiden in gleich hohem Maße eigen war; nur trat bei dem Mädchen das Alles viel bedeutender und schärfer ausgeprägt hervor, während es bei dem Manne zum Theil unter einer conventionellen Glätte und Förmlichkeit verschwand, die seiner Erscheinung, trotzdem auch sie unbedingten Anspruch auf Schönheit erheben konnte, doch eine gewisse Nüchternheit gab. In lebhafter Unterhaltung mit der jungen Dame begriffen, fuhr er in der eben begonnenen Erzählung fort.

„Mein Vater hält diese europäische Reise für nothwendig zur Vollendung meiner kaufmännischen Ausbildung, und ich füge mich seinen Wünschen um so lieber, als sie mir viel Interessantes verspricht. Ich gehe zuvörderst auf einige Monate nach New-York, wo das Interesse unseres Hauses augenblicklich eine persönliche Vertretung verlangt, und von dort im März nach Europa. Ein Jahr wird gerade hinreichend sein, um England und Frankreich, auch Deutschland kennen zu lernen, und zum Schluß eine Tour durch die Schweiz und Italien zu machen, ohne die gesehen zu haben man ja nicht zurückkehren darf. Im nächsten Frühjahr hoffe ich wieder hier zu sein.“

Die junge Dame war mit augenscheinlichem Interesse dem in kurzen Zügen entworfenen Reiseplan gefolgt; sie ließ jetzt den aufgestützten Arm sinken und blickte empor.

„In der That ein reiches Jahr, das vor Ihnen liegt, Mr. Alison! Es wird meinem Vater leid sein, daß sein Zustand ihm nicht erlaubt, Sie noch einmal vor der Abreise zu sehen.“

„Auch ich bedaure, daß Mr. Forest zu leidend ist, um meine Abschiedsgrüße persönlich zu empfangen. Darf ich Sie bitten, Miß, ihm dieselben in meinem Namen zu überbringen?“

Sie neigte leicht das Haupt. „Gewiß! Und inzwischen nehmen Sie auch von mir die besten Wünsche für eine glückliche Reise und eine frohe Wiederkehr.“

Sie reichte ihm mit ruhiger Freundlichkeit die Hand; es blitzte etwas auf bei dieser Berührung in dem Auge des jungen Mannes, er ergriff diese schöne kühle Hand und hielt sie fest.

„Miß Forest, darf ich eine Frage an Sie richten?“

Ein flüchtiges Roth glitt einen Augenblick lang über die Züge der jungen Dame, aber es verschwand ebenso schnell wieder.

„Sprechen Sie, Mr. Alison!“

Er erhob sich rasch, und ihre Hand noch immer fest in der seinigen haltend, trat er dicht an ihre Seite.

„Der Zeitpunkt ist vielleicht schlecht gewählt zu einer Erklärung; aber ich weiß zu gut, daß Miß Forest das Ziel so vieler Bestrebungen ist, die dem Abwesenden gefährlich werden können. Verzeihen Sie deshalb, Miß, wenn ich gerade jetzt von einer Neigung zu sprechen wage, die Ihnen vielleicht kein Geheimniß [226] mehr ist. Darf ich hoffen, daß meine Wünsche Erhörung finden und daß ich bei meiner Rückkehr diese Hand auf’s Neue ergreifen und festhalten darf für das Leben?“

Er hatte in ruhiger, fast geschäftsmäßiger Art begonnen; aber der Ton steigerte sich allmählich zur Wärme, es lag eine fast gewaltsam unterdrückte Bewegung darin, und jetzt hing sein Auge in brennender Unruhe an ihrem Antlitz, als wolle er darin die Antwort lesen.

Miß Forest hatte schweigend zugehört. Keine Gluth der Ueberraschung, keine mädchenhafte Verwirrung, nicht der leiseste Wechsel in ihren Zügen verrieth, ob ihr der Antrag erwünscht oder unerwünscht kam; erst als er geendet, hob sie das Auge zu ihm empor; die Ruhe desselben bildete einen seltsamen Contrast zu dem seinigen, und die Antwort kam fest und klar, ohne das geringste Zögern oder Verbergen.

„Sie haben mich offen gefragt, Mr. Alison, und so soll auch meine Antwort sein. Ich kenne die Neigung, welche Sie für mich hegen, ich erwidere sie, und wenn Sie zurückkehren, werde ich meine Hand mit vollem Vertrauen in die Ihrige legen, für eine gemeinsame Zukunft.“

Ein Strahl der Freude brach heiß mitten durch die Kälte von Alison’s Zügen, aber sofort kehrte die gemessene Ruhe seines Wesens zurück, es war, als schäme er sich dieses unwillkürlichen Aufflammens.

„Ah, Miß Jane, Sie machen mich sehr glücklich; darf ich jetzt nicht Mr. Forest –?“

„Nein!“ unterbrach sie ihn rasch. „Nicht Sie, ich selbst werde es ihm mittheilen. Ich habe überhaupt eine Bedingung zu stellen, der Sie sich fügen müssen, Mr. Alison. Ich kann nicht Braut sein am Sterbebette meines Vaters, ich kann und will ihm auch keine einzige der Stunden entziehen, die dies neue Verhältniß beanspruchen würde. Lassen Sie daher das Gesagte vorläufig noch Geheimniß bleiben, wenigstens für jeden Fremderen. Bei Ihrer Rückkehr mag es ausgesprochen werden, bis dahin aber verlangen Sie keins von den Rechten, die Ihnen mein Jawort giebt – ich kann sie Ihnen jetzt nicht gewähren, und will es auch nicht.“

Es lag wenig von der Hingebung einer Braut in diesem entschiedenen „Ich will es nicht!“ das ihm gleich in der ersten Minute entgegentrat, und Alison mochte das fühlen, eine leichte Wolke des Unmuthes verdüsterte seine Stirn.

„Das ist eine harte Bedingung, Jane! Sie werden mir doch jetzt gestatten, meine Abreise zu verschieben und Ihnen zur Seite zu bleiben, wenn ein, wie ich fürchte, unabwendbarer Schlag Sie in nächster Zeit treffen sollte?“

Sie schüttelte verneinend das Haupt. „Ich danke Ihnen, aber ich bedarf keiner Stütze. Was mir bevorsteht,“ hier zuckte es zum ersten Male während der ganzen Unterredung heftig um die Lippen des Mädchens, „werde ich zu tragen wissen, und ich trage es am besten allein. Ich fordere, daß Sie Ihre Abreise um keine Stunde verschieben, und Ihre Rückkehr um keine Woche beschleunigen. In einem Jahre sehen wir uns wieder, bis dahin muß Ihnen mein Wort genügen, wie mir das Ihre.“

Sie hatte sich erhoben und stand ihm jetzt gegenüber, mit dem Ausdruck einer so völligen Entschiedenheit, daß Alison sofort die Unmöglichkeit einsah, gegen den mit so großer Bestimmtheit kund gethanen Entschluß anzukämpfen; er sah, daß sie in der That keiner Stütze bedürftig war, und jedenfalls fand er sich nicht allzu schwer in die ihm auferlegte Nothwendigkeit.

„Ich werde Ihnen zeigen, Jane, daß ich Ihre Wünsche zu ehren weiß, selbst wenn es mir schwer fällt. Aber wenn ich auch noch keines von meinen Rechten geltend machen darf, das erste und für jetzt einzige werden Sie mir wenigstens nicht versagen.“

Jane antwortete nicht, aber sie widerstrebte auch nicht, als Alison sie in seine Arme zog und einen Kuß auf ihre Lippen drückte. Es blitzte wieder leidenschaftlich auf in seinem Auge, und er preßte sie eine Secunde lang fest an sich, aber als er die Liebkosung wärmer, heißer wiederholen wollte, machte sie sich mit einer raschen Bewegung frei.

„Genug, Henry! Erschweren wir uns den Abschied nicht unnöthig. In einem Jahre finden Sie Ihre Braut, bis dahin – Schweigen.“

Er trat zurück, doch etwas erkältet durch dies schnelle Abbrechen, und auch seine Züge nahmen wieder den kühlen, stolzen Ausdruck an, der die ihrigen nicht einen Moment lang verlassen hatte. Mr. Alison war augenscheinlich nicht gemacht, Zärtlichkeiten zu erflehen, die man ihm nicht freiwillig zugestand.

Ein Räuspern und ein nahender Tritt im Nebenzimmer veranlaßte Beide, sofort wieder die Gesellschaftshaltung anzunehmen, die junge Dame saß wie vorhin im Fauteuil und Alison ihr gegenüber, als der, welcher sich soeben bemerklich gemacht, in’s Zimmer trat. Es war ein kleiner ältlicher Mann mit ergrautem Haar und scharfen durchdringenden Augen, in denen ein unverhehlter Spott aufblitzte, als er das junge Paar so fremd nebeneinander sitzen sah.

„Der Arzt ist soeben im Begriff fortzufahren, Miß Jane; Sie wünschten ihn vorher noch zu sprechen.“

Jane erhob sich schnell. „Verzeihen Sie, Mr. Alison, ich muß zu meinem Vater. Ich werde ihn auf Ihren Besuch heute Abend vorbereiten.“

Sie reichte ihm die Hand, ein bedeutsamer Druck, ein Blick tiefen ruhigen Einverständnisses, dann schieden sie mit einem flüchtigen Gruße und Jane verließ das Zimmer.

Als die Thür des Nebengemaches sich hinter ihr geschlossen hatte, trat der zuletzt Gekommene zu Alison und legte die Hand auf seine Schulter.

„Ich gratulire!“

Der junge Mann wendete sich hastig um. „Wozu?“ fragte er scharf.

„Zur Verlobung!“

Alison zog finster die Augenbrauen zusammen. „Es scheint, Mr. Atkins, daß es Ihnen beliebt hat, zu spioniren.“

Der Genannte nahm den Vorwurf in großer Gemüthsruhe hin.

„Möglich! Aber Sie sollten doch wissen, Henry, daß ich nicht unter die ‚Fremderen‘ gehöre, denen die Sache noch geheim bleiben soll.“

Die Stirn des jungen Mannes glättete sich etwas. „Sie sind allerdings eine Ausnahme, also –“

„Also nehmen Sie meinen Glückwunsch ohne Weiteres an,“ ergänzte Atkins. „Schnell genug waren Sie übrigens Beide mit der Sache fertig! ‚Willst Du mich? Ich will Dich! Abgemacht! Ueber’s Jahr ist die Hochzeit!‘ Alles kurz, glatt, klar, ohne viel Redensarten und Sentimentalitäten, ganz im Geschmacke von Miß Jane. Unsere verstorbene Missis wäre freilich außer sich gerathen über eine solche Verlobung.“

Alison’s Lippen kräuselten sich verächtlich. „Wenn Miß Forest ihrer Mutter gliche, würde ich mich schwerlich um sie beworben haben.“

„Da haben Sie Recht!“ sagte Atkins trocken. „Mein Geschmack war sie auch nicht! Immer krank, immer zu Thränen und Scenen geneigt, voll Sentimentalität und Ueberspanntheit – eine echte Deutsche, ist auch schließlich am Heimweh gestorben. Zum Glück hat ihre Tochter nichts von all’ dem Zeuge geerbt, die ist der Vater, Zug um Zug!“

„Ich weiß es! und Mr. Forest wird schwerlich Jemand einer überflüssigen Sentimentalität beschuldigen.“

„Nein!“ sagte Atkins ruhig, „aber wie mir scheint, hat er auch sein gehöriges Theil davon besessen, zum Glück war er einsichtig genug, dies und alles Andere, was wir hier nicht brauchen können, drüben zu lassen. Als Mr. Forest vor zwanzig Jahren hier anlangte, mußten sie ihm in der Heimath wohl arg mitgespielt haben, denn er brachte einen ganz gesunden Haß gegen sein Deutschland und gegen Alles, was damit zusammenhing, mit herüber. Er warf denn auch den ganzen Erinnerungskram mit aller Energie hinter sich, amerikanisirte sogar seinen Namen – Sie wissen doch, daß er früher Förster hieß – und als unsere Colonie sich ausdehnte, und die Deutschen natürlich wieder zusammenhielten wie die Kletten, ging er ihnen gründlich aus dem Wege und hielt sich zu den Amerikanern. Das aber ertrug nun wieder die Frau nicht, die sich an das Leben hier nie gewöhnen konnte; es gab Streit und Bitterkeit ohne Ende, und als das Kind heranwuchs, wurde die Sache noch schlimmer. Der Vater wollte sie zur Amerikanerin erziehen, und er setzte denn auch seinen Willen durch, zumal Miß Jane sich bald genug mit aller Entschiedenheit auf seine Seite stellte; das brach nun aber der Mutter vollends das Herz. Wir haben oft genug arge Scenen gehabt, sage ich Ihnen; es wurde erst Ruhe, als Mrs. Forest dem Heimweh erlag; aber wie die Sachen jetzt stehen, fürchte ich, er wird sie nicht lange überleben.“

[227] Die Stimme des Sprechenden war bei den letzten Worten aus ihrem spöttischen Tone unwillkürlich zum Ernst übergegangen, Alison, der schweigend zugehört, nahm jetzt seinen Hut vom Tische.

„Sie haben es gehört, ich darf meine Abreise nicht verschieben, es rufen mich auch in der That dringende Geschäfte nach Newyork. Wenn der Fall eintritt, den wir erwarten müssen, so stehen ja Sie Miß Forest zur Seite. Wenn jedoch,“ hier machte sich Alison mit dem Zuknöpfen seiner Handschuhe zu thun, „wenn sich in Bezug auf das Ordnen des Nachlasses oder sonst irgend wie Schwierigkeiten herausstellen sollten, so wird mein Vater gern bereit sein, mit seinem vollen Einfluß und seiner ganzen Geschäftskenntniß einzutreten. Es dürfte wohl überhaupt gerathen scheinen, daß er den Interessen der künftigen Tochter nicht fremd bleibt, da ich durch meine Reise verhindert werde, sie kennen zu lernen.“

Derselbe Spott wie vorhin blitzte wieder in Atkins’ Augen, als er sarkastisch erwiderte: „Ich danke verbindlichst für das Anerbieten, aber das Vermögen bleibt laut Testament in meinen Händen, und folglich wird es sich auch in vollkommener Ordnung befinden. Sie und Ihr Vater werden sich wohl noch ein Jahr lang gedulden müssen, so lange, bis Miß Jane Ihnen die Mitgift selbst in’s Haus bringt. Inzwischen kann ich Ihnen jedoch die Beruhigung geben, daß Mr. Forest in der That sehr reich ist, reicher sogar, als Sie ihn schätzen – und um das war es Ihnen bei dem gewünschten Einblick in unsere Verhältnisse doch wohl hauptsächlich zu thun.“

Alison machte eine heftige Bewegung. „Mr. Atkins, Sie sind bisweilen ganz entsetzlich rücksichtslos!“

„Weshalb?“ fragte dieser in unzerstörbarer Ruhe. „Nehmen Sie das als einen Vorwurf? oder meinen Sie, ich könnte Ihnen im Ernst die Thorheit zutrauen, eine junge Lady ohne Vermögen zu heirathen, jetzt, wo der großartige Aufschwung Ihres Handlungshauses und die Verbindungen, die Sie in Europa anknüpfen wollen, Ihnen das Capital doppelt nothwendig macht? Nein, Henry, da hege ich denn doch eine zu hohe Meinung von Ihnen, um Sie dieser unpraktischen Romantik für fähig zu halten.“

Alison wandte sich um und sah ihn forschend an. „Ich habe allerdings als Theilnehmer und dereinstiger Chef unseres Hauses selbst bei der Wahl einer Gattin Rücksicht zu nehmen, aber ich gebe Ihnen mein Wort, wenn das Vermögen Miß Forest’s nur einigermaßen meinen Erwartungen entspricht, so ziehe ich sie unbedingt jeder reicheren Erbin vor.“

Atkins lachte. „Das glaube ich Ihnen ohne Schwur, Henry! Sie haben ziemlich arg Feuer gefangen, mich soll nur wundern, ob Sie es auch aus unserer schönen kalten Miß hervorlocken werden, bis jetzt ist sie noch etwas kühl. Nun, das wird sich geben; jedenfalls ist es ein Glück, wenn der Kaufmann und der Liebhaber nicht in Conflict gerathen, und hier ergänzen sie sich vollständig. Noch einmal, ich gratulire Ihnen dazu.“ –

Jane hatte, als sie die Beiden verließ, rasch mehrere Zimmer durchschritten, und betrat nun ein halbdunkles, ebenfalls reich sind prachtvoll ausgestattetes Schlafgemach. Ueber den Teppich hingleitend näherte sie sich dem Bette und schlug die schweren Vorhänge desselben zurück.

Jetzt zeigte es sich, woher jener seltsame Zug in dem Antlitz des jungen Mädchens stammte, der es denen ihrer Altersgenossinnen so unähnlich machte; der finstere Ernst, die kalte Festigkeit, der energische Stolz, das Alles fand sich, unverwischt und ungemildert durch die Spuren der Krankheit, in dem Gesicht des Mannes wieder, der hier auf den Kissen lag. Er wendete langsam das Haupt nach der Tochter, die sich über ihn beugte.

„Man hat mir den Arzt erst jetzt gemeldet, er war allein bei Dir, und ich wollte doch zugegen sein. Hattest Du das so befohlen, mein Vater?“

„Ja, mein Kind! Ich wollte einen Ausspruch von ihm hören, den er mir in Deiner Gegenwart schwerlich so unumwunden gegeben hätte. Ich weiß jetzt, daß ich nur noch Tage zu leben habe.“

Jane war an dem Bette auf die Kniee gesunken und drückte ihr Haupt in die Kissen, sie antwortete nicht, aber ihr ganzer Körper bebte in einem gewaltsam zurückgedrängten, thränenlosen Schluchzen. Der Kranke blickte auf sie nieder.

„Sei ruhig, Jane! Dich kann der Ausspruch so wenig überraschen, wie mich, wenn wir Beide auch vielleicht auf eine längere Frist hofften. Es muß sein, und Du wirst mir die Nothwendigkeit des Scheidens nicht durch Thränen erschweren wollen.“

„Nein!“ Sie richtete sich plötzlich auf und blickte den Vater an, der Schmerz war mit vollendeter Selbstbeherrschung unterdrückt, kaum daß ihre Lippen noch zuckten; der Kranke lächelte, aber es lag etwas wie eine leise Bitterkeit in diesem Lächeln, vielleicht hätte er es lieber gesehen, wenn sie nicht so schnell hätte gehorchen können.

„Ich habe mit Dir zu sprechen, mein Kind, und ich weiß nicht, wie viel ruhige, schmerzfreie Stunden mir noch beschieden sein werden. Komm näher zu mir und höre mich an.“

Jane gehorchte, sie nahm an der Seite des Bettes Platz und wartete schweigend.

„Ich kann Dich ruhig zurücklassen, denn ich weiß, daß Du trotz Deiner Jugend keiner Stütze und keines Vormundes bedarfst. Was die äußeren Angelegenheiten betrifft, so hast Du Atkins zur Seite; seine sarkastische, ewig spottende Natur ist mir nie sympathisch gewesen, seine Redlichkeit und Anhänglichkeit aber habe ich in einem fast zwanzigjährigen Zusammenleben erprobt. Du weißt, daß er längst ein eigenes Vermögen gesammelt hat und es dennoch vorzog, in unserem Hause zu bleiben, er wird auch Dir zur Seite bleiben, bis Du in den Arm eines Gatten übergehst, was vielleicht bald –“

„Mein Vater!“ unterbrach ihn Jane ruhig, „ich habe Dir eine Mittheilung zu machen, Du weißt, daß Mr. Alison bei mir war – er hat um meine Hand gebeten.“

Der Kranke richtete sich mit dem Ausdruck lebhafter Spannung empor.

„Und Du?“

„Ich habe sie ihm zugesagt.“

„So?“ Forest sank wieder in die Kissen zurück, er schwieg.

Befremdet beugte sich Jane über ihn. „Bist Du damit nicht einverstanden? Ich glaubte Deiner Billigung im voraus gewiß zu sein.“

„Du weißt, Jane, daß ich Dich in der Wahl Deines Gatten weder beschränken noch beeinflussen werde. Es ist Deine Zukunft, und ich bin überzeugt, Du hast nicht ohne ernste Ueberlegung darüber entschieden.“

„Nein! Der Antrag kam mir nicht unerwartet. Ich habe unbedingtes Vertrauen zu Mr. Alison’s Charakter und zu seiner Zukunft, seine Familie gehört zu den ersten der Stadt, seine Lebensstellung ist glänzend, und ich bin gewiß, daß sein kaufmännisches Genie ihm später eine bedeutende Rolle in der Handelswelt ertheilen wird. Scheint Dir das nicht hinreichend, mein Vater?“

„Mir? Wenn es Dir genug ist!“

Jane richtete ihre dunklen Augen mit dem Ausdruck des Erstaunens auf den Vater, was sollte denn sonst noch von einer Ehe zu fordern sein? Forest lächelte wieder, mit derselben Bitterkeit wie vorhin.

„Du hast Recht, Jane, vollkommen Recht! Ich dachte nur an meine eigene Brautwerbung und an das Jawort Deiner Mutter. Gleichviel! Mr. Alison besitzt in der That alle die Eigenschaften, die Du genannt, Du bist ihm darin mehr als ebenbürtig, Ihr werdet sehr – zufrieden miteinander sein.“

„Ich hoffe es!“ und Jane begann jetzt, dem Vater die Bedingung mitzutheilen, die sie ihrem Verlobten auferlegt, und die Frist, welche sie ihm gestellt hatte. Forest folgte mit lebhafter Aufmerksamkeit ihren Worten.

„Das ist mir lieb! Du kamst, ohne es zu wissen, meinen Wünschen entgegen mit diesem Entschluß, denn auch ich habe Dir eine Bedingung aufzuerlegen. Was würdest Du sagen, wenn ich von Dir verlangte, dies Jahr, in welchem Du noch frei bist, in Deutschland bei unseren dortigen Verwandten zuzubringen?“

Mit dem Ausdruck peinlichster Ueberraschung erhob sich die junge Dame von ihrem Sitze. „In Deutschland? Ich!“

„Ja, Du liebst Deutschland nicht?“

„Nein!“ sagte Jane kalt, „so wenig wie Du, mein Vater. Ich liebe das Land nicht, das Deine Jugend vernichtete, Dein Leben verbitterte sind Dich zuletzt ausstieß, wie einen Verbrecher. Ich habe es der Mutter nie verzeihen können, daß sie ohne Verständniß für Alles, was Du dort gelitten, immer nur daran hing, und Dich und sich grenzenlos unglücklich machte mit diesem unvertilgbaren Heimweh.“

[228] „Schweig, Jane!“ unterbrach sie Forest heftig. „Das sind Dinge, die Du nicht verstehst und nie verstehen lernst! Ich habe bei Deiner Mutter kein Verständniß gefunden, das weiß ich, sie hat mich unglücklich gemacht, ja! und dennoch hat sie mir Stunden des Glückes gegeben, die Du Deinem Gatten nie geben wirst – nie, Jane! Freilich, Mr. Alison wird ihrer auch nicht bedürfen.“

Jane schwieg, sie war es bereits gewohnt, den Vater in der Krankheit seltsam reizbar und bisweilen ganz unbegreiflich zu finden. Mit der Schonung, die man einem Kranken schuldet, ertrug sie auch jetzt diesen heftigen Ausbruch und nahm schweigend ihren Platz am Bette wieder ein.

Nach einigen Minuten wendete sich Forest wieder zu ihr. „Verzeih’ mir, Kind!“ sagte er dann milder, „ich war ungerecht. Du bist geworden, wie ich Dich erzog, wie ich Dich haben wollte, und ich bereue noch jetzt nicht, Dir diese Richtung gegeben zu haben. Du wirst den Kampf mit dem Leben besser bestehen, als Deine schwache, zarte Mutter. Laß das ruhen, es war ja etwas Anderes, was Du von mir hören solltest – Weißt, Du, daß Du einen Bruder hattest?“

Jane schreckte empor, ihr Auge heftete sich in fragender Spannung auf den Vater.

„Als Kind habe ich bisweilen davon gehört, aber später sprach man nie wieder davon zu mir. Er ist todt?“

Ein schwerer Seufzer hob Forest’s Brust. „Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Wir haben nie Gewißheit darüber erlangen können. Ich verbot schließlich, seinen Namen zu nennen, weil Deine Mutter der Erinnerung zu erliegen drohte, vergessen hat sie ihn dennoch nie.“

Mit athemlosem Interesse beugte sich Jane näher über den Vater, er faßte ihre Hand und behielt sie in der seinigen.

„Du bist nicht fremd in der neuesten Geschichte Deines Geburtslandes, Jane, Du kennst die Bewegung, welche im Anfange der dreißiger Jahre ganz Deutschland und zumal die deutschen Hochschulen ergriff. Ich studirte gerade damals, und der zwanzigjährige Jüngling flammte auch auf, wie so viele seiner Gefährten, für die Idee der Freiheit und Größe seines Vaterlandes. Der Staat antwortete uns auf dies Verbrechen mit dem Todesurtheil, das bei mir, im Wege der Gnade, auf ‚dreißig Jahre Festung‘ umgewandelt ward. Sieben davon habe ich ertragen müssen, wie, das hast Du oft genug von mir gehört, ich mag die Erinnerung daran heut nicht wieder wach rufen. Ihr Gutes haben selbst diese Jahre gewirkt, sie machten den Jugendträumen und Jugendidealen ein Ende für alle Zeit, und als endlich die Amnestie kam, da war im eisernen Druck des Kerkers, in endlosen Demüthigungen, im glühenden Hasse der Mann gereift, der den Kampf mit dem Leben und dem Elend besser aufzunehmen und zäher auszuhalten wußte, als der zwanzigjährige Träumer.“

Forest schwieg einen Augenblick, aber die harte wilde Bitterkeit, welche jetzt in seinen Zügen lag, und die sich fast noch herber in Jane’s Antlitz widerspiegelte, zeigte, daß ihr diese Erinnerungen nicht fremd waren, und daß die Tochter darin von jeher die Vertraute des Vaters gewesen war.

Nach einer kurzen Pause begann dieser von Neuem: „Kaum war ich frei, so beging ich die Thorheit zu heirathen. Es war ein Wahnsinn in meiner Lage, aber ich hatte mich bereits auf der Universität mit Deiner Mutter verlobt, sie hatte Jahre lang meiner geharrt, eine glänzende Lebensstellung ausgeschlagen um meinetwillen, und jetzt stand sie allein und verlassen da, als Waise, der Gnade und Härte Fremder preisgegeben, das konnte ich nicht ertragen, eher wagte ich Alles. Wir wurden getraut, und ein Jahr darauf ward Dein Bruder geboren. Dir,“ hier streifte ein langer, fast schmerzlicher Blick das schöne Antlitz der Tochter, „Dir glich er nicht, Jane. Er war blond und blauäugig wie seine Mutter, aber eine reine Freude vermochte auch sein Besitz mir nicht zu geben. Die ersten acht Jahre meiner Ehe waren die dunkelsten meines Lebens, furchtbarer als selbst die Zeit auf der Festung. Dort stand und litt ich wenigstens allein, hier galt es für Weib und Kind und mit ihnen den Kampf gegen das Elend, das mit all’ seinen Schrecken herandrohte. Meine Laufbahn war natürlich vernichtet, meine Verbindungen zerrissen! was ich auch begann, was ich unternahm, dem Demagogen schlossen sich alle Thüren, entzog sich jeder Erwerb. Ich habe damals meine beste Kraft eingesetzt, und im Ringen um das tägliche Brod das Aeußerste gethan, und doch genügte selbst dies Aeußerste nicht immer, die Meinigen vor dem Mangel zu schützen. Wir wären ihm vielleicht erlegen, da kam das Jahr Achtundvierzig, und da zeigte es sich, daß der alte Träumer noch immer nicht gelernt hatte, mit seinen Idealen abzurechnen. Er ließ sich wieder verlocken, er folgte zum zweiten Male dem Sirenengesang, um auf’s Neue am Felsen zu scheitern. Ich brachte Weib und Kind bei Verwandten in Sicherheit, und warf mich mitten in den Strom der Bewegung. Du weißt, wie sie endigte! Unser Parlament ward gesprengt, der Kampf in Baden brach aus, ich war einer der Führer der Revolutionsarmee, wir wurden geschlagen, vernichtet. Hatte ein günstiges Geschick mich das erste Mal vor dem Aeußersten bewahrt – jetzt war ich vogelfrei! Aber ich wollte nicht wieder, und diesmal vielleicht für immer, dein Kerker verfallen, ich wollte die Meinen nicht rettungslos dem Untergange preisgeben, deshalb beschlossen wir die Flucht nach Amerika. Mein Schwager streckte mir die dazu nöthige Summe vor, vielleicht aus gutem Herzen, vielleicht auch, um den berüchtigten Demagogen, die Schande der Familie, endlich los zu werden. Es galt Vorsicht, denn schon ward eine Hetzjagd auf uns veranstaltet, durch ganz Deutschland.

Verkleidet, unter fremdem Namen gelangte ich nach Hamburg, wo meine Frau mit den Kindern mich erwartete. Du warst mir während der letzten Monate geboren worden. Armes Kind, es war eine böse Stunde, in der ich Dich zum ersten Male an’s Herz drückte! Mit dem ersten Kuß des Vaters fiel auch die Thräne glühenden Hasses, bitterer Verzweiflung auf Dein kleines Gesicht – ich fürchte, sie hat einen Schatten auf Dein ganzes Leben geworfen, ich habe Dich nie unbefangen froh wie andere Kinder gesehen. Wir gingen erst kurz vor der Abfahrt an Bord, getrennt, um kein Aufsehen zu erregen. Deine Mutter, Dich auf dem Arme tragend, schritt voran, ich folgte in einiger Entfernung, meinen Knaben an der Hand. Da erblickte ich unmittelbar an der Schiffstreppe ein unheilvolles Gesicht; der Späher kannte mich, wie ich ihn; wenn er mich erblickte, war ich verrathen. Rasch entschlossen befahl ich dem Knaben, der Mutter zu folgen, er war alt genug, und er sah sie noch vor sich – ich selbst warf mich in das dichteste Gewühl des Hafens. Eine Stunde später war der Spion verschwunden und es glückte mir, unbemerkt an Bord zu gelangen. Meine Frau, auf eine mögliche Verspätung meinerseits vorbereitet, eilt mir entgegen, ihre erste Frage ist nach dem Kinde, in wenigen schreckensvollen Worten verständigen wir uns, es ist ihr nicht gefolgt, es muß noch am Lande sein. In Todesangst eile ich zurück, ohne die drohende Gefahr zu achten, ich frage und suche den ganzen Hafen auf und nieder, Niemand hat den Knaben gesehen, Niemand vermag mir Auskunft zu geben. Daß ich damals, trotz meiner Aufregung, der Entdeckung entging, daß der Späher gerade in jener Stunde fern war, habe ich später als ein halbes Wunder ansehen lernen, in jenem Augenblick dachte ich kaum daran. Das Signal zur Abfahrt ertönte; wenn ich blieb, war ich verloren, und Weib und Kind schwammen verlassen und hülflos auf dem weiten Ocean einem fremden Welttheil entgegen. Die Wahl war schrecklich, aber kurz! Wie ich das Schiff betrat ohne mein Kind, wie ich die Küste schwinden sah, an der es allein zurückblieb, Allem preisgegeben – nun, die Heimath ließ mich in dem Moment, wo ich mich auf ewig von ihr losriß, noch einmal die Bitterkeit eines ganzen Lebens auskosten, er drückte das Siegel auf unser Scheiden und auf die Erinnerung.

Noch am Tage der Landung in New-York schrieb ich an den Bruder meiner Frau, aber es waren bereits Wochen vergangen, ehe der Brief abging, es vergingen noch Wochen, ehe er anlangte. Mein Schwager nahm sich der Nachforschungen mit warmem Eifer und redlicher Theilnahme an, er reiste selbst nach Hamburg, er that alle möglichen Schritte – umsonst, auch nicht die kleinste Spur wurde aufgefunden, unser Kind war und blieb verschwunden.“

Forest schwieg, er athmete schwer und tief, aber Jane, in leidenschaftlicher Spannung vorgebeugt, dachte nicht daran, eine Aufregung zu hindern, die ihm gefährlich, vielleicht tödtlich werden konnte, dergleichen rücksichtsvolle Zärtlichkeiten lagen nicht in dem Verhältniß zwischen Vater und Tochter. Sie hatte ein Geheimniß zu hören, ein Vermächtniß zu empfangen, und wenn er darüber zu Grunde ging, das hielt ihn so wenig ab, das Nothwendige auszusprechen, als sie, es zu hören, es mußte nun einmal geschehen. Nach einer kurzen Pause der Erholung fuhr er wieder fort.

[241] „Mit diesem letzten Opfer schien das Unglück endlich erschöpft,“ fuhr Forest in seiner Erzählung fort, „von dem ersten Schritt an, den ich auf amerikanischen Boden that, folgte mir das Gelingen. In New-York traf ich mit Atkins zusammen, den dort ein Schreiberposten nur nothdürftig nährte, er rettet mich und meine kleine Habe vor einer Bande von Schwindlern, die den Unerfahrenen schon halb in ihren Netzen hatten. Dankbar bot ich ihm an, mit mir nach dem Westen zu ziehen, er hatte nichts zu verlieren und folgte mir hierher, damals noch in die Wildniß. Wir haben die erste Axt an den Urwald gelegt, das erste Blockhaus gezimmert; vielleicht erinnerst Du Dich noch aus Deiner frühesten Kinderzeit, daß Dein Vater selbst mit Axt und Hacke auf’s Feld hinausging, und die Mutter im Hause die Arbeit der Mägde that, aber es dauerte nicht lange. Unsere Colonie wuchs mächtig und schnell, der Boden, die Lage waren unendlich günstig, die Stadt entstand, der Hafen ward gebaut, die Ländereien, die ich zu einem Spottpreise gekauft, stiegen bald auf das Zwanzig- und Dreißigfache ihres früheren Wertes, Unternehmungen, zu denen ich mich mit Anderen verband, hatten einen ungeahnten Erfolg. Auch die einst so heiß ersehnte Teilnahme am öffentlichen Leben und Wirken, die Bedeutung darin, die Anerkennung dafür ward mir im reichsten Maße zu Theil, und jetzt, Jane, lasse ich Dich in einer Stellung und in Verhältnissen zurück, die es selbst einem Mr. Alison als eine Ehre erscheinen lassen, wenn er Deine Hand erringt.“

„Ich weiß es, mein Vater!“ Das Selbstbewußtsein in Jane’s Haltung trat in diesem Moment schärfer als je hervor, aber es lag kein gewöhnlicher Hochmuth darin, ihr Stolz wurzelte augenscheinlich in dem Bewußtsein, die Tochter ihres Vaters zu sein.

Mit einer Anstrengung, die deutlich bewies, daß seine Kräfte im Sinken waren, eilte Forest zum Schlusse.

„Daß ich die Nachforschungen nach Deinem Bruder nicht aufgab, daß ich sie immer und immer wieder erneuerte, und später, als mir die Mittel zu Gebote standen, mit allem Aufwande von Geld und Verbindungen fortsetzte, noch jahrelang, brauche ich Dir nicht erst zu sagen. Das Resultat blieb das gleiche, ich fand schließlich Ersatz in Dir, Deine Mutter konnte den Verlust ihres Sohnes nie verschmerzen. Sie klammerte sich bis zu ihrem Ende an die Hoffnung seines Lebens, seines Wiederauftauchens, die mir längst geschwunden war, und noch auf dem Sterbebette nahm sie mir das Versprechen ab, nach ihrem Tode selbst nach Europa zu gehen, um persönlich noch einen letzten Versuch zu machen. Ich habe es ihr zugesagt, da die jüngste Amnestie den Bann gelöst hatte, der mir bis vor Kurzem noch verbot, die Heimath wieder zu betreten, und ich war eben im Begriff, die Vorbereitungen zu einer längeren Abwesenheit zu treffen, als die Krankheit mich niederwarf. Aber der letzte heiße Wunsch Deiner Mutter soll nicht unerfüllt bleiben! Nicht, als ob ich auch nur die leiseste Hoffnung hätte, eine Spur, die sich zwanzig Jahre lang den angestrengtesten Nachforschungen entzog, könne jetzt wiedergefunden werden – Du sollst einfach eine Pflicht der Pietät erfüllen, indem Du das Versprechen einlösest, das ich nicht mehr zu halten vermochte, Du sollst einer Form genügen, indem Du Dich, ehe mein gesammtes Vermögen Dir zufällt, versicherst, daß Du in der That die einzige Erbin bist, und einzig und allein deshalb sende ich Dich nach dem Rhein. In Bezug auf die geschäftlichen Schritte, auf die zu erlassenden Aufrufe und dergleichen wird Dein Oheim Dir gern zur Seite stehen, Du sollst nur die Leitung, die Energie dazu hergeben, deren er nicht fähig ist. Unsere hiesigen Kreise wird es nicht befremden, wenn Du das Trauerjahr um Deinen Vater bei seinen Verwandten, in seiner Heimath zubringst. Wenn Alison es wünscht, so kann er am Schluß seiner europäischen Reise Deine Hand dort empfangen und mit Dir zurückkehren, indessen das überlasse ich Euch allein. Ich lege nur einzig jene Pflicht in Deine Hände, Jane, Du wirst sie erfüllen.“

Jane erhob sich und stand dem Vater aufgerichtet, mit der vollen Energie ihrer ganzen Erscheinung gegenüber.

„Wenn eine Spur meines Bruders zu finden ist, so werde ich sie finden, Vater! Ich weiche nur der Unmöglichkeit, nimm meine Hand darauf!“

Forest schloß ihre Hand in die seinige, auch jetzt trat das eigenthümlich Ernste in dem Verhältniß zwischen Vater und Tochter hervor, kein Kuß, keine Zärtlichkeit – ein Händedruck wie unter Männern besiegelte das gegebene und genommene Versprechen. Einige Secunden lang herrschte tiefes Schweigen, dann sagte der Kranke plötzlich mit gepreßter Stimme.

„Und jetzt ziehe die Vorhänge auf, ich kann die Dämmerung nicht mehr ertragen! Laß das Licht herein!“

Jane gehorchte, sie schlug die schweren grünen Damastvorhänge zurück, und durch das breite Erkerfenster strömte der volle, blendende Glanz der Mittagssonne in’s Zimmer. Der Kranke hatte sich aufgerichtet und blickte unverwandt hinaus in die weite Aussicht, die sich seinen Blicken darbot. Da lag die Stadt mit ihren Straßen und [242] Plätzen, ihrem ganzen Häusermeer, der Hafen mit seinen Schiffen, da wallte der Riesenstrom hin mit seinem glänzenden Wasserspiegel und den darüber hingleitenden Booten und Dampfern, da lagen die einzelnen Landhäuser und Ortschaften nah und fern zerstreut, und weit am Horizont dehnte sich eine dichte, dunkle Masse, dehnte sich der Urwald aus, dem all dies abgerungen war von Menschenhänden. Forest blickte unbeweglich darauf hin; ob er an die Zeit dachte, wo er hier in der Wildniß den ersten Axthieb gethan, ob er mit Stolz auf die Stadt niedersah, die hauptsächlich ihm ihr Gedeihen verdankte, oder ob es ihm wehe ward bei dem Gedanken, dies Alles verlassen zu müssen – er sank plötzlich mit einer fast convulsivischen Bewegung, in die Kissen zurück. Besorgt beugte sich Jane zu ihm nieder, aber es war kein Anfall der Krankheit, der ihn so plötzlich erfaßte.

„Wenn Du nach Deutschland kommst, so grüße mir die Heimath, den Rhein! Hörst Du, Jane? Grüße mir meinen Rhein! Grüße mir Deutschland!“

Die Worte kamen schmerzvoll gepreßt, fast unhörbar von seinen Lippen, betroffen sah Jane auf ihn nieder.

„Liebtest Du denn das einst, mein Vater? Mich hast Du es beinahe hassen gelehrt!“

Forest schwieg einen Moment lang, seine Lippen zuckten, und wie einem furchtbaren inneren Kampfe abgerungen, rollten zwei schwere Thränen über seine Wangen.

„Die Heimath hatte für mich nur das Elend übrig!“ sagte er tief bewegt. „Sie hat mich verfolgt, geknechtet, ausgestoßen, sie versagte mir selbst das Brod für mich und die Meinen. Amerika gab mir Freiheit, gab mir Reichthum und Ehre, und jetzt, Jane, gäbe ich das Alles, Alles hin – könnte ich nur am Rheine sterben!“

Es lag ein so schneidendes Weh in diesem gewaltsamen Ausbruch eines langverhaltenen Schmerzes, daß Jane erschreckt davor zurückwich. Dies unselige Heimweh! Die Mutter war daran gestorben, die schwache zarte Frau hatte jahrelang gekrankt und gelitten, aber der Vater, dieser stolze energische Mann, der mit der Heimath und ihren Erinnerungen so völlig gebrochen, der sich seinem Adoptivvaterland mit so voller Seele angeschlossen, und im Haß gegen die Vergangenheit versteint schien, er hatte tief im Innersten verborgen dieselbe qualvolle Sehnsucht mit sich herumgetragen, erst die Todesstunde entriß ihm das Geständniß.

Jane stand stumm und völlig verständnißlos vor dieser Entdeckung, aber sie fühlte, daß hier, gerade hier dies seltsame Etwas lag, in dem Vater und Mutter, trotz alles Mißverstehens, doch stets einig gewesen waren, und daß sie gerade hierin Beiden ewig fern gestanden. Sie blickte auf den Kranken, er lag jetzt still, mit geschlossenen Augen und fest zusammengepreßten Lippen, sie wußte, daß in solchen Momenten selbst sie ihn nicht stören durfte. Leise zum Fenster gleitend ließ sie die Vorhänge wieder herab, und bald herrschte die vorige matte Dämmerung wieder im Krankenzimmer.




„Nun, das ist ja eine vielversprechende Introduction, mit der dieser hochgepriesene Rhein uns empfängt! Ich habe dies ganze Land in den sechsunddreißig Stunden bereits gründlich satt bekommen! Beim Landen ein Nebel, daß man die Küste nicht eher sieht, bis der Fuß darauf tritt, den Tag in Hamburg ein Regen, als wollte die Sündfluth von Neuem losbrechen, und hier am Rhein nun vollends diese Situation. Ich begreife nicht, Miß Jane, wie Sie dabei so ruhig bleiben können!“

Die Situation, welche Mr. Atkins so in Aufregung brachte, war in der That keine beneidenswerthe. Im dichtesten Nebel und leise, aber unaufhörlich herniederrieselnden Regen lag die Extrapostchaise zur Hälfte umgestürzt mitten auf der Landstraße, die Pferde, deren Stränge bereits gelöst waren, standen mit gesenkten Häuptern davor, und im Chausseegraben, neben dem zerbrochenen Hinterrade, saß der Postillon, den Kopf mit einem Taschentuche verbunden, und stöhnend den gleichfalls verletzten Fuß mit beiden Händen haltend. Jane, die mit resignirter Miene neben ihm stand, zuckte statt aller Antwort die Achseln.

„Wir können unmöglich hier länger im Regen bleiben!“ fuhr Atkins im vollsten Aerger fort, „zumal Sie nicht! So viel ich beurtheilen kann, sind die Verletzungen unseres Kutschers nicht gefährlich, und er behauptet, daß B. höchstens noch eine Stunde entfernt ist. Das Beste wäre, wir machten uns auf den Weg dorthin und schickten ihm dann die nöthige Hülfe –“

„Nein,“ unterbrach ihn Jane ruhig, aber mit vollster Bestimmtheit. „Er blutet noch immer und droht jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Wir können ihn unmöglich allein und hülflos zurücklassen, zum Mindesten müssen Sie bei ihm bleiben, während ich versuche, die nächste Ortschaft zu erreichen.“

„Allein? Im fremden Lande? Bei diesem Nebel, der Sie vielleicht geradewegs in den verhexten Fluß hineinführt, den man da unten nur hört, ohne eine Spur von ihm zu sehen? Nein, das gebe ich denn doch unter keiner Bedingung zu.“

„Ich fürchte mich durchaus nicht!“ erklärte Jane mit einer Entschiedenheit, welche bewies, daß sie nicht gewohnt war, sich selbst von Atkins irgendwelche Vorschriften machen zu lassen, „und wenn ich der Landstraße folge, so ist ein Verirren unmöglich. Jedenfalls ist es das Einzige, was uns zu thun übrig bleibt.“

„Aber, Miß Jane, so bedenken Sie doch – Wenn sich nur irgend ein menschliches Wesen zeigen wollte! Halt, da kommt Jemand! Auf ein Wort, Sir, wenn es Ihnen beliebt!“

Die letzten Worte, obwohl deutsch gesprochen, mußten dem Kommenden wohl durch ihren stark englischen Accent den Ausländer verrathen haben, denn eine leise, aber wohllautende Stimme fragte im reinsten Englisch zurück: „Was giebt es, Sir?“

„Gott sei gelobt, es ist ein Gentleman, er spricht englisch!“ sagte Mr. Atkins aufathmend, und sich rasch dem Fremden nähernd, der bisher im Nebel nur halb sichtbar gewesen war, fuhr er eiligst fort:

„Wir haben einen Unfall mit dem Wagen gehabt, er ist zerbrochen, der Postillon verwundet und wir völlig fremd hier. Darf ich fragen, ob Ihr Weg Sie vielleicht nach B. führt?“

„Allerdings.“

„Nun, dann bitte ich Sie, uns den ersten besten Wagen, den Sie auffinden können, herauszuschicken. Und noch Eins! Sie haben wohl die Güte, eine junge Lady bis B. unter Ihren Schutz zu nehmen.“

Der Fremde, der bei dem ersten Verlangen sich höflich zustimmend verneigt hatte, trat bei dem letzten einen Schritt zurück, und es klang fast wie Entsetzen aus seiner Stimme, als er wiederholte:

„Eine junge Lady – soll ich –“

„Nach der Stadt begleiten, ja, und bis zu dem Hause führen, das sie Ihnen bezeichnen wird. Miß Jane, darf ich Sie bitten, sich diesem Gentleman anzuvertrauen? Sie können unmöglich länger hier im Regen stehen.“

Jane, die bisher ziemlich theilnahmlos der Unterredung zugehört, wandte sich jetzt zu dem Fremden, den Atkins ihr als Begleiter vorstellte. Sie blickte in ein feines, bleiches Gesicht, in ein Paar blaue, träumerische Augen, die jedoch in diesem Augenblick nur halbes Entsetzen und grenzenlose Verlegenheit verriethen; es ward ihm auch durchaus keine Zeit gelassen, der letzteren Herr zu werden.

„Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden,“ sagte Mr. Atkins, ohne im Geringsten eine Einwilligung abzuwarten. „Und nun würde ich Sie noch bitten, Ihren Weg möglichst zu beschleunigen, sowohl der jungen Lady wegen, als um meiner Erlösung von der Landstraße willen. Leben Sie wohl, Miß Jane, und seien Sie außer Sorge wegen des Verwundeten, er bleibt in meiner Obhut. Auf baldiges, hoffentlich trocknes Wiedersehen!“

All diese Anordnungen wurden so schnell und geläufig, mit solcher dictatorischen Höflichkeit und solchem unwiderleglichen Commandotone gegeben, daß in der That ein Einspruch gar nicht möglich schien. Der Fremde machte auch gar keinen Versuch dazu, er ließ das Alles in vollster Bestürzung über sich ergehen und folgte mechanisch der ihm gewordenen Weisung, indem er mit einer stummen Verbeugung die junge Dame aufforderte, sich ihm anzuschließen; in der nächsten Minute befanden sich Beide bereits auf dem Wege und waren durch eine Biegung desselben den Augen der Zurückbleibenden entzogen.

Ob der Fremde mehr überrascht war von der echt amerikanischen Manier, die Dame dem ersten Besten anzuvertrauen, dem man auf der Landstraße begegnete, oder mehr erschreckt von dem ihm aufgedrungenen Ritterdienst, ließ sich schwer entscheiden; sichtbar war nur Eins, die unendliche Verlegenheit, in die jene Zumuthung ihn versetzte und die ihn sogar von jedem Unterhaltungs- und Annäherungsversuche abzuhalten schien. Miß Forest aber faßte [243] sein Benehmen anders auf; sie war gewöhnt, überall, wo sie nur erschien, Gegenstand der größten Aufmerksamkeit zu sein, war überhaupt an die oft übertriebenen Rücksichten gewöhnt, welche in Amerika jede Dame selbst von dem Fremdesten beanspruchen darf, und nun zeigte sich dieser Mensch, dem Aussehen und der Sprache nach doch ein Gentleman, so wenig empfänglich für die Ehre, eine Lady begleiten zu dürfen, daß er es nicht einmal der Mühe werth hielt, ein Wort an sie zu richten. Jane streifte mit einem vollen Zornesblick den Unverschämten und preßte dann die Lippen fest aufeinander, entschlossen, nun auch ihrerseits während des ganzen Weges kein Wort zu reden.

Ungefähr zehn Minuten waren sie so schweigend nebeneinander hingeschritten, als ihr Begleiter plötzlich stehen blieb und mit derselben leisen wohllautenden Stimme wie vorhin sagte: „Die Landstraße macht einen weiten Bogen. Darf ich Sie den näheren Weg führen, den ich zu gehen pflege?“

„Ich habe mich Ihrer Führung anvertraut,“ gab Jane kurz und kalt zur Antwort, und mit einer zweiten stummen Verneigung lenkte er von der Chaussee ab und schlug die Richtung nach links ein.

Der bezeichnete Weg mochte nun allerdings näher und für einen Mann auch zur Noth passirbar sein, für eine Dame war er aber jedenfalls nicht geeignet. Es ging über sumpfigen Boden, durch nasse Wiesen, durch tropfende Hecken, immer mitten durch die Felder und Gebüsche, nicht allein zum Nachtheil, sondern zum völligen Ruin von Jane’s eleganter Trauerkleidung, die allerdings für die Reise, aber jedenfalls nur für eine Reise in der Extrapostchaise berechnet war. Das leichte Mäntelchen vermochte sie so wenig zu schützen wie die feinen Stiefelchen, ihr Anzug war völlig durchnäßt, während ihr Begleiter, ganz in einen dichten wollenen Plaid gehüllt, die Witterung kaum zu empfinden schien und natürlich nicht daran dachte, ihr diesen Schutz dagegen anzubieten. Dabei schien er die Weisung Mr. Atkins’, den Gang möglichst zu beschleunigen, buchstäblich zu nehmen, denn er eilte in einem Schritte vorwärts, daß Jane die größte Anstrengung nöthig hatte, um an seiner Seite zu bleiben. Jede Andere hätte wahrscheinlich erklärt, daß dieser Weg und dieser Lauf über ihre Kräfte gingen. Miß Forest hatte sich nun aber einmal vorgenommen, die Stadt möglichst schnell zu erreichen, um den Zurückgebliebenen Hülfe senden zu können, und Klagen und Zögern war dabei ihre Sache nicht. Sie zog daher ihre Schuhe tapfer immer auf’s Neue aus dem Sumpf und Moor, der große Neigung zeigte, sie festzuhalten, setzte den Fuß energisch in das hohe feuchte Gras und riß ihren Schleier immer wieder von den Hecken los, an denen er hängen blieb; dabei ward ihre Miene aber immer finsterer, und als es eine Viertelstunde in dieser Weise fortgegangen war, blieb sie plötzlich stehen.

„Ich muß Sie bitten, zu warten. Ich bedarf einen Augenblick der Erholung.“

Diese im schärfsten Tone gesprochenen Worte schienen ihrem Begleiter denn doch das Bewußtsein seiner Rücksichtslosigkeit wachzurufen. Er blieb stehen und blickte erschreckt auf seine Schutzbefohlene, die erschöpft und völlig athemlos am Saume einer großen Fliederhecke stand.

„Verzeihung, Miß! Ich hatte ganz vergessen, ich –“ er stockte und fuhr dann entschuldigend fort: „ich bin wirklich nicht gewohnt, mit Damen zu verkehren.“

Jane machte eine Bewegung, als wollte sie sagen: „Das habe ich erfahren!“

Ihr Begleiter schien jetzt erst den Zustand ihrer Toilette zu gewahren. „Mein Gott, Sie sind ja ganz durchnäßt!“ rief er besorgt, blickte dann nach oben und setzte in sichtlicher Verwirrung hinzu: „Ich glaube, es regnet!“

„Ich glaube auch!“ sagte Jane mit einer Ironie, die zum Glück dem Fremden entging, denn er blickte sich suchend um. Sie standen jetzt Beide an der Fliederhecke, die sich auf einem Erdwall erhob, welcher allerdings nach einem mehrstündigen Regen keinen besonders einladenden Ruheplatz bot, dennoch schien ihr Führer ihn dafür zu halten. Er riß mit einer hastigen Bewegung seinen Plaid von den Schultern, legte ihn sorgfältig ausgebreitet auf die feuchte Erde und lud seine Schutzbefohlene mit einer Handbewegung ein, darauf Platz zu nehmen.

Jane blieb stehen und sah ihn an. Das überstieg denn doch wirklich alle Begriffe: dieser Mann hatte eine halbe Stunde lang mit der gleichgültigsten Miene von der Welt zugesehen, wie sie völlig durchnäßt ward, und jetzt warf er das Tuch, das sie während der ganzen Zeit hätte schützen können, ohne weiteres in den Schlamm, um ihr auf zwei Minuten einen Ruhesitz zu ermöglichen. Etwas Lächerlicheres und Unpraktischeres war ihr noch niemals vorgekommen, und trotzdem lag in der Bemühung eine so ängstliche Sorgfalt, eine so schüchterne Abbitte der vorherigen Rücksichtslosigkeit, daß Jane fast unwillkürlich der Einladung folgte und sich zögernd niederließ.

Zum ersten Male blickte sie jetzt mit voller Aufmerksamkeit auf ihren Begleiter, der dicht neben ihr stand. Er hatte, gleichfalls erhitzt vom raschen Gange, den Hut abgenommen und strich sich das blonde regenfeuchte Haar von der hohen Stirn. Es waren edle, feine, im höchsten Grade durchgeistigte Züge, auf denen jedoch eine durchsichtige, krankhafte Blässe lag, und dazu diese großen blauen Augen mit dem seltsam träumenden Ausdruck, die da aussahen, als hätten sie so gar nichts mit der Welt und der Gegenwart zu thun, als blickten sie weit darüber hinaus in unendliche Fernen – die junge Dame mit dem kalten schönen Antlitz und dem energisch stolzen Blick beobachtete mit einem eigenthümlichen, ihr selbst unerklärlichen Interesse dies von dem ihrigen so unendlich verschiedene Gesicht.

Ringsum braute der Nebel und wob seine grauen Schleier um Bäume und Gebüsche, die undeutlich, schattenhaft daraus hervorblickten, leise rieselte der Regen nieder, der erste warme Frühlingsregen, dem die ganze Erde entgegenzuathmen schien, mit einem feuchten würzigen Hauch, leise zogen durch die Luft jene seltsamen Stimmen, jenes Flüstern und Hallen, das nur der Regenlandschaft eigen ist, und durch das Nebelgeriesel tönte fern und geheimnißvoll das Wallen und Rauschen des noch immer unsichtbaren Stromes – die ganze Situation hatte etwas Fremdartiges, etwas Beklemmendes, und Jane, der diese Empfindung völlig neu war, riß sich rasch davon los.

„Ist das der Fluß dort unten?“ fragte sie in den Nebel zeigend.

„Der Rhein! Wir sind am Ufer desselben.“

Wieder eine Pause, Miß Forest brach ungeduldig einen Zweig von der Fliederhecke, betrachtete einen Moment lang zerstreut die aufspringenden Knospen, aus denen soeben das erste Grün hervorbrach, und warf ihn dann achtlos zu Boden. Ihr Begleiter bückte sich danach und hob ihn auf; sie blickte ihn befremdet an.

„Es sind die ersten Frühlingsknospen,“ sagte er leise, „ich möchte sie doch nicht im Schlamm umkommen sehen.“

Jane’s Lippen zuckten spöttisch. Wie sentimental! Aber freilich, sie befand sich ja in Deutschland! Verstimmt und fast gereizt durch den indirecten Vorwurf erhob sich die junge Dame plötzlich und erklärte völlig ausgeruht zu sein.

Ihr Begleiter war sofort zum Gehen bereit, Jane warf einen halben Blick auf den noch immer am Boden liegenden Plaid, da er ihn aber gänzlich vergessen zu haben schien, so hielt sie es nicht der Mühe werth, ihn mit einem Worte daran zu erinnern. Sie schritten also vorwärts, ebenso wortlos wie vorhin, nur daß der Führer jetzt seinen Schritt mäßigte, und sich oft besorgt umsah, ob sie auch zu folgen vermöge. Wieder eine Viertelstunde war vergangen, da tauchten die Umrisse von Häusern und Thürmen aus dem Nebel auf, und der Fremde wandte sich zu seiner Schutzbefohlenen.

„Wir sind in B. Darf ich fragen, Miß, wohin ich Sie führen soll?“

„Nach dem Hause des Doctor Stephan.“

Er blieb überrascht stehen. „Doctor Stephan?“

„Ja! Sie kennen ihn?“

„Allerdings. Ich wohne in seinem Hause, und in der That,“ er fuhr nachdenkend mit der Hand über die Stirn, „ich erinnere mich dunkel, gehört zu haben, daß man Jemand dort erwartet, eine junge Anverwandte, glaube ich.“

„Ich werde allerdings erwartet,“ sagte Jane ungeduldig, „und Sie würden mich verbinden, wenn Sie dies Warten meiner Verwandten möglichst abkürzen wollten.“

„Wie Sie befehlen, Miß! Darf ich bitten, sich rechts zu wenden, ich führe Sie den nächsten Weg durch den Garten.“

Jane folgte, aber sie fand bald genug Gelegenheit, diese „nächsten Wege“ ihres Begleiters zu verwünschen, denn der Heckengang zwischen Gärten hindurch, den er sie jetzt führte, übertraf an Bodenlosigkeit und Beschwerlichkeit noch den vorhergehenden.

[244] Er schien das selbst zu fühlen, denn er hielt nach einer Weile plötzlich inne und sagte in sichtbarer Verlegenheit:

„Ich vergaß, daß der Weg sich nicht für eine Dame eignet. Wollen wir umkehren?“

„Ich meine, daß wir bereits die Hälfte zurückgelegt haben,“ gab Jane in etwas gereiztem Tone zur Antwort. „Das Ziel kann nicht mehr weit entfernt sein.“

„Dort hinten, das Gittertor!“

„Nun, dann lassen Sie uns vorwärts gehen.“

Es ging in der That noch etwa hundert Schritt vorwärts, dann aber tauchte ein völliges Hinderniß auf. Die ganze tiefer gelegene Stelle des Weges war vom Regen überschwemmt, der hier einen förmlichen See bildete und, die ganze Breite des Ganges einnehmend, nicht zu umgehen war. Der unglückliche Führer stand ratlos davor.

„Sie können unmöglich hier hindurch!“ sagte er ängstlich.

„Ich will es versuchen!“ antwortete Jane resignirt und setzte die Spitze ihres Fußes in das Wasser, aber er hielt sie eifrig zurück.

„Unmöglich! Das Wasser ist fußtief! Wenn nur – wenn Sie mir gestatten wollten, Sie hinüber zu tragen.“

Die Frage kam sehr schüchtern heraus und Jane streifte mit einem halb mitleidigen, halb verächtlichen Blick die zwar hohe, aber äußerst schlanke und zarte Gestalt mit ihrer gebückten Haltung!

„Ich danke!“ entgegnete sie mit unverhehlter Ironie. „Die Last möchte doch zu schwer für Sie sein.“

Der Spott hatte eine ganz eigenthümliche Wirkung auf den bisher so schüchternen Fremden. Eine Purpurgluth schoß plötzlich in dem bleichen Antlitz auf, mit einem Ruck hatte er sich emporgerichtet, die junge Dame auf seine Arme gehoben und stand bereits mit ihr mitten im Wasser. Das alles ging so blitzschnell, daß Jane, überrascht und bestürzt, gar keine Zeit fand, sich zu sträuben, jetzt aber machte sie eine rasche Bewegung, entschlossen, lieber in das fußtiefe Wasser zu gleiten, als eine Freiheit zu dulden, die man sich gegen ihren Willen genommen – da begegnete sie auf einmal seinen Augen. War es die stumme, beinahe flehende Bitte darin, oder lag noch irgend etwas Anderes, Seltsames in diesem Blick – Jane senkte langsam den ihrigen, das beklemmende Gefühl von vorhin kam mit verdoppelter Macht zurück, und regungslos verharrte sie in ihrer Stellung, während er mit einer Kraft, die Niemand diesen Armen zugetraut hätte, sie vollends hinübertrug.

„Ich bitte um Verzeihung!“ sagte er leise, während er seine Last scheu und ehrfurchtsvoll drüben am Gartenthor niedersetzte.

„Ich danke!“ erwiderte Jane kurz und kalt, stieß selbst die Gittertür auf und trat ein.

Sie hatten nur wenige Schritte in den Garten hineingethan, als eine große, fast hünenhafte Gestalt dicht vor ihnen auftauchte.

„Herr Professor, um Gotteswillen, Sie sind wirklich ausgewesen in diesem Wetter! Und noch dazu ohne Regenschirm! Sie werden sich den Schnupfen holen, das Fieber, den Tod – und der Plaid! Herr Professor, wo ist denn Ihr Plaid geblieben?“

Mühsam und beinahe unwillig wehrte der Professor den Besorgten von sich ab, der mit einem großen Regenschirm bewaffnet, in etwas aufdringlicher Weise ihn zu schützen bemüht war.

„Aber Friedrich! Siehst Du denn gar nicht?“ Er wies auf Jane, die Jener in seinem übergroßen Eifer noch nicht bemerkt hatte, diese neue Thatsache aber, die Erscheinung einer jungen Dame an der Seite seines Herrn, schien gänzlich über die Fassungskraft Friedrichs zu gehen, er ließ den Regenschirm sinken und starrte die Beiden mit offenem Munde an, in einer so grenzenlosen Verwunderung, daß man deutlich sah, dergleichen war ihm noch niemals vorgekommen.

Der Professor machte rasch seinem stummen Entsetzen ein Ende. „Es ist die junge Dame, welche beim Doctor Stephan erwartet wird,“ sagte er. „Geh jetzt und sage dem Doctor –“

Weiter kam er nicht mit seinem Auftrage, denn Friedrich hatte kaum die ersten Worte vernommen, als er einen unarticulirten Laut ausstieß, plötzlich Kehrt machte und in mächtigen Sätzen davonschoß. Jane blieb stehen und sah den Professor an, ihre Miene verrieth deutlich, was sie von ihren deutschen Landsleuten zu denken begann, und daß sie nach der Begegnung mit den ersten beiden Exemplaren derselben sich einigen Zweifel an deren Zurechnungsfähigkeit überhaupt erlaubte. Der Herr sowohl als der Diener waren in ihren Augen gleich lächerlich.

Im Hause hatte inzwischen der Alarmruf Friedrich’s einen förmlichen Aufruhr veranlaßt. Thüren wurden aufgerissen und zugeschlagen, Treppen krachten unter schweren und leichten Tritten, man schien in stürmischer Eile noch einige Empfangsfeierlichkeiten zu improvisiren, oder doch die bereits vorbereiteten in Ordnung zu bringen, und als sich Jane endlich in Begleitung des Professors dem Haupteingange näherte, wartete ihrer denn auch eine Ueberraschung. Reiche Blumenguirlanden umgaben Thür und Pfeiler, ein riesiges „Willkommen“ prangte über der ersteren, Blumen waren auf Flur und Treppe gestreut, und am Fuß derselben stand der große Friedrich, ein ebenso großes Bouquet in den Händen, das er mit einem stolzen Lächeln auf seinem breiten Gesichte in ziemlich ungeschickter Weise der jungen Dame dicht vor die Nase hielt.

Ein solcher Empfang war jedoch augenscheinlich nicht im Geschmack von Miß Forest. Man hatte in ihrem Vaterhause wahrscheinlich dergleichen „überflüssige Sentimentalitäten“ ebenso sehr gemieden, wie man dort die „unpassende Vertraulichkeit“ der Dienstboten in Schranken hielt. Jane’s Augenbrauen zogen sich zusammen, sie sah den ihr entgegentretenden Diener von oben bis unten an, und als er, eingeschüchtert durch diesen sehr ungnädigen Blick, zur Seite wich, rauschte sie mit einer vornehmen Handbewegung, in der sehr wenig von Dank und sehr viel von kalter Zurückweisung lag, an ihm vorüber, die Treppe hinauf und trat, ohne die ihretwegen getroffenen festlichen Anstalten auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, in den Flur, wo jetzt eben Doctor Stephan und seine Frau erschienen.

Der Professor stand noch immer wie gebannt unten und blickte ihr nach, durch die noch eine Minute offen bleibende Thür. Er sah, wie die junge Dame, durch die doch gewiß eigenthümliche erste Begegnung mit ihren Verwandten, zu denen sie unerwartet, durchnäßt, durch’s Gartenpförtchen und in Begleitung eines völlig Fremden kam, auch nicht einen Augenblick aus der Fassung gebracht, auf ihren Oheim zuschritt, ihm mit kühler Artigkeit die Hand reichte, mit genau demselben Ausdruck der Tante die Wange zum Kusse bot, sich dann emporrichtete und Beiden gegenüberstand, so entschieden, so hoheitsvoll und selbstbewußt, als wolle sie gleich im ersten Moment der Begrüßung gegen jede etwaige Bevormundung oder Unterordnung ihrerseits protestieren.

Die Thür fiel zu und wie aus einem Traum erwachend fuhr der Professor auf und blickte sich nach Friedrich um. Der arme Bursche stand noch immer am Fuß der Treppe; die Blumen waren seinen Händen entfallen, und regungslos starrte er der schönen stolzen Erscheinung nach, die ihn so herb abgewiesen. Sein Herr legte die Hand auf seine Schulter.

„Komm mit hinauf, Friedrich.“

Bei dieser Anrede kam einiges Leben in die Züge des Burschen, die allmählich den Ausdruck tiefster Gekränktheit annahmen, er fuhr mit der Hand durch sein staubblondes Haar und blickte mit den hellblauen Augen, in denen ein paar bittere Thränen standen, seinen Herrn an.

„Ja, was habe ich denn eigentlich gethan?“ fragte er im kläglichsten Tone.

„Laß gut sein, Friedrich,“ sagte der Professor gepreßt. „Die junge Dame ist vermuthlich an diese deutsche Art des Empfanges nicht gewöhnt, Komm jetzt.“

Friedrich gehorchte, er bückte sich nach seinem Bouquet und hob es auf, beim Anblick desselben aber schien sich seine bisherige Gekränktheit in Zorn zu verwandeln. Mit dem Ausdruck vollster Wut ergriff er den Strauß und schleuderte ihn weit hinaus in den Garten.

„Friedrich!“ Der Ruf und der ernste Ton seines Herrn brachte den Burschen sofort zur Besinnung.

„Ich komme schon, Herr Professor!“ antwortete er demüthig, und mit der Hand die Thränen aus dem Auge wischend, schlich er mit gesenktem Haupte hinter seinem Herrn die Treppe hinauf.

[261] Mehr als sechs Wochen waren bereits seit der Ankunft der jungen Amerikanerin verstrichen, und noch immer war und blieb sie fremd im Hause ihrer Verwandten. An diesen lag die Schuld nicht, sie kamen ihr vom ersten Augenblick an mit warmer Herzlichkeit entgegen. Doctor Stephan und seine Frau gehörten zu jenen guten, harmlosen Leuten, deren einziges Bestreben darauf gerichtet ist, mit aller Welt in Frieden zu leben, und sich durch nichts in dem gewohnten behaglichen Gleichgewicht stören zu lassen, und der verstorbene Forest beurtheilte seinen Schwager ganz richtig, wenn er behauptete, dieser habe ihm die für seine damaligen Verhältnisse bedeutende Summe zur Reise nach Amerika vorgestreckt, zum Theil aus gutem Herzen, größtentheils aber in dem Bestreben, den gefährlichem Demagogen, der die ganze, sonst so loyale Familie in Argwohn und Verdacht zu bringen drohte, endlich los zu werden. Der Doctor hatte in der That seine Schwester stets aufrichtig bedauert, daß sie ihr Schicksal an diesen unseligen Mann gekettet, der in seinem Hochmuth und Starrsinn die Seinigen lieber darben ließ, ehe er von ihren Verwandten die geringste Unterstützung annahm, und war fest überzeugt, der wilde, excentrische Kopf werde in dem praktisch nüchternen Amerika vollends zu Grunde gehen. Es kam anders, und der Erfolg that, wie überall, auch hier seine Schuldigkeit. Hatten Stephan und seine Frau es früher ängstlich vermieden, den Namen Förster, als in irgend einer Beziehung zu ihnen stehend, zu erwähnen, so sprachen sie jetzt gern und oft von ihrem Schwager, „dem Millionär“ jenseits des Oceans, und der angekündigte Besuch von dessen Tochter versetzte sie in nicht geringe Aufregung. Die verwaiste Nichte hätte, selbst wenn sie arm und hülflos zu ihnen gekommen wäre, offene Arme gefunden, die junge Erbin aber empfingen sie mit dem allertiefsten Respect, und das war es ja auch hauptsächlich, was Jane beanspruchte. Sie setzte gleich anfangs jedem etwaigen Versuche zur Autorität über sie eine so absolute Selbstständigkeit entgegen, daß ihre Verwandten bald genug zu der Ueberzeugung gelangten, es sei der jungen Dame weder damit, noch überhaupt in irgend einer Weise nahe zu kommen. Sie hatten ihr, mit Rücksicht auf ihr Vermögen, gern jede Laune und jeden Fehler verziehen, was sie ihr aber nicht verzeihen konnten, das war jene fortwährende Kälte und Abgeschlossenheit, durch die nie ein Strahl von Wärme drang, und die jede Vertraulichkeit, freilich auch jede Differenz unmöglich machte. Zwar verrieth Jane niemals mit einem Worte oder Blicke die leiseste Unzufriedenheit mit dem Hause, worin sie Gast war, aber die mitleidige Verachtung, mit der die im Schooße amerikanischen Reichthums und Luxus Erzogene sich in die einfach bürgerliche Lebensweise fügte, ward doch gefühlt und verletzte darum nicht weniger; kurz, es galt dem Ehepaar schon nach den ersten Tagen des Zusammenseins für ausgemacht, daß ihre Nichte das hochmüthigste und herzloseste Geschöpf auf der Welt sei.

In einer Hinsicht thaten sie Jane damit Unrecht, zum Mindesten wurzelte ihr Hochmuth nicht in dem Bewußtsein ihres Reichthums und ihrer persönlichen Vorzüge, sondern einzig in der geistigen Ueberlegenheit, mit der sie so ziemlich Alles beherrschte, was überhaupt in ihren Gesichtskreis kam, und die sich bald genug auch in weiteren Kreisen fühlbar zu machen begann. In der großartigen Freiheit des amerikanischen Lebens aufgewachsen und durch den Vater mehr als jede Andere darin eingeweiht, an den unbeschränkten Verkehr der Stände untereinander, an zwangslose Umgangsformen gewöhnt, fand sie die Rücksichten, welche man hier auf die leitenden Persönlichkeiten nahm, sclavisch, die Abgeschlossenheit der einzelnen Kreise lächerlich, und die im Gesellschaftsverkehr unvermeidlichen Titel und Ceremonien riefen nun vollends ihren herbsten Spott hervor. Ihre Verwandten schwebten oft genug in Todesangst, wenn sie mit diesen Anschauungen in Gegenwart Fremder hervortrat, indessen sie hätten sich beruhigen können. Miß Forest war Amerikanerin und, wie das Gerücht wenigstens behauptete, Millionärin, zwei Eigenschaften, die ihr einen Freibrief für Alles, gaben, was eine Andere sich nie hätte erlauben dürfen, und dies um so mehr, als ihre Verlobung Geheimniß geblieben war. Es gab kaum eine angesehene Familie in der Stadt, die nicht für irgend einen Anverwandten Hoffnungen auf diese „immense Partie“ hegte, und so sah sich Jane gleich bei ihrem Eintritt von allen Seiten umschwärmt und gefeiert, was ihr nun allerdings nicht besonders neu war. Man war entzückt von ihrer Schönheit, die doch im schroffsten Gegensatz zu der heiteren, blühenden Frische der jungen Rheinländerinnen stand, man schmeichelte ihrem Stolz, der so oft verletzte, bewunderte ihren Geist, den sie meistens gar nicht zu zeigen für gut fand, und vollends die studirende Jugend, die ohne Ausnahme diesem so plötzlich aufleuchenden fremden Meteor zu Füßen lag, ließ keine Möglichkeit unbenutzt, sich ihm in irgend einer Weise zu nähern und Huldigungen darzubringen. Aber keiner von all diesen Bestrebungen gelang es, auch nur für einen Augenblick die eisige Gleichgültigkeit und den kalten Ernst zu durchdringen, mit denen sich die junge Dame, getreu [262] den Traditionen ihres Vaters, wie mit einem Panzer umgab, seit sie sich in Deutschland befand.

Doctor Stephan besaß ein hübsches Haus im schönsten Theile von B., dessen unteren Stock er allein bewohnte, der obere war an den Professor Fernow vermiethet, der, vor ungefähr drei Jahren an die Universität berufen, seit dieser Zeit die Wohnung inne hatte. Ein in der ganzen Gelehrtenwelt Epoche machendes wissenschaftliches Werk hatte dem noch jungen Manne den für seine Jahre bedeutenden Erfolg, die Professur in B., verschafft; er war völlig fremd, ohne Empfehlungen und Bekanntschaften, nur in Begleitung seines Dieners hierhergekommen, und hatte bereits mit seinen ersten Vorlesungen die vollste Aufmerksamkeit der Collegen und das vollste Interesse der Studirenden erregt. Bei diesem Erfolge blieb es aber auch; der Professor war nicht der Mann, der es verstand, ihn auszunützen ober sich selbst in irgend einer Weise geltend zu machen. Er vermied fast ängstlich jeden Verkehr, der ihm nicht durch seine Berufspflichten unumgänglich geboten war; er machte keine Besuche und empfing keine, entzog sich jeder Bekanntschaft, schlug jede Einladung aus und lebte in völliger Zurückgezogenheit seinen Studien. Seine sehr angegriffene Gesundheit mußte ihm dabei stets als Vorwand dienen; anfangs war man in B. wenig geneigt, dies gelten zu lassen, und versuchte dieser seltsamen Abgeschlossenheit Gott weiß welche geheimnißvollen und gefährlichen Motive unterzuschieben, bis man sich schließlich überzeugte, daß der Professor der sanftmüthigste und harmloseste Mensch von der Welt war, den nur seine Leidenschaft für das Studium, im Verein mit seinem wirklich sehr leidenden Zustande, zu dieser Lebensweise veranlaßte. Mehrere Collegen, die ihm durch amtliche Beziehungen näher getreten waren, sprachen sich mit aufrichtiger Bewunderung über dies staunenswerthe Wissen und diese staunenswerthe Bescheidenheit aus, die jede Anerkennung, jedes Hervortreten aus der Verborgenheit förmlich floh, aber sie waren von ganzem Herzen damit einverstanden, denn sie wußten am besten, wie gefährlich dieser Mann ihrer ganzen Autorität hätte werden können, hätte er mit dieser Fülle von Wissen zugleich eine hervorragende Persönlichkeit und einen energischen Charakter verbunden. So ließ man ihn denn unangefochten seinen stillen Weg gehen, seine Gelehrsamkeit ward neidlos geschätzt, seine Vorlesungen wurden zahlreich besucht; im Uebrigen aber spielte er an der Universität so wenig eine Rolle, wie in der Gesellschaft, und lebte mitten in B. wie ein völliger Einsiedler.

Auch Doctor Stephan fand keine Gelegenheit, sich über den stillen Miethsmann zu beklagen, der weder Lärm noch Unruhe in’s Haus brachte, pünktlich den Miethzins zahlte und, wenn er einmal sichtbar ward, stets sehr höflich grüßte, dabei aber jeder längeren Unterhaltung auswich. Der Doctor war fast der Einzige, der bei den leider häufigen Krankheitsfällen des Professors in seine Wohnung und dadurch in näheren Verkehr mit ihm selber kam; der Doctorin aber, die sich des Kranken gern mit mütterlicher Sorgfalt angenommen hätte, gelang dies durchaus nicht, und sie mußte sich begnügen, statt des Herrn den Diener unter ihr häusliches Commando zu nehmen.

Friedrich war nun allerdings weder mit hervorragender Intelligenz, noch mit besonderer Fassungskraft begabt; geistige Fähigkeiten waren ihm überhaupt nur in sehr beschränktem Maße zu Theil geworden; dafür hatte die Natur ihm einen Riesenkörper gegeben, und sonstige Mängel ersetzte er durch eine grenzenlose Gutmüthigkeit und eine wahrhaft rührende Anhänglichkeit an seinen Herrn. Ganz im Gegensatz zu diesem hatte er aber die entschiedenste Neigung, sich Anderen anzuschließen, und war gern bereit, die viele freie Zeit, welche sein Dienst bei dem Professor ihm übrig ließ, für all die kleinen Arbeiten und Hülfeleistungen zu verwenden, wozu ihn die Doctorin im Hause und der Doctor im Garten in Anspruch nahm. Auf diese Weise war er bei Beiden allmählich eine Art Factotum geworden, ohne dessen Hülfe nichts geschehen konnte, und er war es auch gewesen, der mit stundenlanger Mühe und seinem ganzen Aufwande von Denkkraft jene verunglückte Bewillkommnung der jungen Amerikanerin veranstaltet hatte, der er seit jener Scene stets halb scheu und halb grollend auswich.

Der Junimonat ging mit einem drückend heißen Tage zu Ende. In der Wohnung des Professor Fernow war es still wie in einer Kirche zur Wochenzeit, nichts regte sich hier, kein Laut unterbrach die tiefe Stille, welche in diesen Räumen herrschte. Ein Zimmer wie das andere, Bücherschrank an Bücherschrank und darauf die Bände in unendlicher Reihe, niedergelassene Vorhänge, mattes Dämmerlicht – der Geist und das Wissen von Jahrhunderten war hier zusammengehäuft; aber nicht ein einziger frischer Luftzug drang in diese feierliche Abgeschlossenheit. In seinem Studirzimmer, das sich von den übrigen durch nichts, als durch eine vielleicht noch größere Büchermenge unterschied, saß der Professor vor dem Schreibtische, aber er arbeitete nicht, Papier und Feder lagen unbenutzt vor ihm; den Kopf weit in die Lehne des Armsessels zurückgeworfen, die Arme übereinandergeschlagen, blickte er unbeweglich zur Decke empor. Vielleicht war es der auch hier das Fenster verhüllende grüne Vorhang, der seine Züge so seltsam bleich und krank erscheinen ließ; aber auch in der Haltung sprach sich eine unendliche Müdigkeit, eine grenzenlose Abspannung aus, und selbst das Auge verrieth nichts von jenem angestrengten Nachdenken, das vielleicht eben im Begriff ist, ein wissenschaftliches Problem zu lösen; es lag darin nur jene schwermüthige, haltlose Träumerei, die dem Dichter so oft und dem Gelehrten so selten zu nahen pflegt.

Die Thür ward geöffnet, und so leise dies auch geschah, so zuckte der Professor doch mit jener Reizbarkeit zusammen, die nur sehr nervösen Personen eigen ist; auf der Schwelle zeigte sich Doctor Stephan, hinter dem das besorgte, ängstliche Gesicht Friedrich’s sichtbar ward.

„Guten Abend!“ sagte der Doctor vollends eintretend. „Da bin ich, um Ihnen wieder einmal in’s Gewissen zu reden! Es geht schlecht heute, nicht?“

Der Professor blickte ihn befremdet an. „Durchaus nicht, Doctor! Ich befinde mich völlig wohl. Es muß ein Mißverständniß sein; ich habe nicht um Ihren Besuch bitten lassen.“

„Das weiß ich,“ sagte der Arzt ruhig. „Sie bitten überhaupt nicht darum, wenn es nicht gerade auf Tod und Leben geht; aber hier der Friedrich behauptet, daß es mit Ihnen nicht richtig sei.“

„Das ist es auch nicht!“ erklärte Friedrich, der sich vor dem unmuthigen Blicke seines Herrn hinter den Doctor geflüchtet hatte und unter dessen Schutze muthiger ward. „Schon seit lange nicht, und ich weiß auch, wann es anfing; es war der Tag, wo der Herr Professor im Regen ohne Schirm ausging und ohne Plaid mit der amerikanischen Miß zurückkam –“

„Friedrich, Du schweigst!“ unterbrach ihn der Professor plötzlich mit einer solchen Heftigkeit, daß Friedrich erschreckt von dem ganz ungewohnten Tone zurückprallte. „Du thätest überhaupt besser,“ fuhr der Professor fort, „Dich um Deine Obliegenheiten zu kümmern, als Dich in Dinge zu mischen, die Du nicht beurtheilen kannst. Geh jetzt und laß uns allein!“

Der Gescholtene, bestürzt durch diese ungewöhnliche Strenge seines sonst so gütigen Herrn, gehorchte zögernd; der Doctor aber, ohne sich um den Blick des Professors zu kümmern, der deutlich genug auch den Wunsch nach seiner Entfernung verrieth, zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder.

„Sie haben wieder gearbeitet? Natürlich! An diesem herrlichen Sommertage, wo alle Welt in’s Freie eilt, sitzen Sie vom Morgen bis zum Abend, ober vielmehr bis in die Nacht hinein, am Schreibtische. Sagen Sie mir um Gottes willen, wie lange glauben Sie denn, daß das so fortgehen kann, und daß Sie es überhaupt aushalten?“

Der Professor hatte sich, wenn auch mit augenscheinlichem Widerstreben, auf seinen früheren Sitz niedergelassen; er schien noch immer nicht der Erregung Herr geworden zu sein. „Ich werde mich erkältet haben,“ sagte er ausweichend.

„Was da Erkältung!“ unterbrach ihn der Doctor eifrig „Es handelt sich durchaus nicht darum, sondern um das Studium, das bei Ihnen nachgerade zur Manie geworden ist und Sie noch in’s Grab bringen wird, wenn Sie sich keine Erholung gönnen. Wie oft habe ich Ihnen das nun schon vorgepredigt! Aber was soll man mit einem Patienten anfangen, der immer sanftmüthig und geduldig zuhört, immer Ja sagt und dabei stets das Gegentheil von dem thut, was ihm befohlen wird!“

Der Professor hatte in der That mit großer Geduld zugehört. „Ich habe Ihren Anordnungen noch immer Folge geleistet,“ vertheidigte er sich mit leiser Stimme.

„O ja! Buchstäblich! Wenn ich Sie zum Beispiel zu Bett schicke, so legen Sie sich gehorsam nieder, lassen sich eiligst Lampe und Bücher an’s Bett bringen und studiren zur Abwechslung statt [263] bis zwei Uhr Morgens einmal bis vier Uhr. Sie müssen bei alledem eine gute Natur besitzen, um das überhaupt noch zu können; bis jetzt sind es nur Ihre Nerven, die Sie gründlich ruinirt haben; treiben Sie es aber nur ein einziges Jahr noch so fort, so haben Sie die Schwindsucht; darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort!“

Der Professor stützte den Kopf in die Hand und blickte vor sich hin. „Desto besser!“ sagte er resignirt.

Ungeduldig sprang der Arzt auf und schob polternd den Stuhl zur Seite. „Da haben wir’s! Auch noch gar Todessehnsucht! Geht mir mit Eurer Gelehrsamkeit, es ist nichts Gesundes darin, Siechthum an Geist und Körper, das kommt schließlich dabei heraus!“

Fernow war gleichfalls aufgestanden, er lächelte trübe. „Geben Sie mich auf, Doctor; ich lohne Ihre Mühe doch nur mit Undank! Meine Gesundheit ist völlig untergraben, das fühl’ ich selbst am besten, und Sie können mir mit all Ihrem guten Willen und all Ihren Arzneien nicht mehr helfen.“

„Mit Arzneien – nein,“ sagte der Doctor ernst. „Ihnen ist nur mit einer Radicalcur zu helfen; aber ich fürchte, es wird ganz unnütz sein, sie Ihnen anzurathen.“

„Und die wäre?“ fragte der Professor zerstreut, während sein Blick schon wieder auf den Büchern haftete.

„Sie dürfen ein Jahr – aber ein volles Jahr lang keine Feder anrühren, kein Buch auch nur ansehen und vor Allem mit keiner Silbe an die Wissenschaft denken. Statt dessen müßten Sie einmal den Körper tüchtig anstrengen, wenn es nicht anders geht, mit Hacke und Spaten im Garten arbeiten und dabei ordentlich schwitzen, zur Abwechslung einmal auch hungern und dursten, jedem Einflusse der Witterung trotzen. – Sehen Sie mich nicht so erstaunt an, als ob ich Ihnen den directen Weg in’s Jenseits verschriebe; bei einem so völlig zerrütteten Nervensystem wie dem Ihrigen wirken nur noch Gewaltmittel. Es ist meine feste Ueberzeugung, daß eine solche Cur, energisch begonnen und unnachsichtlich durchgeführt, Sie trotz aller Todesahnungen noch retten kann.“

Der Professor schüttelte befremdet den Kopf. „Dann werde ich wohl auf die Rettung verzichten müssen, denn das können Sie sich wohl selbst sagen, Doctor, daß ein solches Tagelöhnerleben ist meiner Stellung unmöglich durchzuführen ist.“

„Leider weiß ich das! Und Sie sind der Letzte, der sich zu solchem Entschlusse aufraffen würde. Nun denn, so studiren Sie in Gottes Namen weiter und bereiten Sie sich auf die Schwindsucht vor. Ich habe genug gepredigt und gewarnt! Adieu!“

Mit diesen im vollsten Aerger gesprochenen Worten nahm der gutmüthige, aber etwas heftige Doctor Stephan seinen Hut und ging zur Thür hinaus; im Vorzimmer aber pflanzte sich die riesige Gestalt Friedrich’s mit einer stummen Frage auf dem ängstlichen Gesicht dicht vor ihm auf. Der Arzt schüttelte den Kopf.

„Mit Deinem Herrn ist wieder einmal nichts anzufangen, Friedrich! Gieb ihm die gewöhnliche Arznei; es ist sein altes Uebel, das wieder –“

„O nein, das ist es nicht!“ unterbrach ihn Friedrich mit großer Bestimmtheit. „Es ist diesmal etwas ganz Neues, und seit dem Tage, wo die amerikanische Miß –“

Der Doctor lachte laut auf. „Nun, Du wirst doch hoffentlich die Ankunft meiner Nichte nicht für die Krankheit Deines Professors verantwortlich machen?“ sagte er, höchlich belustigt von dieser Zusammenstellung.

Friedrich schwieg verwirrt; das war ihm nun allerdings nicht eingefallen; er wußte nur, daß diese beiden Zeitpunkte genau zusammenfielen.

„Nun, und wie ist es denn eigentlich diesmal mit Deinem Herrn?“ examinirte der Doctor.

Verlegen drehte Friedrich die Mütze in den Händen; einer ausführlichen Beschreibung des Zustandes, der ihn so beunruhigte, war seine Rednergabe nicht gewachsen. „Ich weiß nicht – aber es ist ganz anders als sonst,“ beharrte er hartnäckig.

„Unsinn!“ sagte der Doctor kurz. „Das muß ich besser wissen. Du giebst ihm die gewöhnliche Arznei, und dann sieh zu, daß Du ihn heute wenigstens vom Schreibtische weg in’s Freie bringst; aber gieb Acht, daß er sich dabei nicht zur besonderen Erholung einige Folianten einpackt. Hörst Du?“

Damit stieg der Arzt die Treppe hinunter und fragte unten in der Wohnung angekommen nach seiner Nichte.

„Sie ist ausgegangen!“ berichtete die Frau Doctorin ihm in völlig übler Laune. „Bereits seit vier Uhr und wie gewöhnlich wieder ganz allein. Ich bitte Dich, Stephan, sprich Du doch einmal mit ihr und stelle ihr das Unpassende und Abenteuerliche dieser stundenlangen einsamen Spaziergänge vor Augen.“

„Ich?“ sagte der Doctor, durchaus nicht erbaut von dieser Zumuthung. „Nein, liebes Kind, das ist Deine Sache, das mußt Du mit ihr besprechen.“

„Besprechen!“ rief die alte Dame gereizt, „als ob man überhaupt bei Jane dazu gelangen könnte! Sobald ich mit einer leisen Hindeutung darauf oder auf irgend eine der anderen Freiheiten anfange, die sie sich nimmt, bekomme ich sofort das unvermeidliche ‚Liebe Tante, bitte, Sie überlassen das wohl meiner Beurtheilung‘, zu hören und damit ist jedes fernere Wort abgeschnitten.“

Der Doctor zuckte die Achseln. „Glaubst Du etwa, daß es mir besser geht?“

„Aber die halbe Stadt spricht bereits über die Freiheiten des Mädchens!“ eiferte die Doctorin. „Man macht uns verantwortlich dafür und begreift nicht, wie wir so etwas dulden können.“

„Wirklich?“ sagte Doctor Stephan mit philosophischer Ruhe. „Nun, dann wünsche ich Allen, die darüber sprechen, daß sie Jane nur eine einzige Woche im Hause hätten, um ihre Autorität zu probiren; es würde ihnen bald die Lust dazu vergehen. Jane mit ihrer Schroffheit und der Professor da oben mit seiner Sanftmuth, das sind zwei Starrköpfe, gegen die ganz B. nichts ausrichtet; dazu giebt es bei denen nur eine Möglichkeit – ihnen den Willen zu thun!“




Der Doctor hatte Recht, Miß Forest kümmerte sich in der That sehr wenig darum, ob man ihre einsamen Ausflüge ist B. passend fand oder nicht, es gefiel ihr eben so. Nicht, daß sie eine besondere Neigung für einsames, träumerisches Umherstreifen hegte, dergleichen lag ihr fern, aber sie wünschte die Umgebung der Stadt kennen zu lernen, und da sie nach Atkins’ Entfernung Niemand fand, den sie ihrer Begleitung für würdig hielt, so ging sie einfach allein.

So hatte sie auch wieder, nachdem ein längerer Spaziergang sie stundenweit von B. entfernt, den Ruinenberg erstiegen, von dessen Gipfel die Trümmer einer uralten Burg weit in’s Land hineinblickten. Ermüdet von dem weiten Gange ließ sie sich auf einem Ueberrest der alten Ringmauer nieder und sah, an das Gestein gelehnt, hinaus in die Landschaft. Jetzt war der Nebelschleier weggezogen, der sie am Tage ihrer Ankunft so dicht und düster eingehüllt, und was er damals ihren Augen verbarg, lag jetzt, vom reichsten Sonnengold umflossen, zu Jane’s Füßen ausgebreitet.

Sie lehnte sich tiefer in den Schatten der Mauer zurück. Es ging ihr seltsam mit diesen deutschen Landschaften, es wehte sie daraus etwas an, was sie beim Anblick der großartigste Naturscenen nie empfunden, ein Hauch von Wehmuth, von Sehnsucht, von Heimweh. Heimweh! Sie hatte das Wort nie verstanden, nicht als sie die Mutter daran sterben sah, nicht als es dem Vater in seinen letzten Lebensstunden so überwältigend nahte; erst seit sie den Boden betreten, dem sie, fremd in allem Anderen, doch durch das heilige Recht der Geburt angehörte, regte es sich bisweilen in ihr dunkel und mächtig, wie eine ferne, halb verklungene Erinnerung an die erste Jugendzeit, als der Vater ihre Erziehung noch nicht so energisch überwachte und sie noch gänzlich der Mutter überlassen war, die mit den Märchen und Liedern der alten Heimath auch in dem Kinde jenes Sehnen wach rief, welches das Eingreifen des Vaters später so völlig vernichtet und in Bitterkeit verwandelt hatte. Es war ein seltsames, ein für Jane beinahe unheimliches Gefühl, und sie wußte genau den Moment, wo es begonnen. Nicht bei einem großartigen Rundblick, wie dem jetzigen, war es gewesen, nicht bei den reichen Landschaftsbildern der Rheintour, die sie erst kürzlich mit ihrem Oheim und Atkins unternommen; im Nebelgeriesel der Landstraße, am Rande jener Fliederhecke, aus deren Knospen das erste Grün hervorbrach, als die grauen Schleier ringsum Alles enthüllten und nur das Rauschen des Stromes zu ihr herüberdrang – da war es zum ersten Mal [264] aufgewacht, und es haftete sonderbarer Weise immer an der Gestalt des Mannes, der damals neben ihr gestanden. Jane dachte nur selten und überhaupt nur mit einem gewissen Widerwillen an jene Begegnung, es lag darin, trotz der Lächerlichkeit des Helden, etwas von jener Romantik, die die verstandesklare Tochter Forest’s so sehr verabscheute, und auch jetzt war sie im Begriff, die zudringliche, immer wiederkehrende Erinnerung in ihre Schranken zurückzuweisen, als ihr dies unmöglich gemacht wurde – ein Tritt ließ sich in unmittelbarer Nähe vernehmen und Professor Fernow selbst bog um die Mauerecke.

Einen Moment lang kam Jane beinahe aus der Fassung über die plötzliche Erscheinung, die so eigenthümlich mit ihren Gedanken zusammenfiel, der Professor aber schien förmlich erschreckt von ihrem unvermutheten Anblick. Er wich zurück und machte eine Wendung zur Umkehr, plötzlich aber schien ihm das Auffallende einer solchen Flucht klar zu werden, nach einem Moment des Zögerns verneigte er sich stumm und schritt nach der andern Seite der Mauer, wo er seinen Standpunkt möglichst entfernt von der jungen Dame, und doch, bei der Enge des Raumes, nicht eben allzu weit einnahm.

Es war das erste Mal, daß die Beiden sich nach jenem Zusammentreffen auf der Landstraße wieder miteinander allein fanden. Die gelegentlichen unvermeidlichen Begegnungen im Hause und Garten waren von Seiten des Professors stets mit einem scheuen Gruße, von Seiten Jane’s mit einer kühlen Erwiderung abgemacht worden, ein längeres Gespräch hatten Beide mit gleicher Consequenz vermieden und es schien, als wollten sie dies auch heute fortsetzen. Der Professor war erschöpft und athemlos angekommen; weder die Erhitzung des stundenlangen Weges, noch die Anstrengung des Steigens, womit er dem Befehle des Arztes zu einer mäßigen Bewegung im Freien so gewissenhaft nachkam, hatten es vermocht, sein Antlitz zu röthen, auf dem noch immer jene fahle Blässe lag, wie am Nachmittage, und dazu die tiefen Linien auf der Stirn des noch jungen Mannes, die dunkeln Ringe um die Augen – das Alles bestätigte nur zu sehr, was Jane oft genug von ihrem Oheim gehört, daß der Professor sich zu Tode arbeite, und seine Tage gezählt seien.

Und dennoch – sie mußte immer wieder an jenen Moment denken, wo er mit ihr vor dem überschwemmten Wege gestanden. Das waren nicht die Arme eines Schwindsüchtigen gewesen, die sie so kraftvoll emporgehoben, so leicht und sicher getragen hatten, und selbst das jähe Aufflammen bei ihrem Zweifel an seiner Kraft hatte nichts Krankhaftes gehabt. Sie vermochte es nicht, den Widerspruch zu enträthseln, der zwischen jenem Augenblick und der gewöhnlichen Erscheinung dieses Mannes lag, und der ihr gerade heute schärfer als je vor Augen trat.

„Ersteigen auch Sie öfter den Ruinenberg, Mr. Fernow?“ begann die junge Dame endlich die Unterhaltung, da ihr das hartnäckige Schweigen des Professors keine andere Wahl ließ, und sie nachgerade genug von dem Sonderlinge gehört hatte, um zu wissen, daß in diesem Schweigen nichts Beleidigendes lag.

Er wandte sich beim Klange ihrer Stimme hastig um, und es schien, als raffte er sich mit Anstrengung zusammen, um ihr gegegenüber seiner sonstigen Träumerei und Zerstreutheit Herr zu bleiben.

„Es ist der schönste Punkt in der Umgebung von B. Ich besuche ihn, so oft meine Zeit es erlaubt.“

„Und das ist wohl selten der Fall?“

„Allerdings, zumal in diesem Sommer, wo ich alle meine Kräfte einer größeren Arbeit widmen muß.“

„Sie schreiben wieder ein gelehrtes Werk?“ fragte Jane mit leisem Spott.

„Ein wissenschaftliches!“ berichtigte der Professor mit einigem Nachdruck, den Spott parirend.

Jane warf höhnisch die Lippen auf.

„Sie finden wohl, Miß Forest, daß dies eine ebenso undankbare als unfruchtbare Mühe ist?“ fragte er mit einiger Bitterkeit.

Sie zuckte die Achseln. „Ich muß bekennen, daß ich keine allzu große Ehrfurcht vor der Bücherweisheit hege und daß ich überhaupt nicht begreife, wie man sein ganzes Leben freiwillig einer Wissenschaft zum Opfer bringen kann, die, wie die Ihrige, Mr. Fernow, nur für die Gelehrten von Interesse ist und der übrigen Menschheit stets ein todter, unfruchtbarer Bücherstaub bleiben wird.“

Das war wieder Jane’s entsetzliche Aufrichtigkeit, die den Oheim so oft schon zur Verzweiflung gebracht, der Professor aber schien weder überrascht noch beleidigt dadurch. Er heftete langsam seine großen schwermüthigen Augen auf das Antlitz der jungen Dame, die es schon halb bereute, die Unterredung begonnen zu haben, denn wenn sie auch jetzt diesen Augen besser Stand hielt als das erste Mal, sie riefen doch sofort jene quälende, beängstigende Empfindung wach, deren sie nicht Herr werden konnte.

„Und wer sagt Ihnen denn, Miß Forest, daß es freiwillig geschah?“ fragte er in einem eigenthümlich gepreßten Tone.

„Nun, erzwingen läßt sich eine solche Richtung doch nicht!“

„Aber gewöhnen! Zumal wenn man, heimath- und elternlos in das Leben hinausgeworfen, in die Hände eines Gelehrten fällt, der nichts kennt und liebt auf der weiten Welt als seine Wissenschaft. – Ich ward schon als Knabe an den Büchertisch gekettet, als Jüngling rastlos immer vorwärts getrieben, meine Fähigkeiten aufs Aeußerste angestrengt, bis endlich das Ziel erreicht war. Was ich an Jugend, an Gesundheit und Poesie besaß, ist freilich darüber zu Grunde gegangen, wem aber der ‚Bücherstaub‘ solche Opfer gekostet, den hält er damit unauflöslich fest für den Rest des Lebens. Mir ist darin jede andere Sehnsucht und jede – Hoffnung untergegangen.“

Es lag eine düstere Resignation in diesem Geständniß, und es war ein seltsam schmerzlicher Blick, der bei den letzten Worten Jane’s Antlitz streifte und eine Art von Zorn gegen ihn und gegen sich selbst in ihr wachrief. Warum konnte sie nicht ruhig bleiben unter diesem Blick? Ueberhaupt, wenn irgend etwas den Professor in ihren Augen herabsetzte, so war es dies Geständniß. Also nicht einmal mit Ueberzeugung und Begeisterung, sondern aus Gewohnheit, aus einfachem Pflichtgefühl arbeitete er sich zu Tode! Ihrer energischen Natur erschien dies passive Ausharren bei dem, wie es schien, halb erzwungenen Berufe unendlich erbärmlich. Freilich, wer nicht Kraft und Muth besaß, den Aufschwung in’s Leben zu wagen, der konnte immerhin im „Bücherstaub“ zu Grunde gehen.

Der Professor hatte sich plötzlich mit einer raschen Bewegung von ihr ab der Aussicht zugewendet, und auch Jane blickte jetzt hinaus in die Landschaft, die soeben aufglühte in den letzten Strahlen der sinkenden Sonne. Die rothe Gluth überstrahlte in flammender Pracht den Abendhimmel, auf dessen purpurnem Grunde sich das blaue Gebirge drüben in klaren, duftigen Linien emporhob, sie umfloß alle die Städte und Dörfer, die am Fuße der Berge hingelagert erschienen, mit leuchtendem Glanz, sie funkelte und blitzte in den grüngoldigen Wogen des Stromes, der ruhig und majestätisch dahinzog, weit hinaus in die schimmernde Ebene, wo am Horizont, fern und undeutlich, wie ein riesiges Nebelbild, der mächtige Dom aufragte, der Stolz und die Krone des alten Rheinstromes.

Und der Wiederschein jener Gluth lag auf dem grauen verwitterten Gestein der alten Burg, auf dem dunkeln Epheu, der sie mit seinen dichten grünen Netzen umspann, während die üppig wirren Ranken, weit über den Abgrund hinaushängend, im Abendwinde auf und nieder flatterten, und auf dem Antlitz der Beiden dort oben.

Jane war einige Minuten lang so versunken in den Anblick dieser wundervollen Beleuchtung, daß sie es gar nicht bemerkte, wie der Professor auf einmal dicht neben ihr stand, und jetzt war sie es, die fast zusammenschreckte bei dem Klange seiner Stimme.

„Kann unser Rhein auch Ihnen einen Moment lang Bewunderung abgewinnen?“ fragte er im Tone eigenthümlicher Genugthuung.

„Mir?“ In Jane tauchte plötzlich der Gedanke auf, er könne etwas von der „Schwäche“ errathen haben, der sie sich schon öfter in dieser Hinsicht schuldig gemacht; zwar behauptete sie stets eine unbedingte Herrschaft über ihre Züge, es konnte eben nur eine Voraussetzung sein, aber selbst diese Voraussetzung ärgerte sie.

„Mir?“ wiederholte sie eiskalt. „Sie mögen theilweise Recht haben, Mr. Fernow, ich finde Einzelnes in dieser Landschaft ganz hübsch, wenn sie mir auch im Ganzen etwas beschränkt und dürftig erscheint.“

„Beschränkt! Dürftig!“ wiederholte der Professor, als habe er nicht recht vernommen, während sein Blick ungläubig und zweifelnd auf ihrem Gesichte ruhte.

[266] „Ja, wenigstens ich nenne sie so!“ erklärte Jane, noch mehr gereizt durch diesen Blick, mit hochmüthiger Ueberlegenheit. „Wer, wie ich, an den Ufern des Riesenstromes gelebt hat, wer die Großartigkeit eines Niagara, die Majestät eines Urwaldes kennt, dem können diese deutschen Landschaften doch nur kleinlich erscheinen.“

In dem Gesicht des Professors stieg eine leise Röthe auf, ein Zeichen, daß auch er begann, gereizt zu werden.

„Wenn Sie es nach den großen Räumen messen – ja, Miß Forest. Wir pflegen einen anderen Maßstab anzulegen, der Ihnen vielleicht auch kleinlich vorkommt; ich versichere Ihnen aber, daß uns danach Ihre Landschaften unendlich leer und öde, daß sie uns völlig todt erscheinen würden.“

„Wirklich? Wissen Sie das so genau?“

„Allerdings!“

„Ich bewundere Sie aufrichtig, Mr. Fernow,“ sagte Jane mit beißender Ironie, „daß Sie ohne eigene Anschauung ein so begründetes Urtheil zu geben vermögen. Sie scheinen unsern Mississippi für eine Wüste zu halten und sollten doch mindestens aus Ihren Büchern wissen, daß das Leben, das sich dort regt, unendlich zahlreicher und großartiger ist, als hier an Ihrem Rheinstrom.“

„Ein Alltagsleben!“ rief der Professor immer erregter werdend, „ein Ameisenarbeiten, im rastlosen Ringen immer nur auf den Erwerb, auf den Augenblick gerichtet! Ihr Riesenstrom, Miß Forest, mit allen seinen tausend Dampfern und Booten, mit seinen volkreichen Städten und üppigen Ufern kann Ihnen doch niemals geben, was die kleinste Welle des Rheines uns entgegenrauscht, den Zauber der Vergangenheit, die Geschichte von Völkern, die Poesie von Jahrhunderten. Uns,“ hier fiel Fernow urplötzlich und unbewußt aus dem Englisch, in dem er bisher mit ihr gesprochen, in’s Deutsche, „uns weht und klingt das in tausend Sagen und Liedern aus jedem Waldesrauschen, aus jedem Felsgestein, uns schweben und steigen die mächtigen Gestalten der Vergangenheit nieder von den Burgen, erstehen in den Städten die alten Geschlechter mit ihrer versunkenen Macht und Herrlichkeit, ragen in den Domen die Denkmale unvergänglicher Pracht und Größe zum Himmel empor, uns winkt und lockt die Loreley hinab in die grünen Wogen, uns funkelt und glänzt tief unten in ihrem Grunde der Nibelungenhort – das Alles lebt und rauscht uns in den Wellen unseres Rheines, Miß Forest, und das freilich – kann er einer Fremden nicht sagen.“

Jane hatte anfangs mit Verwunderung, dann mit Staunen, zuletzt in förmlicher Bestürzung zugehört. Was war denn auf einmal mit diesem Manne vorgegangen? Er stand vor ihr, hoch aufgerichtet, das Antlitz überstrahlt von einer leidenschaftlichen Gluth, das Auge flammend in hinreißender Begeisterung, und dazu der machtvolle Klang dieser Stimme, das Feuer dieser Rede, wo sich Wort an Wort, Bild an Bild drängte – es war ihr, als sei auch hier ein Nebelschleier zerrissen, und sie thue einen Blick hinaus in die goldumstrahlte lichte Ferne. Die Hülle sank plötzlich von der bleichen Leidensgestalt, und ein lang Gebanntes trat heraus in seinem wahren Lichte. – Aber Jane Forest war nicht Weib genug, diesem seltsamen Zauber mehr als minutenlang zu unterliegen, und sich nicht sofort mit aller Kraft dagegen zu erheben; es wallte bereits in ihr auf, heiß und feindselig, der ganze Stolz und Trotz ihrer Natur empörte sich gegen diese Macht, der sie sich einige Secunden lang willenlos gebeugt, gegen diesen Bann, der sie so beängstigend umstrickt hielt. Sie mußte ihn zerreißen, koste es, was es wolle, und rasch entschlossen griff sie nach der ersten Waffe, die ihr zu Gebote stand, griff sie zum herbsten Spott.

„Ich wußte nicht, daß Sie Dichter sind, Mr. Fernow!“

Der Professor zuckte zusammen, als habe ein schneidender Mißton ihn berührt; der Schimmer in seinem Antlitz erlosch, sein Auge sank zu Boden.

„Ein Dichter! Ich?“ sagte er leise mit halberstickter Stimme.

„Nun, was Sie eben sprachen, klang doch nicht wie Prosa.“

Fernow athmete tief auf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

„Ich bitte um Verzeihung, Miß Forest, Sie mit dieser Poesie gelangweilt zu haben. Schreiben Sie es meiner Unbekanntschaft mit den Gesellschaftsregeln zu, deren erste ja wohl ist, daß man mit einer Dame nicht von etwas sprechen darf, wofür sie nicht empfänglich ist.“

Jane biß sich auf die Lippen. Dieser „gelehrte Pedant“, wie sie ihn noch heute Morgen genannt, entwickelte sich immer seltsamer: in einem Augenblick poetisch, konnte er im nächsten schon beißend sein; aber gleichviel, diesem Tone war sie besser gewachsen, da konnte sie ihm gleich auf gleich begegnen! Die junge Dame übersah in ihrem Aerger völlig die tiefe und qualvolle Erregung, die den Professor allein zu dieser ihm sonst ganz fremden Bitterkeit aufstachelte, und sie ließ es an dem Stachel nicht fehlen. Jane konnte bereits nicht mehr auf das, wie sie doch wußte, gefährliche Vergnügen verzichten, aus der ruhig träumenden Oberfläche dieses Mannes jene blitzartigen Erregungen hervorzurufen, die eine ihm vielleicht selbst unbewußte leidenschaftliche Tiefe verriethen. Sie fühlte, daß er nur in Augenblicken höchster Begeisterung oder höchster Gereiztheit dessen fähig war, und da es nicht in ihrer Macht stand, ihn zu begeistern, nun, so reizte sie ihn dafür.

„Ich bewundere um so mehr, Mr. Fernow, daß Sie sich diese Empfänglichkeit so außerordentlich bewahrt haben, aber freilich, im Träumen und Dichten waren uns die Deutschen stets voraus!“

„In zwei Dingen, die unendlich tief in Ihrer Achtung stehen.“

„Wenigstens bin ich der Meinung, daß der Mann zu Thaten und nicht zum Träumen geschaffen ist! Das Dichten ist ja nur thatenloses Träumen!“

„Und folglich verachten Sie es?“

„Ja!“ Jane war sich vollkommen der Härte bewußt, mit der sie dies schroffe Ja aussprach, aber sie war herausgefordert worden, sie wollte jetzt verletzen, und es schien in der That, als gelänge ihr das. Auf der Stirn Fernow’s brannte eine dunkle Röthe; seltsam – er hatte es so ruhig hingenommen, als sie versuchte, seine Wissenschaft herabzusetzen, ihren Angriff auf das Dichten ertrug er nicht.

[277] „Sie sollten,“ ergriff der Professor das Wort, „mit Ihrer Verachtung etwas weniger freigebig sein, Miß Forest, und es giebt Dinge, die deren würdiger sind, als unsere Poesie.“

„Für die ich nicht empfänglich bin.“

„Für die Sie es nicht sein wollen, und die sich ihr Recht ebenso erzwingen wird, wie die Heimath, deren Zauber Sie vorhin unterlagen, gerade in dem Moment, wo Sie sie klein und dürftig nannten.“

Jane war einen Augenblick sprachlos vor Ueberraschung und Zorn. Wer lehrte diesen Menschen, der in seiner Träumerei und Zerstreutheit so oft das Einfachste, Nächstliegende vergaß, ihr so tief in’s Innerste blicken, ihr, deren Züge nie verriethen, was dort innen vorging? Wer hieß ihn mit so empörender Klarheit Empfindungen aufdecken, die sie sich selbst noch nicht gestanden? Zum ersten Male gewann jene unerklärliche Beklemmung, die sie stets in seiner Gegenwart befiel, einen bestimmten Anhalt; sie fühlte dunkel, daß ihr von diesem Manne irgend eine Gefahr drohe, daß sie ihn fern halten müsse um jeden Preis, selbst um den einer Beleidigung.

Miß Forest richtete sich mit ihrer ganzen Hoheit empor und maß den Professor vom Kopf bis zu den Füßen. „Ich bedaure, Mr. Fernow, daß Ihr Scharfblick Sie diesmal getäuscht hat. Ueber meine Sympathien und Antipathien steht mir wohl allein das Urtheil zu; im Uebrigen versichere ich Sie, daß ich Sentimentalität und Träumerei, gleichviel in welcher Gestalt, gründlich hasse, und daß mir nichts auf der ganzen Welt so zuwider ist als – Federhelden!“

Das Wort war heraus, und als habe er eine Wunde empfangen, so zuckte der Professor auf unter diesem Hohne. Die jähe Flamme loderte wieder in seinem Antlitz empor und aus den blauen Augen sprühte ein Blitz, daß jede Andere als Jane davor gebebt hätte; einen Moment lang schien eine wilde leidenschaftliche Entgegnung auf seinen Lippen zu schweben; dann wandte er sich plötzlich seitwärts und legte die Hand über die Augen.

Jane stand unbeweglich; jetzt hatte sie ihren Willen, der Sturm war wachgerufen wie damals, als er sie so plötzlich emporgehoben. Was nun?

Nach einer secundenlangen Pause wendete sich Fernow wieder zu ihr. Sein Gesicht war wieder bleich, aber vollkommen ruhig und seiner Stimme fehlte jener eigenthümlich vibrirende Klang, den sie während der ganzen Unterredung gehabt.

„Sie scheinen zu vergessen, Miß Forest, daß auch die Vorrechte einer Dame ihre Grenzen haben. Wenn man Ihnen in der Gesellschaft aus, wie ich fürchte, sehr eigennützigen und persönlichen Motiven erlaubt, darüber hinauszugehen, so möchte ich Sie daran erinnern, daß ich nicht zu dieser Gesellschaft gehöre und directe Beleidigungen nicht dulde. Einem Manne würde ich anders geantwortet haben. Ihnen – kann ich nur versichern, es wird hinfort meine eifrigste Sorge sein, daß unsere Wege sich nicht wieder kreuzen.“

Und mit einer Verbeugung, genau so vornehm kalt, so hochmüthig, wie sie der jungen Dame selbst gegen mißliebige Personen zu Gebote stand, drehte er ihr den Rücken und verschwand hinter der Mauer.

Jane blieb zurück in einer Art von Betäubung, die erst allmählich dem Bewußtsein dessen Platz machte, was man sich eigentlich gegen sie erlaubt hatte. Beschämt, ausgescholten, zurechtgewiesen! sie, Jane Forest! von diesem armseligen Gelehrten, auf den sie bis zu dieser Stunde noch mit mitleidiger Verachtung herabgeblickt hatte! Freilich, mit der Verachtung war es jetzt vorbei, wer konnte aber auch ahnen, daß dieser Mann, so scheu, so unbeholfen im gewöhnlichen Leben, sich in einem Moment, wo die conventionellen Schranken fielen, so enthüllen würde! Jane empfand mitten in ihrer Aufregung doch etwas wie eine tiefe Genugthuung, daß er sich gerade ihr und nur ihr allein von dieser Seite zeigte, aber das minderte ihren Zorn durchaus nicht, so wenig wie das Bewußtsein, daß sie ihn absichtlich bis zum Aeußersten getrieben und die Entgegnung eine verdiente war. Eins wenigstens war diesem deutschen Professor gelungen, was bisher noch Niemand vermocht hatte: die eisige Kälte, welche die junge Dame bisher Allem entgegensetzte, zu durchbrechen und statt ihrer eine Leidenschaftlichkeit wach zu rufen, die ihm freilich am feindseligsten war. Jetzt haßte sie diesen Mann, der ihr die erste Demüthigung aufgezwungen, haßte ihn mit der ganzen Energie einer stolzen, verwöhnten Natur, die sich bisher für unnahbar gehalten und jetzt zum ersten Male ihren Meister fand. Die kostbaren Spitzen ihres Taschentuches mußten es entgelten, sie lagen zerpflückt am Boden, es kümmerte sie nicht, daß die Dunkelheit hereinbrach, daß sie zwei Stunden weit von B. entfernt war und zu Fuß dorthin zurück mußte, es kümmerte sie überhaupt nichts nach diesem Auftritt. Mit einer heftigen Bewegung raffte sie ihren Hut vom Boden auf und stieß verächtlich mit dem Fuße die Epheuranken fort, die sich um ihr Kleid schlangen.

[278] „‚Es wird hinfort meine eifrigste Sorge sein, Ihren Weg nicht wieder zu kreuzen!‘ Nun, Mr. Fernow ich kreuze den Ihrigen gewiß nicht, und so war das hoffentlich ein Abschied für immer!“

Jane hob den Kopf mit einem Ausdruck, als sei sie bereit der ganzen Welt damit Trotz zu bieten, und eilte dann raschen Schrittes den Fußweg hinab in’s Thal, wo bereits dunkle Schatten lagerten, während oben die Dämmerung ihre grauen Schleier dichter und dichter um die alten Burgtrümmer und um die Stelle wob, wo zwei Menschenherzen einander so nahe begegnet und so feindselig geschieden waren.




Vom Landungsplatz des Dampfers her schritten einige Tage später zwei Herren in eleganter Reisekleidung die Straße hinauf, in der das Haus des Doctor Stephan lag.

„Eilen Sie nicht so, Henry!“ sagte der Aeltere etwas mißmuthig. „Ich kann Ihnen in der Hitze nicht folgen, und was soll Miß Jane denken, wenn sie sich zufällig am Fenster befände, und Sie in diesem Sturmschritt ankommen sähe!“

Die Mahnung, sehr überflüssig bei jedem ähnlichen Wiedersehen, schien gleichwohl hier völlig an ihrem Platze zu sein, Alison mäßigte, als sei er in der That auf einer Ungehörigkeit betroffen, seinen Schritt und wandte den Blick, der ungeduldig die Häuser musterte, seinem Begleiter zu.

„Das war ein überraschendes Zusammentreffen!“ fuhr Atkins fort. „Wir glaubten Sie noch in London; war es nicht Ihr Plan, von dort direct nach Paris zu gehen?“

„Allerdings, aber dann wäre ich erst im Herbst nach dem Rhein gekommen, und da Miß Forest seit Wochen bereits in B. ist, so nahm ich den Umweg, um sie wenigstens auf einige Tage zu sehen. – Was mich jedoch sehr überraschte, war Ihr Entschluß, sie nach Deutschland zu begleiten“.

„Sie meinen, weil ich von jeher darauf geschimpft habe?“ sagte Atkins gleichmüthig. „Allerdings bildet das auch hier meine Hauptbeschäftigung, es ist das einzig Praktische in diesem verkehrten Lande; aber ich bin doch nun einmal dem Namen nach Vormund von Miß Jane, und obgleich sie in allen Dingen mehr als selbstständig ist – beiläufig, Henry, Sie werden das auch noch zur Genüge erfahren – hielt ich es doch nicht für passend, sie die Reise über den Ocean so ganz allein machen zu lassen. Da ich überdies die Herren Deutschen, mit denen unser Nordamerika ja jetzt förmlich gepflastert ist, zur Genüge kenne, so konnte ich mir den Genuß nicht versagen, sie bei dieser Gelegenheit auch einmal in ihrem eigenen gelobten Lande zu bewundern. – Sie sind mir hoffentlich dankbar, daß ich Ihrer Braut zur Seite blieb?“

„Gewiß!“ stimmte Alison in etwas kühlem Tone bei. „Ich bin nur erstaunt, daß die Angelegenheiten Miß Forest’s Ihnen eine so lange Abwesenheit gestatten.“

Der alte Sarkasmus trat in seiner vollen Schärfe wieder auf das Gesicht Mr. Atkins’, als er beißend erwiderte: „Beruhigen Sie sich, Henry, Ihr künftiges Vermögen ist in sicheren Händen.“

„Ich fragte nicht in meinem Interesse,“ sagte Alison gereizt.

„Aber in dem von Miß Jane, das binnen Jahresfrist auch das Ihrige ist. Nun, ärgern Sie sich nicht! Es ist natürlich, daß Sie sich darum kümmern, und ich bin Ihnen wohl einige Auskunft schuldig. Sie wissen vermuthlich, daß der verstorbene Mr. Forest schon während der letzten Jahre sein Vermögen fast gänzlich aus dem Grundbesitz zog und in Werthpapieren anlegte. Sie sind sicher deponirt, die übrigen Geschäfte wurden in den zwei Monaten nach seinem Tode erledigt, die Besitzung ist in zuverlässiger Obhut – ein Vermögen, das meiner Verwaltung anvertraut ist, wird nicht einer Vergnügungsreise wegen leichtsinnig preisgegeben, Mr. Alison.“

Henry hatte trotz seiner Gereiztheit doch mit ziemlicher Aufmerksamkeit und Genugthuung zugehört, er wußte jetzt das Nöthige und fragte daher, rasch den Gegenstand wechselnd:

„Und wie finden Sie Deutschland?“

„Langweilig! Wie ich es mir gedacht habe, und das Leben in diesem gelehrten B. hier nun vollends nicht zum Aushalten! Ich versichere Ihnen, Miß Jane bringt dem Wunsche ihres Vaters ein Opfer mit diesem Aufenthalt; ich verließ sie bereits gründlich gelangweilt von all den Rücksichten, Steifheiten und Gemüthlichkeiten, zwischen denen sie rettungslos eingekeilt ist, und vor denen ich die Flucht nahm.“

„Also deshalb gingen Sie nach Hamburg?“

„Nein! Ich hatte Geschäfte dort!“

„Benutzen Sie die europäische Reise zu Geschäftsangelegenheiten?“ fragte Alison aufmerksam werdend.

„Ich nicht! Es handelt sich um Mr. Forest’s Interessen. Eine alte Schuld, die wir oft genug vergeblich eingefordert haben.“

Das Interesse des jungen Kaufmanns war jetzt gleichfalls rege geworden.

„Ist der Posten von Bedeutung?“ fragte er angelegentlich.

„Ja.“

„Und Sie hoffen ihn jetzt einzuziehen?“

„Ich hoffe es.“

„Dann wünsche ich Ihnen Glück!“ sagte Alison lebhaft. „Es ist stets angenehm für einen Geschäftsmann, wenn dergleichen alte, bereits aufgegebene Schulden getilgt werden.“

„Meinen Sie?“ fragte Atkins boshaft. „Es kann unter Umständen auch eine halbe Million kosten.“

Zum Glück hörte Alison die letzten halblaut gesprochenen Worte nicht, denn er wendete in diesem Augenblick seine ganze Aufmerksamkeit den Fenstern des Hauses zu, vor dem sein Begleiter stehen geblieben war und dessen Klingel er jetzt zog. Die Thür ward von Friedrich geöffnet, der seinen Herrn zurückerwartet und dessen Gesicht sich bedeutend verlängerte, als er den Amerikaner erblickte, der bei seinem Aufenthalt in B. zwar niemals die Gastfreundschaft des Doctors in Anspruch nahm, sondern stets im Hôtel wohnte, aber doch täglich in dem Hause verkehrte, wo sich sein Mündel befand.

„Ist Miß Forest zu Hause?“

„Nein!“

„Und Mr. und Mrs. Stephan?“

„Auch ausgegangen!“

„Werden sie bald zurückerwartet?“

„Jede Minute!“

„Dann thun wir besser, hier im Garten zu warten, als erst in’s Hôtel zurückzukehren,“ wandte sich Atkins zu seinem Begleiter. „Kommen Sie, Henry. – Sie melden der Herrschaft sofort nach ihrer Ankunft mein Hiersein, ich verlasse mich darauf.“

Der mit diesen Worten und einem kurzen vornehmen Kopfnicken abgefertigte Friedrich sah den davonschreitenden Herren mit einem wahren Ingrimm nach. „Noch Einer! Nun bringt er gar den Dritten mit! Die amerikanische Sippschaft wird uns zuletzt noch aus dem Hause treiben. Ich wollte –“ sein fernerer Segenswunsch verhallte in dem dröhnenden Zufallen der Thür, die er mit solcher Gewalt in’s Schloß warf, daß die Fensterscheiben klirrten.

„Was hat denn dieser Mensch?“ fragte Alison, als sie den Garten betraten; „er gab uns in eigenthümlicher Weise die geforderte Auskunft.“

Atkins lachte. „Ein deutscher Bär! Riesig, täppisch, ungeschickt, in dessen geistreichem Kopf nichtsdestoweniger so etwas wie Nationalitätenhaß zu spuken scheint; ich wenigstens kann mich nicht rühmen, je etwas Anderes als diese Bärenmiene bei ihm gesehen zu haben, obgleich er sonst harmlos und gutmüthig bis zur grenzenlosen Dummheit ist.“

„Es ist der Diener des Hauses?“

„Das gerade nicht, vielmehr steht er in Diensten eines – Ah, Mr. Fernow!“ unterbrach sich Atkins plötzlich mit einer Wendung nach dem mittleren Gange, „sehr erfreut, Sie zu sehen!“

Der Professor, der soeben aus der Universität zurückkehrte und, wie gewöhnlich, seinen Weg durch den Garten nahm, erwiderte den Gruß und kam näher.

„Wie geht es Ihnen, Mr. Fernow?“ fragte Atkins herablassend. „Sie sehen angegriffen aus, das kommt von der Gelehrsamkeit! Wollen Sie mir erlauben, Ihnen einen jungen Freund und Landsmann vorzustellen? Mr. Alison! Mr. Fernow, Professor an der Universität und Hausgenosse des Doctor Stephan.“

Landsmann! Hausgenosse! das waren zwei sehr gleichgültige, allgemeine Bezeichnungen, auch legte Atkins nicht den geringsten Nachdruck darauf, dennoch schienen sie den beiden Männern in gleicher Weise aufzufallen. Der dunkle Blick Alison’s heftete sich mit einem plötzlich erwachenden Argwohn scharf und forschend auf das Gesicht des Professors, und die blauen Augen Fernow’s leuchteten auf in peinlicher Ueberraschung, als er mit ungewöhnlicher Energie den Blick zurückgab. Es war, als ahnten die [279] Beiden im ersten Moment ihres Zusammentreffens etwas von einer späteren feindseligen Beziehung, ihre gegenseitige Verbeugung war so kalt und gemessen, als trete Jeder bereits hinter eine unsichtbare Schranke zurück.

Atkins versuchte vergebens mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit ein Gespräch in Gang zu bringen, es ging nicht. Alison hatte für Alles, was gesagt wurde, nur eine kühle, höfliche Zustimmung, und der Professor, noch einsilbiger als sonst, ergriff die erste Gelegenheit, aus der gefürchteten Unterhaltungssphäre in’s Haus zu flüchten; er verabschiedete sich schon nach wenigen Minuten in seiner schüchternen, höflichen Weise von dem älteren Amerikaner, von dessen jungem Begleiter mit einem stummen, zurückhaltenden Gruße, und ließ die Beiden allein.

„Wer ist dieser Mr. Fernow?“ fragte Alison, als der Professor außer Gehörweite war.

„Ich habe es Ihnen ja bereits gesagt. Professor der hiesigen Universität, eine Leuchte der Wissenschaft, ein kostbares Exemplar von einem deutschen Gelehrten, der mit seinen Forschungen nach jahrtausendaltem Gerumpel und Gekritzel sich um die Menschheit verdient macht, und dabei selbst zur Mumie eintrocknet. Uebrigens ein sehr gutgeartetes, unschädliches Exemplar, das sich unendlich komisch in der Rolle eines Ritters und Beschützers ausnahm, die ein alberner Zufall ihm gleich am Tage unserer Ankunft bei Miß Jane zuertheilte.“

Alison, der dem Professor nachgeblickt, wandte sich plötzlich um.

„Bei Miß Forest?“ fragte er hastig. „Doch wohl nicht als ihr alleiniger Beschützer? Hoffentlich waren Sie zugegen?“

„Durchaus nicht! Der Wagen brach uns auf der Landstraße, es regnete in Strömen, ich mußte bei dem verwundeten Postillon zurückbleiben und war froh, Miß Jane dem Schutze des ersten besten Gentleman, in diesem Falle Professor Fernow, zu übergeben, der unsere tragische Gruppe passirte, und dem seine Gelehrsamkeit wenigstens so viel Verstand übrig ließ, die ihm anvertraute Dame glücklich nach B. zu bringen.“

„So?“ sagte Alison scharf. „Und dies Abenteuer leitete natürlich eine nähere Bekanntschaft ein, bei der sich die Beiden, da sie Hausgenossen sind, täglich sehen und sprechen?“

Atkins sah ihn einen Augenblick lang verwundert an, dann brach er in ein lautes Lachen aus.

„Henry, ich glaube gar, Sie sind eifersüchtig! Eifersüchtig auf diesen schwindsüchtigen Professor! Wissen Sie, was dazugehört, in diesen deutschen Universitäten mit ihrer entsetzlichen Gründlichkeit mit dreißig Jahren – und der da ist noch nicht einmal dreißig – schon eine Professur zu bekleiden? Ein Ungeheuer von Gelehrsamkeit gehört dazu. Ein Mensch, der sich mit Leib und Seele den Büchern verschrieben hat, und sonst vom hellen lichten Tage nichts weiß. Wirklich, Sie thun dem armen Manne bitteres Unrecht, wenn Sie glauben, daß irgend etwas, das nicht in Schweinsleder gebunden ist, überhaupt für ihn existirt, und da Miß Jane dies beneidenswerthe Vorrecht nicht genießt, so hat auch sie leider keinen Anspruch auf sein Wohlgefallen.“

Alison hörte nicht auf die Spöttereien. „Spricht ihn Miß Forest öfter?“ fragte er ungeduldig.

„Schwerlich! In der Zeit wenigstens, wo ich hier war, schien der Gebrauch der Sprache Beiden abhanden gekommen zu sein, so stumm gingen sie an einander vorüber. Ich bitte Sie, Henry, thun Sie doch dem Geschmack Ihrer Braut nicht diese Beleidigung an! Wo bleibt Ihre Selbstschätzung? Stellen Sie sich wirklich auf eine Linie mit diesem Bücherwurm?“

Alisons Stirn begann, sich zu entwölken. „Sie haben Recht, es wäre lächerlich! Ich hatte daheim mit so manchem Bewerber um Miß Forest’s Gunst in die Schranken zu treten, und es waren keine verachtungswerthen Gegner darunter. Ich habe nie einen von ihnen gefürchtet! Beim Anblick dieses ‚schwindsüchtigen Professors‘, wie Sie ihn nennen, kam mir etwas wie eine Ahnung, als könne gerade er gefährlich werden.“

„Ahnung?“ sagte Atkins gedehnt. „Um Gotteswillen, Henry, fangen Sie nicht zu ahnen an! Das ist auch eine von den deutschen Erfindungen; da sie nie ordentlich rechnen, ahnen sie alles Mögliche. Sie werden doch nicht auch diesem Unsinn verfallen?“

Noch bevor Alison antworten konnte, wurden sie unterbrochen, ein junges Dienstmädchen erschien, um die soeben erfolgte Ankunft der Doctorin und Miß Forest’s zu melden und die Herren zum Eintritt einzuladen.

Jane hatte mit ihrer gewöhnlichen Consequenz selbst den Verwandten ein Geheimniß aus ihrer Verlobung gemacht, ihre erste Begegnung mit Alison konnte deshalb auch nur eine völlig fremde sein. Fünf Monate waren vergangen, seit er sie zum letzten Male gesehen hatte, in dem reichen Empfangszimmer ihres Vaterhauses, in der eleganten Toilette, jetzt trat ihm die hohe Gestalt in dunkler Trauerkleidung, inmitten des altmodischen, einfachen Gemaches entgegen, das hier als Besuchzimmer diente; war es dieser Contrast oder die lange Trennung, Alison hatte sie nie so schön gesehen.

„Sie verzeihen, Miß Forest, daß ich es nicht unterlassen konnte, auf meiner Durchreise Sie aufzusuchen. Mr. Atkins versicherte mich eines freundlichen Empfanges.“

Jane reichte ihm die Hand. „Ein Landsmann ist mir stets willkommen.“ Ihr Blick begegnete dem seinigen, es war eine stumme Begrüßung, die einzige zwischen ihnen, sonst verrieth kein Zeichen, auch nicht das leiseste, ein Brautpaar, das sich nach halbjähriger Trennung zum ersten Mal wieder sah. Die Beiden waren zu sehr Herr über ihre Züge, zu sehr an conventionelle Schranken gewöhnt, um durch Uebereilung ein Verhältniß zu verrathen, das noch nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt war.

Jane wandte sich zu ihrer Tante und stellte ihr Mr. Alison, „einen Freund unseres Hauses“, vor; die Doctorin verneigte sich, sie konnte noch immer nicht die Sicherheit und Selbständigkeit begreifen, mit der ihre Nichte fremde Herren empfing und verabschiedete, dies achtzehnjährige Mädchen, das, ihrer Meinung nach, sich noch stets unter den mütterlichen Flügeln der Tante verborgen halten mußte und sich höchstens dann und wann mit einer schüchternen Bemerkung hervorwagen durfte. Jane hatte die Sache einfach umgekehrt und ihr diese Rolle zugetheilt, welche die sonst nicht gerade schüchterne alte Dame, gänzlich beherrscht von dem Einfluß ihrer Nichte, sehr passiv durchführte und dabei stets in dem unbehaglichen Bewußtsein ihrer völligen Ueberflüssigkeit.

Alison hatte den Damen gegenüber Platz genommen, man sprach von seinen Reisen, von England und Frankreich, vom Rhein, aber Henry’s Unterhaltungsgabe war heut nicht besonders glänzend. Er wartete mit einer von Minute zu Minute sich steigernden Ungeduld darauf, daß Atkins ihm auf irgend eine Weise Gelegenheit zu einem Alleinsein mit Jane geben werde, aber Atkins schien ein lebhaftes Vergnügen an seinem unterdrückten Aerger zu finden und zog das Gespräch in’s Endlose. Doch der junge Amerikaner war nicht der Mann, der so mit sich spielen ließ; als man ihm nicht zu Hülfe kam, ergriff er selbst das Steuer und bat Miß Forest einfach, ihm zu erlauben, daß er ihr Briefe und Nachrichten von zu Haus übergeben dürfe, die für sie allein bestimmt seien.

Jane erhob sich sofort und führte ihn, mit einer kurzen Entschuldigung gegen die Tante, in ihr an das Besuchzimmer stoßendes Wohngemach, es Mr. Atkins überlassen, die empörten Gefühle der Frau Doctorin über diese neue amerikanische Freiheit zu beruhigen. Kaum hatte sich die Thür hinter ihnen geschlossen, als Alison auf sie zutrat und ihr mit einer gewaltsam unterdrückten, aber dennoch leidenschaftlichen Bewegung die Hand entgegenstreckte.

„Verzeihen Sie, Jane, daß ich zu diesem ungeschickten Mittel griff! Ich ertrug den Zwang nicht länger!“

Er ergriff wieder die schöne, kühle Hand, die sich wie damals willig in die seinige legte, aber ohne ihren Druck zu erwidern.

„Sie hätten ein weniger gewaltsames Mittel wählen sollen, Henry! Mr. Atkins würde früher ober später gewiß einen Vorwand gefunden haben, der uns das Alleinsein ermöglichte. So muß es meiner Tante nothwendig auffallen.“

Die kühle Erwiderung schien auch Alison’s Leidenschaft auf einmal zu dämpfen. „Sie scheinen es sehr zu fürchten, daß Mr. Stephan Kenntniß von unseren gegenseitigen Beziehungen erhält.“

„Wenigstens wünsche ich es nicht.“

„Und doch wird es sich nicht vermeiden lassen.“

„Ich glaube, das steht allein bei uns, und dies um so mehr, als Ihr Aufenthalt in B., wie Sie mir schrieben, sich ja nur auf Tage beschränken wird.“

„Allerdings! Es scheint nicht, daß ich besonderen Grund haben werde, ihn zu verlängern.“

Jane fühlte den Stich, sie lenkte rasch von einem Thema ab, das verfänglich zu werden drohte.

[280] „Sie wollen nach Paris? Man spricht ja von einem möglichen Kriege mit Frankreich.“

Alison zuckte die Achseln. „Ich glaube nicht daran, sollte es aber dennoch dazu kommen, so würde ich natürlich zurückkehren, um Ihnen zur Seite zu sein, und Sie fortzuführen, wenn die französischen Heere den Rhein und ganz Deutschland überschwemmen.“

„Setzen Sie das so ganz bestimmt voraus?“

„Ja! Nehmen Sie etwas Anderes an?“

Jane hob mit dem ihr eigenen trotzigen Ausdruck den Kopf. „Es könnte doch sein, daß wir unsern Rhein vertheidigen!“

Wir? Unseren Rhein?“ wiederholte Alison scharf. „Ich dächte, Miß Forest hätte bisher ihren Stolz und ihre Ehre darein gesetzt, eine Tochter des Landes zu heißen, dem sie in Allem angehört – die ersten kurzen Lebenstage ausgenommen.“

Jane biß sich so heftig auf die Lippen, daß ein leichter Blutstropfen hervordrang. Wer hieß diese unvorsichtigen Lippen auch gerade hier eine Reminiscenz wiederholen, die nicht aus ihrem Gedächtniß wollte. „Wir! Unser Rhein!“ Ihre eigenen Worte waren das freilich nicht, und die Erinnerung an den Moment, wo sie dieselbe so glühend und begeistert aus einem andern Munde gehört, trieb ihr unwillkürlich eine helle Röthe in’s Antlitz; sie wandte sich rasch ab und beugte sich über die am Fenster stehenden Blumen.

Alison beobachtete sie schweigend, aber scharf und unverwandt. „Es scheint, Sie haben hier bereits deutsche Sympathien eingesogen?“ sagte er endlich.

„Ich?“ Jane wandte sich mit einer halb zornigen Bewegung ihm wieder zu. „Sie irren, Henry! Ich fühle mich hier überall beengt, gepeinigt, ich bringe täglich und stündlich ein neues Opfer mit diesem Aufenthalt! Es ist kaum zu ertragen!“

Es lag trotz aller Beherrschung doch eine eigenthümliche Heftigkeit in ihrem Tone, und Alison, der sie stets so kalt gesehen, entging dies nicht, aber er deutete es falsch; seine Augen leuchteten plötzlich auf in tiefster innerster Genugthuung, er trat ihr ganz nahe und ergriff auf’s Neue ihre Hand.

„Nun denn, Jane, es steht ja nur bei Ihnen, dies Opfer abzukürzen! Geben Sie mir schon jetzt das Recht, das Sie mir erst nach Jahresfrist zugestehen wollten, und das zu erreichen mein größter Wunsch ist. In wenig Wochen können die nöthigen Formalitäten abgemacht sein, wir treten dann zusammen die Weiterreise durch den Continent an, oder ich führe Sie, wenn Sie es wünschen, sofort nach Amerika zurück.“

„Nein, Henry, nein! Das ist unmöglich!“

Alison ließ ihre Hand fallen und trat finster einen Schritt zurück. „Unmöglich!“ wiederholte er schneidend, „und weshalb?“

Jane mochte wohl fühlen, daß ihre fast ungestüme Abwehr eine Erklärung nothwendig machte.

„Ich trage noch die Trauer um meinen Vater!“ sagte sie milder, „und ich folge überhaupt in dieser ganzen Angelegenheit einzig seiner Bestimmung und seinem Wunsche.“

„Es war Ihr Wunsch, Jane, nicht der des Mr. Forest. Ich begriff es, daß Sie im Angesicht eines sterbenden Vaters nicht Braut heißen mochten, und meine eigene Reise war es, die den Zeitpunkt unserer Vereinigung so weit hinausschob. Jetzt existirt jener Grund nicht mehr, und diesen hat der Zufall aufgehoben, der uns bereits nach Monaten wieder zusammenführt. Sie wollen während des Trauerjahres keine Vermählung feiern – sei es, ich will Sie nicht dazu drängen, aber ich bitte jetzt, ich fordere es, daß Sie unsere gegenseitigen Beziehungen nicht länger mit diesem strengen Geheimniß umhüllen, daß Sie sich öffentlich als meine Braut bekennen und mir das Recht geben, als Ihr Verlobter Sie im Hause Ihrer Verwandten aufzusuchen.“

Es lag eine solche Energie in seinem Tone, eine solche Entschiedenheit in seiner doch nur berechtigten Forderung, daß eine Zurückweisung derselben unmöglich schien, und eine Andere hätte dies auch schwerlich gewagt, aber Alison vergaß, daß Jane ihm gewachsen war, daß ihre Energie der seinigen nichts nachgab, und daß dieser Ton am wenigsten geeignet war, sie nachgiebig zu stimmen. Das „ich fordere“ klang sehr ungewohnt und unhold in den Ohren des stolzen Mädchens, ihr ganzer Trotz brach hervor.

„Sie vergessen, Mr. Alison, daß die Zeit noch nicht da ist, wo Sie ‚fordern‘ dürfen,“ sagte sie kalt. „Ich habe Ihnen eine Bedingung auferlegt, die Sie zu erfüllen versprachen, die Gründe dafür unterliegen jetzt wie damals einzig meiner Beurtheilung. Ich entlasse Sie Ihres Versprechens nicht. Ich will nicht!“

Die ganze energische Willenskraft der jungen Dame lag in diesem „Ich will nicht!“ und es klang genau so herausfordernd und beleidigend, wie vor wenigen Tagen ein anderes Wort aus ihrem Munde. Vielleicht wollte sie auch hier zum Aeußersten treiben, aber diesmal war die Wirkung eine andere.

Auch Alison schwieg einige Secunden lang. Wäre Jane blos schön, nicht reich gewesen, das verletzte Selbstgefühl des Mannes hätte ihm vielleicht eine Antwort eingegeben, die bei der Schroffheit dieser beiden Charaktere unvermeidlich zum Bruch hätte führen müssen. Aber der junge Kaufmann verstand zu rechnen, er wollte diesen kostbaren Besitz nicht aufgeben einer Frauenlaune wegen und wußte zu gut, daß er hier noch keine Macht geltend machen dürfe. Er fügte sich, aber es lag eine drohende Wolke auf seiner Stirne.

„Sie sind unzugänglich und hart, Jane, wie ein Fels! Sei es denn nach Ihrem Willen, aber,“ seine Stimme bebte in verhaltenem Groll, „vergessen Sie nicht, daß auch ich ein Versprechen empfangen habe, und daß ich es seiner Zeit ebenso unerbittlich einfordern werde, wie Sie jetzt das meinige.“

Jane war bleich geworden, aber ihr Auge begegnete fest und furchtlos dem seinen. „Mein Wort hat die Bedeutung eines Schwures, ich breche eins so wenig wie den anderen.“

„Und Sie wiederholen mir diesen Schwur jetzt mit freiem Willen?“ Sein Auge ruhte durchbohrend auf ihrem Antlitz, es schien als zögere sie eine Secunde, nur eine einzige, dann legte sie ihre Hand rasch in die seine.

„Ich wiederhole ihn – freiwillig!“

Alison athmete tief auf, er preßte ihre Finger mit kernhaftem Druck. „Ich danke Ihnen, Jane! Im Frühjahr kehre ich zurück, um mein Weib zu fordern; bis dahin seien Sie frei, wie Sie es gewünscht haben!“ – Es trat eine Pause ein, drückend für Beide; Jane war es, die zuerst wieder sprach.

„Ich fürchte, wir dürfen die Unterredung nicht länger ausdehnen. Es möchte Zeit sein, daß wir zu meiner Tante und Mr. Atkins zurückkehren.“

Alison erwiderte nichts, er öffnete schweigend die Thüre und folgte ihr in das andere Zimmer, wo inzwischen auch Dr. Stephan erschienen war, dessen joviale Lebhaftigkeit, die den Malicen Atkins’ nichts schuldig blieb, das Gespräch besser in Gang zu halten wußte.

„Nun, wie fanden Sie Miß Jane?“ fragte Atkins, als er eine halbe Stunde später seinen jungen Landsmann hinaus begleitete.

„Verändert!“ lautete die kurze finstere Antwort.

Atkins machte eine ärgerliche Miene. „Thorheit! Sie sind verändert, Henry! Sie haben sich in England den Spleen geholt; es ist Zeit, daß das lustige Paris Sie davon curirt.“

Alison gab keine Antwort, er reichte ihm flüchtig die Hand und ging. – Inzwischen war Jane in ihr Zimmer zurückgekehrt, wohin Atkins ihr jetzt folgte. Sie trat ihm entgegen und rasch, als solle damit jedes andere näherliegende Thema abgeschnitten werden, fragte sie: „Sie bringen mir Nachrichten über Ihre Reise? Ich kann mir den Erfolg denken! Umsonst, wie Alles, was bisher geschah!“

„Diesmal nicht!“

Jane blickte ihn an, als traue sie ihren Ohren nicht. „Wie sagen Sie?“

„Wir haben eine Spur!“

Jane zuckte auf. „Von meinem Bruder?“

[293] „Ruhig, ruhig, Miß Jane!“ sagte Atkins kalt, indem er seine Hand auf ihren Arm legte. „Die Sache ist noch keineswegs entschieden! Eine Spur, die nur auftauchte, um sich sofort wieder zu verlieren, und uns einen nur sehr schwachen Anhalt für die Zukunft übrig läßt, das ist vorläufig das einzige Resultat, das ich ihnen mitbringe.“

Miß Forest hatte bereits ihre Fassung wieder. „Gleichviel! Es ist das erste Lebens- und Daseinszeichen! Was haben Sie entdeckt? Wie gelangten Sie dazu?“

Atkins zog sie ruhig auf das Sopha nieder und nahm an ihrer Seite Platz.

„Mäßigen Sie ihre Ungeduld Jane. Ich werde so klar und kurz als möglich sein, das Ausführliche mögen Sie später erfahren. – Sie wissen, daß ich bereits auf unserer Durchreise in Hamburg die nöthigen Schritte that und den betreffenden Aufruf erließ; es erfolgte, wie gewöhnlich, keine Antwort. Nach vier Wochen reiste ich auf ihren Wunsch wieder dorthin, um mich persönlich von der Erfolglosigkeit unserer Bemühungen zu überzeugen. In den ersten Tagen meines Aufenthaltes schien dies in der That der einzige Gewinn der Reise, am dritten meldete sich bei mir ein Matrose.“

„Ein Matrose?“ wiederholte Jane erstaunt.

„Ja. Er war soeben erst mit seinem Schiffe angelangt, hatte zufällig Kenntniß von jenem Aufruf erhalten und kam nun, mir mitzutheilen, daß vor zwanzig Jahren die Nachbarn seiner Eltern, arme Fischersleute aus einem kleinen Stranddorfe der Nordseeküste, von Hamburg, wohin sie zu Markte gereist waren, einen dort aufgefundenen Knaben mitgebracht hatten den sie bei sich behielten, und der mit ihrem eigenen Sohne zusammen aufwuchs. Die Angaben des Mannes waren so bestimmt, daß sie ihm in der That die ausgesetzte Belohnung eintrugen, und mich veranlaßten, sofort nach dem bezeichneten Orte zu schreiben.“

Jane war seinen Worten mit leidenschaftlicher Spannung gefolgt. „Sie haben bereits Antwort?“

„Ja, eine sehr ausführliche! Sie werden ja den Brief selbst lesen, für mich geht unzweifelhaft daraus hervor, daß jener Knabe in der That der junge Mr. Forest war; Datum, Alter, ungefähre Beschreibung, alles stimmt genau mit meinen Notizen. Daraus erklärt sich auch die Resultatlosigkeit aller Nachforschungen. Die Fischersleute haben mit dem gewöhnlichen Unverstande solcher Menschen, statt den Behörden Anzeige von ihrem Findling zu machen, ruhig gewartet, daß er ihnen früher oder später wieder abgefordert werde, und ihn einstweilen zu sich genommen. Sie hatten längst Hamburg verlassen, als der Brief aus Amerika eintraf und Doctor Stephan die ersten Schritte that, und in jenes elende, auf seinen Sanddünen von aller Welt abgelegene Fischerdorf ist schwerlich jemals eine Zeitung gedrungen.“

„Nun, und jene Leute?“ unterbrach ihn Jane mit äußerster Ungeduld.

„Sind todt! Sie starben schon nach einigen Jahren, und da die ohnehin arme Gemeinde sich nicht mit der Sorge für die beiden Knaben belasten konnte und wollte, so kam der Fischerssohn zu Verwandten, einem Handwerker in einer kleinen norddeutschen Stadt, der junge Mr. Forest dagegen fand Aufnahme bei einem Geistlichen in einem der Nachbardörfer, der indessen auch schon seit Jahren seine Pfarre und die Gegend verlassen hat. Hier endigt der Brief und damit vorläufig auch meine Nachforschungen.“

Mit einem tiefem Athemzuge erhob sich Jane. So entmuthigend auch der Schluß lautete, für sie bedurfte es nicht mehr als eines Fingerzeiges, um sofort ihre ganze Thatkraft wach zu rufen. In einer Minute hatte sie das Alles überschaut und beherrschte die ganze Sache bereits mit der nöthigen Klarheit und Energie.

„Wir müssen vor allen Dingen den Verbleib jenes Geistlichen ermitteln, und uns zunächst wegen der Auskunft darüber nach seiner ehemaligen Pfarre wenden. Ist er nicht aufzufinden, dann müssen wir unsere Nachforschungen auf den Handwerker ausdehnen, der den anderen Knaben zu sich nahm, vielleicht blieb er in irgend einer Verbindung mit dem Jugendgefährten. Jedenfalls muß die kaum gehoffte Spur rasch und entschieden verfolgt werden.“

„Das ist auch meine Ansicht. Ich wollte nur zuvor mit Ihnen Rücksprache nehmen, um dann die nöthigen Recherchen zu veranlassen. Doch noch eins! Ich habe auf Ihren ausdrücklichen Wunsch bisher gegen Mr. Alison geschwiegen; er hat keine Ahnung von der möglichen Existenz eines Schwagers. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, ihm Eröffnungen zu machen?“

„Nein!“ sagte Jane mit einer eigenthümlichen Schroffheit. „Nicht eher, bis ich Gewißheit habe! Wir können von ihm weder Unterstützung noch Wohlwollen für Bemühungen erwarten, die ihn möglicherweise um die Hälfte des Vermögens verkürzen, auf das er rechnet.“

[294] Der seltsame Ton machte Atkins aufmerksam. „Was haben Sie mit Henry gehabt? Auch er war verstimmt! Gab es Streit zwischen Ihnen?“

„Ja!“, erklärte Jane mit herber Aufrichtigkeit. „Ich beleidigte ihn!“

„Und er?“

„Er?“ Die Lippen der jungen Dame zuckten verächtlich. „Nun, er fügte sich!“

Atkins zog leicht die Augenbrauen zusammen. „Nehmen Sie sich in Acht, Jane! Alison ist nicht der Mann, der eine Beleidigung verzeiht, auch Ihnen nicht. Für den Augenblick mag er sie ertragen haben, vergessen wird er sie nie, und Sie dürften zur gelegenen Stunde dafür büßen müssen. Ich kenne ihn!“

„Auch ich! Seien Sie außer Sorge, Mr. Atkins, ich fürchte diese Art von Rache nicht, aber – ich achte sie auch nicht!“

„Hüten Sie sich vor diesem Ton, Miß Jane, wenigstens ihm gegenüber. Sie könnten es damit zum Bruche treiben.“

„Schwerlich! Mr. Alison weiß zu gut, was ich ihm werth bin.“

Atkins schüttelte den Kopf, so hatte er sein Mündel noch niemals gesehen. „Sie wissen so gut wie ich, daß Alison Sie trotz alledem liebt, und geliebt hätte, auch ohne Ihr Vermögen.“

„Auch gewählt?“

Er schwieg.

„Sparen Sie Ihre Vertheidigung!“ sagte Jane bitter. „Ich weiß, welchem Beweggrund ich allein die Ehre verdanke, dereinst Mrs. Alison zu heißen!“

Atkins fixirte sie scharf einige Secunden lang. „Und ist Ihnen denn das etwas Neues?“ fragte er langsam. „Wußten Sie das alles nicht ebenso genau, als Sie ihm vor fünf Monaten Ihre Hand zusagten? Und diese Zusage, die der Erbe und dereinstige Chef des Hauses Alison und Comp. erhielt,“ er legte einen bedeutsamen Nachdruck auf die Worte, „wäre sie ihm auch zu Theil geworden, wenn er zum Beispiel die bescheidene Stellung eines Clerk dort eingenommen hätte?“

Der Stich traf, Jane senkte einen Moment lang wie schuldbewußt das Haupt; ihr kamen die Worte in’s Gedächtniß, mit denen sie dem Vater ihre Verlobung mitgetheilt. Damals war ihr das so einfach und natürlich erschienen, jetzt freilich lagen fünf Monate dazwischen. Fünf Monate – und drei Tage!

„Sie sehen,“ fuhr Atkins scharf und unerbittlich fort, „auch bei Ihnen spielte der Dollar seine Rolle, natürlich! denn Mr. Forest erzog Sie zu einer vernünftigen Auffassung des Lebens und der Wirklichkeit. Die Liebe ist ein Luxus, den sich der Reiche immerhin erlauben darf – und Alison erlaubte ihn sich bei seiner Wahl – aber man darf ihn nicht so übertreiben, daß man das Rechnen dabei vergißt, das doch nun einmal die Hauptsache im Leben ist.“

„In Amerika – ja!“ sagte Jane tonlos.

Atkins zuckte die Achseln. „In Deutschland mag es allerdings noch überspannte Köpfe geben, die auf eine Million gar keine Rücksicht nehmen, und im Stande sind, einer Erbin, wenn sie sich etwas gegen sie herausnimmt, ohne Weiteres den Rücken zu kehren. Wollen Sie Mr. Alison einen Vorwurf daraus machen, daß er den Verhältnissen besser Rechnung zu tragen weiß? Jene Herren mögen sich in ihrem erhabenen Mannesstolz sehr großartig vorkommen, aber – Millionäre werden sie dabei niemals werden.“

„Sie haben Recht!“ sagte Jane plötzlich eiskalt und sich erhebend, „Jedem das Seine!“

Atkins sah sie an, als wisse er nicht recht, wie die Antwort gemeint sei. Es war wieder völlig Miß Forest in ihrer undurchdringlichen Ruhe, die jetzt vor ihm stand, und doch klang etwas wie Hohn in ihren Worten; es war ein völlig nutzloser Versuch, sie heut enträthseln zu wollen, er gab ihn auf.

Sich gleichfalls erhebend, zog er eine Brieftasche hervor und reichte sie ihr. „Wir sind von der Hauptsache abgekommen. Hier finden Sie den vorhin erwähnten Brief und alle die übrigen Notizen, prüfen Sie genau, ich nehme heut Abend noch einmal Rücksprache darüber mit Ihnen, jetzt muß ich Sie verlassen.“

Jane reichte ihm die Hand. „Ich danke Ihnen! Und, was meine heutige Laune betrifft,“ die Erklärung schien ihr schwer zu fallen, aber sie fühlte doch wohl deren Nothwendigkeit, „so achten Sie nicht weiter darauf. Es giebt Stimmungen, deren man nicht immer Herr werden kann. Auf Wiedersehen!“

Als Atkins draußen war, blieb er stehen und schüttelte noch einmal den Kopf „Es giebt Stimmungen – hm! Das ist ja wunderbar! Henry hat Ahnungen und sie Stimmungen! Dinge, mit denen sich die Beiden sonst wahrlich nicht abgaben. Uebrigens hat er Recht, sie ist verändert, und wenn ich auch noch anfangen wollte, zu ahnen, dann würde ich sagen,“ hier schickte Mr. Atkins einen sehr unholden Blick hinüber nach dem sonnenbeglänzten Wasserspiegel des Stromes, der zwischen den Bäumen des Gartens sichtbar ward, „es liegt etwas hier in dieser deutschen Luft, und dieser verwünschte Rhein schickt uns, ehe wir es denken, irgend ein Ungewitter auf den Hals!“




Der Amerikaner hatte Recht behalten, wenn auch in anderer Weise, als er geglaubt. Seine ganz speciell gemeinten Befürchtungen waren zu einer politischen Prophezeiung geworden. Es lag wirklich etwas in der deutschen Luft, und es war in der That am Rhein, wo der erste Blitz aufzuckte, der das nahende Ungewitter verkündigte. Frankreich hatte den Krieg erklärt! Wie aus heiterem Himmel kam der Schlag, und wie im rollenden Donner gab ganz Deutschland, vom Fels zum Meere, in tausendstimmigem Echo den Ruf zurück.

Am Rhein flammte es auf in allen Städten, Flecken und Dörfern: heißer, glühender noch, als in den anderen Grenzmarken; waren sie doch die zuerst Bedrohten, die vor allem zu Schützenden, der kostbare Einsatz, um dessen willen das frevelhafte Spiel begonnen war, das fühlte Jeder bis zum ärmsten Bauer herab, und mit einem einzigen endlosen Jubelruf empfingen die geängstigten Rheinlande die Schützer, die Rächer des beabsichtigten Raubes. In riesigen ununterbrochenen Zügen warf Deutschland seine gesammte Kriegsmacht nach der gefährdeten Grenze, immer mächtiger und mächtiger schwoll die Heereswoge an, immer dichter und dichter schaarten sich die Massen um das bedrohte Palladium der Nation; noch war der Gegner nicht zur Hälfte gerüstet, da rollten die grünen Wogen bereits unter sicherer Hut, Glied an Glied geschlossen stand das nun endlich geeinte Deutschland Wacht an den Ufern seines Rheines, bereit, den alten heiligen Strom zu schützen, oder sich, selbst ein vernichtender Strom, in’s Land des Feindes zu ergießen!

Auch in B. hatte die allgemeine Begeisterung mächtig gezündet. Die Studenten eilten zu den Fahnen oder in die Sanitätscolonnen, die Professoren schlossen ihre Vorlesungen und stellten sich, wenn Alter und Gesundheit es noch erlaubten, selbst an die Spitze jener letzteren, die Frauen rafften jetzt schon alle Kräfte und Mittel zusammen, um auf dem thränen- und segensreichen Felde, das der Krieg ihnen zugewiesen, Hülfe und Rettung zu bringen. Alles ward mit fortgerissen, Alles überbot sich in fieberhafter Thätigkeit, die sonst so streng festgehaltenen Schranken der Stände und Gesellschaftsclassen fielen hier in der Stadt, wie draußen im Vaterlande die Grenzen zwischen Nord und Süd – Alles stand zusammen in einer Aufopferung, einer Hingebung, in einem einzigen Begeisterungssturm! –

Es war in den ersten Tagen jener Bewegung an einem prachtvollen Julitage, als Jane allein in dem Balconzimmer saß, dessen Thüren nach dem Garten hinaus weit geöffnet waren. Draußen lag der Sonnenschein heiß auf Rasen und Gebüsch, wie auf den Wellen des vorübergleitenden Stromes, die Rosen blühten in voller Pracht, Käfer und Schmetterlinge gaukelten friedlich darüber hin und das große altmodische Gemach, mit seinen weinumrankten Fenstern, seinen hochlehnigen Stühlen und Kanapees und seiner einförmig tickenden Wanduhr sah gleichfalls so friedlich und behaglich aus, als vermöge kein Kriegslärm von draußen die Ruhe und den Frieden dieses Haus zu stören.

Ruhe und Frieden war es nun gerade nicht, was auf dem Antlitz der jungen Dame lag, die, tief über eine Zeitung gebeugt, dort etwas zu lesen schien, das sie mächtig fesselte, denn ihr Blick folgte in athemloser Spannung den Zeilen und sie hörte weder den Schritt eines Kommenden, noch sah sie seine Gestalt, bis er dicht vor ihr in der Balconthür stand.

„So vertieft, Miß Jane?“ sagte Atkins vollends eintretend. „Sie scheinen mit einer sehr interessanten Lectüre – aber was, was haben Sie denn?“

Jane hatte sich plötzlich erhoben und wendete ihm, das Blatt noch immer in der Hand, ihr Gesicht zu. Wäre sie nicht so an [295] die strengste Selbstbeherrschung gewöhnt gewesen, die Züge hätten vielleicht noch mehr von der stürmischen Bewegung verrathen, die das ganze Wesen der jungen Dame durchbebte, jetzt sprachen nur die heißgerötheten Wangen, die flammenden Augen davon, aber sie sagten genug, um ihre schnell erfundene Ausflucht der Lüge zu zeihen.

„Mir ist nichts, gar nichts, ich leide nur von der unerträglichen Hitze, vor der ich hier vergebens Schutz suchte.“

Atkins sah sie mißtrauisch an, plötzlich schien ihm ein Gedanke zu kommen; es gab nur einen einzigen Gegenstand, bei dessen Berührung er Jane jemals aufgeregt gesehen.

„Sie haben irgend eine Notiz über unsere Angelegenheit gefunden?“ fragte er rasch. „Eine neue Spur?“

Jane war ihrer Erregung bereits wieder vollkommen Herr geworden, sie legte ruhig das Blatt nieder. „Nichts dergleichen! durchaus nichts! Ich hoffte im Gegentheil, Sie würden mir eine Nachricht darüber bringen.“

Er zuckte die Achseln. „Noch habe ich keine erhalten und auch nicht erwartet. Die Behörden haben augenblicklich weder Zeit noch Lust, sich mit Privatrecherchen abzugeben, es möchte ihnen auch schwer werden, jetzt, wo kein Mensch und kein Ding mehr an seinem Platze ist. Eine Reise unsererseits würde vollends nichts nützen, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit jetzt vorwärts zu kommen, wir wissen ja nicht einmal, wohin sich die Reise zu richten haben würde. Es kann Wochen dauern, bis überhaupt eine Antwort kommt, wir müssen eben warten.“

„Warten!“ sagte Jane heftig, „immer warten! Und inzwischen verliert sich die kaum gefundene Spur von neuem. Ach, daß jene Fischersleute sterben mußten!“

„War das größte Glück für Sie und den jungen Mr. Forest!“ ergänzte Atkins trocken, „denn das allein entriß ihn dem Kreise, in den ein unglücklicher Zufall ihn geworfen. Wir wissen allerdings nicht, in welcher Eigenschaft er in das Haus jenes Geistlichen kam, hoffentlich als Pflegesohn, und hoffentlich hat man dort das Versäumte nachgeholt. Im anderen Falle könnte sich das gehoffte Wiedersehen sehr peinlich gestalten, oder wäre es Ihnen gleichgültig, Jane, Ihren nächsten Blutsverwandten in jener ersten Sphäre aufsuchen zu müssen?“

Die junge Dame schwieg betroffen; daß sie den Bruder arm wiederfinden könne, daran mochte sie öfter gedacht haben, niedrig – der Gedanke war ihr augenscheinlich noch niemals gekommen, und er gewann auch kaum einen Moment lang Gewalt über sie, dann empörte sich ihr ganzer Hochmuth dagegen.

„Mein Bruder hat das Blut des Vaters in seinen Adern, das erträgt keine Niedrigkeit! Wenn er noch lebt, so hat auch er sich über jede seiner unwürdige Sphäre hinausgeschwungen. Das weiß ich!“

„Ohne richtig Lesen und Schreiben gelernt zu haben? Hm! Sie vergessen, daß dem Mr. Forest bei allem, was er unternahm, die Erziehung zur Seite stand. Ein Student, der seine Bildung auf einer deutschen Hochschule empfing, ist so ziemlich jeder Lebensstellung gewachsen. Ein Fischerjunge – nun, ich hoffe, der treffliche geistliche Herr hat uns der Sorge enthoben, aber der so plötzlich ausgebrochen Krieg spielt uns nichts desto weniger einen argen Streich, er bringt die ganze Angelegenheit in’s Stocken.“

Mit einem Seufzer der Ungeduld nahm Jane ihren Platz wieder ein, während Atkins zum Tische trat und das Blatt ergriff, bei dem er sie vorhin gefunden.

„Ah, die Zeitung! Haben Sie den ‚Aufruf an das deutsche Volk‘ gelesen, der an der Spitze des Blattes steht?“

„Ja!“ klang es zögernd, wie mit innerem Widerstreben von Jane’s ’Lippen.

„Ein seltsames Machwerk!“ sagte Atkins halb spottend und halb mit einem bei ihm seltenen Ernst. „Ich begreife nur nicht, wie ein Mensch eine so unsinnige Menge von Poesie in die Prosa eines Zeitungsartikels legen kann. Er hat jedenfalls irgend einen Dichter zum Verfasser, und einer von den schlechtesten ist es gerade nicht gewesen! Ein bloßer Journalist hat das sicher nicht geschrieben, dazu ist es denn doch zu –“

„Genial!“ vollendete Jane, wieder mit dem früheren seltsamen Aufflammen ihrer dunklen Augen.

„Ja, das heißt überspannt! Nun, die deutsche Genialität ist das immer! Schwung und Feuer hat das Ding übrigens, das muß man ihm lassen, und bei der ohnehin bis zum Siedepunkt gestiegenen Begeisterung von B. wirkt es vollends wie ein Funke im Pulverfaß. Die halbe Stadt hat bereits den Kopf darüber verloren, in der Universität reißt man sich um die einzelnen Exemplare, die Worte zünden überall wie die Brandraketen. Mich soll nur wundern, wie lange das ganze Brillantfeuerwerk überhaupt vorhält!“

Jane blickte mit leisem Hohne zu ihm hinüber. „Ihnen bringt es doch wenigstens Abwechselung,“ sagte sie nicht ohne Ironie. „Sie fanden ja Deutschland so über alle Begriffe langweilig.“

„Ja, das fand ich!“ grollte Atkins, „aber jetzt wollte ich lieber die frühere Langeweile ertragen, statt inmitten eines toll gewordenen Volkes zu sitzen, dem das einzige Lobenswerthe, die frühere Demuth und Bescheidenheit, völlig abhanden gekommen ist. Glauben Sie, daß man die Ausländer noch respectirt, daß man sich überhaupt noch um sie kümmert? In meinem Hôtel werde ich auf’s Elendeste vernachlässigt, alle Sorgfalt und Aufmerksamkeit ist einzig für die deutschen Officiere da; auf der Straße, bei Begegnungen, im Gespräche wird mir stündlich meine unendliche Ueberflüssigkeit unter den Herren Germanen kund gethan; der liebenswürdige Mr. Friedrich findet es gar nicht mehr nöthig, seiner Bärennatur noch einen Zügel anzulegen, und scheint täglich größeren Appetit zu verspüren, mich zum Frühstück zu verzehren. Sogar die gute Mrs. Stephan beginnt sich zu fühlen! Hat sie Ihnen nicht gestern eine förmliche Malice gesagt, als Sie sich weigerten, sich zu ihrem patriotischen Comité pressen zu lassen? Hätte sie das jemals früher gewagt? Man rebellirt auch gegen Sie, Jane, Sie sehen es ja. Erbin! Amerikaner! Engländer! Das gilt ihnen Alles nichts, seit sie unter sich einig geworden sind. Sie brauchen nichts mehr von alledem, sie sind ja deutsch geworden!“

Eine dunkle Röthe war bei den letzten Worten langsam in Jane’s Antlitz aufgestiegen, aber sie sah nicht auf.

„Ich habe meiner Tante erklärt, daß, sobald es Gefahr und Noth zu lindern giebt, ich an meinem Platze sein werde, daß ich aber die begeisterten Demonstrationen, in denen die Damen sich jetzt gefallen, sehr unnöthig und überflüssig finde.“

„Recht so!“ sagte Atkins heftig. „Halten Sie wenigstens Stand! Geben Sie ihr nicht nach, keinen Fußbreit! – Und nun hören Sie nur diesen Lärm an der Hausglocke! Ich wette darauf, das ist auch wieder ein neu erwachtes Nationalbewußtsein, das vor acht Tagen noch ganz bescheiden die Klingel zog und sich jetzt natürlich mit diesem Sturmläuten einführt!“

Die Malice des Amerikaners hatte sich diesmal gegen seinen Wirth gerichtet; es war Doctor Stephan, der jetzt die Thür öffnete und ziemlich heftig eintrat.

„Nun so soll doch gleich –! Ah, Verzeihung, ich wußte nicht, daß Jemand hier sei. Aber dreimal habe ich schellen müssen, ehe die Magd sich aus der Küche herbemühte. Sobald der Friedrich nicht im Hause ist, geht Alles verkehrt!“

„Auch ich habe bereits diesen ausgezeichneten Pförtner vermißt!“ sagte Atkins nach der ersten Begrüßung mit jener außerordentlichen Höflichkeit, die bei ihm stets eine Bosheit barg. „Jedenfalls darf man dem preußischen Heere zu dieser Acquisition Glück wünschen?“

„Ja, Friedrich hat Ordre empfangen,“ sagte der Doctor mit einem unterdrückten Seufzer. „Er ist bereits gestern nach H. hinübergefahren, wird aber wohl noch einmal zurückkommen. Der Professor ist gleichfalls hinüber.“

„Mr. Fernow? Was hat denn er in H. zu thun?“

„Er muß sich gleichfalls zur Untersuchung stellen, der Form wegen, die wird in solcher Zeit nicht leicht Jemandem erspart. Bei ihm bleibt die Sache natürlich nur Formalität, aber der Friedrich wird uns fehlen! Wir behelfen uns zur Noth noch ohne ihn, aber wie der Professor, den er so verwöhnt und gepflegt hat, mit einem anderen Diener fertig werden soll, das weiß der Himmel!“

Damit trat der Doctor zu seiner Nichte, die völlig theilnahmlos bei dem Gespräch die Zeitung wieder aufgenommen hatte, und sah ihr über die Schulter in das Blatt.

„Ich glaube, Sie trauen dem Mr. Fernow allzuviel Interesse für die ungelehrte Wirklichkeit zu,“ spottete Atkins. „Er wird hinter seinem Schreibtisch und seinen Folianten den Wechsel der Bedienung so wenig merken, wie er von dem ganzen Kriege etwas gemerkt hätte, wäre nicht die gezwungene Reise nach H. gewesen.“

[296] Die kleinen grauen Augen des Doctors glänzten in einer eigenthümlichen Schadenfreude, als er zu dem Amerikaner hinüberblickte. „Wirklich? Meinen Sie das? – Hast Du den Aufruf gelesen, Jane, der heute in der – Zeitung steht?“

„Ja!“ sagte Jane rasch, mit einer plötzlichen Spannung das Auge zu dem Oheim emporhebend.

„Sie auch, Mr. Atkins?“

„Die Brandrakete, die heute Morgen die gute Stadt B. und wahrscheinlich noch einige hundert andere Städte in Feuer und Flammen setzte? Ja, Mr. Stephan, die haben wir gelesen!“

„Das freut mich; die ‚Brandrakete‘ kam aus meinem Hause – der Artikel ist vom Professor Fernow!“

Jane zuckte zusammen; sie ließ das Blatt fallen, als habe sie auf einmal glühendes Eisen in der Hand. Mr. Atkins dagegen fuhr von seinem Stuhle auf, stand einen Augenblick kerzengerade da und setzte sich dann ebenso plötzlich wieder nieder.

„Das ist nicht möglich!“ sagte er kurz.

„Nun, das habe ich heute schon mindestens dreißig Mal gehört!“ triumphirte der Doctor, ohne sich im Geringsten beleidigt zu fühlen. „Unmöglich! schrie mir Alles entgegen. Ich hätte es selber nicht geglaubt, wenn mir nicht die Ungeschicklichkeit Friedrichs, der den Artikel heimlich in die Druckerei tragen sollte, die Sache verrathen hätte. Natürlich wartete ich erst die Wirkung ab und gab dann mein Geheimniß allen vier Wänden preis. Das hat erst recht gezündet; in der Universität zumal schlug es ein wie eine Bombe. Der Professor kann sich auf einen Empfang gefaßt machen, wenn er zurückkehrt, und ich mich auf eine Scene mit ihm, denn er wird natürlich außer sich gerathen über meine Indiscretion. Pah! mich hat er nicht in’s Vertrauen gezogen, ich hatte kein Schweigen zu halten. Was sagst Du eigentlich zu der Geschichte, Jane?“

„Ich – Nichts!“ sagte Jane mit dem herbsten Tone und Ausdrucke, der ihr zu Gebote stand. Sie wendete sich ab, ging zum Fenster und preßte die Stirn gegen die Scheiben.

„Und Sie, Mr. Atkins?“

Der Gefragte legte sich resignirt in seinen Stuhl zurück.

„Ich warte auf Ihre weiteren Neuigkeiten, Mr. Stephan! Wollen Sie mir vielleicht noch mittheilen, daß Ihr Professor nächstens eine Batterie stürmen und sein Friedrich eine archäologische Vorlesung halten wird – schonen Sie mich durchaus nicht, ich bin jetzt auf Alles gefaßt, ich wundere mich über nichts mehr hier in Deutschland!“

Der Doctor lachte laut auf; plötzlich jedoch unterbrach er seine Heiterkeit und blickte besorgt hinaus.

„Was ist denn das? Da kommt ja Friedrich schon zurück, in solcher Eile! Was hat denn der Bursche? Er sieht ja ganz verstört aus!“

Es war wirklich Friedrich, der im vollen Laufschritt durch den Garten kam und in solcher Aufregung in’s Zimmer stürzte, daß selbst die Gegenwart der gefürchteten „amerikanischen Miß“ und ihres noch mehr gehaßten Begleiters ihn gar nicht kümmerte.

„Was giebt’s?“ rief der Doctor hastig. „Was hast Du, Friedrich? Es ist doch nichts passirt?“

„Ja!“ stotterte Friedrich athemlos. „Passirt ist etwas – der Herr Professor –“

„Ein Unglück? Wo denn? Auf der Bahn oder drüben in H.? So sprich doch!“ drängte der Arzt im vollen Ernste erschreckt.

„Drüben in H.!“ stieß Friedrich verzweiflungsvoll hervor. „Der Herr Professor – er muß auch mit in’s Feld – wir marschiren morgen!“

Die Wirkung dieser Worte war, für den Augenblick wenigstens, ein totales Stillschweigen. Jane hatte sich umgewendet und blickte den unglücklichen Boten an, als zweifle sie im vollen Ernst an seinem Verstande; der Doctor stand da wie vom Donner gerührt; nur Mr. Atkins sagte nach einer secundenlangen Pause halblaut:

„Jetzt fehlt wirklich nur noch die Vorlesung des Mr. Friedrich!“

„Aber sind denn meine Collegen vom Militär des Kukuks?“ brach jetzt der Doctor entrüstet los. „Professor Fernow für diensttauglich erklärt! Meinen Patienten, der mir seit drei Jahren zu schaffen macht! Wie in Himmels Namen ist denn das zugegangen?“

„Ich weiß nicht, wie es eigentlich kam,“ berichtete Friedrich, dem die Angst und Aufregung eine ganz ungewöhnliche Rednergabe lieh; „aber der Herr ist ja selber schuld daran! Ich stand ganz nahe bei ihm, da sah einer von den Doctoren ihn so von der Seite an, zuckte mit den Achseln und meinte: ‚Nun, mit Ihnen geht es doch wohl nicht. Sie können ja kaum ein Gewehr tragen!‘ Gott weiß, warum der Herr Professor das so übel nahm; er wurde auf einmal blutroth im ganzen Gesicht, gab dem Doctor einen Blick, daß der genug hatte, ging drei Schritte zurück und sagte ganz laut: ‚Ich bitte wenigstens um die Untersuchung!‘ ‚Wenn’s weiter nichts ist, das wollen wir besorgen!‘ meinte der Oberstabsarzt und kam selbst heran –“

„Der Oberstabsarzt ist’s gewesen!“ unterbrach ihn Stephan. „Das hätte ich mir denken können! Denn der nimmt Alles, was beim ersten Marsch in den Lazarethen liegen bleibt! Nun weiter!“

„Ja, nun hieß es nur: ‚Sind Sie irgendwie krank?‘ ‚Nein!‘ antwortete der Herr Professor und biß die Zähne zusammen, denn alle die Mannschaften sahen auf ihn hin. Dabei hatte er sich hoch aufgerichtet, noch immer feuerroth bis an die Stirn, und sah jetzt wirklich ganz und gar nicht krank aus. Der Oberstabsarzt befühlte ihn denn auch nur so ganz kurz und sagte dann: ‚Unsinn, College, wir können jetzt nicht so wählerisch sein; Brust und Lungen sind noch gesund, das Bischen Schwächlichkeit vom Stubensitzen muß sich geben – Sie werden genommen, Punctum!‘ Ich dachte, der Schlag sollte mich rühren, und der Herr Professor that einen Athemzug, als wollte ihm die Brust zerspringen.“

Der Doctor begann heftig im Zimmer auf und nieder zu gehen; jetzt aber mischte sich auch Atkins in’s Gespräch.

„Nehmen Sie es mir nicht übel, Mr. Stephan, aber das ist ein Geniestreich Ihres Herrn Collegen, der nahezu an Tollheit grenzt. Einen schwindsüchtigen Professor von seinem Katheder wegzunehmen, um ihn in das Heer einzureihen! Ein schöner Zuwachs!“

„Schwindsüchtig ist Fernow nicht!“ sagte der Doctor mit großer Bestimmtheit. „Das weiß mein College so gut wie ich, und sein Nervenleiden kann er ihm, zumal im Moment der Erregung, nicht so ohne Weiteres ansehen, dazu gehört längere Beobachtung. Seine Stellung schützt den Professor vollends nicht, er ist eben noch jung, genau so alt wie Friedrich. Hätte ich nur eine Ahnung von der Geschichte gehabt, ich hätte ja gern vorgebeugt und die nöthigen Winke gegeben, weiß Gott, ich konnte es hier mit gutem Gewissen, aber wer konnte denn das vorhersehen! Hier in B. wäre die Sache überhaupt nicht passirt – jetzt ist’s zu spät.“

„Aber, Herr Doctor“ – Friedrich blickte mit einer wahren Todesangst den Arzt an –, „der Herr Professor kann doch nicht mit ausmarschiren. Sie wissen ja, daß er keine Zugluft vertragen kann, und keine Hitze, und die Kälte auch nicht, daß für ihn ganz besonders gekocht werden muß, und daß er schon krank wurde, wenn er einmal ohne Regenschirm ausging. Lieber Gott, er stirbt uns ja in den ersten acht Tagen!“

„Nun, beruhige Dich nur!“ tröstete Stephan. „Wir wollen sehen, was sich thun läßt. Rückgängig kann die Sache allerdings nicht gemacht werden, aber vielleicht ist es durchzusetzen, daß Dein Herr zum leichtesten Dienst in irgend einem der Bureau- oder Verwaltungszweige verwendet wird. Ich werde die nöthigen Schritte dazu thun, vor allen Dingen aber muß ich ihn selbst sprechen. Er ist doch mit Dir zurückgekommen?“

„Ja!“ sagte Friedrich aufathmend. „Ich bin nur vorausgelaufen.“

„Nun, so geh’ und bringe vorläufig Deine eigenen Sachen in Ordnung. Sie wollen auch fort, Mr. Atkins?“

„Nur auf eine Viertelstunde – zur Abkühlung! Ich fühle wirklich das dringende Bedürfniß, mich zu überzeugen, ob es hier in B. noch irgend ein Ding giebt, das nicht auf dem Kopfe steht. Miß Forest scheint eine ähnliche Empfindung zu haben – darf ich um Ihre Begleitung bitten, Jane?“

„Ich – bin müde!“

Die junge Dame sank in den Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hand und entzog damit ihr Gesicht jeder ferneren Beobachtung.

„Jane ist heute merkwürdig übler Laune!“ sagte der Doctor draußen auf dem Balcon zu Atkins, dem er das Geleit gab. „Kaum ein Wort ist ihr abzugewinnen! Mir scheint sie überhaupt ganz verändert seit den letzten vierzehn Tagen. Kennen Sie die Ursache dieser fortwährenden Verstimmung?“

[297] „Die Ursache sitzt augenblicklich in Paris,“ dachte Atkins, laut aber erwiderte er in gleichgültigem Tone: „Ich vermuthe, Mr. Alison, der junge Landsmann den ich kürzlich bei ihnen einführte, hat Miß Forest Briefe und Nachrichten von einer ihrer näheren Bekannten überbracht, die ihr zur Verstimmung Anlaß geben. Wenigstens wurde mir dergleichen angedeutet.“

„So? Nun, dann ist die Sache natürlich!“ meinte der Doctor arglos. „Ich fürchtete schon, es sei irgend etwas in meinem Hause oder in ihrer Umgebung, das diese Laune hervorrief.“

[309] Jane verharrte inzwischen unbeweglich in ihrer Stellung. Die Hausglocke klang von Neuem, diesmal leiser als zuvor, ein Schritt kam den Hausflur entlang, sie regte sich nicht, erst als die Thür des Balconzimmers geöffnet ward, fuhr sie empor – Professor Fernow stand in derselben. – Seit jenem Abende auf dem Ruinenberge hatten sie einander nicht wieder gesehen, er hatte in der That ihren Weg nicht mehr gekreuzt und die Consequenz, mit der er die früheren zufälligen Begegnungen im Hause und Garten vermied, ward nur von der Entschiedenheit übertroffen, mit der Jane jeder Möglichkeit eines Zusammentreffens auswich. Die Beiden hatten es wirklich volle vierzehn Tage durchgesetzt, selbst des flüchtigsten Anblicks, des kältesten Grußes überhoben zu sein, und jetzt standen sie sich plötzlich gegenüber, so nahe, ganz allein, die Begegnung war nicht mehr zu ignoriren.

Jane war aufgesprungen; was sie auch vor einer Minute noch gedacht haben mochte, beim Anblick des Mannes, dem sie seinen Stolz und ihre Demüthigung noch lange nicht vergeben hatte, zerstob das Alles. Der alte feindselige Geist wallte wieder heiß und wild empor. Weshalb erschien er jetzt auf einmal in der Wohnung ihres Oheims, die er doch sonst niemals betrat, hier, wo er doch fürchten mußte, sie zu treffen? Galt dies Erscheinen ihr? Die junge Dame stand da, kampfbereit, entschlossen mit ihrer ganzen Kraft einer Macht zu trotzen, der sie sich diesmal gewiß nicht beugte.

Aber ihr Heroismus war, diesmal wenigstens, völlig überflüssig, es kam anders, als sie geglaubt. Der Professor stand noch immer auf der Schwelle, sein Blick schweifte langsam durch das ganze Zimmer, sie allein traf er nicht.

„Ich bitte um Verzeihung, ich suchte Herrn Doctor Stephan.“

„Mein Oheim ist im Garten.“

„Ich danke.“

Er zog die Thür hinter sich zu und schritt, ohne sie auch nur anzusehen, durch das Zimmer nach dem Balcon. Jane’s Stirn färbte sich dunkelroth, sie war darauf gefaßt, einem Angriff zu begegnen, und fand nun eine völlige Nichtachtung, das war mehr als sie ertragen konnte, ihre Hand umfaßte krampfhaft die Lehne des Sessels.

Der Professor stieß inzwischen schon in der Balconthür auf den soeben zurückkehrenden Doctor, der ihn sogleich in Beschlag nahm.

„Nun, da sind Sie ja endlich! Professor, was um Gotteswillen machen Sie für Streiche? Friedrich hat das ganze Haus bereits in Alarm gebracht mit seiner Schreckensbotschaft.“

Damit ergriff er ihn ohne Weiteres beim Arm und zog ihn wieder in’s Zimmer zurück. Das schien nun allerdings das Letzte zu sein, was der Professor wünschte, er folgte nur mit sichtlichem Widerstreben und blieb, die Einladung zum Niedersitzen nicht beachtend, aufrecht neben dem Stuhle stehen, den der Arzt ihm hinschob.

Ohne ein Wort zu sagen, stand Jane auf und verließ das Zimmer. Der Doctor blickte ihr verwundert und mißbilligend nach, die Unart seiner Nichte gegen den Hausgenossen fing nachgerade an, alle Grenzen zu übersteigen. Fernow’s Lippen zuckten, aber kein Blick verrieth, daß er die Bewegung überhaupt gesehen.

Miß Forest war indessen nicht weit gegangen, im Nebenzimmer lehnte sie finster und feindselig am Fenster. Sie wollte nicht in einem Zimmer mit diesem Manne bleiben, der sich erlaubte, sie und ihren Zorn zu ignoriren, aber – hören wollte sie denn doch, was er bei ihrem Oheim suchte, und durch die nur angelehnte Thür vernahm sie denn auch jede Silbe des Gesprächs, das der Doctor zuvörderst mit einer nachdrücklichen Strafpredigt einleitete.

„Und nun sagen Sie mir vor allen Dingen, hat der Friedrich den Verstand verloren, oder ist es wahr, daß Sie für diensttauglich erklärt sind, daß Sie das selber provocirt haben, daß Sie sich für gesund ausgaben, während es Sie doch nur ein Wort, ein bloßes Stillschweigen kostete, das Gegentheil zu beweisen? Ist so etwas erhört?“

Der Professor sah vor sich nieder. „Es war eine Aufwallung!“ sagte er leise. „Ich war ja so völlig sicher und gefaßt auf eine Zurückweisung, aber das achselzuckende Mitleid des Arztes raubte mir alle Besinnung. Allein als elender Schwächling nach Haus geschickt zu werden, wo Alles zum Kampfe eilt, das ertrug ich nicht! Es war eine Thorheit, ich werde sie mit dem Leben bezahlen müssen, aber – ich würde sie noch einmal begehen!“

„Sie scheinen bisweilen merkwürdige Aufwallungen zu haben,“ meinte der Doctor mit einem Blick nach der Zeitung hinüber. „Nun, davon nachher, jetzt handelt es sich vor allen Dingen darum, wie wir die Dummheit – nun, fahren Sie nur nicht gleich auf, ich meine den Oberstabsarzt – wie wir also die Dummheit des E. möglichst wieder gut machen. Ich werde ihm [310] den Text lesen! Ich fahre mit Ihnen hinüber nach H. und da soll er es mir mit seinem Einfluß und seinen Bekanntschaften durchsetzen, daß Sie zum Bureaudienst commandirt werden. Das halten Sie zur Noth noch aus, denn ganz rückgängig kann die Sache nun einmal doch nicht gemacht werden.“

In dem Antlitz des Professors stieg wieder die sturmverkündende dunkle Röthe auf, seine Stirn zog sich finster zusammen und seine Stimme klang eigenthümlich gereizt, als er erwiderte: „Ich danke Ihnen für den guten Willen, Doctor, muß aber alle und jede Einmischung Ihrerseits entschieden ablehnen. Ich bin zum Dienst mit der Waffe einberufen und werde dem Rufe folgen, genau so wie er an mich ergangen ist.“

In sprachloser Verwunderung sah der Doctor ihn an. Er war gewohnt, die unbedingteste Autorität über seinen Patienten auszuüben, war noch mehr an die stets geduldige Fügsamkeit desselben gewöhnt und jetzt auf einmal rebellirte dieser ganz offen gegen den zu seinem Besten gefaßten Beschluß. Das war dem Doctor zu viel, er wurde grob.

„Sind Sie toll?“ rief er heftig. „Sie wollen mit der Waffe dienen? Sie? Nein, das übersteigt denn doch alle Begriffe!“

Der Professor schwieg, aber er biß die Zähne zusammen, wie Friedrich es vorhin beschrieben, und schaute blutroth im ganzen Gesichte den Doctor mit einem Blicke an, daß dieser sofort einen anderen Ton anschlug.

Nennen Sie mir nur einen Grund, nur einen einzigen vernünftigen Grund für diesen Unsinn!“ sagte er fast bittend. „Können Sie dem Vaterlande nicht ebenso gut mit der Feder dienen, wenn Sie es sich nun einmal in den Kopf gesetzt haben? Warum wollen Sie nicht in die Bureaux, sagen Sie mir nur warum?“

„Ich will nicht!“

„Sie sind ein Eisenkopf!“ rief Stephan, wieder zornig werdend. „Sie haben darin eine merkwürdige Aehnlichkeit mit meiner Nichte. ‚Ich will nicht!‘ Und nun kann die ganze Welt sich dagegen setzen, es geschieht doch nicht. Genau Jane’s Manier, sogar ihr Ton, als hätten Sie es ihr abgelernt. Einer wie der Andere, ihr könntet zusammen ein Paar abgeben!“

„Doctor, ich bitte, verschonen Sie mich mit diesem albernen Scherz!“ brach der Professor in vollster Heftigkeit aus, indem er heftig mit dem Fuße stampfte.

Doctor Stephan stand einen Augenblick ganz starr vor dieser Kraftäußerung seines sanftmüthigen Patienten, dann aber sagte er in einem Tone aufrichtiger Bewunderung:

„Ich glaube, Sie können jetzt sogar grob werden.“

Fernow runzelte die Stirn und wendete sich ab.

„Nun, es war natürlich nur ein Scherz!“ entschuldigte sich Stephan, „ich weiß ja, daß Sie mit Jane so halb und halb auf dem Kriegsfuße stehen; aber Sie können jetzt merkwürdig heftig werden, Professor! Ich finde überhaupt, daß Sie seit den letzten zwei Monaten gar nicht mehr derselbe sind.“

Fernow vertheidigte sich mit keiner Silbe gegen den Vorwurf, er schwieg hartnäckig.

„Um nun wieder auf die Hauptsache zu kommen,“ begann der Doctor von neuem, diesmal aber etwas kleinlaut, „Sie wollen also meine Verwendung nicht annehmen?“

„Nein!“

„Sie wollen wirklich morgen mit ausmarschiren?“

„Auf jeden Fall.“

„Nun denn – zwingen kann ich Sie nicht, und wenn es denn durchaus nicht anders sein kann,“ hier brach auch bei dem Doctor der Patriotismus durch, er streckte ihm herzlich die Hand entgegen, „so gehen Sie in Gottes Namen. Wer weiß! Am Ende ist der Oberstabsarzt mit seinem Gewaltstreich klüger als wir Alle, und Eins wenigstens hat er Ihnen bewiesen, was Sie mir niemals glauben wollten, daß Sie weder schwindsüchtig sind, noch sonst eine ausgesprochene Krankheit haben, und ihre Nerven – erinnern Sie sich, was ich Ihnen vor vier Wochen anrieth?“

Der Professor hob langsam das Auge zu ihm empor. „Ein Gewaltmittel!“ sagte er leise.

„Richtig! Eine Radicalcur, vor der Sie sich damals entsetzten. Zu einem Tagelöhnerleben konnten Sie sich nicht entschließen, aber in’s Kriegsleben stürzen Sie sich jetzt, ohne mich zu fragen. Nun das Gewaltmittel hätte ich ihnen freilich nicht angerathen, denn damit können wir nicht aufhören, wenn die Dosis sich als zu stark erweist, da heißt es biegen oder brechen! Aber wenn Sie es einmal darauf wagen wollen – Glück zu.“

Der Professor lächelte trübe. „Ich habe wenig Vertrauen zu dieser Blut- und Eisencur,“ sagte er ruhig. „Ich werde fallen, das fühle ich, ob vor dem Feinde, ob in Folge der ungewohnten Anstrengung – gleichviel, jedenfalls schneller und besser, als nach jahrelangem Siechthum hinter dem Schreibtisch. Rauben Sie mir diese Ueberzeugung nicht, Doctor, es ist das Beste, was ich mit mir nehme, so nütze ich doch wenigstens etwas in der Welt!“

„Kommen Sie mir nicht wieder mit ihren Todesahnungen!“ rief der Doctor böse. „Sterben – Unsinn! Das werden wir uns in B. verbitten! Sie nützen also gar nichts im Leben? Sie haben kein Werk geschrieben, über das die ganze Gelehrtenwelt außer sich gerieth vor Bewunderung?“

Um die Lippen des Professors zuckte es mit schmerzlicher Bitterkeit. „Und das der gesammten übrigen Welt ein ‚todter Bücherstaub‘ bleiben wird.“

„Wirklich? und der Artikel, den Sie heut Morgen in der –zeitung losließen, war das auch bloßer Bücherstaub? Ja, entsetzen Sie sich nur, daß ich es weiß, die ganze Stadt weiß es, die Universität dito, – Professor, seit Sie das geschrieben haben, halte ich bei Ihnen alles für möglich, da verzweifle ich an nichts mehr!“

Fernow hörte kaum die letzten Worte, sein Blick war der Hand des Doctors gefolgt, die nach der erwähnten Zeitung wies, und in seinen Augen flammte es plötzlich auf, wie eine tiefe glühende Genugthuung – das Blatt lag in dem Lehnstuhl, wo Jane vorhin gesessen.

„Und Sie sollten sich schämen,“ rief Stephan, in immer größeren Eifer gerathend, „Sie sollten sich wirklich schämen, so kleinmüthig zu sein, während Sie mit ihrer Feder Tausende zu flammender Begeisterung fortreißen.“

Das Antlitz des Professors verdüsterte sich wieder, es lag ein harter bitterer Ausdruck darauf.

„Mit der Feder!“ sagte er langsam. „Die Feder hat sich noch immer die Verachtung gefallen lassen müssen, wo der Augenblick Thaten fordert. Ich stehe jetzt mit all meinem Wissen und Können hinter Friedrich zurück, der mit einem Paar kräftiger Arme für das Vaterland kämpfen kann, ich – kann höchstens sterben dafür, aber gleichviel, ich danke es dennoch ihrem Oberstabsarzte, er hat mich wenigstens losgesprochen von dem Fluche, jetzt nur ein – Federheld zu sein!“

Der Doctor schüttelte den Kopf. „Wenn ich nur wüßte, wie Sie auf einmal zu dieser furchtbaren Bitterkeit kommen! Das klingt ja, als hätte Ihnen irgend Jemand eine tödtliche Beleidigung angethan mit dem Worte. Ich sage es ja, Ihre ganze Natur ändert sich.“

Mit einem schweren gepreßten Athemzuge, als wolle er eine Last von sich werfen, richtete Fernow sich empor.

„Ich vergesse ganz, was mich zu ihnen führt!“ sagte er abbrechend. „Man läßt uns wenig Zeit, wir müssen heut Abend bereits wieder nach H. zurück, da die Ordre auf morgen früh lautet. Ich wollte Sie bitten, meine Wohnung und meine Bibliothek unter ihre Obhut zu nehmen. Im Fall meines Todes schalten Sie mit der ersteren, wie es Ihnen gut dünkt, die letztere bleibt der Universität; es ist manches Werthvolle darunter, ich habe sie zum größten Theil geerbt.“

„Ja, und wenn denn doch einmal ein förmliches Testament gemacht werden soll,“ fiel der Doctor ein, dann bitte ich um die Adresse Ihrer Verwandten, für alle möglichen Fälle. Ich mochte bisher nicht danach fragen, Sie hielten ein so strenges Geheimniß über Ihre Familienbeziehungen.“

„Geheimniß? Ich habe nichts zu verbergen. Ich besitze keine Verwandten.“

„Was, nicht einen einzigen?“

„Niemanden! Ich stehe ganz allein in der Welt!“

Es lag ein ruhiges, aber tiefes Weh in den Worten. Der Doctor schwieg theilnehmend, Fernow reichte ihm die Hand.

„Ich sage ihnen jedenfalls Lebewohl. Jetzt habe ich noch Manches zu ordnen; auf heute Abend denn!“

Er ging. Stephan begleitete ihn bis zur Thür und verabschiedete sich dann mit einem herzlichen Händedruck. Der Professor [311] trat in das Salonzimmer, das er durchschreiten mußte, um auf den Hausflur zu gelangen; seine Züge hatten ganz wieder den sanften schwermüthigen Ausdruck, der ihnen sonst eigen war; plötzlich aber zuckte er auf und wich zurück – er erblickte Miß Forest.

Sie hatte ihren Platz am Fenster nicht verlassen, aber sie war etwas vorgetreten, so daß er sie sehen mußte, und ihr Blick begegnete dem seinigen. Jane’s Augen vermochten es nicht, weich oder träumerisch zu blicken, und selbst das Feuer darin glich immer nur einem Nordlichtscheine auf dem Eisfelde; aber dennoch lag eine seltsame Gewalt in diesen dunklen Tiefen, die Macht eines stolzen unbeugsamen Willens, der nicht zu locken, aber zu zwingen verstand, und sie war sich dieser Macht im vollsten Maße bewußt. So selten sie auch angewendet ward, brauchte sie sie einmal, dann blieb ihr auch der Sieg, und kein Sieg über das Gewöhnliche. Den starken Charakter des Vaters hatte sie mit diesem Blicke gebeugt, die immer bereiten Sarkasmen Atkins’ verstummen gemacht, die kalte, gleich energische Natur Henry’s zu ihren Füßen gezwungen. Und jetzt galt es auch etwas zu erzwingen, den Schritt, mit dem ein Anderer trotz alledem ihren Weg kreuzen sollte und mußte, das Abschiedswort, das sie nun einmal von seinen Lippen hören wollte – darum strahlten diese Augen jetzt in ihrem vollen mächtigen Glanze, und tief unten, hinter all dem Eise, da flammte etwas, was wärmer war als bloßer Nordlichtschein.

Auch Fernow schien dieser räthselhaften Macht zu erliegen; wie festgebannt hing sein Blick an ihrem Antlitz; er sah es, sie wartete, wartete auf ein Lebewohl. Nur einen Schritt kostete es ihn, nur ein einziges Wort, es galt ja den Abschied, vielleicht auf Nimmerwiedersehen! In Jane’s Zügen blitzte es triumpirend auf – da verdüsterte sich auf einmal das Gesicht des Professors, jede Muskel spannte sich an zum energischen Widerstande. Langsam, als weiche er Schritt für Schritt aus dem Bereiche einer dämonischen Gewalt, so riß er das Auge los von ihrem Antlitz; seine Lippen zuckten, als sie sich aufeinanderpreßten, um das Abschiedswort zu verschließen; seine Brust hob sich krampfhaft im qualvollsten inneren Kampfe, aber der beleidigte Stolz des Mannes hielt Stand vor der Versuchung. Er wandte sich zum Gehen, eine Verbeugung, so kalt, so fremd, wie die letzte auf dem Ruinenberge, und die Thür fiel hinter ihm zu – er hatte Wort gehalten!

Jane stand da wie eine Bildsäule; das war zu viel! Sie hatte sich herabgelassen zu warten, hatte die ganze Zeit gewartet und stand nun da, entschlossen, die Hand zur Versöhnung zu bieten, bereit, ein letztes Abschiedswort zu geben und zu empfangen, und diese unglaubliche Selbstüberwindung ward so aufgenommen! Was wollte denn dieser Mann? Verlangte er etwa gar, sie solle ihm Abbitte leisten?

Abbitte! Bei dem bloßen Worte schon empörte sich das ganze Wesen der jungen Dame in Zorn und Entrüstung; das war etwas, was sie nicht kannte. Miß Forest, die Alles so klar prüfte, so ruhig überlegte, sie kam nie in den Fall, eine Aufwallung bereuen oder einen Irrthum wieder gut machen zu müssen, weil sie sich niemals hinreißen ließ; und selbst in ihren Kinderjahren war die Abbitte etwas, das ihr unmöglich schien. Sie trug jede Strafe, aber sie trotzte finster dabei, trotzte eher wochenlang, ehe das Wort „Verzeihung“ von ihren Lippen kam, und Forest fühlte in dem Kinde viel zu sehr seine eigene Natur, um bei ihm etwas zu erzwingen, was er selbst als eine Erniedrigung empfand. Der Gedanke blitzte nur auf, um sofort mit Abscheu zurückgewiesen zu werden – er wollte kein Lebewohl, nun denn, so mochte er ohne dasselbe gehen, in’s Feld, in den Tod, wie er selbst meinte.

Und was hatte ihn dazu getrieben? Sie wußte es jetzt, die bittere Genugthuung, mit der er das Lossprechen vom „Federhelden“ begrüßte, hatte es ihr verrathen. Das Wort hatte gewühlt und gewühlt in dem Manne, wochenlang; es war der Stachel, der allein ihn trieb, als er etwas unternahm, dem seine Kraft nicht gewachsen war, und wenn er nun unterlag, wenn er zu Grunde ging an dieser Aufgabe, wer trug die Schuld?

Jane begann heftig im Zimmer auf und nieder zu gehen; sie wollte den Gedanken von sich weisen, und doch kam er immer und immer wieder zurück. Sie hörte nur sein mit so düsterer Ergebung gesprochenes „Ich habe Niemanden, ich stehe ganz allein in der Welt!“ Sie preßte die Hand gegen die Brust, als habe jenes Weh dort ein Echo gefunden; hätte sie ihm jetzt gegenüber gestanden, vielleicht – da bäumte sich der alte Trotz wieder in seiner ganzen Wildheit empor, und sie preßte die Hände ineinander und stampfte außer sich mit dem Fuße. „Nein! Und nein! Und abermals nein!“

Der Nachmittag verging reißend schnell mit der Besorgung all’ des Nöthigen für die beiden Abreisenden, endlich war alles geordnet, gepackt, zugeschlossen, und mit der beginnenden Abenddämmerung stand Friedrich reisefertig vor dem Doctor und seiner Frau, um Abschied zu nehmen. Der arme Bursche sah sehr niedergeschlagen aus, um seinen breiten Mund zuckte es schmerzlich, mühsam schluckte er die aufquellenden Thränen hinunter und weder das schwere Geldpäckchen, das der Doctor ihm zusteckte, noch das Versprechen der Doctorin, auch im Felde nach Möglichkeit für ihn zu sorgen, vermochte ihn aufzuheitern.

„Schäme Dich, Friedrich!“ schalt Stephan. „Ist das eine Art in den Krieg zu gehen? Mit solcher Jammermiene, mit nassen Augen? Ich hätte Dir mehr Courage zugetraut.“

Friedrich sperrte die nassen Augen verwundert auf, es dauerte eine ganze Weile, ehe er den Vorwurf überhaupt begriff, dann aber machte auch die Niedergeschlagenheit sogleich der tiefsten Gekränktheit Platz.

„Meinen Sie etwa, Herr Doctor, daß ich mich fürchte?“ rief er entrüstet. „Mir ist es ja eine wahre Wonne, das Gewehr auf den Rücken zu nehmen und dreinzuschlagen, daß nur alles so kracht! Aber mein armer Herr Professor! dem kostet die Geschichte das Leben, noch ehe er vor den Feind kommt!“

„Nun, das ist doch noch nicht ausgemacht!“ meinte der Doctor, während Frau Stephan, in vollster Uebereinstimmung mit Friedrich, ihr Taschentuch an die Augen drückte. „Vielleicht hält er es besser aus, als wir alle denken. Ich sage es Dir noch einmal, er ist gar nicht so krank, als Du Dir einbildest, und wenigstens reißt ihn das Kriegsleben von dem Studiren los, was unter allen Umständen ein Glück ist.“

„Er geht drauf!“ beharrte Friedrich mit traurigem Kopfschütteln. „Er geht ganz gewiß drauf! Beim ersten Marsch liegt er im Lazareth, und wenn ich nicht bei ihm sein und ihn pflegen kann, so stirbt er auch. Und daran,“ hier brach die von Mr. Atkins so gefürchtete Bärennatur Friedrich’s in unbändiger Wildheit durch, „darin sind auch nur die verdammten Franzosen schuld! Mindestens ein Dutzend schlage ich todt dafür!“

„Nun, nun, warte nur wenigstens damit, bis Du in Frankreich bist!“ rief der Doctor, vor der wüthenden Pantomime retirirend, „übrigens wollen wir erst abwarten, ob Du den Manen Deines Herrn ein solches Todtenopfer zu halten brauchst. So viel ich weiß, hat er doch das ganze Freiwilligenjahr durchgemacht und ist am Leben geblieben.“

„Das war vor zehn Jahren!“ sagte Friedrich, noch immer hoffnungslos. „Damals war er noch weit gesünder und kräftiger, und beim Manöver hat er auch im Lazareth gelegen. – Nun, es hilft einmal nichts! Adieu, Herr Doctor, adieu, Frau Doctorin!“ er streckte den Beiden treuherzig seine große Hand entgegen und die hellen Thränen liefen ihm trotz alles Wehrens und Sträubens über die Backen. „Sie haben mir viel Gutes gethan in den drei Jahren; wenn ich zurückkomme, will ich’s redlich wieder gut machen, wenn nicht – vergelt’s Gott!“

Damit drückte und schüttelte er mit seiner Riesenfaust die dargereichten Hände, nahm noch eine Ermahnung und ein paar gute Rathschläge in Empfang, schwenkte die Mütze und polterte die Treppe hinab, seinem Herrn nach, der bereits von dem Ehepaare Abschied genommen hatte und noch auf einen Augenblick in den Garten gegangen war.

Der Professor stand am äußersten Ende desselben, auf die Gitterthür gestützt, und blickte träumend und unverwandt auf eine jetzt trockene Stelle des Heckenganges, der ihn von dem vorüberrauschenden Strome schied. Die Sonne war bereits untergegangen und das letzte Abendroth verglommen, am Himmel glänzten matt die ersten Sterne, zwischen den Bäumen und Gebüschen lagerten schon dämmernde Schatten, kühl strich der Nachthauch darüber hin. Von drüben her tönte das leise Murmeln und Rauschen der Wellen, die alte, liebe, vertraute Stimme flüsterte ihm den Abschiedsgruß, ob von der Heimath, ob vom ganzen Leben? gleichviel – es war der letzte, den er zu erwarten hatte.

Da rauschte es auf einmal auch von der anderen Seite, aber lauter, heftiger, wie ein seidenes Frauengewand, das den [312] Kies des Ganges streifte; Fernow wandte sich um, von einer Ahnung durchzuckt; vor ihm stand Jane, todtenbleich, den Blick zu Boden geheftet, die Hände fest ineinander geschlungen und mit einem Ausdruck, als gelte es jetzt das Furchtbarste in ihrem ganzen Leben. Die Brust hob und senkte sich krampfhaft, die Lippen zuckten, sie wollten nicht gehorchen, und endlich öffneten sie sich doch zu dem verhängnisvollen Worte:

„Ich – ich bitte um Verzeihung!“

„Miß Forest! Johanna!“ rief er in ausbrechender Leidenschaft; aber da hatte sie sich schon gewandt und floh, wie gejagt, den Gang hinauf. Er wollte ihr nachstürzen, da hallte die Stimme Friedrich’s laut durch den ganzen Garten.

„Herr Professor, wir müssen fort! Herr Professor, wo sind Sie? Wir haben keine Minute mehr Zeit!“

Fort! In diesem Augenblicke! Die neue Pflicht forderte das erste schwere Opfer, ein minutenlanger Kampf, dann war es überstanden!

„Ich komme!“ klang es in festem Tone zurück. Er eilte dem Hause zu. Unter dem Weinlaub des Balcons dunkelte es bereits, nur die Umrisse der hellen Gestalt waren noch sichtbar, die sich zur Hälfte darunter verbarg; einen Moment lang zögerte der Fuß des Professors, nur einen einzigen, und heiß und innig klang das nun endlich erzwungene Abschiedswort zu ihr hinauf:

„Lebe wohl!“




Wochen und Monate waren vergangen, seit der erste Ruf zu den Waffen erklungen, und noch immer tobte das Kriegswetter mit unverminderter Gewalt, aber der Pfeil war auf den zurückgeschnellt, der ihn abgesandt. Am Rhein reifte friedlich die Traube und färbte sich dunkler von Tag zu Tag, auf den Feldern wogte die goldene Ernte, in den Städten flatterten die Siegesbanner, aber drüben in Frankreich, da sanken die Rebenhügel, verwüstet und blutgetränkt, da zerstampften Mann und Roß die blühenden Fluren, da schlug der Brand der Dörfer in flammender Lohe zum Himmel empor. All die Schrecknisse, die den Rheinlauben zugedacht waren, sie trafen jetzt den eigenen Boden, ein spätes, aber furchtbares Strafgericht für die einst so frevelhaft verheerte Pfalz, selbst der Sieger vermochte es nicht mehr zu hemmen, das einmal entfesselte Verderben nahm seinen Lauf, hinweg über Schuldige und Unschuldige, und das zuckende Land empfand jetzt endlich selbst die ganze Schwere des Wortes, mit dem es sich oft genug von jeder Verantwortung freigesprochen – c’est la guerre!

Ununterbrochen vorwärts ging der Siegeszug der deutschen Heere, vom Rhein zur Mosel, von der Mosel zur Maas, von der Maas zur Seine, Alles niederwerfend, was ihm im Wege stand. Stadt für Stadt öffnete ihre Thore, Festung auf Festung fiel nach längerem oder kürzerem Widerstande, die heiße Augustsonne brannte nieder auf sieben Schlachtfelder, sie begrüßte ebensoviel Siegesdenkmale, und das erste kühlere Wehen des September strich über jenen Boden, wo der weichende Feind, von allen Seiten umzingelt, eingeschlossen, erdrückt, sich endlich bezwungen gab. Ein ganzes französisches Heer, das einst gefürchtete Haupt an der Spitze, hielt nun wirklich den so sicher verheißenen Einzug in Deutschland, aber – ohne Wehr und Waffen, indeß seine Ueberwinder weiter vordrangen, mit rastlos eiserner Beharrlichkeit, nach dem Herzen Frankreichs, nach Paris!

In der Departementshauptstadt N. herrschte, trotzdem die eigentliche Kriegswoge längst darüber hinaus war, ein reges militärisches Leben. Die Stadt lag als eine der Hauptstationen auf der großen Militär- und Etappenstraße, die jetzt von Deutschland in das Innere Frankreichs führte. Nachrückende Regimenter, endlose Proviant- und Munitionscolonnen kreuzten sich hier mit den rückkehrenden Transporten von Kranken und Verwundeten, mit Ambulancen und Courieren, alle Straßen waren vollgepfropft mit Menschen, Wagen und Pferden, alle Quartiere überfüllt, und die beiden Reisenden, dem Anscheine nach Amerikaner oder Engländer, welche gestern angelangt waren, konnten, obwohl sie unzweifelhaft zu den Reichen gehörten, noch von Glück sagen, in einem Hôtel zweiten Ranges ein hochgelegenes, dürftig ausgestattetes Zimmer für einen unmäßigen Preis zu erhalten.

Es war am Morgen nach ihrer Ankunft, der Fremde saß im Sopha, während seine junge Begleiterin am geöffneten Fenster stand und auf die Straße hinabblickte, wo sich auch heute wieder ein wirres Durcheinander von Fußgängern und Fuhrwerken drängte, dessen unaufhörliches Lärmen und Toben bis zu ihr hinaufdrang.

„Ich begreife nicht, wie Sie diesen betäubenden Lärm da unten noch aushalten, Miß Jane! Sind Sie denn dieses ewigen Gewoges und Getreibes nicht endlich müde?“

„Nein!“ lautete die kurze, etwas übellaunige Antwort der jungen Dame, die sich in diesem Augenblick weit vorbeugte, um einen Wagen mit Verwundeten schärfer in’s Auge zu fassen. Ihr Blick haftete unverwandt auf den bleichen Zügen der Kranken, sie sah ihnen nach, bis der Wagen um die Ecke bog.

„Nun, dann haben Sie bessere Nerven als ich!“ sagte Atkins resignirt. „Ich bekenne, in den letzten acht Tagen vollständig mürbe geworden zu sein. Eine volle Woche zu dieser Fahrt nach N., das man sonst in vierundzwanzig Stunden erreicht, Nachquartier in den elendesten Dörfern, Essen, wie ich es in meinem Leben nicht gekostet, stunden- und tagelanges Liegenbleiben in halbzerstörten Ortschaften, gesprengte Brücken, unpassirbare Wege, und dabei immer in Gefahr, daß in unserer nächsten Nähe eine Schlacht geschlagen und wir von der Sieges- und Fluchtwoge mit fortgerissen werden – ich sollte meinen, das Alles hätte Ihnen nun endlich bewiesen, wie unmöglich es ist, Familienbeziehungen bis auf den Kriegsschauplatz verfolgen zu wollen.“

Jane hatte während dieser Rede das Fenster geschlossen und wandte sich jetzt um. „Unmöglich?“ fragte sie ruhig. „Ich dächte, wir wären trotz alledem in N. angelangt, und hier wartet unser jedenfalls eine Entscheidung.“

„Oder eine neue Enttäuschung! Diese Spur narrt uns in einer ganz empörenden Weise, kaum meinen wir sie zu haben, so springt sie plötzlich ab, und weist nach einer andern Himmelsgegend. Vorläufig sind wir in Frankreich, mich sollte es durchaus nicht wundern, wenn wir das nächste Mal nach Amerika zurückdirigirt würden, von da zur Abwechselung wieder nach dem Rhein, und so fort.“

„Gleichviel!“ erklärte Jane energisch. „Ich habe es meinem Vater gelobt, wenn mein Bruder noch am Leben ist, ihn zu finden und nur der Unmöglichkeit zu weichen. Ich werde Wort halten!“

„Wäre es wenigstens noch eine directe Spur, der wir folgen!“ hob Atkins wieder an; „aber wen suchen wir denn? Einen Menschen, der uns über die eigentliche Hauptperson möglicher Weise Auskunft geben könnte!“

„Vielmehr den Einzigen, der sie uns wirklich geben kann! Die directe Spur ging verloren; jener Geistliche war nicht aufzufinden, weder von seiner ehemaligen Pfarre aus, noch in anderer Weise; alle unsere Bemühungen nach dieser Richtung scheiterten; dafür fanden wir den Handwerker, der den anderen Knaben zu sich nahm.“

„Um von ihm die erfreuliche Nachricht zu empfangen, daß sein Neffe bereits vor vier Jahren nach Frankreich gewandert sei und augenblicklich gerade dies N., das so recht inmitten all der heillosen Kriegsoperationen liegt, zum Schauplatz seiner jedenfalls höchst achtungswerthen Leistungen an der Hobelbank gewählt habe.“

In Jane’s Augen flammte es halb unwillig auf. „Sie vergessen das Wichtigste, das Eine, was allein uns herführte, die Behauptung jenes Mannes, daß der ehemalige Gefährte des jungen Erdmann noch am Leben sei, daß die Beiden, nachdem sie jahrelang getrennt waren, sich bei Ableistung ihrer Militärpflicht wiedergefunden. Näheres vermochte er uns freilich nicht anzugeben, sein Neffe diente damals fern von ihm in einer größeren Garnisonstadt; das aber erinnerte er sich ganz bestimmt aus seinem Munde gehört zu haben. Ich weiß also jetzt, daß mein Bruder noch lebt, daß es Jemand auf der Welt giebt, der ihn kennt, der mir seinen Aufenthalt nennen kann. Scheint Ihnen dies kein Schritt, den wir vorwärts gethan haben? Es ist mehr, als ich je gehofft!“

„Aber ich bestreite ja das ganz und gar nicht!“ vertheidigte sich Atkins gegen den beinahe zürnenden Ton der jungen Dame. „Ich war nur der Ansicht, die ferneren Nachforschungen bis nach Beendigung des Krieges aufzuschieben.“

Jane hob mit einer heftigen, diesmal vollendet unwilligen Bewegung das Haupt empor.

[325] „Bis zur Beendigung des Krieges,“ rief Jane aus, „der alle Verhältnisse zerreißt und die Menschen hier- und dorthin sprengt? Noch kam die Nachricht nicht zu spät, ich hoffe es wenigstens, aber nicht einen Augenblick durften wir zögern, sie zu benutzen, und da ein brieflicher Verkehr nicht denkbar war, so gab es nur einen Ausweg, ich mußte persönlich eintreten und selbst der Spur folgen. Wenn Sie unter den Gefahren und Entbehrungen der Reise leiden, Mr. Atkins – es ist Ihre Schuld, ich wäre auch allein gegangen!“

„Ja, weiß Gott, das wären Sie!“ sagte Atkins mit einem Seufzer. „Jane, Sie sind manchmal ganz erschreckend mit Ihrer rastlosen Energie! Ich gehöre doch wahrhaftig nicht zu den Trägen und Unentschlossenen, aber dies ruhelose Vorwärtsjagen nach einem einzigen Ziele spannt mich zuletzt völlig ab.“

„Mich nicht!“ erklärte Jane mit kalter Festigkeit. „Ich bin entschlossen, noch weiter zu gehen, ich wiederhole es Ihnen, bis an die Grenzen des Möglichen.“

„Nun, wenigstens eine Gewißheit haben wir,“ hob Atkins nach einer Pause wieder an, „der deutsche Meister, bei dem der junge Erdmann noch beim Beginn des Krieges in Arbeit stand, ist noch hier. Sie wissen ja, ich ging gestern von der Mairie, wo mir die betreffende Auskunft ward, sofort nach dem bezeichneten Hause; freilich fand ich es verschlossen, die ganze Einwohnerschaft ausgeflogen, um die eben neu einrückenden preußischen Regimenter zu sehen, unter denen man Landsleute zu finden hoffte. Diese Kenntniß schöpfte ich wenigstens aus meiner höchst merkwürdigen Unterhaltung mit einer höchst schwatzhaften Nachbarin – merkwürdig, denn sie verstand kein Englisch und ich kein Französisch, wir waren genöthigt, eine sehr ausdrucksvolle Mimik zu Hülfe zu nehmen, vermittelst deren ich ihr denn auch begreiflich machte, daß mein Besuch dem Monsieur Erdmann und seinem Meister galt, daß ich heut’ wiederkommen werde, und daß sie mich unendlich verbinden werde, wenn sie meine Karte mit unserer Adresse einstweilen dem betreffenden Monsieur übermitteln wolle. So weit gelangten wir glücklich mit unserer Geberdensprache, und nun bin ich in der That neugierig auf die unvermeidliche Confusion, die Madame ohne Zweifel aus der Geschichte gemacht hat.“

Jane blickte auf die Uhr. „Es ist bald neun, ich glaube, wir können uns jetzt zu dem Gange fertig machen.“

Die Antwort, die Atkins eben zu geben im Begriff stand, unterbrach ein Klopfen an die Thür, sie ward geöffnet und ein alter Mann mit weißen Haaren, einfach, aber durchaus nicht dürftig gekleidet, mit einem bescheidenen freundlichen Wesen, trat ein, um sich sofort in gutem Französisch an die beiden Fremden zu wenden.

„Ich bitte um Verzeihung, aber man wies mich hier hinauf. Ich bin der Tischlermeister Vogt, Rue de –, ein fremder Herr hat gestern nach mir gefragt und eine Karte mit seiner Adresse zurückgelassen, die, wenn ich recht verstand, eine Aufforderung sein sollte, ihn aufzusuchen. Ich bin doch am rechten Orte?“

Atkins verstand natürlich nichts von dieser an ihn gerichteten Anrede. Jane aber, die des Französischen vollkommen mächtig war, übersetzte ihm rasch das Nöthige und wendete sich dann, mit Rücksicht auf ihren Begleiter deutsch, zu dem Ankömmlinge.

„Sie sind ganz recht berichtet, aber der Besuch jenes Herrn galt nicht Ihnen, sondern einem jungen Manne, der, wie man uns mittheilte, bei Ihnen in Arbeit steht. Es ist ebenfalls ein Deutscher, der Tischlergeselle Franz Erdmann; wir suchen ihn und waren soeben im Begriff, deshalb wieder zu Ihnen zu kommen!“

„Den Franz suchen Sie?“ sagte der alte Mann nun auch in der Muttersprache. „Du lieber Gott, der ist schon seit sechs Wochen fort. Gleich nach der Kriegserklärung verließ er uns und ging nach Deutschland zurück. Er ist jetzt im preußischen Heere.“

Jane erbleichte unwillkürlich. Wieder umsonst! aber die Enttäuschung, die nach so sicherer Hoffnung jede Andere niedergeschlagen hätte, erbitterte sie nur, ihre Lippen preßten sich fest aufeinander und die Spitze ihres Fußes schlug den Boden. Wenn sie auch der Empfindung keine Worte lieh, man sah es, im Innersten legte sie sich nur ein erneutes Gelübde ab, trotz alledem und alledem doch vorwärts zu gehen.

Mr. Atkins nahm die Auskunft nicht so schweigsam hin, sein Aerger machte sich in lauten Ausrufungen Luft.

„Im Heere! Ich glaube, dies glorreiche preußische Kriegsheer umfaßt nachgerade die gesammte Menschheit! Wo wir anfragten, im Laufe unserer Nachforschungen, welche Personen wir zum Zeugniß aufriefen, wir erhielten immer nur die eine stereotype Antwort: ‚Im Heere!‘ Ich bin überzeugt, wenn wir endlich die directe Spur des Mr. Forest finden, so weist sie ebenfalls nach ‚dem Heere‘. Wenn im ganzen übrigen Europa nicht, da ist er gewiß zu finden!“

Der Tischlermeister verstand zwar die englisch gesprochenen Worte nicht, aber er hörte es an ihrem Ton und sah es an dem Antlitz der jungen Dame, wie schwer seine Auskunft Beide getroffen.

„Ja, uns geht es auch nahe genug!“ meinte er traurig, „Mir [326] fehlt der Franz überall, und mein Mädel sitzt nun vollends und weint sich die Augen aus, sie sollten zum Herbst ein Paar werden. Aber es half nun doch einmal nichts, er gehörte noch zum ersten Aufgebot und wir wollten die Sünde nicht auf uns nehmen, ihn festzuhalten.“

„Sünde!“ grollte Atkins wieder in seinem Englisch zu Jane gewendet. „Haben Sie je dergleichen gehört? Dieser Bursche sitzt sicher und geborgen hier in Frankreich, wo kein Mensch nach seiner Militärpflicht fragt. Er will hier heirathen, sich niederlassen, kommt wahrscheinlich in seinem Leben nicht nach Deutschland zurück, und kaum bricht der Krieg aus, so läuft er wieder nach Hause, läßt Braut, Hochzeit, Gewerbe, Alles im Stich, und meldet sich Hals über Kopf, um sich für den geliebten Rhein todt schlagen zu lassen – das Pflichtgefühl bei diesen Deutschen ist wirklich eine Art Manie!“

Jane hörte kaum auf seine Worte, ihr blitzte bereits ein Hoffnungsstrahl, wo Atkins Alles verloren gab; rasch wendete sie sich auf’s Neue zu dem Handwerker.

„Der junge Erdmann stand in naher Beziehung zu Ihrer Familie? Er sollte Ihr Schwiegersohn werden? Nun, dann wissen vielleicht Sie oder Ihre Tochter einiges aus seiner Vergangenheit, das uns von Wichtigkeit sein kann. Wir hoffen von ihm Auskunft in einer Familienangelegenheit zu erlangen, und würden uns gern in jeder Weise erkenntlich dafür zeigen.“

„Nun, was seine Verhältnisse betrifft, die kenne ich ziemlich genau. Er ist länger als zwei Jahre in meinem Hause gewesen, und die Liebesgeschichte mit meiner Marie nahm auch gleich in den ersten Monaten ihren Anfang,“ meinte Vogt bereitwillig. „Fragen Sie nur, Madame, ich denke, ich kann Ihnen Bescheid geben.“

Atkins zog sich etwas zurück, er sah, daß Jane die Sache völlig in ihre eigne Hand nehmen wollte, und überließ ihr das um so lieber, da er sich von dem bevorstehenden Examen kein besonderes Resultat versprach. In der That war seine Hülfe auch nicht nöthig, Miß Forest stellte ihre Fragen so klar, so sicher und energisch, wie der beste Criminalrichter es nicht anders vermocht hätte.

„Ihr künftiger Schwiegersohn ist in dem kleinen Fischerdorfe M. nicht weit von Hamburg geboren?“

Meister Vogt nickte.

„Er kam nach dem Tode seiner Eltern zu Verwandten in P., die ihn erzogen, von dort wanderte er nach überstandener Lehr- und Militärzeit nach Frankreich, um sich in der Kunsttischlerei zu vervollkommnen, und lebt bereits seit zwei Jahren in N. in Ihrem Hause?“

„Ganz recht!“ bekräftigte der Meister. Es ist wirklich unser Franz, den Sie meinen. Das stimmt alles auf’s Haar!“

„Hat er Ihnen nie,“ in Jane’s Stimme verrieth sich wieder die mühsam zurückgehaltene Spannung, „hat er Ihnen niemals von einem Bruder erzählt, der in M. mit ihm zusammen aufwuchs?“

„Das hat er freilich! Aber es war kein rechter Bruder, ein angenommenes Kind, das seine Eltern aus Hamburg mitgebracht hatten und in ihrer Gutherzigkeit behielten, da sich Niemand dazu fand.“

Jane schickte einen triumphirenden Blick zu Atkins hinüber, sie folgte trotz alledem der Spur. „Das also ist Ihnen bekannt? Die Knaben wurden später getrennt, aber auch jener Andere fand Aufnahme?“

„Ja, bei einem Gelehrten.“

Jane hob mit einer fast zuckenden Bewegung das Haupt empor. „Bei – einem Gelehrten!“ wiederholte sie langsam; „man sagte uns, es sei ein Geistlicher gewesen, der Pfarrer Hartwig.“

„Ja, ganz recht, aber nebenbei war es ein sehr gelehrter alter Herr, der immer nur zwischen seinen Büchern steckte. Franz hat uns einmal von ihm erzählt; er gab später sogar seine Pfarre auf – er war nicht arm –, um nur seinem Gelehrtenthum zu leben.“

Jane war auf einmal todtenbleich geworden. Ein Blitz zuckte nieder und zerriß jäh die Dunkelheit, welche auf dem Schicksal des so lang gesuchten Bruders lag, einen Moment lang leuchtete er grell und unheimlich, dann war es wieder Nacht, aber sein Aufflammen mußte der Schwester etwas Entsetzliches gezeigt haben, sie schauderte davor zurück.

„Sind Sie unwohl, Miß Jane?“ fragte Atkins besorgt und machte eine Bewegung, sich ihr zu nähern.

„Nein!“ Jane raffte sich zusammen und wies ihn zurück, ihr Athem ging kurz und heftig und die Hand, mit der sie sich auf den Tisch stützte, zitterte wie im Fieber.

„Und wissen Sie, ob jener Adoptivbruder noch am Leben ist, ob er in irgend einer Verbindung mit Ihrem Schwiegersohne steht?“

„Gewiß ist er noch am Leben,“ sagte der Handwerker ruhig. „Und sie werden sich auch wohl öfter schreiben, um Ostern wenigstens hatte Franz einen Brief von ihm.“

„Aus welchem Ort? Wie war er unterzeichnet?“ In Jane’s Stimme bebte die furchtbarste Erregung, ihr Blick heftete sich auf den Mann mit einem Ausdruck, als gelte es die Entscheidung über Leben und Tod.

Meister Vogt zuckte verlegen die Achseln. „Ja, das kann ich beim besten Willen nicht sagen! Gesprochen hat er wohl von dem Briefe, und auch erwähnt, daß es dem Bruder recht gut ginge, aber er nannte ihn stets nur beim Vornamen und weder meine Tochter noch ich haben das Schreiben zu Gesicht bekommen. Das Einzige, was ich weiß, ist, daß er vom Rheine kam.“

Vom Rheine! Jane legte die Hand gegen die feuchte eiskalte Stirn. Einen Augenblick war es ihr, als müsse sie zusammenbrechen und alles Andere mit ihr, aber sie blieb aufrecht, blieb starr und unbeweglich, den beiden Männern konnte es scheinen, als sei sie unempfindlich.

Atkins blickte befremdet zu ihr hinüber, er wartete, daß sie weiter fragen sollte, wartete eine volle Minute lang, als sie aber immer noch schwieg, ergriff er endlich das Wort.

„In diesem Falle hätten wir uns die beschwerliche Reise sparen können! Vom Rheine kommen wir eben, mein bester Mr. Vogt. Sie wissen uns also weder Namen noch Ort anzugeben? Auch Ihre Tochter nicht?“

„Nicht das Geringste.“

„Nun, dann kann ich Sie nur bitten, mir genau Regiment- und Truppentheil zu bezeichnen, bei welchem Ihr künftiger Schwiegersohn gegenwärtig steht. Sie haben doch während des Krieges Nachricht von ihm erhalten?“

„Erst ein einziges Mal! Wir hofften immer, er werde mit der Armee hier durchkommen, und gestern, als es hieß, daß neue preußische Regimenter einrückten, sind wir allesammt vor’s Thor gelaufen, – in der Hoffnung das seinige zu finden, es war aber nicht dabei.“

Atkins wartete noch immer auf Jane’s Einmischung, ihre völlige Theilnahmlosigkeit stach zu seltsam ab von dem fieberhaften Interesse, das sie noch vor wenigen Minuten gezeigt; da sie aber in ihrer Unbeweglichkeit verharrte, so zog er sein Taschenbuch hervor und notirte sich die betreffenden Angaben. Der Handwerker verabschiedete sich von der jungen Dame, sie neigte wie mechanisch das Haupt und überließ es ihrem Begleiter, ihn mit großer Höflichkeit hinauszubecomplimentiren. Wer weiß, der Mann war doch vielleicht noch einmal in dieser Angelegenheit zu gebrauchen, und Jemand, den Mr. Atkins zu benutzen gedache, erfreute sich stets aller Aufmerksamkeit von Seiten desselben.

Er kehrte, nachdem Jener fort war, wieder zu Jane zurück. „Sagte ich es nicht? Wieder eine andere Himmelsrichtung! Jetzt werden wir nach dem Rheine zurückdirigirt! Das Einzige, was nun bleibt, ist: sich von Deutschland aus brieflich an diesen Mr. Erdmann zu wenden, was jedenfalls leichter auszuführen ist, als eine Correspondenz mit N., zumal wir seine ausführliche Adresse haben. Für den Fall, daß er nicht mehr lebt, müssen wir den Aufruf in sämmtlichen rheinischen Blättern wiederholen. Jedenfalls aber meine ich, daß wir ungesäumt die Rückreise antreten.“

Jane fuhr bei dem Worte aus ihrer Erstarrung empor.

„Weshalb? Wir sind einmal in Frankreich. Vielleicht gelingt es uns, jenes Regiment zu finden!“

„Jane, ich bitte Sie um Gotteswillen, das geht doch zu weit! Ein Regiment auf dem Marsch aufsuchen – welche Idee!“

„Gleichviel, ich will jetzt die Wahrheit wissen! Und kostete es mir das Leben, und müßte ich bis in’s Gefecht, bis in die Schachtlinie vordringen – ich muß Gewißheit haben!“

Atkins stand fast entsetzt vor diesem plötzlichen furchtbaren Ausbruch einer Leidenschaftlichkeit, die er in Jane niemals geahnt, er bemerkte jetzt erst ihre Leichenblässe.

„Mein Gott, was fehlt Ihnen? Sie sind krank! Dacht’ ich’s doch, daß die Ueberanstrengung dieser Reise sich rächen würde!“

[327] Er wollte ihr Hülfe leisten, aber sie wies ihn mit einer heftigen Bewegung zurück.

„Es wird vorübergehen – ich bedarf nichts – nur um ein Glas Wasser bitte ich Sie!“

Atkins war in ernstlicher Unruhe, er wußte sehr wohl, daß Jane keine „Nervenzufälle“ kannte, er fürchtete eine Krankheit, und da jetzt im Hôtel an schnelle Bedienung nicht zu denken war, so eilte er selbst hinaus, das Verlangte zu holen.

Das war es, was Jane beabsichtigt hatte. Sie brauchte kein Wasser, aber sie bedurfte einen Moment des Alleinseins, wollte sie nicht ersticken. Kaum war er hinaus, so eilte auch sie zur Thür, schob den Riegel vor und sank dann erst am Sopha in die Kniee, das Gesicht in den Händen verborgen. Jane Forest brach nicht zusammen vor fremden Augen!

„Wenn man eltern- und heimathlos in’s Leben hinausgeworfen wird und dann in die Hände eines Gelehrten fällt, der nichts kennt und liebt auf der weiten Welt als seine Wissenschaft“ – und jener Brief kam vom Rhein! Das war der Blitz gewesen, der sie vorhin durchzuckte, die Ahnung kam mit der ganzen vernichtenden Gewalt der Gewißheit. Jener Blitz hatte einen Abgrund vor ihr aufgethan, in den Jane es nicht wagte hinabzublicken, hatte ein Geheimniß an’s Licht gerissen, dessen sich die kalte, stolze Braut Alison’s bisher nicht bewußt war; aber als sie jetzt in Todesangst die gerungenen Hände emporhob, da brach es hervor in dem lang zurückgehaltenen Verzweiflungsschrei:

„Allmächtiger Gott, nur dies Eine nicht! Mein Gegner, mein Todfeind, wenn es sein muß, ich will es tragen – nur mein Bruder nicht!“




Die späte Nachmittagssonne eines klaren Septembertages schien durch die dichtbelaubten Aeste der uralten mächtigen Kastanien, welche die Gänge und Rasenflächen des weiten Parkes beschatteten, der sich hinter dem Schlosse S. ausdehnte, einem jener prachtvoll gelegenen Landsitze, an denen das Innere Frankreichs so reich ist. Das Schloß am westlichen Abhange des hier jäh aufsteigenden Gebirges, das gerade an diesem Punkte seine ganze wildromantische Schönheit entfaltet, hatte wie das in unmittelbarer Nähe liegende Dorf gleichen Namens ebenfalls Einquartierung erhalten. Ein rheinisches Landwehrregiment war, nachdem es die sämmtlichen Schlachten des August mitgemacht, hierher zurückbeordert worden, um das Gebirge von den umherstreifenden Franctireurbanden zu säubern und die Pässe desselben frei zu erhalten. Es war ein gefahrvoller und ruheloser Posten für das nicht allzu zahlreiche Detachement, das, stundenweit von seinen Cameraden getrennt, fast täglich Streifzüge in die Berge unternahm und dabei fortwährend vor einem Ueberfall auf der Hut sein mußte, den das Terrain nur allzu sehr begünstigte. Die Mannschaften lagen im Dorfe, während die Officiere sich in dem unmittelbar am Ausgange desselben befindlichen Schlosse, dessen Bewohner natürlich geflohen waren, einquartiert hatten. Die Herren schienen sich, im Augenblick wenigstens, einer hier nur seltenen Muße hinzugeben, von der Terrasse her scholl lautes Plaudern und Lachen, untermischt mit hellem Gläserklingen.

Am Eingange des Parkes unter einer jener mächtigen Kastanien lag ein junger Landwehrofficier ausgestreckt in dem hohen Grase und blickte hinauf in das dunkelgrüne Laubdach, durch welches die schon untergehende Sonne hin und wieder ihre röthlich zuckenden Lichter warf. Die mit großer Kunst und Mühe geordnete Flora des Gartens, der noch in der ganzen Pracht und Ueppigkeit des Sommers prangte, schien seine Aufmerksamkeit ebensowenig zu fesseln wie der Lärm seiner Cameraden, der vom Schlosse zu ihm herüberdrang; er hob den Kopf erst, als der Schritt eines Nahenden ihn aus seiner Träumerei aufschreckte.

Ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, den die Uniform und Armbinde als einen Arzt bezeichneten, kam suchend den Gang herauf und blieb endlich vor dem Liegenden stehen.

„Dacht’ ich’s doch! Hier liegst Du wieder und träumst, während ich Dir im Schweiße meines Angesichts die Popularität erringe! Du kümmerst Dich freilich nicht darum!“

Der Angeredete richtete sich zur Hälfte empor, indem er sich leicht auf den Ellenbogen stützte. „Ich habe ja Dienst,“ sagte er ruhig. „Ich muß um vier Uhr in’s Dorf hinunter.“

„Und deshalb warst Du um drei Uhr bereits unsichtbar geworden? Leugne doch nicht, Walther, Du bist davongelaufen, weil Du merktest, daß ich die fürchterliche Absicht hatte, ein Gedicht vorzulesen, dessen Abschrift ich Dir wieder einmal habe abzwingen müssen. Uebrigens nützt Dir die Flucht wenig; Du wirst bei der Rückkehr dennoch mit allgemeiner Acclamation empfangen werden. Unser Major flucht seinen ganzen unerschöpflichen Vorrath von Flüchen der Reihe nach herunter, um nachdrücklichst zu bekräftigen, daß er so etwas in seinem Leben noch nicht gehört; der Adjutant hielt eine um so zartere Rede; Du weißt, er ist so eine Art Schöngeist, macht selbst stark in Aesthetik, und Du hast ihm mit Deiner Gelehrsamkeit gleich von Anfang an bedeutend imponirt. Er führte uns zu Gemüthe, wie hochbegnadet wir doch eigentlich vom Schicksal seien, uns die Waffengefährten eines Dichters nennen zu dürfen, den Deutschland dereinst als seinen ersten Genius begrüßen wird, eine ausgezeichnete Rede, nur etwas zu lang! Die Lieutenants schwören bei allen Göttern der Ober- und Unterwelt, wenn die Franzosen einen Barden besäßen, der sie vor der Schlacht mit ähnlichen Gesängen begeisterte, so hätten sie uns mehr zu schaffen gemacht; den großartigsten Effect aber hat Deine Poesie auf den dicken Hauptmann hervorgebracht – er hat das Trinken darüber vergessen!“

„Laß doch die Possen!“ sagte der junge Officier halb unwillig, indem er in seine liegende Stellung zurücksank.

„Possen? Ich gebe Dir mein Wort, daß ich Dir das Gesagte nur buchstäblich wiederhole. Hörst Du den Gläserklang? Das gesammte Officiercorps garantirt Dir soeben feierlichst die Unsterblichkeit. Ich bin abgesandt, auf den flüchtigen Sänger zu fahnden und ihn lebend oder todt zur Stelle zu schaffen. Man verlangt stürmisch Deine Gegenwart.“

„Verschone mich! Du weißt, wie sehr mir dergleichen Ovationen zuwider sind.“

„Du willst wieder nicht kommen? Natürlich! Wir sollten uns nun nachgerade daran gewöhnt haben, daß Lieutenant Fernow nur zu haben ist, wenn es zum Dienst oder in’s Gefecht geht. Du läufst vor jeder Anerkennung davon wie Andere vor der Strafe; das mußt Du Dir noch abgewöhnen, Walther; es paßt wirklich nicht für den ‚künftigen Genius Deutschlands‘.“

Fernow war inzwischen aufgestanden, hatte den Helm, der neben ihm im Grase lag, aufgesetzt und schnallte jetzt den Degen fester. Wer noch vor zwei Monaten den gelehrten Professor der Universität B. gesehen, der hätte ihn freilich nicht wieder erkannt in diesem jungen Krieger, dem der Waffenrock so knapp und fest um die schlanken Glieder schloß, als habe er sein Lebelang nichts anderes getragen. Fort war die krankhafte Blässe und die tiefen dunklen Ringe um die Augen, fort war der gebückte Gang und das ganze leidende Aussehen. Dunkler Sonnenbrand lag jetzt auf Stirn und Wangen, in denen das Blut kräftiger pulsirte, das blonde Haar quoll, wenig gepflegt, in üppigerer Fülle unter dem Helme hervor, der sonst streng verbannte Bart sproßte kräftig um das Kinn, die aufrechte mititärische Haltung kostete dem nunmehrigen Landwehrlieutenant augenscheinlich nicht die geringste Mühe mehr, und die Hände, die freilich ihre ganze Zartheit eingebüßt hatten, faßten dafür mit um so kräftigerem Griffe den Degen. Die sechs Wochen im Felde hatten Wunder gethan, man sah es auf den ersten Blick – die Radicalcur des Doctor Stephan hatte angeschlagen.

„Ihr legt allesammt meinen Liedern zu viel Werth bei!“ sagte er ablehnend. „Die Verse, die die Begeisterung des Augenblicks schufen, zünden auch im Augenblick, und später, wenn die Bewegung endigt, die sie gebar, fallen sie der Vergessenheit anheim. “

„Meinst Du?“ fragte der Arzt ernster werdend. „Das erlaube ich mir denn doch zu bezweifeln. In Deinen Liedern braust mehr als bloßer Schlachtenlärm, wenn Du ihm vielleicht auch einst dankbar sein wirst, daß er Dein Talent aus seinem Schlummer aufrüttelte und Dir die Bahn wies zu künftiger Größe.“

„Vielleicht!“ sagte Fernow düster. „Und vielleicht auch macht eine Kugel heut oder morgen der ganzen Herrlichkeit ein Ende!“

„Kannst Du denn die ewige Schwermuth nicht loswerden?“ schalt der Doctor. „Walther, ich glaube wahrhaftig, Du trägst irgend eine unglückliche Liebe mit Dir herum.“

„Warum nicht gar!“ rief Fernow heftig, indem er sich abwandte. Die dunkle Röthe, welche früher schon sein bleiches Gesicht bei jeder heftigen Erregung überfluthet hatte, stieg auch jetzt wieder, wenngleich weniger sichtbar, in das gebräunte Antlitz.

[328] Dem Arzt war sie bei der raschen Bewegung seines Freundes entgangen. Er war ein jüngerer College Stephan’s, Privatdocent an der Universität in B., und durch den Krieg gleichfalls aus seiner Stellung gerissen. Er und Fernow hatten sich so obenhin gekannt, hatten, wie man zu sagen pflegt, auf dem Grüßfuße gestanden und hin und wieder ein paar flüchtige Worte gewechselt. Dabei war es geblieben, drei Jahre lang, das Kriegsleben hatte sie in wenig Stunden zu genauen Bekannten und in wenig Wochen zu Freunden gemacht.

Der immer froh gelaunte junge Doctor lachte laut auf über seine eigene komische Idee. „Ich wäre auch wirklich neugierig auf das ‚wie, wo und wann‘! Seit wir im Felde sind, bin ich Dir nicht von der Seite gewichen, und in B. hast Du ja kein weibliches Wesen auch nur angeschaut, weshalb Dich die schönere Hälfte der Stadt mit Fug und Recht in Acht und Bann erklärte!“

Fernow gab keine Antwort, er machte sich noch immer am Griff seines Degens zu thun.

„Uebrigens hat Doctor Stephan doch Recht behalten mit seiner Diagnose,“ fuhr Jener nach einer augenblicklichen Pause fort, „obgleich ich es ihm damals nicht glauben wollte, als er eigens noch einmal nach H. herüberkam, Dich mir auf Leib und Leben anzuempfehlen, da er hörte, ich sei Deiner Compagnie zuertheilt worden. Ich konnte mit gutem Gewissen versprechen, mein Bestes zu thun, denn ich war überzeugt, Du würdest mir als erster Patient in die Hände fallen. In den ersten acht Tagen hätte ich keinen Heller für Dein Leben gegeben, als aber nun die Märsche und Strapazen ihren Anfang nahmen, als unsere Leute in der heißen Augustsonne umfielen, wie die Fliegen, und Du immer noch Stand hieltest, als Du unter all den Anstrengungen und Entbehrungen, denen die Stärksten zeitweise erlagen, nur immer gesünder und kräftiger wurdest, da habe ich denn doch den Hut abgenommen vor dem Scharfblick meines alten Collegen. Walther, Du hast bei alledem eine der besten Naturen, eine wahre Prachtnatur, die nur erst einmal heraus mußte aus dem Stubensitzen und hervor hinter dem Schreibtisch, um sich entwickeln zu können, und für Deine Nerven haben wir jetzt auch das richtige, wenn auch etwas ungewöhnliche Mittel gefunden. Der Kanonendonner hat sie gründlich curirt! Das wird eine Verwunderung geben, wenn Du so nach B. zurückkommst.“

Wenn ich zurückkomme!“

Der Arzt machte eine ungeduldige Bewegung. „Immer und ewig diese Todesahnungen! Du hängst mit einer förmlichen Leidenschaft daran.“

„Weil ich’s fühle!“

„Unsinn! Ist einer kugelfest, so bist Du es! Nimm es mir nicht übel, Walther, aber wie Du in all’ den Schlachten vorgingst, das grenzte nahezu an Wahnsinn. Der Muth darf denn doch nicht zur Tollkühnheit werden, aber Du siehst und hörst nichts mehr, wenn die Aufregung Dich einmal fortreißt, darüber ist nur eine Stimme unter Deinen Cameraden.“

Um Fernow’s Lippen schwebte eine leise Bitterkeit. „Und doch ist nicht Einer unter ihnen, der mir früher auch nur den allergewöhnlichsten Muth zugetraut hätte.“

„Nein!“ sagte der Arzt ehrlich. „Aber aufrichtig gestanden, Du hattest anfangs auch wenig genug vom Helden an Dir. Du warst so ganz und gar nur der Mann der Feder, der, eben erst hinter seinen Büchern hervorgekommen, sich in die Welt draußen noch gar nicht finden konnte. Nun, das hat sich schnell genug verloren, ebenso wie der Irrthum Deiner Cameraden – nach der ersten Schlacht haben sie ’s Dir allesammt abgebeten.“

Fernow lächelte flüchtig und traurig. Die Augen allein waren sich gleich geblieben, es lag noch immer die alte Träumerei und die alte Melancholie darin.

Am Eingange des Parkes ließ sich ein Geräusch vernehmen, es stampfte etwas mit schwerem Tritt den Boden und eine hünenhafte Gestalt tauche hinter dem Gitterthore auf. Die Riesenfigur Friedrich’s nahm sich in der Uniform äußerst vortheilhaft aus, und er schien eine Ahnung davon zu haben, denn es lag ein unverkennbares Selbstbewußtsein in der stramm militärischen Haltung, mit der er auf die beiden Herren zukam.

„Herr Lieutenant, eben wird gemeldet, daß unten im Dorfe ein Wagen mit Engländern angekommen ist, die durch unsere Posten durch in’s Gebirge wollen.“

Fernow wandte sich rasch um, Träumerei und Schwermuth waren auf einmal verschwunden, er war jetzt völlig „im Dienst“. „Das ist unmöglich! Es darf Niemand passiren. Der Posten hat sie doch zurückgewiesen?“

„Ja, aber der Engländer lamentirt, und will sich nicht zufrieden geben. Er hätte Papiere, sagt er, und will durchaus den Herrn Major oder den Herrn Lieutenant vom Dienst sprechen.“

Fernow blickte auf die Uhr. „Gut, ich komme, ich muß ohnedies jetzt in’s Dorf. Das wird eine unangenehme Sache werden,“ wendete er sich zu dem Arzte. „Ich muß wahrscheinlich harmlose Reisende zurückweisen, denen sehr am Weiterkommen gelegen ist, aber der Befehl ist streng, es läßt sich nichts daran ändern.“

„Unangenehm nennst Du das?“ lachte der Doctor. „Mir gewährt es im Gegentheil immer eine große Genugthuung, wenn wir diesen edeln Söhnen Albions, die mit ihrer Unverschämtheit und Blasirtheit unsern ganzen Rhein überwuchern, endlich einmal zeigen können, wer hier Herr und Meister ist. Im eigenen Lande haben wir das leider bisher niemals gewagt.“

„Gehst Du mit mir in’s Dorf?“

„Nein, ich gehe nach dem Schlosse zurück. Sieh zu, wie Du allein mit Deinen Engländern und Deinem Triumphe fertig wirst, denn der naseweise Freiwillige, der E., hat im Dorfe aller Wahrscheinlichkeit nach auch schon dafür gesorgt. Er riß mir Dein Gedicht ohne Weiteres fort, um es seinen Cameraden vorzulesen. Und höre, Walther, wenn Du mit Deiner Runde fertig bist, so komm wenigstens noch auf eine einzige Viertelstunde zu unserer Bowle, Du sinkst sonst rettungslos in der Achtung des Hauptmanns, der sich allein noch weigert, Dich als künftige Größe anzuerkennen – Du trinkst ihm nicht genug.“

Mit einem lachenden Gruß wendete sich der Arzt dem Schlosse zu, während Fernow den Weg nach dem Dorfe einschlug. Friedrich stampfte hinter ihm her, er ließ das Auge nicht eine Minute von seinem Herrn, aber der Ausdruck darin war jetzt ein anderer geworden. Früher hatte er den Professor immer nur mit jener Aengstlichkeit angeschaut, mit der man ein krankes hülfloses Kind behütet, das leicht zu Schaden kommen kann, jetzt lag eine stumme Ehrfurcht und eine grenzenlose Bewunderungen in dem Blick, welcher der kleinsten Bewegung „seines Lieutenants“ folgte. Die Anhänglichkeit des treuen Burschen hatte mehr als eine Feuerprobe überstanden, sie war in der Compagnie sprüchwörtlich geworden.

Am Eingange des Dorfes, vor dem dort befindlichen Wirthshause, hielten zwei Wagen, die kurz nacheinander angelangt waren. Der erste, der eine Viertelstunde früher kam, war auch zuerst von dem Posten zurückgewiesen worden, aber sein Insasse wollte sich durchaus nicht in die ihm auferlegte Nothwendigkeit finden; leider verstand er kein Deutsch, die betreffenden Soldaten kein Englisch, man mußte also seine Zuflucht zu einem beiderseitig sehr mangelhaften Französisch nehmen, das die Unterhandlungen endlos erschwerte und verlängerte. Indessen hatte es der Fremde, der sich auf seine Papiere berief, doch endlich durchgesetzt, daß man versprach, die Sache dem betreffenden Officier zu melden, und er trat eben, noch erhitzt von dem Gespräch, mit finsterer Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen aus der Thür des Wirthshauses, als der zweite Wagen vorfuhr, aus dem gleichfalls ein Herr stieg, der sich dem Hause näherte. Die Augen der Beiden begegneten sich und ein Ausruf der Ueberraschung brach gleichzeitig von Beider Lippen.

„Mr. Atkins!“

„Henry!“

„Wie kommen Sie hierher?“ fragte Alison, der sich zuerst von seinem Erstaunen erholte.

„Von N. Und Sie?“

„Direct von Paris! Ich wagte nicht länger dort zu bleiben, es scheint Ernst zu werden mit der Belagerung. Aber ich werde hier aufgehalten, man verweigert mir die Fortsetzung der Reise.“

„Auch uns läßt man nicht passiren.“

„Uns?“ wiederholte Alison langsam. „Sie sind nicht allein?“ Und von einer plötzlichen Idee durchblitzt fügte er hastig hinzu: „Ich will doch nicht hoffen, daß Miß Forest sich in Ihrer Begleitung befindet?“

„Allerdings ist dies der Fall.“

[341] Henry machte eine Bewegung, wie um an den Wagen zu stürzen, aber er hielt plötzlich inne. Schämte er sich der unfreiwilligen Regung, oder war es die Erinnerung an das letzte Zusammentreffen, das ihn auf einmal abkühlte, genug, er bezwang sich, der Wagen blieb unbeachtet, und mit einer Ruhe, die allzu gleichgültig war, um natürlich zu sein, wendete er sich von Neuem zu Atkins.

„Und wie kommen Sie, und vor Allem Miss Forest hierher auf den Kriegsschauplatz?“

Atkins hatte die Frage kommen sehen, er war darauf gefaßt. „Wie? Nun, wir wollten uns dies jedenfalls interessante Kriegsgewühl einmal in der Nähe ansehen, haben aber bereits in acht Tagen die Sache satt bekommen und sind, wie Sie sehen, jetzt auf der Rückkehr begriffen. Mr. und Mrs. Stephan werden triumphiren, sie geriethen außer sich über die sogenannte Laune und Excentricität Miss Jane’s, und über meine Nachgiebigkeit.“

Ein kaltes, hohnvolles Lächeln umspielte Alison’s Lippen. „Ich möchte Sie denn doch ersuchen, mich in Bezug auf die Leichtgläubigkeit nicht auf eine Stufe mit Mr. und Mrs. Stephan zu stellen. Wenn ihnen der Vorwand genügte, ich kenne Miß Forest zu gut, um ihr eine so zwecklose, romantische Abenteuersucht zuzutrauen. Sie wäre die Letzte, dergleichen zu unternehmen, und auch Sie hätten sich darin schwerlich zu ihrem gehorsamen Diener gemacht.“

Atkins biß sich auf die Lippen, die Antwort wäre auch vorherzusehen gewesen.

„Wollen Sie jetzt die Güte haben, mir den Grund zu nennen, der Miß Forest herführt?“ fragte Alison noch schärfer als vorhin.

„Fragen Sie sie selbst!“ rief Atkins ärgerlich, der es vorzog, die ganze Verantwortung auf Jane zu werfen, ehe er ihrer etwaigen Entschließung vorgriff.

„Das werde ich!“ sagten Henry finster und trat an den Wagen.

Für Jane war sein Erscheinen keine Ueberraschung mehr, sie hatte ihn bereits aus dem Hause treten und mit Atkins sprechen sehen. Es war diesem endlich doch gelungen, sie von der Unmöglichkeit ihres Vorhabens zu überzeugen und zur Rückkehr zu bewegen, wenigstens zur Rückkehr bis an die nächste deutsche Grenzstation, von wo aus man die weiteren Schritte unternehmen konnte. Sie hatten N. bereits am nächsten Tage verlassen, als eine gleichzeitige Vorwärtsbewegung der sämmtlichen aus Deutschland nachrückenden Truppen sie zwang, von der Hauptstraße abzuweichen, auf der jetzt kein Vorwärtskommen möglich war, und einen anderen Weg zu nehmen, wo der Zufall sie mit Alison zusammenführen mußte, der sich im gleichen Falle befand.

Jane hatte schnell genug die Herrschaft über sich selber wieder zurückgewonnen. Was seit jener verhängnißvollen Stunde in ihrem Innern auch zucken und wühlen mochte, ihr Begleiter sah nur ein völlig unbewegtes Antlitz, das ihn endlich über jenen ihm noch immer unerklärlichen Ausbruch von Leidenschaftlichkeit beruhigte. Sie hatte sich wieder in den Eispanzer gehüllt, der sie in B. so unnahbar gemacht, und dies Eis starrte jetzt auch Henry entgegen, als er an den Wagen trat, sie zu begrüßen. Es entschied die ganze Begegnung; Alison konnte zur Noth einen Besitz erzwingen, der, wie er bereits argwohnte, nur seinem Rechte noch zugestanden ward, aber eine Neigung zu verrathen, solcher Kälte gegenüber, dazu war er zu stolz.

Mit kühler Artigkeit hob er sie aus dem Wagen, bot ihr den Arm und führte sie zu der vor dem Wirthshause befindlichen Bank, indem er sie und Atkins mit kurzen Worten unterrichtete, daß die streitige Angelegenheit bereits dem betreffenden Officier gemeldet sei, und daß er hoffe, man werde nach Durchsicht der Papiere ihrer allseitigen Weiterreise kein Hinderniß mehr in den Weg legen.

Atkins zeigte sich einverstanden, er ging zu dem Wagen zurück, um dem Kutscher einige Anweisungen zu geben; die Beiden waren allein.

Jane hatte sich auf die Bank niedergelassen, sie wußte, jetzt würde eine Erklärung von ihr verlangt werden wegen ihres Hierseins. Ob sie auch geneigt war, sie zu geben? Es sah nicht so aus.

Henry schien indessen keine Eile mit seiner Frage zu haben, nur sein Blick forschte in ihren Zügen, aber vergebens, sie hielt diesem Blicke fest und ruhig Stand.

„Es war eine grenzenlose Ueberraschung für mich, Sie hier zu finden, Jane!“ hob er endlich an.

„Auch für mich! Ich erwartete ebensowenig ein solches Zusammentreffen.“

Meine Rückkehr stand unter diesen Verhältnissen wohl zu erwarten. Ich hatte die Absicht, mich direct nach B. zu begeben, wo ich Sie sicher zu finden hoffte, es scheint aber, als besitze der Ort nur wenig Anziehungskraft für Sie?“

[342] Trotz des scharfen Forschens in seinem Tone lag doch auch etwas darin wie tiefe Genugthuung, sie verrieth unwillkürlich, daß der junge Amerikaner dies B. bei alledem gefürchtet hatte, verrieth, daß er Miß Forest, trotz der Seltsamkeit, über die ihm noch keine Aufklärung geworden, doch lieber hier sah, inmitten des Kriegsgewühls, all seinen Gefahren preisgegeben, als dort im sicheren Hause ihrer Verwandten.

Jane ward der Antwort überhoben, denn Atkins kehrte in diesem Augenblick bereits wieder zurück; Henry runzelte die Stirn, aber er schien nicht geneigt, die Sache in seiner Gegenwart zur Sprache zu bringen. Einige Minuten lang herrschte ein unbehagliches Schweigen in der kleinen Gruppe, die weiteren Fragen über das Woher und Wohin lagen so nahe, und doch scheute sich Jeder, damit fernere Erörterungen hervorzurufen. Atkins begann endlich das Gespräch mit einem anderen Thema.

„Und was sagen Sie denn zu den Ereignissen, Henry, seit wir Abschied von einander nahmen? Haben Sie je dergleichen für möglich gehalten?“

„Nein!“ lautete die kurze finstere Antwort. „Ich war auf das Gegentheil gefaßt.“

„Auch ich! Wir haben uns verrechnet, wie es scheint! Das ist das zahme, geduldige, unpraktische Volk von ‚Denkern‘! Aber, ich sagte es ja immer, in jedem dieser Deutschen steckt etwas von der Bärennatur, und die scheint jetzt bei dem ganzen Volke auf einmal durchgebrochen zu sein. Das ist ja kein Kampf mehr mit wechselndem Glück, niedergetreten, erdrückt wird Alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Ein heilloser Erfolg!“

„Wir sind noch nicht am Ende!“ sagte Henry kalt. „Die Söldnerheere sind geschlagen, aber die Republik ruft das Land zu den Waffen, jetzt steht Volk gegen Volk. Wir wollen doch sehen, ob der deutsche Bär nicht endlich seinen Meister finden wird!“

„Ich wollte, er fände ihn!“ grollte Atkins im vollsten Ingrimm. „Ich wollte, er würde über seinen Rhein zurückgejagt, damit ihm der Siegesrausch und der Siegesübermuth ein für alle Mal verginge, und er wieder so zahm und geduldig tanzen lernte, wie früher, wenn –“

Weiter kam der Amerikaner nicht in seinen frommen Wünschen für das künftige Wohl Deutschlands, denn Jane hatte sich plötzlich erhoben und stand hochaufgerichtet vor ihm, ihre Augen flammten auf den kleinen Mann nieder, als wollten sie ihn vernichten.

„Sie vergessen wohl ganz, Mr. Atkins, daß auch ich von deutschen Eltern stamme?“ fragte sie in schneidendem Ton.

Atkins stand da wie vom Donner gerührt. „Sie, Miß Jane?“ fragte er, seinen Ohren nicht trauend.

„Ja, ich! Und daß ich es nicht ertrage, von meinem Vaterlande in dieser Weise sprechen zu hören. Schmähen Sie allein, wenn Sie es jetzt noch wagen, sprechen Sie Ihre Hoffnungen zu Mr. Alison aus, er theilt ja Ihre Wünsche, aber zügeln Sie die Worte in meiner Gegenwart, ich dulde das nicht länger!“

Und mit einer Bewegung glühend edlen Zornes das Haupt zurückwerfend, drehte sie den beiden Männern den Rücken und verschwand in der Thür des Hauses.

„Was war das?“ fragte Henry nach einer secundenlangen Pause.

Atkins schien sich jetzt erst von der Bestürzung zu erholen, die die Scene in ihm hervorgerufen. „Das war wieder einmal der Vater! Mr. Forest, wie er leibt und lebt! Das war ganz sein Ton, sein Blick, mit dem er so herrisch Alles niederschlug! Ich habe nie dagegen aufkommen können, aber Sie, Henry, lassen Sie sich das bieten?“

Alison schwieg, seine Augen hatten mit einer wahrhaft verzehrenden Gluth an Jane gehangen, während der ganzen Zeit, als sie vor Atkins stand, sie hingen noch jetzt an dem Ort, wo sie verschwunden war, und es lag weit, weit mehr von Bewunderung als von Zorn in diesem Blick.

„Ich dachte, Mr. Forest haßte sein Vaterland,“ fragte er endlich langsam, „und er erzog auch die Tochter in diesem Haß?“

„O ja, er schmollte mit dem geliebten Deutschland sein Lebelang, und in der Todesstunde klammerte er sich an die Erinnerung, wie ein Verzweifelter. Wir lernen dies Volk doch niemals auskennen, Henry! Ich bin zwanzig Jahre lang im Hause der Forests gewesen, habe Leid und Freude mit ihnen getheilt, habe ihre geheimsten Angelegenheiten gekannt, und doch hat immer und ewig eins zwischen uns gelegen, dies Eine, was die bittersten Erfahrungen, der energischste Wille, was eine zwanzigjährige Gewohnheit bei dem Vater nicht bannen konnte, und was jetzt bei der Tochter, auf die das Alles vererbt ward, deren Erziehung durch und durch amerikanisch war, sich doch endlich Bahn bricht, – das deutsche Blut!“ –

Sie wurden unterbrochen, in der Dorfgasse erschien jetzt der erwartete Officier, von einem Soldaten begleitet. Henry ging ihm einige Schritte entgegen und grüßte artig; sein ganzes schlechtes Französisch zusammennehmend, begann er seine Beschwerde anzubringen, aber schon nach den ersten raschen Worten sprach er langsamer, stockte dann, begann von Neuem, stockte wieder, und schwieg endlich ganz, das Auge starr und unverwandt auf das Gesicht des Officiers gerichtet.

Auch dieser war gleich im ersten Moment befremdet einen Schritt zurückgetreten, inzwischen aber hatte sich auch Mr. Atkins genähert, der jetzt mit einem Ausdruck halb der Verwunderung und halb des Entsetzens rief: „Mr. Fernow!“

Henry zuckte zusammen, der Ausruf gab ihm die immer noch bezweifelte Gewißheit, wessen Augen es waren, die unter dem Helme ihm entgegenleuchteten. Jeder Blutstropfen wich aus dem Antlitz des jungen Amerikaners, mit einem einzigen Blick umfaßte er die ganze Erscheinung des vor ihm stehenden Officiers, ein zweiter flog nach dem Hause zurück, wo Jane jetzt weilte. Er schien etwas zu begreifen, ein wildes, halbunterdrücktes „Ah!“ entfuhr seinen Lippen, dann biß er die Zähne zusammen und schwieg.

Atkins hatte inzwischen den Lieutenant Fernow begrüßt, und dieser wendete sich jetzt mit ruhiger Artigkeit zu den beiden Herren.

„Ich bedaure, daß gerade ich es sein muß, der Ihnen eine Unannehmlichkeit ankündigt, aber die gewünschte Fortsetzung Ihrer Reise ist eine Unmöglichkeit. Es darf Niemand passiren, die Posten haben strengen Befehl, Jeden zurückzuweisen, wer es auch sei.“

„Aber, Mr. Fernow, so nehmen Sie doch Vernunft an!“ rief Atkins ärgerlich. „Wir müssen durchaus vorwärts, und Sie kennen ja uns, oder doch wenigstens mich genug, um nöthigenfalls dafür Bürgschaft leisten zu können, daß wir keine Spione sind.“

„Es handelt sich nicht darum, sondern um die Unmöglichkeit einer Ausnahme von der einmal gegebenen Ordre.“

„Aber unsere Legitimationen –“

„Nützen in diesem Falle nichts! Es thut mir leid, Mr. Atkins aber die Pässe sind gesperrt, und es darf Niemand vom Civil von dieser Seite her in’s Gebirge. Möglich, daß dieser Befehl morgen schon aufgehoben wird, da wir Verstärkung erwarten, für heute aber besteht er noch in seiner vollen Kraft.“

Atkins warf ihm einen Blick zu, in dem sich der Aerger über die erhaltene Zurückweisung mit einer Art starrer Verwunderung mischte.

„Nun, dann haben Sie wenigstens die Güte, Mr. Fernow, uns mitzutheilen, wo wir, Ihrer hohen Bestimmung gemäß, die Nacht über bleiben sollen. Zurück können wir nicht, sämmtliche Ortschaften, die wir passirten, sind mit Truppen überfüllt, vorwärts dürfen wir nicht, hier im Dorfe ist auch schwerlich auf ein Unterkommen zu rechnen. Sollen wir vielleicht im Wagen campiren?“

„Das wird nicht nöthig sein! Sie sind – allein?“

Es sollte wohl keine Frage in den Worten liegen, die Antwort war ja selbstverständlich, dennoch lag ein vielleicht unbewußtes Zögern darin.

Atkins wollte antworten, aber Henry, der jetzt zum ersten Male wieder sprach, schnitt ihm die Erwiderung ab, ohne sich an seinen verwunderten Blick zu kehren. Er hatte seinen Entschluß gefaßt.

„Ja!“ sagte er mit der größten Bestimmtheit.

„Dann glaube ich Ihnen die Gastfreundschaft meiner Cameraden verbürgen zu können. Wir haben Raum genug im Schlosse, und unsere Bekanntschaft,“ hier glitt ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht, „schürt Sie ja vor jedem etwaigen Verdachte. Entschuldigen Sie mich nur einen Augenblick.“

Er trat zu dem in der Nähe stehenden Posten und wechselte einige Worte mit ihm.

„Und das nannte sich früher Professor der Universität B.!“ [343] murmelte Atkins mit unterdrücktem Zorn. „Was der Bücherwurm für einen militärischen Anstand hat, als hätte er sein Lebelang den Degen an der Seite getragen, und von der Schwindsucht ist auch nichts mehr an ihm zu sehen! Aber jetzt sagen Sie mir um Gotteswillen, Henry, warum leugneten Sie, daß –“

„Schweigen Sie!“ unterbrach ihn Henry leise und hastig. „Kein Wort zu ihm von der Gegenwart Miß Forest’s, nicht eine Sylbe! Ich bin im Moment wieder zurück!“

Er verschwand gleichfalls im Hause, Atkins blickte ihm kopfschüttelnd nach.

Jetzt wurde auch Henry noch unbegreiflich.

Fernow war inzwischen zurückgekommen. „Ihr junger Landsmann hat uns verlassen?“ fragte er nach einem flüchtigen Umblick.

„Er wollte sogleich zurückkehren,“ sagte Atkins rasch, und in der That trat Henry auch schon wieder aus der Thür. Er führte Jane am Arm und sprach zu ihr, so eifrig und angelegentlich, daß sie die Gestalt des jungen Officiers, der ihr den Rücken zukehrte, nicht eher beachtete, als bis sie dicht neben ihm stand. Da wandte Fernow sich um.

Einen Moment lang standen sich die Beiden gegenüber in stummer athemloser Ueberraschung. Dann aber überfluthete es plötzlich das Antlitz Walther’s wie heller Sonnenschein, die blauen Augen leuchteten auf in ihrem ganzen schwärmerischen Feuer, ein Strahl leidenschaftlichen, grenzenlosen Glückes brach daraus hervor, das ganze Wesen des Mannes schien zu erglühen in dieser einen stürmischen Empfindung – der Moment des Wiedersehens verrieth Alles.

Aber anders spiegelte er sich in Jane’s Zügen. Sie schwankte zurück, entsetzt und todtenbleich, und wäre in die Kniee gesunken, hätte Henry sie nicht gestützt. Sein Arm hielt den ihrigen mit eisernem Griffe gefaßt, er preßte diesen Arm gegen seine Brust, so fest und gewaltsam, als müsse er zerbrechen, sie fühlte es nicht. Sein Auge haftete durchbohrend auf den Beiden, auch nicht das Zucken einer Wimper war ihm entgangen, und eisig und unheimlich legte sich ein furchtbarer Ausdruck auf seine Züge. Es bedurfte keines Wortes, keiner Erklärung mehr – er wußte genug.

Fernow faßte sich zuerst, er hatte nur auf Jane gesehen, nicht auf Alison, nicht dessen so meisterhaft ausgeführtes Manoeuvre bemerkt, er sah nur sie allein.

„Miß Forest! Ich ahnte nicht, daß ich auch Ihnen hier begegnen würde!“

Henry fühlte es an der Hand, die auf seinem Arme lag, wie bei dem ersten Ton dieser Stimme ein Beben ihren ganzen Körper durchrieselte, er ließ langsam den Arm fallen und diese Bewegung gab ihr die Besinnung zurück.

„Mr. Fernow – in der That – wir glaubten Ihr Regiment bereits auf dem Wege nach Paris.“

Der Ton klang so herb und kalt, wie einst, und ihr Blick vermied den seinigen; Jane wußte es, wenn sie jetzt diesen Augen begegnete, so war Alles verloren.

Der Sonnenschein in Walther’s Zügen verschwand, seine Augen verschleierten sich, und die alte Düsterheit tauchte wieder darin empor. „Wir sind zurückbeordert worden, die Bergpässe zu schützen!“ Sein Blick suchte immer nach den ihrigen, und noch immer vergebens.

„Also von Ihnen ging die Zurückweisung aus, die wir erfuhren? Es mag wohl Ihre Pflicht sein, Mr. Fernow, wir fügen uns.“ Und mit dem letzten Aufwande von Kraft, die ihr noch übrig blieb, wandte Jane sich weg von ihm und zog sich hinter Atkins zurück.

Fernow’s Lippen zuckten. Das war wieder die kalte unnahbare Miß Forest, und jener Moment des Abschiedes, der im Wachen und Traum nicht aus seiner Seele wich, den er in all den Stürmen und Gefahren mit sich herumgetragen, er war vergessen, losgelöst aus ihrem Gedächtnis, sie schrak ja zurück bei seinem Anblick, wie vor etwas Feindseligem, Gehaßtem. Der Abend auf dem Ruinenberge stand wieder vor ihm und wie damals siegte der Stolz über die Bitterkeit, er wandte sich seitwärts.

„Friedrich!“

„Herr Lieutenant!“

„Du führst die Dame und die beiden Herren nach dem Schlosse zu dem Herrn Doctor, Mr. Atkins wird ihm das Nöthige mittheilen und ich lasse ihn bitten, das Weitere bei dem Herrn Major zu veranlassen. Sie kennen ja Doctor Behrend, Mr. Atkins, von B. her, ich muß Sie vorläufig seiner Fürsorge anvertrauen, mich hält meine Pflicht noch hier im Dorfe fest, ich bitte, mich damit zu entschuldigen.“

Die Hand an den Helm legend, verabschiedete er sich mit einem Gruße, der allen Dreien galt, und schritt dann rasch an dem Hause vorüber nach der Wiese hin, wo die ersten Posten standen.

Es war ein unendliches Wonnegefühl, mit dem Friedrich sich an die Spitze der „amerikanischen Sippschaft“ stellte, um sie nach dem Schlosse zu transportiren. Er hatte von der englisch geführten Unterredung natürlich nichts verstanden und war daher felsenfest überzeugt, daß die Gehaßten, die sein Lieutenant ihm übergeben, allermindestens Spione oder Verräther seien, von deren sicherer Bewachung das Heil des ganzen Regiments abhinge. Im Vollgefühl dieser ihm anvertrauten Mission schritt er in strammster militärischer Haltung mit erhobenem Haupte dahin, bereit, bei dem allergeringsten Fluchtversuche von seiner Waffe Gebrauch zu machen.

Zum Glück jedoch unternahmen die Amerikaner nichts dergleichen. Das jüngere Paar ging schweigend voran, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln, nur Mr. Atkins sah die ihm beigegebene Escorte von der Seite an und sagte sarkastisch:

„Sieh da, Mr. Friedrich! Wir sind also jetzt auf Gnade und Ungnade in Ihren Händen.“

Friedrich sah mit ungeheurem Selbstbewußtsein auf ihn herab, jetzt freilich war er Herr und Meister, aber es stimmte ihn doch etwas milder, daß der hochmüthige Amerikaner seine Lage so völlig begriff.

„Mein Lieutenant hat es befohlen!“ entgegnete er nachdrücklich, „und wenn mein Lieutenant dabei ist, geschieht Ihnen nichts Unrechtes!“

„Sie nehmen mir eine Last vom Herzen!“ spottete Atkins. „Ich bin Ihnen unendlich dankbar für die Beruhigung, daß wir weder in den Keller geworfen, noch in Ketten geschlossen werden, aber mein bester Mr. Friedrich, diese Metamorphose ‚Ihres Lieutenants‘ grenzt wirklich nahezu an’s Fabelhafte. Der Herr Professor sind ja ein Kriegsheld geworden vom Scheitel bis zur Sohle. Seine Hochgelahrtheit verstehen sich jetzt, wie es scheint, ganz trefflich auf’s Commandiren und haben in den sechs Wochen bereits gelernt, mit ‚Posten‘ und ‚Ordres‘ und ‚Cameraden‘ um sich zu werfen, als wären sie im Felde groß geworden statt hinter dem Büchertisch. Wo haben Hochdieselben denn ihre ehemalige Schüchternheit und Zerstreutheit gelassen?“

„In B.,“ sagte Friedrich trocken, „bei den Büchern!“

Atkins sah ihn förmlich bestürzt ob dieser Antwort an. „Jetzt wird sogar dieser Bursche intelligent!“ murmelte er mit unterdrücktem Zorn. „Das fehlte wirklich allein noch!“

Die gerühmte Intelligenz sollte jedoch bald genug eine harte Probe bestehen. Zehn Minuten später erschien Friedrich auf der Terrasse, wo mit Ausnahme des Majors, der augenblicklich im Schlosse war, noch die übrigen Officiere bei einander saßen, und marschirte sofort auf den Arzt los.

„Von Herrn Lieutenant Fernow! Er schickt dem Herrn Doctor hier drei Spione und läßt den Herrn Doctor bitten, das Weitere bei dem Herrn Major zu veranlassen.“

„Bist Du toll?“ rief der Arzt laut auflachend. „Was soll ich mit den Spionen? Sind sie verwundet?“

„Nein, sie sind alle Drei ganz heil und gesund.“

„Friedrich, das ist gewiß wieder eine von Ihren Dummheiten,“ sagte der Hauptmann, bedächtig sein Glas ausschlürfend. „Zum Herrn Major, wird der Lieutenant gesagt haben.“

„Zum Herrn Doctor soll ich sie bringen!“ beharrte Friedrich, „weil er sie von B. her kennt. Die Nichte des Herrn Doctor Stephan, die amerikanische Miß, ist auch darunter.“

„Miß Forest!“ rief der Arzt aufspringend. „Himmel und Erde, hat dieser Walther ein grenzenloses Glück! jetzt führt ihm der Zufall die Kriegsbeute entgegen, und er kümmert sich gar nicht darum, schickt sie uns per Escorte hier herauf – das konnte auf der ganzen Welt auch nur Walther Fernow fertig bekommen!“

„Miß Forest? Wer ist Miß Forest? So reden Sie doch, Doctor!“ klang es jetzt neugierig von allen Seiten.

„Halten Sie mich nicht auf, meine Herren!“ rief der Doctor eifrig. „Ich muß da, wie es scheint, einen tollen Irrthum aufklären. [344] Wer Miß Forest ist, wollen Sie wissen? Eine Anverwandte unseres ersten Arztes in B., eine junge Amerikanerin, Erbin einer Million, achtzehn Jahre alt, bildschön, ein Meteor, dem ganz B. zu Füßen lag und zu dessen unglücklichem Anbeter auch ich mich bekenne. Gnade Dir Gott, Friedrich, wenn Du Dir eine Unhöflichkeit hast zu Schulden kommen lassen!“

Er eilte fort. Die kurze Biographie aber, welche er von Miß Forest entworfen, hatte die gesammte Gesellschaft elektrisirt. Die Worte: „Millionärin, achtzehn Jahre, bildschön“, waren wie ebensoviele Zünder in die Ohren und Herzen der jüngeren Officiere gefallen, sie stürzten sämmtlich nach, um gleichfalls dieser interessanten Bekanntschaft theilhaftig zu werden. Sogar der ästhetische Adjutant erhob sich feierlich und folgte mit langen Schritten; die Sache versprach ungeheuer romantisch zu werden.

„Friedrich,“ sagte der dicke Hauptmann, der allein bei der Bowle sitzen geblieben war, in vollster Gemüthsruhe, „Friedrich, da haben Sie wieder einmal eine grenzenlose Dummheit angestiftet!“

Friedrich stand da mit offenem Munde, niedergeschmettert, völlig herabgestürzt von der Höhe seines Selbstbewußtseins. Er warf einen verwirrten Blick auf den Eingang des Parkes, wo seine „Spione“ soeben mit der respectvollsten Artigkeit in Empfang genommen wurden, einen zweiten kläglichen auf den vor ihm sitzenden Officier, und den Kopf senkend sagte er mit trauriger Ueberzeugung:

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.“




Fernow hatte in Bezug auf die Gastfreundschaft seiner Cameraden nicht zu viel versprochen. Der Major bestätigte in letzter Instanz seinen Ausspruch; die Weiterreise konnte unter keinen Umständen gestattet werden, dagegen war man gern bereit, die Fremden, die im Dorfe in der That kein Unterkommen mehr fanden, und die sich durch ihre genaue Bekanntschaft mit zweien der Officiere hinreichend legitimirten, für die Nacht im Schlosse aufzunehmen, wo noch eine Anzahl herrenloser, prachtvoll eingerichteter Zimmer zur Disposition standen. Leider wurden jedoch die Hoffnungen der jüngeren Herren auf eine nähere Bekanntschaft mit der interessanten Millionärin gründlich getäuscht. Sie sahen eben nur genug von ihr, um dem Doctor Recht zu geben, wenn er sie jung und bildschön nannte, im Uebrigen aber zeigte sich Miß Forest nicht geneigt, die Huldigungen dieses kriegerischen Cirkels entgegenzunehmen, sie war auf’s Aeußerste ermüdet, angegriffen von der Reise, und zog sich sofort nach den unvermeidlichen Begrüßungen und Vorstellungen in das ihr angewiesene Gemach zurück. Doctor Behrend zeigte eine niedergeschlagene, die Anderen eine ärgerliche Miene, aber die junge Dame hatte in der That so marmorblaß ausgesehen, und die wenigen Worte, welche sie überhaupt gesprochen, hatten sie eine so sichtliche Anstrengung gekostet, daß man ihr wohl die Ruhe gönnen mußte, deren sie augenscheinlich dringend bedürftig war. Ihre beiden Begleiter dagegen konnten sich nicht der Aufforderung entziehen, an der noch nicht beendigten Bowle theilzunehmen; Atkins glänzte wie gewöhnlich durch seine sarkastische Lebendigkeit, die heute noch brillanter war, da ihr die Aufgabe zufiel, das düstere Schweigen, in das sein Gefährte sich hüllte, vergessen zu machen. Allerdings kam Alison dabei seine Unkenntniß der deutschen Sprache zu Hülfe, aber auch der Doctor, der sich artig zum Dolmetscher hergab, vermochte dem finstern Gaste kaum die nothwendigsten Antworten abzugewinnen. Er schob die Schuld dieses fortwährenden Stockens der Unterhaltung auf sein mangelhaftes Englisch und vertröstete den Fremden auf die baldige Zurückkunft seines Freundes Fernow, der der Sprache vollkommen Herr sei. Henry’s Lippen zückten, er verbat sich mit eisiger Höflichkeit jede Bemühung seinetwegen, und Lieutenant Fernow schien auch gerade heute seine Runde in’s Unendliche auszudehnen, er kam nicht. Dagegen erhielt der Major eine dem Anschein nach wichtige Meldung, er winkte dem Adjutanten und zog sich mit ihm zurück, das war das Zeichen zum Aufbruch auch für die übrigen Herren, und die beiden Amerikaner erhielten jetzt endlich die Freiheit, sich gleichfalls zurückzuziehen.

Die Wagen waren inzwischen nachgekommen und das Gepäck war hereingebracht worden, es dämmerte bereits stark, als die Beiden in das ihnen angewiesene Zimmer traten, welches, ebenso wie das für Jane bestimmte, im ersten Stockwerk des Schlosses lag, während die Officiere sich sämmtlich im Erdgeschoß einquartiert hatten, um im Falle irgend eines Alarms im Dorfe sofort bei der Hand zu sein. Atkins warf sich mit einem Seufzer der Erleichterung, als sei er endlich eines lästigen Zwanges entbunden, in das Sopha, Henry begann schweigend im Zimmer auf und ab zu gehen. Vergebens wartete sein Gefährte auf ein Wort, auf irgend eine Aeußerung, kein Laut kam von seinen Lippen, er ging stumm nur immer auf und nieder, die Arme übereinandergeschlagen, das Haupt gesenkt – dies fortwährende Schweigen wurde für Atkins zuletzt unheimlich.

„Das kann nicht so fortgehen, Henry!“ hob er plötzlich an. „Die Sache muß doch einmal zur Sprache kommen! Sie haben so gut wie ich die seltsame Scene im Dorfe beobachtet. Was denken Sie davon?“

Alison blieb stehen und hob den Kopf. „Weshalb kamen Sie mit Miß Forest hierher?“ fragte er statt aller Antwort in schneidendem Tone.

„Henry, ich bitte Sie –“

„Weshalb kamen Sie mit Miß Forest hierher?“ wiederholte Alison, aber diesmal bebte die unterdrückte Wuth in seiner Stimme.

„Wegen – einer Familienangelegenheit!“

Henry lachte bitter auf. „Sparen Sie sich die Lüge. Ich weiß jetzt Alles!“

„Dann wissen Sie in der That mehr als ich!“ erklärte Atkins ernst. „Ich wenigstens habe jene Scene nur zum Theil verstanden. Dieser Fernow – nun, seine Gefühle bedürfen schwerlich der Erklärung, er verrieth sie in der Ueberraschung deutlich genug; weshalb aber Miß Jane bei seinem Anblick mit solchem Entsetzen zurückschreckte, als sehe sie ein Gespenst vor sich, das ist mir unbegreiflich.“

„Auch mir!“ sagte Alison mit eiskaltem Hohne. „Man erschrickt gewöhnlich nicht, wenn man das so lange und mühevoll Gesuchte endlich erreicht.“

Atkins runzelte die Stirn. „Ein Glück, daß Miß Jane Sie nicht hört, diesen Verdacht vergäbe sie Ihnen niemals. Sie behaupten, sie zu genau zu kennen, um ihr eine zwecklose Abenteuersucht zuzutrauen, und jetzt beschuldigen Sie sie, mit Verleugnung aller Sitte und alles Anstandes, einem Fremden, einem Manne nachgereist zu sein! Miß Forest trauen Sie das zu? Pfui, Henry!“

Alison blieb unbeweglich bei dem Vorwurfe, der kalte Hohn lag noch immer in seinem Tone.

[357] „Ich weiß,“ versicherte Alison, „daß Miß Forest eher gestorben wäre, ehe sie mir auch nur den geringsten Schritt entgegengethan hätte, ihm – nun, es ist ja nicht das erste Mal, daß an solchen schwärmerischen blauen Augen der Stolz eines Weibes zu Grunde geht!“

„Das ist zu toll!“ rief Atkins entrüstet. „Ich habe versprochen, zu schweigen, aber solcher Beschuldigung gegenüber würde auch Jane reden, und will sie es nicht, so thue ich es jetzt! Nun denn, wir suchten wirklich Jemand hier in Frankreich, wir sind in der That einem Manne nachgereist, aber dieser Mann heißt nicht Mr. Fernow und giebt gerade Ihnen am wenigsten Anlaß zur Eifersucht. Er trägt Miß Forest’s Namen, ist – ihr Bruder!“

„Ihr Bruder?“ wiederholte Henry in starrer Verwunderung.

„Ja!“ Und Atkins begann jetzt in kurzen, aber klaren Zügen dem jungen Manne die ihm bisher verschwiegene Angelegenheit mitzutheilen, das Vermächtniß Mr. Forest’s, die in Hamburg wieder aufgefundene Spur und die seitdem angestellten Nachforschungen bis zur Abreise von N. Henry hörte ihn schweigend an, einen Moment lang schien er aufzuathmen, aber seine finstere Stirn erhellte sich nicht.

„Sie haben Recht!“ sagte er endlich düster. „Ich glaube es Ihnen jetzt, das Zusammentreffen war wenigstens kein verabredetes.“

Atkins sah ihn in sprachloser Verwunderung an. Und das war Alles? Er hatte eine ganz andere Aufnahme seiner Enthüllungen erwartet.

„Sie scheinen ganz zu vergessen, Henry, wie nahe diese Angelegenheit auch Sie berührt,“ mahnte er ausdrücklich. „Der junge Mr. Forest lebt, wie es sich jetzt ergeben hat; wir haben allem Anscheine nach gegründete Hoffnung, ihn aufzufinden; geschieht das wirklich, so kostet es Sie die Hälfte Ihres künftigen Vermögens.“

„Wirklich?“' murmelte Alison zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Ich gäbe die andere Hälfte darum, hätte sie diesen deutschen Boden niemals betreten!“

Atkins trat einen Schritt zurück. Das hatte er denn doch nicht für möglich gehalten! Wenn Henry den Kaufmann so ganz und gar verleugnete, wenn er von dem Verlust eines Vermögens so sprechen konnte, dann freilich war die Sache furchtbar ernst, und dann galt es schnelles Einschreiten. Er trat zu dem jungen Manne und legte die Hand auf seine Schulter.

„Die Eifersucht macht Sie blind,“ sagte er beschwichtigend. „Was auch zwischen den Beiden liegen mag, und ein Geheimniß ist es ohne Zweifel, Liebe kann es nicht sein, was Jane für ihn empfindet, ihr Entsetzen bei diesem unvermutheten Wiedersehen verriet eher alles Andere als dies Eine.“

Alison blickte ihn kalt und hohnvoll an. „Sie haben Unglück mit Ihren Beobachtungen, Mr. Atkins. Wer war es denn, der mich in B. verspottete wegen einer Ahnung, die in diesem ‚schwindsüchtigen Professor‘ eine Gefahr sah? Scheint er Ihnen noch immer so lächerlich und unbedeutend, oder wissen Sie jetzt endlich auch, was in diesem Manne verborgen liegt?“

„Ich habe mich in ihm verrechnet, aber ich fordere Jeden auf, einen Menschen richtig zu beurtheilen, der jahrelang nur den menschenscheuen Einsiedler und gelehrten Forscher spielt, dann auf einmal als Dichter förmlich explodirt, sich im Kriege, wo er nach aller menschlichen Voraussicht dem ersten Kanonendonner erliegen muß, zum Helden aufschwingt und bei einem ungeahnten Wiedersehen aufflammt, wie ein achtzehnjähriger Schwärmer. Ich sage es ja, diese Deutschen sind nicht auszulernen! Einmal aus dem gewohnten Geleise gerissen, gehen sie ganz unberechenbare Bahnen, so macht es der Einzelne, so macht es das ganze Volk! Die Feder in die Ecke geschleudert und das Schwert aus der Scheide, als hätten sie ihr Lebelang nichts anderes geführt. Ich fürchte, wir werden es die nächsten hundert Jahre nicht vergessen, in welcher Hand die Feder lag!“

Atkins sprach das in einem eigenthümlichen Tone grollender Bewunderung, aber er erinnerte sich noch zu rechter Zeit, daß solche Betrachtungen wenig geeignet seien, seinen jungen Gefährten zu beschwichtigen, worauf es jetzt doch vor allem ankam, er ließ deshalb rasch den Gegenstand fallen, indem er beruhigend sagte:

„Und, Henry, wie sich die Sache auch gestalten mag, Jane bleibt Ihnen. Sie haben ihr Wort, haben es freiwillig empfangen, und die Forests pflegen Wort zu halten, sich und Anderen. In welcher Weise dieser Fernow auch ihren Weg kreuzen mag, ich kenne sie, sie wird dennoch die Ihre.“

„Sie wird es!“ sagte Alison finster. „Verlassen Sie sich darauf, Mr. Atkins! Ob mit, ob gegen ihren Willen, die Meine wird sie unwiderruflich, und sollten auch,“ hier legte sich der furchtbare Ausdruck von vorhin wieder unheimlich auf seine Züge, „sollten auch ein Paar blaue Augen sich schließen müssen auf immer!“

Atkins wich entsetzt zurück, er wagte keine Erwiderung. Die Dämmerung hatte zugenommen, vom Dorfe her scholl in langgezogenen Tönen das Abendsignal, Henry fuhr auf und nahm seinen Hut vom Tische. Mit einem raschen Schritte war der Alte bei ihm und ergriff ihn beim Arm.

[358] „Wohin wollen Sie?“

„In’s Freie! In den Park!“

„Jetzt? Es ist ja völlig dunkel.“

„Gleichviel, ich muß hinaus, die Luft hier drückt mich! Vielleicht,“ er lächelte seltsam, „vielleicht hole ich mir draußen bessere Gedanken. Gute Nacht!“

Mit einer raschen Bewegung seinen Arm frei machend verließ er das Zimmer. Atkins blickte ihm unruhig nach.

„Das wird ein Unglück! Wenn sie jetzt aneinandergeriethen! – Thorheit!“ unterbrach er sich auf einmal. „Als ob Henry der Wahnsinnige wäre, Leben, Ehre und Zukunft an eine tolle Eifersuchtslaune zu setzen! Wenn er diesem Fernow irgendwo im Gebirge allein begegnete, ich stände für nichts, aber hier, inmitten seiner Cameraden, wo die Entdeckung unvermeidlich, die Rache sicher wäre – nein, das wagt er denn doch nicht!“

Er öffnete die Thür und lauschte nach der andern Seite, wo Jane’s Zimmer lag. „Sie hat sich eingeschlossen gleich bei der Ankunft und mir von innen zugerufen, daß sie sich bereits niedergelegt habe – ein Vorwand! Ich hörte sie deutlich auf und nieder gehen, aber es nützt nichts, den Versuch zu erneuern, ich erzwinge doch keine Unterredung von ihr, und vielleicht macht ihre Dazwischenkunft die Sache nur noch schlimmer! Pah!“ hier brach die kalte Ruhe des Amerikaners durch all’ seine Befürchtungen. „Ich werde dafür sorgen, daß wir morgen früh aufbrechen gleichviel wohin, schlimmsten Falles nach N. zurück. Ist ihm dieser Fernow nur erst einmal aus dem Gesicht, so wird es leicht sein, sie in Zukunft aneinander zu halten, und bis dahin – nun, eine einzige Nacht werden sie doch wohl unter demselben Dache schlafen können!“

Mit dieser Beruhigung schloß Mr. Atkins die Thür wieder und kehrte in’s Zimmer zurück. –

Im Schlosse herrschte, ganz im Gegensatze zu dem lauten heiteren Leben des Nachmittags, eine auffallende Stille. Im Zimmer des Majors brannte bereits Licht, der Adjutant und noch einer der Officiere waren dort, die übrigen Herren schienen sich zurückgezogen zu haben, denn die große Vorhalle, welche nach der Terrasse hinaus lag und gewöhnlich Abends als Versammlungsort diente, war völlig leer. Augenblicklich befand sich nur Friedrich dort, beschäftigt, zum Schutz gegen die schon recht empfindliche Abendkühle ein Feuer im Kamine anzuzünden. Er unterzog sich diesem Geschäft mit großer Umständlichkeit und brummte dabei nicht wenig über den zurückgebliebenen Castellan des Schlosses, der trotz des bestimmten ihm gewordenen Befehls das Anzünden wieder unterlassen hatte, jetzt wie gewöhnlich nirgends zu finden war und überhaupt keinen Schritt zur Bedienung der fremden Gäste that, zu dem man ihn nicht erst gezwungen hatte.

Endlich war es gelungen, die aufgeschichteten Holzscheite in Brand zu setzen, sie loderten lustig auf und Friedrich erging sich eben in tiefsinnigen Betrachtungen über die Nichtsnutzigkeit des französischen Volkes im Allgemeinen, und über die Niederträchtigkeit dieses französischen Hausmeisters im Besonderen, als er seine Schulter leise berührt fühlte und sich umwendend Miß Forest gewahrte, die dicht hinter ihm stand.

„Ist Mr. Fernow schon zurückgekehrt?“

„Ja,“ antwortete Friedrich, sehr verwundert ob dieser Frage, „erst vor zehn Minuten.“

„So sagen Sie ihm, daß ich ihn zu sprechen wünsche!“

Friedrich wunderte sich noch mehr. „Meinen Herrn –?“

„Will ich sprechen – ja! Melden Sie ihm, daß ich ihn hier erwarte. Eilen Sie!“

Eine gebieterische Handbewegung vollendete den Befehl, denn ein solcher war es, und Friedrich trollte ab. Erst draußen vor der Thür fiel ihm ein, daß es sich doch für ihn, jetzt einen der Helden des glorreichen preußischen Kriegsheeres, gar nicht mehr schicke, sich von dieser „amerikanischen Miß“ so ohne weiteres Befehle ertheilen zu lassen, aber es ging ihm wie Mr. Atkins, er konnte gegen diesen herrischen Ton und Blick nicht aufkommen und grollend und brummend zwar, aber gehorsam verfügte er sich nach dem Zimmer seines Herrn, um den ihm gewordenen Auftrag auszurichten.

Jane war allein zurückgeblieben in dem weiten düsteren Gemach, das eine von der Decke herabhängende Lampe nur unvollkommen erleuchtete, draußen herrschte bereits völlige Dunkelheit, noch war der Mond nicht aufgegangen, in den Bäumen rauschte der Wind, und durch das eine offen gebliebene Fenster wehte es kalt herein. Sie schauerte unwillkürlich zusammen und sich dem Kamine nähernd, ließ sie sich auf dem davor befindlichen Armstuhl nieder, dessen reichgeschnitzte Lehne ein altfranzösisches Wappen zeigte.

Sie stand jetzt vor der Entscheidung! Es mußte klar werden zwischen ihnen, die nächste Viertelstunde schon sollte das so lang verborgene Geheimniß enthüllen. Mit welchen Empfindungen Jane dieser Enthüllung entgegensah – das wußte nur sie allein. Die aufzuckenden Flammen beleuchteten ein Antlitz, auf dem sich jetzt nur ein einziger Ausdruck spiegelte, feste, unbeugsame Entschlossenheit. „Es muß sein!“ Mit diesen Worten hatte Forest seine Tochter gelehrt, jeden Kampf zu bestehen und jede Qual zu tragen, wovon ihr freilich während seines Lebens wenig genug beschieden war. Jetzt erst kam die Probe, und zuckend, aber stumm und ohne Klage beugte sie sich dem eisernen Gesetz der Nothwendigkeit. Einen Moment lang konnte das ungeahnte Wiedersehen sie überwältigen, länger nicht, es lag nicht in Jane’s Natur, vor der Entscheidung feig zurückzubeben, sie wollte jetzt Gewißheit und brächte diese Gewißheit ihr auch Vernichtung. Die energisch gespannten Züge mit den fest zusammengepreßten Lippen und dem düsteren Eisesblick gaben ihr in diesem Augenblick eine wahrhaft erschreckende Aehnlichkeit mit dem todten Vater. Auch nicht ein Hauch von Weichheit, von Ergebung, alles hart, starr und eisern, man sah es an diesen Zügen – was auch kommen mochte, es würde getragen werden!

Die Thür wurde von draußen geöffnet und der Erwartete trat ein. Er schloß sie wieder hinter sich, aber er blieb dicht an der Schwelle stehen.

„Sie haben befohlen, Miß Forest!“

„Ich wünschte eine Unterredung mit Ihnen, Mr. Fernow. Sind wir hier ungestört?“

„Ich hoffe es! Wenigstens für die nächste Viertelstunde.“

„So – bitte ich Sie näher zu kommen.“

Er näherte sich langsam und blieb ihr gegenüber dicht am Kamine stehen, zwischen ihnen prasselte und knisterte das Feuer, der Flammenschein beleuchtete grell und scharf die Gestalten der Beiden, sie waren allein sichtbar in dem halbdunklen Raume, sichtbar auch für jeden, der etwa draußen über die Terrasse schritt.

„Ich war auf diesen Ruf nicht gefaßt, Miß Forest. Unserer Begegnung im Dorfe nach schien es mir, als wünschten Sie jede Annäherung meinerseits zu vermeiden. Ich bin dem Winke gefolgt, Sie sind es jetzt, die mich herbeirief.“

Es lag wohl einige Bitterkeit in diesen Worten, aber Fernow’s Bitterkeit war selten schneidend und verletzend, in Jane’s Ohren klang nur ein leiser tiefschmerzlicher Vorwurf, weiter nichts.

„Mein Benehmen mag Ihnen räthselhaft erschienen sein, Mr. Fernow, ich schulde Ihnen eine Erklärung; zuvor aber bitte ich Sie, mir einige Fragen zu beantworten.“

Er neigte in stummer Einwilligung das Haupt.

„Zuerst also – nennen Sie mir Ihren Vornamen!“

Fernow schien unter allen Fragen diese am wenigsten erwartet zu haben. „Meinen Vornamen?“

„Ja.“

„Ich heiße Walther.“

„Walther?“ Ein tiefer freierer Athemzug rang sich unwillkürlich aus Jane’s Brust hervor. „Walther! den Namen kenne ich nicht!“

„Und weshalb sollten Sie ihn auch kennen, Miß Forest?“ fragte er mit sichtbarer Befremdung. „Wir waren uns ja fremd, bis zu dem Augenblick, wo Sie den Boden Deutschlands betraten.“

„Vielleicht!“ Ihr Blick haftete düster auf den heißen Flammengebilden, die im ewigen Wechsel aufzüngelten und wieder niedersanken, „vielleicht auch nicht! Sie sagten mir einst, Sie seien heimath- und elternlos in’s Leben hinausgestoßen worden, und dann in die Hände eines Gelehrten gefallen, der auch Sie der Wissenschaft zuführte – war dieser Gelehrte ein Geistlicher?“

„Ja, aber er verließ später seine Pfarre und seinen Beruf, um sich einzig der Wissenschaft hinzugeben.“

Jane preßte krampfhaft die linke Hand gegen die Brust. „Und – sein Name?“

„Pfarrer Hartwig!“

Eine schwere, tiefe Pause! Die Flammen sprühten und knisterten, sie warfen ihr zuckendes Licht auf ein todtenbleiches und todtenkaltes Antlitz, kein Laut kam von ihren Lippen, sie verharrte regungslos in ihrer Stellung.

„Miß Forest, was heißt dies alles?“ Walther’s Stimme [359] klang unruhig und gepreßt. „Wozu diese seltsamen Fragen? Kannten Sie meinen Pflegevater, standen Sie in irgend einer Beziehung zu ihm?“

Er war ihr näher getreten bei den letzten Worten, und stand jetzt dicht neben ihr; Jane schien die Frage nicht gehört zu haben, sie gab keine Antwort darauf.

„Johanna!“

Sie bebte leise zusammen. Dieser Name! erst ein einziges Mal hatte sie ihn von seinen Lippen vernommen, in der Abschiedsstunde, und er klang wie eine Melodie aus der fernen, süßen Kinderzeit. Die Mutter hatte sie einst so genannt, nur kurze Zeit lang, dann war auch der deutsche Name seines Kindes dem starren Willen des Vaters zum Opfer gefallen, er ward in das englische Jane umgestaltet, nie hatte sie ihn seitdem wieder gehört und jetzt klang er ihr aus diesem Munde, mit so weichem flehenden Tone – all ihre Kraft brach zusammen vor diesem einen Laut.

Langsam hob sie den Blick zu ihm empor, er begegnete seinen Augen und ruhte einige Secunden lang darin. Diese blauen Augen, die mit schwermüthiger Zärtlichkeit auf ihrem Antlitz hafteten, sie übten selbst jetzt noch ihre geheimnißvolle Macht, eine Macht, die das stolze willensstarke Weib im Moment der Entscheidung, wo es nur Handeln und Entschließen galt, losriß von allem Wollen und Entschließen, losriß von dem heißen zuckenden Weh in ihrem Innern, von all den Kämpfen und Qualen der letzten Stunden, und sie mit träumerischer unwiderstehlicher Gewalt hinüberzog in den Traum, den er selbst träumte in dieser Minute. Sie saß wieder am Rande der Fliederhecke, aus deren Knospen das erste Grün hervorbrach, und er stand an ihrer Seite. Um sie her braute der Nebel und wob seine grauen Schleier um Bäume und Gebüsche, leise rieselte der erste Frühlingsregen nieder auf die duftende Erde, leise zog durch die Luft ein seltsames Hallen und Flüstern, und fern und geheimnißvoll tönte das Wallen und Rauschen des Rheines zu ihnen herüber – fernhin versanken Gegenwart und Wirklichst, nichts regte sich mehr, als das dumpfe unerklärliche Weh, das sie damals zuerst empfunden – sie war willenlos im Banne dieser Augen.

Die Beiden zuckten plötzlich auf, gleichzeitig emporgeschreckt durch irgend ein unbekanntes Etwas. Das Traumbild zerfloß mit seinem Nebelgeriesel und seinem Frühlingsrauschen, sie waren wieder in dem hohen düsteren Steingemach, das Feuer knisterte und prasselte, draußen rauschte der Herbstwind in den Bäumen, vielleicht war er es, der einen Zweig gegen das Fenster geschlagen, der sie aus ihrem Erinnerungstraum wachrief. Jane blickte zuerst dorthin und Walther’s Auge folgte der Richtung.

„Wir werden beobachtet!“ sagte sie leise.

„Schwerlich! Indeß, ich werde nachsehen.“

Er schritt zum Fenster, öffnete es vollends und beugte sich weit hinaus in die Dunkelheit. Jane hatte sich erhoben, sie stützte sich schwer auf die wappengeschmückte Lehne des Armstuhls. Jetzt galt es das Schwerste! Er mußte erfahren, was für sie nicht länger zweifelhaft war.

„Ich will sehen, ob er es zu tragen vermag. Vielleicht sprach nur die Stimme der Natur in dieser Zärtlichkeit, vielleicht,“ ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen, „lächelt er bei der Entdeckung. Nun denn, kann er es tragen, ich werde meine Schwäche nicht verrathen und sollte ich sterben an dem ersten Kuß des Bruders!“

Walther hatte das Fenster geschlossen und kehrte zu ihr zurück. „Es ist nichts!“ sagte er ruhig. „Wer sollte auch ein Interesse daran haben, uns zu beobachten?“

Jane wußte bereits, welchen Weg sie einzuschlagen habe; sie ging ihn festen Schrittes.

„Wer? Mr. Alison!“

Walther trat zurück und blickte sie starr an. „Mr. Alison? Ihr Begleiter?“

„Ja.“

Die dunkle Gluth stieg wieder jäh und flammend in seinem Antlitz auf und färbte Stirn und Schläfe.

„Also ist er Ihnen nicht fremd, dieser Mann? Ich ahnte es im ersten Augenblick, als ich ihn sah. Johanna,“ seine Stimme bebte in fieberhafter Erregung, „in welcher Beziehung steht dieser Alison zu Ihnen? Welches Recht hat er auf Sie?“

„Ich bin seine Braut!“

Die Gluth wich aus seinem Gesichte so schnell, wie sie gekommen war, um einer tiefen Blässe Platz zu machen.

„Seine Braut!“ wiederholte er tonlos. „Sie lieben ihn also?“

„Nein!“

„Und gaben ihm dennoch Ihr Wort, Ihre Zukunft?“

Es lag eine bittere Anklage in dem Vorwurfe; Jane’s Blick sank davor zu Boden. „Ich that es!“ erwiderte sie leise.

„Dann wollte Gott, wir hätten uns nie gesehen!“ sagte Walther dumpf.

Jane schwieg einige Secunden lang. „Warum?“ fragte sie endlich fast unhörbar.

Er trat ihr ganz nahe und auch seine Stimme sank jetzt herab zu einem leisen, aber leidenschaftlichen Flüstern.

„Du fragst noch? Soll ich es Dir auch in Worten sagen, was Du längst erriethest, errathen mußtest, oder – bin ich es nur allein, der elend wird durch Dein Geständniß?“

Langsam wendete Jane ihm das Antlitz wieder zu; ihre Stimme klang unnatürlich ruhig, aber ihr Auge haftete jetzt auf seinen Zügen mit einem unablässigen angstvollen Forschen, als solle jede Faser seines Innern ihr Rede stehen.

„Wir brauchen deshalb noch nicht elend zu werden, wir dürfen es nicht werden. Das Schicksal hat uns einmal zusammengeführt, grausam vielleicht, aber wenn es uns auch das Höchste versagt, auf Trennung lautet sein Spruch nicht! Vielleicht,“ ihr Blick senkte sich tief und tiefer in den seinigen, „vielleicht kann ich meinen künftigen Gatten zu einem längeren Aufenthalte am Rhein bestimmen. Ich weiß jetzt, es bedarf nur eines einzigen Wortes aus meinem Munde, und er kommt Ihnen als Freund entgegen. Sie dürfen diese Hand nicht zurückstoßen, Walther; Sie werden Ihre Empfindungen beherrschen lernen, werden es lernen, auch mir dann zu nahen, als Freund, als – Bruder –“

„Johanna!“ unterbrach er sie mit einem wilden, leidenschaftlichen Aufschrei. Sie schwieg, aber ihr Auge ließ nicht ab von seinen Zügen; es hatte jetzt denselben Ausdruck wie bei der ersten Nachricht in N., als erwarte sie in der nächsten Minute die Entscheidung über Leben und Tod.

„Und das sagst Du mir?“ brach er jetzt mit schmerzlicher Bitterkeit aus. „Das muß ich von Deinen Lippen hören? Willst Du den Schwärmer, den Träumer in mir verspotten, oder träumst Du selbst von einem idealen Freundschaftsbunde, wo die Liebe zum Frevel wird? Täusche Dich nicht! Zwischen Geistern mag ein solcher Weg möglich sein, zwischen Herzen nicht; da entstammt er nur der Kälte oder dem Verbrechen. Ich habe auch einst an solchen krankhaften Träumen gehangen in der Einsamkeit meines Studirzimmers, abgeschlossen von der Welt; da kam die Liebe zu Dir und riß mich hinaus in’s Leben, in die volle heiße Wirklichkeit, und das Leben und die Wirklichkeit verlangen jetzt ihre Rechte. Ich muß Dich besitzen oder Dich verlieren auf ewig! Es giebt kein Drittes zwischen uns!“

Das war der volle glühende Ton der Leidenschaft; sie wehte stürmisch hervor aus seinen Worten, aus seinem ganzen Wesen, und vor ihr sank die letzte Stütze, an die sich Jane noch geklammert, aber sie stand plötzlich aufrecht ohne Halt. Mitten durch die Gewißheit eines grenzenlosen Unglücks brach in diesem Moment ein Gefühl, das mächtiger war als selbst die Verzweiflung. Seine Worte waren nur das Echo ihrer eigenen Seele; sie wurde geliebt, wie sie selbst liebte.

Sie athmete tief auf. „Du hast Recht, Walther! Es ist Frevel, ich sehe es jetzt auch! Zwischen uns Beiden giebt es hinfort nur noch Ein Gebot – Trennung!“

Er zuckte zusammen bei dem Worte. „Und das vermagst Du so gefaßt auzusprechen? Und darin, meinst Du, soll auch ich mich fügen, ohne zuvor das Aeußerste versucht zu haben? Johanna, noch bindet Dich kein heiliger Schwur, ein Versprechen kann gelöst, ein Wort zurückgegeben werden – sind Deine Gelübde unwiderruflich?“

„Sie sind es!“

„Bedenke,“ seine Stimme bebte in stürmischem Flehen, „es gilt mein ganzes Lebensglück, es gilt das Deine! Du rettest uns beide mit einem einzigen Entschluß. Kannst Du die Bande nicht zerreißen, die Dich an diesen Alison knüpfen?“

Hier wurde mit heftigem Geräusch die Thür aufgerissen und Friedrich’s mächtige Stimme schallte herein.

„Herr Lieutenant! Der Herr Major lassen bitten, augenblicklich bei ihm zu erscheinen!“

[360] Walther wendete sich um. „Was giebt es?“ frug er verstört. „Wohin soll ich?“

„Zum Herrn Major, alle die Herren Officiere sind da versammelt!“

„Es ist gut, ich werde kommen!“

Die Thür fiel wieder in’s Schloß, man hörte den schweren Schritt Friedrich’s sich entfernen. Walther wendete sich noch einmal zu Jane zurück, sein Antlitz war todtenbleich, nur in den Augen brannte eine wilde Unruhe.

„Du hörst es, ich muß fort! Wir sind im Kriege, die nächste Stunde, der nächste Augenblick schon kann uns von einander reißen. Johanna, ich frage Dich zum letzten Male, kannst und willst Du nicht die Meine werden?“

„Nie, Walther! Und gäbe Alison mich frei und fiele jede andere Schranke – niemals!“

„So lebe wohl!“ stieß er verzweifelt hervor und streckte die Arme aus, als wolle er sie an seine Brust reißen, aber mit einer zuckenden Bewegung wich Jane zurück und hob abwehrend die Hand. Einen Moment lang stand er wie erstarrt vor ihr, dann neigte er sich tief und fremd.

„Sie haben Recht, Miß Forest! Leben Sie wohl!“

Er war fort, Jane blieb allein zurück, allein mit der Felsenlast auf ihrer Brust, denn noch war der letzte Schleier nicht gehoben, das letzte Wort nicht gesprochen worden. Wohl hatte es sich gewaltsam auf ihre Lippen gedrängt, aber eine fremde Macht hatte es zurückgehalten, die Furcht, ihn noch mehr leiden zu sehen, als durch ihr bloßes Nein. Sie, die sonst Niemand schonte, weil sie stets schonungslos gegen sich selbst war, zitterte setzt vor einem fremden Schmerz. Zum ersten Male verlor das harte „es muß sein“ des Vaters seine Kraft, zum ersten Male konnte sie nicht, einer unabwendbaren Nothwendigkeit gegenüber. Sie hatte all’ den Kämpfen und Qualen fest die Stirn geboten, aber als es jetzt darauf ankam, auch ihn diesen Kämpfen preiszugeben, da regte sich das Weib in ihr mit all’ seiner Angst, all’ seiner Zaghaftigkeit, sie bebte scheu und feig zurück vor dem entscheidenden Worte – um seinetwillen.

„Morgen! Bis dahin hat er sich mit dem Verluste vertraut gemacht, er wird dann auch das ‚Warum‘ leichter tragen; jetzt hätte es ihn vernichtet! Aber,“ hier war es auch mit Jane’s Kraft zu Ende, ihre Stimme brach in einem leisen Aufschluchzen, „ich wäre auch gestorben, wenn er es ertragen hätte!“




In dem Zimmer des Majors sah es sehr ernst aus, es schien, als solle dort ein förmlicher Kriegsrath gehalten werden. Der Major selbst ging mit finsterer Miene, die Hände auf den Rücken gelegt, im Gemach auf und nieder, der Adjutant und ein jüngerer Lieutenant standen mit unruhigen und bedenklichen Gesichtern seitwärts am Tische, die übrigen Officiere, unter denen sich auch Doctor Behrend befand, waren der an sie ergangenen Weisung, sich sofort herzuverfügen, bereits gefolgt, Walther trat als der Letzte ein.

„Ich habe Sie rufen lassen, meine Herren,“ begann der Major in sichtbarer Aufregung, „um Ihnen eine schlimme Nachricht mitzutheilen. Sie wissen, daß wir Verstärkung erwarten, Hauptmann Schwarz bricht morgen in der Frühe mit seinem Bataillon von L. auf, um sich hier mit uns zu vereinigen; die Bergstraße galt für sicher, ich habe es selbst nach L. hin gemeldet, jetzt erst ergiebt sich, daß das ein heilloser Irrthum war!“

Eine unruhige Spannung zeigte sich auf allen Gesichtern, aller Blicke hafteten auf dem Major, der noch immer in derselben Erregung fortfuhr:

„So eben kehrt Lieutenant Witte mit seiner Streifpatrouille zurück. Er ist unterwegs eines Bauern habhaft geworden, der auf die ihm gestellten Fragen nichts antworten wollte, und bei dem nun folgenden Streit in der Wuth und Betrunkenheit so seltsame Dinge schwatzte, so höhnische Winke gab, daß man genöthigt war, sich seiner zu versichern. Bedroht und völlig nüchtern gemacht, hat er sich denn auch zu Geständnissen herbeigelassen, die leider durch die sofort angestellten Recognoscirungen Wort für Wort bestätigt wurden. Die Franctireurs liegen mit dreifacher Uebermacht oben im Gebirge, keine zwei Stunden entfernt, zwischen hier und L., sie halten die Bergstraße besetzt, es gilt einen Ueberfall der Unsrigen, von deren Marsch sie Kenntniß erhalten haben.“

Eine Bewegung des Schreckens gab sich unter den Officieren kund, sie kannten das Terrain hinlänglich, um die Gefahr, die ihren Cameraden drohte, im vollsten Umfange zu ermessen.

„Ich habe es gleich gefürchtet,“ sagte der Hauptmann nach einer augenblicklichen Pause, „daß diesem völligen Verschwinden der Banden irgend eine Kriegslist zu Grunde lag. Es war zu auffallend, daß in den letzten Tagen die Pässe auf einmal gesäubert waren und unsere Posten ganz harmlos in den Bergen spazieren gingen, während sonst aus jeder Felsspalte auf sie geschossen wurde. Sie haben sich seitwärts gezogen, um uns sicher zu machen, haben sich unterdeß gesammelt und brechen nun aus ihren unzugänglichen Schlupfwinkeln hervor, um einen Hauptschlag auszuführen.“

„Die Frage ist nun,“ nahm der Major wieder das Wort, „wie wir eine Warnung nach L. gelangen lassen. Die Verbindung damit ist unterbrochen, der Paß ist gänzlich gesperrt, wie Lieutenant Witte berichtet.“

„Gänzlich, Herr Major!“ bestätigte der junge Officier, an den sich der Vorgesetzte bei den letzten Worten wandte. „Sie halten sowohl die Bergstraße als den Fußweg besetzt, der jenseit des Flusses an den Felsen entlang führt. Es kann erst kürzlich geschehen sein, denn heute Morgen noch war der Weg frei, aber es ist die engste Stelle des Thales, sie beherrschen es dort vollständig, und jede Patrouille, jeder Einzelne, der sich dort blicken ließe, würde fraglos niedergeschossen.“

„Und fassen sie die Unsrigen in jenem Engpaß, so kommt auch nicht ein Einziger lebend davon!“ rief der Major heftig. „Sie werden ihnen von vorn und hinten den Weg verlegen und, selbst gedeckt, aus der Höhe auf sie feuern. Es ist zum Rasendwerden!“

„Könnte man die Botschaft nicht über E. schicken?“ schlug der Adjutant vor. „Dort ist die Straße jedenfalls noch frei.“

„Aber auch das halbe Gebirge zu umgehen! Das dauert zu lange; bei dem ersten Tagesgrauen bricht das Bataillon auf, wenn die Warnung nicht bis drei Uhr Morgens zur Stelle ist, so kommt sie zu spät!“

„Herr Major!“ Die Stimme des jungen Lieutenants Witte klang etwas schüchtern, als er sich gleichfalls mit einem Rathe hervorwagte, aber aus seinen Augen blitzte die muthigste Entschlossenheit. „Es gäbe wohl noch ein Mittel, das einfachste von allen. Wir gehen mit allen verfügbaren Kräften dem Feinde entgegen, werfen ihn und machen selbst unseren Cameraden die Bahn frei.“

Trotz des furchtbaren Ernstes der Situation lächelte der Major einen Augenblick, dann aber schüttelte er das Haupt.

„Der Einfall macht Ihnen alle Ehre, Lieutenant Witte, aber er kann nur in einem dreiundzwanzigjährigen Kopfe entstehen, ausführbar ist er nicht. Sie hören es ja, der Feind hat die dreifache Uebermacht, das Terrain giebt ihm eine zehnfache. Wir würden das Schicksal theilen, das morgen den Unsrigen droht, ohne sie zu retten.“

Unter den Officieren hatte sich bei dem Vorschlag ihres Cameraden eine lebhafte Zustimmung kundgegeben, sie bestürmten auch jetzt den Major mit Bitten, ihn in Ausführung zu bringen, aber dieser blieb fest.

„Damit sie uns im Rücken fassen, nicht wahr? Steckt das Gesindel nicht etwa auch hier herum in allen Wäldern, haben sie unter den Einwohnern nicht überall Spione? Unser Abmarsch, der ihnen sofort verrathen würde, wäre für sie das Signal, uns zu folgen, und wir, zwischen zwei Feuern eingekeilt, könnten weder vor- noch rückwärts. Unmöglich! Wir verlassen unseren Posten nicht, aber wir werden während der Nacht doppelt auf unserer Hut sein. Wer weiß, wie weit hinaus der Plan und die Verbindung dieser Banden untereinander reicht; vielleicht haben sie hier einen zweiten Ueberfall vor, der diesmal uns gilt.“

Das Gewicht dieser Gründe war zu schlagend, als daß sich etwas dagegen hätte einwenden lassen; Alles schwieg.

„Aber wir können doch nicht ruhig zusehen, wie die Unsrigen ahnungslos in ihr Verderben marschiren!“ mischte sich jetzt auch Doctor Behrend ein.

„Nein!“ sagte der Major entschlossen. „Die Botschaft muß hin! Und wäre das Gebirge noch zehn Mal unwegsamer, die Möglichkeit muß gefunden werden!“

[373] In diesem Momente trat Walther vor, der Einzige, der sich bisher mit keinem Worte an der Debatte betheiligt hatte, jetzt erst brach er das Schweigen.

„Herr Major, ich kenne einen Ausweg!“

Der Major wendete sich hastig um, „Sie, Lieutenant Fernow? Und welchen?“

„Wir haben oft genug Streifzüge in’s Gebirge gemacht, ich kenne es ziemlich genau. Sie erinnern sich, daß ich vor acht Tagen mit fünf Mann eine Recognoscirung nach L. unternahm, das damals noch vom Feinde besetzt war. Wir wagten uns zu weit vor, wurden von einigen Zwanzig verfolgt, angegriffen und endlich auseinandergesprengt.“

„Ja! Nun?“

„Nach einigen Schüssen warf ich mich mit dem Gefreiten Braun, der bereits eine Kugel im Arm hatte, in eine Seitenschlucht, wo man unsere Spur verlor. Die Uebrigen entkamen nach der anderen Seite; wir fanden beim weiteren Vordringen einen schmalen Pfad, halb verborgen im Dickicht, den wir einschlugen, weil er in der Richtung nach S. zu führen schien. Er hob sich allmählich bis zur Höhe der Berge, lief dann, größtentheils im Walde verborgen, auf dem Kamm entlang, und senkte sich endlich jäh nieder, gerade am Eingange jener engen, völlig unwegsamen Schlucht, die eine Viertelstunde von hier zur Rechten des Thales liegt. Wir hatten uns noch einige Minuten lang durch dichtes Gebüsch hindurchzuwinden, und standen dann plötzlich auf jenem vorspringenden Felsplateau der Bergstraße, wo sich die einzelne große Tanne befindet. Von dort erreichten wir S. in kurzer Zeit.“

Walther berichtete das Alles klar und ruhig, in seiner Stimme lag nichts mehr von der Aufregung eines Mannes, der vor kaum zehn Minuten aus einer Unterredung, die ihm sein ganzes Lebensglück zertrümmert vor die Füße warf, so jählings gerissen ward; nur etwas matter klang der Ton, als sonst, und in seinem Antlitz stand der Ausdruck einer düsteren Ruhe, die Ruhe eines festen Entschlusses. Es war jetzt keine Zeit, um verlorenes Liebesglück zu klagen oder zu trauern, er hatte die Arznei dafür bereits gefunden, die heilsamste und unfehlbarste von allen.

Der Major war ebenso wie die Uebrigen in größter Spannung seinen Worten gefolgt, aber seine Stirn wurde nicht heller.

„Und Sie glauben, daß die Franctireurs, die hier zu Hause sind, den Weg nicht eben so gut und besser kennen?“

„Kennen – wahrscheinlich! Es ist aber noch die Frage, ob sie ihn beobachten lassen, denn erstlich können sie die Kenntniß unsererseits nicht voraussetzen, und zweitens ahnen sie überhaupt nicht, daß ihr Plan uns verrathen ward. Sie werden sich hauptsächlich in den Schluchten und Abhängen concentriren, jener hochgelegene Pfad bleibt möglicherweise ganz aus ihrer Berechnung, und das ist immerhin ein Vortheil den anderen Wegen gegenüber, von denen wir wissen, daß sie besetzt sind.“

„Und Sie glauben, daß jener Pfad bei Nacht zu passiren ist?“

„In einer Vollmondsnacht wie die heutige – ja! Das Mondlicht beseitigt die Hauptschwierigkeit, den Eingang inmitten des Gebüsches zu finden und der ersten steilen Windung zu folgen. Einmal oben ist kein Verirren mehr möglich, das Licht schimmert hell genug durch die Bäume, und von der Mündung des Weges nach L. ist wohl die Bergstraße zu benutzen, der Feind wagt sich schwerlich so weit bis an das Dorf vor.“

Der Major ging in tiefem Nachdenken wieder auf und nieder. „Sie haben Recht!“ sagte er endlich. „Der Versuch wenigstens muß gemacht werden, obgleich es immer ein tollkühnes Wagestück bleibt, zwei oder höchstens drei Mann mitten durch das vom Feinde besetzte Terrain durchzuschicken, auf die schwache Möglichkeit hin, daß man jenen Pfad unbesetzt läßt. Es ist zehn gegen eins zu wetten, sie werden entdeckt und niedergeschossen; indeß, die Gefahr ist zu dringend – Sie erinnern sich des Weges genau?“

„Ganz genau!“

„Nun, dann bliebe uns nur noch übrig, diejenigen unter unseren Leuten herauszufinden, die zuverlässig und unerschrocken genug sind, einen solchen Gang zu unternehmen. Der Gefreite Braun –“

„Liegt noch krank an seiner Wunde,“ unterbrach ihn Walther ruhig. „Sie sehen, Herr Major, die Aufgabe fällt mir zu.“

„Walther! Bist Du von Sinnen?“ raunte Doctor Behrend erschrocken seinem Freunde zu.

Auch der Major war einen Schritt zurückgetreten und die sämmtlichen Officiere blickten mit einer Art schreckensvoller Ueberraschung auf ihren Cameraden. Walther war der allgemeine Liebling, der Stolz seiner Gefährten und das Schooßkind seiner Vorgesetzten, er übte trotz seiner steten Schweigsamkeit und Zurückgezogenheit doch jene unbedingte Macht über seine Umgebung aus, die genialen Naturen oft eigen ist. Sie hatten ihn oft genug im Gefecht vorgehen sehen und die Gefahr mit ihm getheilt, aber es ist anders im offenen Kampfe [374] zu fallen, an der Seite der Cameraden, mit den Waffen in der Hand, als bei Nacht und Nebel einsam und wehrlos einer Kugel aus dem Hinterhalt zu erliegen, oder vielleicht einem noch schlimmeren Schicksal zu verfallen. Es gehörte mehr als gewöhnlicher Muth zu einem solchen Ende, das hier fast mit Gewißheit zu erwarten stand, und man hätte jeden Anderen lieber geopfert als gerade Walther Fernow.

„Ihnen, Lieutenant Fernow?“ sagte der Major langsam. „Das geht nicht! Ich darf bei solcher Gelegenheit keinen Offizier opfern, wir haben ohnedies deren genug verloren in den letzten Schlachten, und brauchen sie nothwendiger für’s Gefecht. Solch eine Botschaft ist Sache der Mannschaften, und zwar werde ich Freiwillige dazu aufrufen lassen.“

Walther trat noch einen Schritt näher zum Tische, das Licht der Kerzen fiel voll und klar auf sein Antlitz, es war bleich und fast wie Marmor.

„Ich bin augenblicklich der Einzige, der den Weg kennt, und also auch der Einzige, der ihn gehen kann. Beschreiben läßt er sich nicht; den Gang einem Anderen übertragen, hieße das Gelingen von vorn herein in Frage stellen.“

„Aber,“ in der Stimme des Majors lag eine unterdrückte Bewegung, „ich kann gerade Sie am wenigsten entbehren, und, ich wiederhole es Ihnen, die Möglichkeit den Pfad offen zu finden ist nur schwach – Sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach niedergeschossen!“

„Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Jedenfalls kann diese Möglichkeit mich nicht von einem Wagniß zurückhalten, das man Gemeinen übertragen will!“

Der Major trat rasch auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Sie haben Recht!“ sagte er einfach. „Nun denn in Gottes Namen! Gelingt es, so retten Sie ein paar Hundert unserer braven Jungen, wo nicht – nun, es stirbt sich von einer verirrten Kugel auch nicht schwerer den Heldentod! – Wie viel Bedeckung wollen Sie mitnehmen?“

„Niemand! Werden wir überhaupt angegriffen, so erliegen wir auch der Uebermacht, und wo erst einer fällt, kommen die anderen sicher nicht durch, wenn der Feind einmal aufmerksam geworden ist. Es hieße die Leute nutzlos opfern, da zu der Botschaft ein Einziger genügt. Außerdem könnte eine größere Anzahl verhängnißvoll werden, wenn sie an den lichteren Stellen in den Mondschein treten muß, ein Einzelner entgeht eher der Beobachtung.“

Der alte Vorgesetzte blickte fast mit einer Art von Bewunderung auf den jungen „Dichter und Träumer“, wie Walther oft genug scherzweise genannt ward, der, wenn er sich erst einmal aus seiner Träumerei gerissen hatte, mit so kühler energischer Besonnenheit vorging, daß sie auch nicht den kleinsten Umstand außer Acht ließ. Er ahnte freilich nicht, welch ein Sturm noch vor kurzem in diesem Manne getobt, und woher die Ruhe stammte, die ihn so der Gefahr entgegentreten ließ.

„Also allein! Und wann denken Sie aufzubrechen?“

„Nicht vor einer Stunde. Der Mond muß erst herauf sein, ich bedarf sein volles Licht, um die Höhe zu erreichen. Bis dahin ist die Helle noch gefahrlos, der Ort liegt zu nahe an L., um hier schon eine Beobachtung von Seiten des Feindes zu besorgen, und Zeit bleibt mir noch reichlich, selbst wenn ein unvorhergesehenes Hinderniß entgegentreten sollte.“

„Nun denn, meine Herren,“ wandte sich der Major jetzt an die Uebrigen, „so gehen Sie jetzt und halten Sie sich die Nacht auf einen Alarm gefaßt. Herr Hauptmann, Sie lassen die Posten verdoppeln und sorgen dafür, daß die vorhin bestimmten Anordnungen genau ausgeführt werden. Ich werde indeß noch das Nöthige mit Lieutenant Fernow besprechen.“

Die Offiziere gehorchten, aber an der Thür wendete sich der Hauptmann noch einmal um:

„Gute Nacht, Lieutenant Fernow!“

Um Walther’s Lippen glitt einen Moment lang ein flüchtiges Lächeln, er wußte, was dies Lebewohl zu bedeuten hatte.

„Gute Nacht, Herr Hauptmann! Gute Nacht, meine Herren!“

Sich umwendend blickte er in die Augen des Doctor Behrend, die ernst und vorwurfsvoll auf ihm ruhten.

„Liegt Dir denn wirklich so ganz und gar nichts mehr am Leben?“ fragte dieser leise und gepreßt.

„Nein!“ lautete die düstere, in demselben Tone gegebene Antwort.

Der Doctor seufzte. „Ich sehe Dich aber doch vorher noch?“

„Wahrscheinlich! Aber geh jetzt, Robert!“

Mit einem zweiten noch schwereren Seufzer folgte der Arzt den Uebrigen, und Walther blieb allein mit dem Major und dem Adjutanten zurück. –

Es mochte eine Viertelstunde vergangen sein, als er aus dem Gemach seines Vorgesetzten zurückkehrte, um sich nach seinem eigenen Zimmer zu begeben. Er hatte soeben den Fuß in den dorthin führenden Corridor gesetzt, als eine dunkle Gestalt sich von der Wand ablöste, an der sie bisher regungslos gestanden, und ihm den Weg vertrat.

„Mr. Fernow! Ich warte auf Sie bereits seit längerer Zeit.“

Walther blieb stehen, er erkannte den Amerikaner.

„Was wünschen Sie von mir, Mr. Alison?“

„Kann ich die Ehre einer Unterredung mit Ihnen haben?“

Der Gefragte warf einen Blick auf seine Uhr, es war beinahe noch eine Stunde Zeit. „Ich stehe Ihnen zu Diensten.“

Er wußte, was jetzt kommen würde, ein einziger Blick auf das Antlitz Henry’s hatte ihn überzeugt, daß Jane’s Befürchtung richtig war. Also auch das noch! Nicht ein einziger Tropfen des Kelches blieb ihm erspart!

Alison war, ohne ein Wort weiter zu verlieren, ihm vorangeschritten und öffnete jetzt eine Thür auf der andern Seite; Walther zögerte einen Moment lang einzutreten, es war das Zimmer, in dem er vorhin mit Jane gesprochen, der Amerikaner bemerkte sein Zögern.

„Man ist sehr – ungestört hier! Oder hätten Sie vielleicht einen Widerwillen gerade gegen dies Gemach?“

Ohne zu antworten schritt der junge Officier rasch über die Schwelle, und Alison folgte ihm. Das Zimmer war wieder völlig leer, wie vorhin leuchtete die Lampe an der Decke mit ihrem düstern Scheine, aber das Feuer im Kamin war bereits niedergebrannt. Nur die rothe Gluth knisterte noch leise und sprühte bisweilen hell auf, sie beleuchtete auch diesmal zwei Gestalten, wenn auch weniger grell und scharf als der Flammenschein, doch dafür mit einem um so unheimlicheren Lichte. Walther lehnte, wie vorhin, am Kamin; ihm gegenüber, an der Stelle, wo Jane gesessen, stand Henry, zwischen ihnen der dunkelglühende Brand.

Seltsam! Es war dasselbe Gefühl, das in der Seele dieser beiden Männer flammte, die heiße, Alles überwältigende Leidenschaft für ein Wesen, und sie standen Beide gleich hoffnungslos an den Trümmern ihres Glückes, aber unendlich verschieden gab sich diese Empfindung in ihrem Aeußern kund.

Auf dem Antlitz des Deutschen lag eine bleiche stille Ruhe, seine tiefe träumerische Natur war nicht danach angelegt, von einer Leidenschaft zu lassen, die sich in die innersten Tiefen seines Herzens eingegraben und dort Wurzel gefaßt hatte für ewig. Er konnte sie nicht überwinden und nicht verschmerzen, aber das Erliegen, das er gewählt, war weder feige, noch erniedrigend. „Es stirbt sich auch von einer verirrten Kugel den Heldentod!“ und es lag etwas wie Begeisterung in dem Blicke, der sich nach dem Park hinauswandte, wo es jetzt hell und heller durch die Gebüsche dämmerte – eben stieg der Mond im Osten auf.

Anders sein Gegenüber! Die Züge Henry’s waren entstellt von einer wahrhaft dämonischen Wildheit, seine Augen leuchteten in unheimlicher Gluth, und nur mit dem Aufwande seiner ganzen Willenskraft bändigte er das convulsivische Zucken seiner Lippen. Die Berechnung, womit der junge Kaufmann seine Hand nach einer Million ausgestreckt, war geglückt, aber der Luxus der Liebe, den er sich nach Atkins’ Ausdruck dabei erlaubt, war doch wohl übertrieben gewesen. Furchtbar behauptete die Leidenschaft ihr Recht, allein in ihrem Bann, blind und fühllos für alles Andere, stand er im Begriff, ihr mehr noch als jene Million, stand er im Begriff, ihr Leben und Ehre zu opfern.

Walther wartete schweigend einige Secunden, denn so lange dauerte es, ehe Henry die Herrschaft über seine Sprache zurückgewann, sie hatte einen seltsam heisern Klang, als er endlich das Wort nahm:

„Ich wollte Sie um einige Erklärungen ersuchen, Mr. Fernow, die Sie mir wohl kaum verweigern dürften. Sie hatten vor ungefähr einer Stunde hier in diesem Zimmer eine Unterredung mit Miß Forest?“

Walther richtete seine großen Augen fest und ernst auf ihn. „Ja! Waren Sie etwa Zeuge davon?“

[375] „Ich war es!“

Der junge Officier blieb vollkommen ruhig. „Dann werden Sie also auch gehört haben, was wir sprachen.“

Ein bitterer Hohn zuckte um Henry’s Lippen. „Sie redeten ja Deutsch mit ihr, in der geliebten Muttersprache! Also blieb mir auch das Verständniß Ihrer Zärtlichkeiten verschlossen. Nur die Namen habe ich gehört. Es klang sehr süß, dies ‚Johanna‘! beinahe so süß wie das ‚Walther‘ von ihren Lippen!“

Eine leise schmerzliche Bewegung flog über Walther’s Züge, aber er unterdrückte sie sofort wieder. „Ich glaube, Sie wollten eine Frage an mich richten, Mr. Alison! Bleiben wir bei der Sache!“

„Sie haben Recht!“ sagte Henry dumpf. „Bleiben wir bei der Sache! Also – Sie lieben Miß Forest?“

„Ja!“

„Und werden wieder geliebt?“

Walther schwieg, aber die Augen Alison’s flammten in so verzehrendem Haß ihm entgegen, daß jede Rücksicht hier Feigheit geschienen hätte.

„Ja!“ entgegnete er fest.

Derselbe zischende Laut wie vorhin rang sich von Henry’s Lippen; es klang wie das Zischen einer verwundeten Schlange.

„Ich bedaure, daß ich dies so vollkommene Einverständniß stören muß! Vielleicht hat Ihnen Miß Forest bereits gesagt, daß ich ältere Rechte habe und nicht geneigt sein dürfte, sie Ihnen abzutreten!“

„Ich weiß es!“

„Nun, dann werden Sie auch begreifen, daß, wenn mir die Hand von Miß Forest gewiß ist, ich auch ihre Liebe bei keinem Andern wissen will als bei ihrem künftigen Gatten, wenigstens bei keinem Lebenden.“

Walther richtete sich mit einer raschen Bewegung empor. „Soll das eine Herausforderung sein?“

„Ja! Treten Sie nicht zurück, Mr. Fernow, ich beanspruche nicht Ihre deutsche Umständlichkeit mit Zeugen, Secundanten und Vorbereitungen; ich schlage Ihnen ein weit einfacheres Mittel vor. Wir loosen oder würfeln um die Entscheidung, wir Beide allein; es bedarf dazu keines Dritten. Der Verlierende verpflichtet sich mit seinem Ehrenworte, nach vierundzwanzig Stunden nicht mehr unter den Lebenden zu sein, und die Sache ist abgethan.“

„Also ein amerikanisches Duell?“

„Gewiß, es ist in diesem Falle unbedingt vorzuziehen.“

In Walther’s Zügen lag ein Zug von Verachtung, als er kalt entgegnete: „Ich bedaure, Mr. Alison, daß sich diese Art der Genugthuung mit meinen Begriffen von Ehre nicht verträgt. Müssen wir uns einmal gegenüberstehen, so muß es auch in der ‚umständlichen‘ deutschen Weise geschehen, Auge in Auge, mit den Waffen in der Hand. Kämpfen will ich allenfalls noch um mein Leben, würfeln nicht.“

Henry’s Augen sprühten in vernichtendem Hohne. „Es mag allerdings nicht so poetisch sein wie Ihr Zweikampf, aber es ist – sicherer!“

„Gleichviel, ich willige nicht darein! Und übrigens scheinen Sie zu vergessen, daß davon überhaupt nicht die Rede sein kann, so lange ich noch vor den Fahnen stehe. Mein Leben gehört augenblicklich nicht mir, es steht im Dienste einer Pflicht, der ich vor Allem zu folgen habe. Ich darf mein Vaterland um keinen Vertheidiger ärmer machen, und so lange der Krieg währt, darf ich weder Privatrache suchen, noch ihr mich aussetzen. Falle ich in seinem weiteren Verlaufe, so ist Ihr Wunsch ja ohnedies erfüllt, wo nicht, so bin ich bereit, Ihnen nach dem Frieden die verlangte Genugthuung zu geben, eher nicht!“

„Henry lachte bitter auf. „Nach dem Frieden! Vielleicht wenn Sie in Ihre Stellung als Professor in B. zurückgekehrt sind, wo Rector und Senat, wo zur Noth die ganze Universität Sie deckt mit dem Schilde der Wissenschaft, mit der moralischen Entrüstung über eine mittelalterliche Barbarei, die dem Lehrer der Jugend am wenigsten ziemt, und wo Sie endlich ‚gezwungen diesen höheren Rücksichten weichen‘. Meisterhaft ausgedacht, Mr. Fernow! Wenn ich nur albern genug wäre, in die mir gestellte Falle zu gehen!“

Walther’s Antlitz flammte wieder in dunkler Gluth, seine Hand zuckte unwillkürlich nach der linken Seite, aber er ließ sie wieder sinken.

„Wie viele der Schlachten, in denen ich gekämpft, haben Sie durch das Fernglas angesehen?“ fragte er gelassen.

Der Vorwurf traf, aber er reizte den Amerikaner nur noch furchtbarer; es war ein Tigerblick, mit dem er den vor ihm Stehenden anschaute.

„Kommen wir zu Ende!“ sagte er rauh. „Ich lasse Ihnen nochmals die Wahl; entweder Sie geben mir noch diese Nacht die geforderte Genugthuung, einerlei ob in Ihrer oder meiner Weise, ich bin jetzt zu Allem bereit, oder –“

„Oder?“

„Die Folgen auf Ihr Haupt!“

Walther kreuzte die Arme in ruhiger Ueberlegenheit. „Diese Nacht würde sich das wohl von selbst verbieten, da ich nicht hier sein werde, ich muß in’s Gebirge“ – in Henry’s Augen blitzte es plötzlich auf, wild und schrecklich, er beugte sich vor und lauschte in athemloser Spannung auf das Weitere – „und im Uebrigen kann ich Ihnen nur meine früheren Worte wiederholen, unser Streit muß ruhen bis zur Beendigung des Krieges, dann will ich mich Ihnen stellen, nicht einen Tag früher, und versuchen Sie es jetzt noch, mich durch eine Beleidigung zu zwingen, so setze ich alle Rücksichten bei Seite und appellire an das Urtheil meiner Vorgesetzten.“

Die letzte Drohung wäre unnöthig gewesen, denn Henry war auf einmal ruhig geworden, eigenthümlich ruhig, er lächelte sogar, aber es war ein Lächeln, bei dem es Einen eiskalt durchschauerte.

„Also ein unwiderrufliches Nein! Gut! Sollten wir uns aber einmal unvermuthet treffen, Mr. Fernow, so erinnern Sie sich, daß ich es war, der Ihnen ehrlichen Kampf antrug, und daß Sie ihn verweigerten. Auf Wiedersehen!“

Er ging, Walther verharrte unbeweglich auf seinem Platze, er blickte schweigend in die allmählich verlöschende Gluth. Erstorben waren die heißen hellen Flammen, die seiner Unterredung mit Jane geleuchtet, erstorben auch der rothe Schein und das letzte matte Aufsprühen, nur einzelne Funken zuckten noch hier und da empor, tanzten eine Weile wie Irrlichter auf und nieder, und sanken zuletzt auch zusammen, wie alles Uebrige in Staub und Asche. Durch die Fenster warf jetzt das Mondlicht einen langen silbernen Streif auf den Boden des Gemaches, es wurde bald Zeit zum Gehen.

Da ward die Thür auf’s Neue hastig geöffnet, diesmal war es Mr. Atkins, der rasch eintrat und auf Walther zuschritt.

„Ich suchte Sie, Mr. Fernow!“ sagte er unruhig. „Sie sind allein! War Mr. Alison nicht bei Ihnen?“

„Er verließ mich soeben.“

„Ich dachte es mir!“ murmelte Atkins. „Ich begegnete ihm an der Treppe. Was ist vorgefallen? Was hatten Sie Beide miteinander?“

Walther wandte sich zum Gehen. „Das, Mr. Atkins, ist eine Sache, die nur Mr. Alison und mich angeht. Gute Nacht!“

Atkins hielt ihn zurück, es lag eine seltsame Unruhe in seinen Zügen. „Nehmen Sie Vernunft an, Mr. Fernow, und geben wenigstens Sie mir eine Antwort. Henry wollte mir nicht Rede stehen, aber sein Gesicht sagte mir genug. Ich komme, Sie zu warnen, hüten Sie sich vor ihm!“

Walther zuckte die Achseln. „Wenn Sie damit andeuten wollen, daß mein Leben gefährdet sein könnte, so sagen Sie mir nichts Neues. Mr. Alison selbst hat es offen genug ausgesprochen, daß Einer von uns die Erde räumen muß.“

„Er hat Sie also gefordert?“

„Ja.“

„Und Sie?“

„Ich habe ihm erklärt, daß ich mich jetzt weder schlagen darf noch will und daß die ganze Angelegenheit ruhen muß bis zur Beendigung des Krieges.“

Atkins schüttelte in wachsender Unruhe das Haupt. „Sie kennen Henry schlecht, wenn Sie meinen, er weiche solchen Gründen. Einer vernünftigen Ueberlegung ist er überhaupt nicht mehr fähig, sonst würde er sein eigenes Leben nicht so auf’s Spiel setzen, und eine bis zum Wahnsinn erhitzte Leidenschaft wartet nicht geduldig monatelang auf ihre Rache. Seine Auge gefiel mir nicht, ich fürchte, es ist nicht gut, wenn Sie die Nacht unter einem Dache schlafen.“

„Das wird auch nicht der Fall sein,“ sagte Walther ruhig. „Ich wenigstens werde nicht unter diesem Dache schlafen, ich muß heut’ Nacht noch in’s Gebirge.“

[376] „Wohin müssen Sie?“ rief Atkins erschrocken.

„In die Berge! Das Wohin und Weshalb ist Dienstgeheimniß.“

„Glauben Sie vielleicht, daß ich Sie ausforschen will?“ fragte der Amerikaner heftig. „Hoffentlich gehen Sie unter Bedeckung?“

„Allein!“

Atkins trat einen Schritt zurück und sah ihn vom Kopf bis zu den Füßen an. „Mr. Fernow, es ist grenzenlos unvorsichtig von Ihnen, das so offen auszusprechen!“ sagte er halblaut.

In Walther’s Antlitz zeigte sich ein flüchtiges Lächeln. „Ich würde mich allerdings hüten, es der Schloßdienerschaft oder den Dorfbewohnern gegenüber auszusprechen, Sie, Mr. Atkins, kenne ich denn doch hinreichend, um von Ihnen keinen Verrath zu besorgen, übrigens dürfte das auch kaum möglich sein, denn weder Sie noch Mr. Alison kommen durch unsere Posten.“

Atkins zuckte zusammen. „Henry! Haben Sie ihm etwas davon gesagt?“

„So viel wie Ihnen, mehr nicht!“

Der Amerikaner sah ihn mit einem halb mitleidigen Blicke an. „Unbegreifliche deutsche Harmlosigkeit!“ murmelte er vor sich hin, dann aber trat er zu dem jungen Manne und legte die Hand auf dessen Arm, in seinen Zügen stand ein furchtbarer Ernst.

„Mr. Fernow, folgen Sie dem Rath eines Mannes, dem es schwer genug wird, so etwas wie eine Anklage gegen seinen Landsmann und Gefährten auszusprechen, aber es gilt, ein Unglück zu verhüten. Gehen Sie heut Nacht nicht in’s Gebirge; Sie sind gefährdet, verstehen Sie mich? Sie allein! Uebertragen Sie die Sache einem Ihrer Cameraden.“

„Ich kann nicht!“

„So nehmen Sie wenigstens Bedeckung mit sich.“

„Ich kann nicht, Mr. Atkins!“

„Nun denn, so rennen Sie in Ihr Verderben!“ rief Atkins heftig, „ich habe das Meinige gethan, jetzt tragen Sie selbst die Folgen!“

Walther machte eine ungeduldige Bewegung. „Beruhigen Sie sich, Ihre Besorgnisse sind ganz unbegründet! Ich sage es Ihnen noch einmal, es ist eine Unmöglichkeit für Jeden, der die Losung nicht kennt, von hier in’s Gebirge zu kommen, wir haben eine dreifache Postenkette gezogen.“

Atkins sah trotz dieser Worte sehr wenig beruhigt aus. „Sie wissen nicht, was Henry möglich macht! Er brütet jetzt über einem Unglück, ich kenne ihn! Es ist eine im Grunde unbändige Natur, die Erziehung und Verhältnisse nur scheinbar gezähmt, der sie den nüchternen Geschäftsmann nur aufgezwungen haben; bricht eine solche Natur erst einmal die langgewohnten Schranken, so kennt sie auch keine Schranke mehr. Er ist in seiner jetzigen Stimmung zu Allem fähig!“

„Doch wohl nicht zum Meuchelmorde!“ sagte Walther ruhig.

Es zuckte wieder etwas von dem alten bisher verschwunden gewesenen Sarkasmus um Atkins’ Lippen. „Ihr Deutschen tragt Eure subtilen Ehrbegriffe bis in’s Toben der entfesselten Leidenschaft! Henry ist Amerikaner, vergessen Sie das nicht. Sie haben ihm den einzig legitimen Weg zur Rache versagt, und er wird sich jetzt schwerlich mit idealen Ansichten von Recht und Unrecht abgeben. Wahren Sie sich, Mr. Fernow, ich stehe für nichts mehr ein!“

Walther schüttelte leise, aber entschieden das Haupt. „Ich habe ein besseres Vertrauen zu Mr. Alison, als Sie. Er mag mich hassen bis auf den Tod, dessen, was Sie andeuten, halte ich ihn dennoch nicht fähig. Sagen Sie ihm,“ hier überflog ein eigenthümliches fast geisterhaftes Lächeln das schöne schwermüthige Antlitz des jungen Officiers, „sagen Sie ihm, er brauche mein Leben nicht zu nehmen, sein Wunsch würde auch ohne das erfüllt werden. – Ich muß fort, Mr. Atkins, grüßen Sie Miß Forest von mir und – leben Sie wohl!“

Er wandte sich rasch um und, das Gemach verlassend, schlug er den Weg nach seinem eigenen Zimmer ein. –

Henry war Atkins allerdings am Fuße der Treppe begegnet, die zu ihrer Wohnung führte, aber er hatte sie nicht erstiegen. Er lenkte, nachdem er die Fragen seines Gefährten in einer Weise zurückgewiesen, die die halb entschlummerte Besorgniß desselben wieder hell aufflammen ließ und ihn zu jener Unterredung mit Fernow trieb, seine Schritte nach dem Zimmer des französischen Hausmeisters, das ihm einer der Soldaten bezeichnete.

Der Hausmeister, ein alter Mann mit einem scharfen klugen Gesicht und blitzenden dunkeln Augen, saß am Tische bei der brennenden Lampe und blätterte in seinen Büchern. Er sah finster auf, als die Thür geöffnet ward, aber der verbissene Ingrimm, der in seinen Zügen stand, und mit dem er Jedem begegnete, der zu der feindlichen Einquartierung gehörte, milderte sich in etwas, als er den Fremden erkannte. Er wußte bereits, daß die Reisenden Amerikaner seien, denen nur die Unmöglichkeit, im Dorfe ein Unterkommen zu finden, das Nachtlager im Schlosse verschafft hatte; waren sie auch Gäste des Feindes, sie gehörten doch wenigstens nicht der verhaßten Nation an, und die finstere Zurückhaltung, die Alison heut’ Nachmittag im Kreise der Officiere gezeigt, und die der Franzose zu beobachten Gelegenheit gehabt, gereichte ihm bei diesem noch besonders zum Vortheil. Er stand auf und ging ihm höflich, aber dennoch mit einer gewissen kalten Zurückhaltung entgegen.

„Womit kann ich dienen, Monsieur?“

Henry schloß vorsichtig die Thür hinter sich und warf einen Blick durch das Zimmer. Hätte Walther jetzt dies Gesicht beobachten können, wo jede Muskel sich spannte in eiserner Willenskraft, vielleicht hätte er die Warnungen Atkins’ doch mehr beachtet.

„Ich habe Wichtiges mit Ihnen zu sprechen. Sind wir hier unbelauscht?“

Der Franzose wurde aufmerksam. „Vollkommen! Das Zimmer hat, wie Sie sehen, nur diesen einen Ausgang.“

Henry trat näher zum Tische und winkte dem Alten, ihm zu folgen, er dämpfte seine Stimme bis zum Flüstern.

„Sie wissen vermuthlich, daß man uns die Weiterreise versagt. Meine Gefährten haben sich darein ergeben, die Nacht hier zu bleiben, ich aber muß jedenfalls heut’ Abend noch in’s Gebirge.“

„Das ist unmöglich, Monsieur!“ sagte der Franzose artig, aber kalt. „Die Preußen halten die sämmtlichen Eingänge besetzt, ohne ihre Erlaubniß gelangt Niemand auf die Bergstraße.“

Henry fixirte ihn scharf und prüfend. „Und wüßten Sie nicht dorthin zu gelangen, trotz der Posten, wenn Ihnen daran läge, wenn es etwa irgend eine Nachricht an die Franctireurs ins Gebirge gälte?“

Der Franzose streifte ihn mit einem scheuen forschenden Seitenblick.

„Ich sage Ihnen ja, Monsieur, daß alle Eingänge besetzt sind!“

„Es giebt immer Schleichwege in’s Gebirge,“ sagte Henry mit Bestimmtheit, „die dem Feinde nicht bekannt sind, und die die Einwohner um so besser kennen und benutzen. Erst am Nachmittage hörte ich von den Officieren die Vermuthung aussprechen, daß trotz der schärfsten Bewachung doch eine geheime Verbindung zwischen dem Dorfe und den Bergen bestände, es wird also auch hier einen solchen Weg geben.“

„Möglich! Ich kenne keinen.“

Statt aller Antwort zog Henry seine Brieftasche hervor, nahm eine Banknote heraus und hielt sie schweigend dem Alten hin. Dieser mußte den Werth des Papiers kennen, und es mußte ein ungeheurer sein, denn er blickte erschrocken zu dem Amerikaner empor.

„Der Preis des Weges!“ sagte dieser kurz.

Der Franzose trat mit vollster Entschiedenheit zurück. „Ich lasse mich nicht erkaufen, Monsieur.“

Henry legte ruhig die Banknote auf den Tisch. „Von den Deutschen nicht! das nehme ich von vornherein an! Sie könnten Ihnen das Zehnfache dieser Summe bieten, es wäre vergebens. Ich gehöre aber nicht zu ihnen und bin auch ihr Freund nicht. Wäre das, was ich vorhabe, für sie, ich würde Erlaubniß haben, durch ihre Posten zu gehen. Daß ich gezwungen bin, Ihre Hülfe zu suchen, mag Ihnen beweisen, daß Sie als Franzose diesen Verrath auf sich nehmen können. Mir dürfen Sie den Weg nennen.“

Das Argument war richtig, nur die herrische Bestimmtheit, mit der der Amerikaner auftrat, verfehlte ihren Eindruck nicht auf den Alten, dennoch gab er seine vorsichtige Zurückhaltung noch nicht auf.

„Monsieur wollen allein in’s Gebirge?“

„Gewiß.“

„Und gerade heute Nacht? So wissen Sie vielleicht auch, was – Sie dort finden werden.“

[389] „Allerdings!“ erklärte Henry, der es für gut fand, seine völlige Unkenntnis der Sache zu verbergen und den Eingeweihten zu spielen; er erreichte auch in der That seinen Zweck. Es war ihm gelungen, in dem Alten den Franzosen aufzustacheln, sich seinen Haß gegen den Feind dienstbar zu machen. Der Hausmeister wußte am besten, was heut Nacht im Gebirge drohte, und der Umstand, daß der Fremde ohne Wissen der Deutschen und allein dorthin wollte, überzeugte ihn, daß er es mit einem Verbündeten zu thun habe. Ein Anderer war verloren bei diesem Gange, also – der Hausmeister ließ seinen Widerstand fahren.

„Es giebt einen solchen Weg,“ sagte er, die ohnehin schon leise geführte Unterhaltung noch mehr dämpfend. „Er führt über die Berge nach L. Die Deutschen kennen ihn nicht, hätten sie ihn aber auch durch Zufall entdeckt, für sie endigt er in der ersten Schlucht zur Rechten. Daß er sich jenseits derselben fortsetzt und durch den Wald mit unserem Park zusammenhängt, können sie unmöglich wissen, Aus- und Eingang sind zu sehr in Felsspalten und Gebüsch verborgen, es ist die Verbindung mit den Unsrigen.“

In Henry’s Augen blitzte eine wilde Befriedigung auf. „Gut! Und wie finde ich den Weg?“

„Sie gehen in den Park, die große Hauptallee hinauf – er ist nicht besetzt, die Posten stehen in weiterem Umkreise – zur Linken werden Sie eine Statue der Flora erblicken. An ihr vorüber und in die dicht dabei befindliche Grotte! Sie schließt sich nicht so eng an die Felswand, als es scheint, es ist ein Ausgang da nach dem Walde hinaus, dort folgen Sie dem engen Pfad durch’s Gebüsch, es ist nur einer, Sie können nicht irren, und in zehn Minuten haben Sie die Schlucht erreicht; sie mündet links in die Bergstraße, an dem Felsplateau, wo eine einzelne Tanne steht. Dort sind Sie bereits jenseits der Posten und weit genug von ihnen entfernt, um nicht mehr bemerkt zu werden.“

Henry war in athemloser Spannung gefolgt, als wolle er jedes Wort in seinem Gedächtniß festhalten, jetzt athmete er tief auf, ein Ausdruck düsteren Triumphes lag in seinen Augen, er nahm die Banknote vom Tische und reichte sie dem Franzosen.

„Ich danke Ihnen! Hier nehmen Sie!“

Der Alte zögerte. „Ich that es nicht für Geld, Monsieur!“ sagte er ernst.

„Ich weiß es! Aus Haß gegen den Feind! Sein Sie ruhig,“ um Henry’s Lippen zuckte wieder der eiskalte Hohn, „ich beschütze ihn heut Nacht sicher nicht! Aber die Auskunft ist mir mehr werth, als dies Papier, nehmen Sie es, es wird Ihr Gewissen nicht beschweren.“

Der Hausmeister warf noch einen Blick auf die Banknote, man wagte schwerlich eine solche Summe, blos um ihn zu compromittiren, und von so hohem Werthe wie dem finsteren Fremden war den Preußen der Weg sicher nicht. Er nahm das Dargebotene und murmelte einige Worte des Dankes.

Henry war im Begriff zu gehen, aber er wendete sich noch einmal um, und blickte den Alten fest und drohend an.

„Ihre Mitschuld sichert mir das Schweigen, ich brauche es Ihnen wohl nicht erst anzuempfehlen. Die Deutschen würden Sie füsiliren, wüßten sie, wer mir durch ihre Posten geholfen.“

„Ich weiß es, Monsieur!“ „Wenn ich also gegen Morgen zurückkehren sollte, so war der Eintritt in’s Gebirge unmöglich und ich habe die Nacht im Schlosse zugebracht. Sie wissen es nicht anders, Adieu!“ –

Auch in dem Zimmer Walther’s brannte helles Licht, er fand aber bei seinem Eintritt Niemand dort als Friedrich.

„Herr Doctor Behrend war die ganze Zeit hier,“ berichtete dieser, „und hat lange auf den Herrn Lieutenant gewartet, aber er wurde schnell in’s Dorf gerufen. Ich glaube, es steht sehr schlecht mit unserem Gefreiten Braun.“

Walther schien unangenehm durch die Nachricht überrascht zu werden. „Doctor Behrend ist schon fort? Ah, ich hätte ihn gern noch gesprochen!“

„Das wollte der Herr Doctor auch. Er sagte, ich sollte immer den Mantel und die Pistolen bereitlegen, Sie müßten heut’ Abend noch fort, Herr Lieutenant, und,“ es lag eine Art von Aengstlichkeit in der Stimme des Burschen, „und Sie würden mich diesmal nicht mitnehmen, wie sonst immer, wenn Sie eine Patrouille führen.“

„Nein, Friedrich, diesmal nicht!“ sagte Walther zerstreut. Er ging einige Mal auf und nieder, und blieb dann plötzlich stehen. „Es ist ja jetzt Alles eins!“ murmelte er vor sich hin. „Warum ihm nicht sagen, was ich Robert verrathen wollte! Friedrich!“

„Herr Lieutenant!“

„Es ist möglich, daß heut’ Nacht ein Ueberfall versucht wird, Ihr habt Befehl erhalten, auf einen Alarm gefaßt zu sein?“

„Ja. Ich soll von zehn Uhr ab mit noch zwei Mann im Park patrouilliren. Es wäre der Sicherheit wegen, meint der Herr Hauptmann, weil er nicht besetzt ist.“

[390] „Gut! Du siehst jedenfalls vorher noch den Doctor, es lag mir sehr viel daran, ihn noch zu sprechen, aber ich muß fort und kann nicht erst in’s Dorf hinunter. Du wirst ihm meinen Auftrag mittheilen, Wort für Wort, so wie ich ihn Dir sage, aber nur ihm allein, keinem Anderen, hörst Du?“

„Keinem Anderen!“

Die nächsten Worte schienen Walther unendlich schwer zu werden, er kämpfte erst noch einige Secunden mit sich selber. –

„Wenn es zum Kampfe kommen sollte, er ist der Einzige, der nicht daran theilzunehmen hat, und die Franctireurs hier herum sind aus dem schlimmsten Gesindel zusammengesetzt, dem nichts heilig ist – er soll Miß Forest schützen, so viel in seiner Macht steht.“

„Die amerikanische Miß?“ wiederholte Friedrich langsam.

„Ja!“ Walther zögerte wieder, dann aber brach es auf einmal voll und heiß von seinen Lippen. „Sage ihm, ich fordere es von ihm als eine letzte Freundespflicht. Miß Forest sei mir das Liebste gewesen auf der ganzen weiten Welt! Er soll sie schützen – wenn es sein muß, mit seinem Leben!“

Friedrich stand stumm in vollem Entsetzen da. Das also war die Auflösung jener räthselhaften Feindschaft zwischen seinem Herrn und der amerikanischen Miß! Der Kopf des Burschen begann zu wirbeln, er war völlig unfähig, den Zusammenhang zu begreifen.

„Du wirst das bestellen Wort für Wort?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“ antwortete Friedrich mechanisch. Er stand noch immer wie festgewurzelt an seinem Platze und sah zu, wie sein Herr die Pistolen untersuchte und den Mantel umwarf; erst als dieser schon an der Thür war, stürzte er ihm auf einmal nach.

„Herr Professor!“

Walther blieb betroffen stehen und blickte sich um. Friedrich hatte ihn während des ganzen Krieges nicht so genannt, er vergaß nie den militärischen Titel seines Herrn, den mit großer Ostentation zu betonen stets seine höchste Wonne war. Wie kam er jetzt auf einmal mit dieser Erinnerung an B.? Befremdet von dem altgewohnten und doch so lange nicht gehörten Klange blickte Fernow in das Gesicht seines früheren Dieners, es war auffallend blaß, und es lag eine seltsame Ruhe in den sonst ausdruckslosen Zügen.

„Herr Professor,“ es war ein Ton flehender Angst in der Frage. „Müssen Sie denn wirklich ganz allein gehen? Können Sie mich nicht mitnehmen? Durchaus nicht?“

„Nein, ich kann nicht!“ sagte Walther ernst. „Was fällt Dir denn auf einmal ein, Friedrich? Du hast ja Dienst heut’ Nacht, und ich sollte meinen, die Aengstlichkeit hätten wir uns während des Krieges nachgerade abgewöhnt.“

Friedrich athmete schwer auf. „Ich weiß nicht, mir ist aber auch während des ganzen Krieges nicht zu Muthe gewesen, wie gerade jetzt. Vorhin spürte ich noch nichts davon, aber jetzt, wo Sie gehen wollen, überläuft es mich auf einmal eiskalt, Herr Professor!“ brach er plötzlich verzweiflungsvoll aus, „ich sehe Sie ganz gewiß nicht wieder!“

Walther blickte schweigend auf ihn hin. Seltsam! Auch diese robuste urgesunde Natur, die sonst geistigen Einflüssen wenig oder gar nicht zugänglich war, unterlag in diesem Moment einer Ahnung. War es die Liebe zu seinem Herrn, die ihm diesen Instinct gab? Dieser hütete sich wohl, irgend eine Weichheit zu zeigen, er wußte, daß das geringste Zeichen davon den riesenhaften Soldaten vor ihm um alle Fassung bringen und ihn zum schluchzenden Kinde machen würde.

„Du bist nicht gescheidt!“ sagte er halb unwillig und halb mit einem Versuche zu lachen. „Ist es denn das erste Mal, daß ich einer Gefahr entgegengehe? Schäme Dich, Friedrich, ich glaube gar, Du weinst!“

Friedrich antwortete nicht, aber er hielt die hellblauen Augen fest und unverwandt auf das Antlitz seines Herrn gerichtet, er sah mit einer in diesem Augenblick wunderbar geschärften Beobachtungsgabe, daß dessen Blick nicht mit seinen Worten übereinstimmte, er sah den Abschied darin, und fort war auf einmal alle Subordination, all die militärische Gewohnheit, die er monatelang so gewissenhaft beobachtet, er sah nur noch seinen Professor vor sich, den er so oft in all den Krankheiten gepflegt, den er behütet und bewahrt, wie eine Mutter ihr Kind, der ihm Zweck und Inhalt seines ganzen Lebens war. Er schluchzte laut auf, und ein Thränenstrom stürzte aus seinen Augen.

„Herr Professor,“ rief er schmerzlich, „wollte Gott, ich würde statt Ihrer niedergeschossen! Es giebt ein Unglück heut’ Nacht, ich weiß es! Einer von uns fällt gewiß!“

Walther lächelte traurig und sanft, er wußte, wer dieser Eine war, aber die rührende Anhänglichkeit des Burschen erzwang sich in der Abschiedsstunde ihr Recht. Er vergaß jetzt auch alles Andere, nur die langen Nächte der Krankheit nicht, in denen Friedrich an seinem Bette gesessen, mit einer Treue und Hingebung, die sich nicht bezahlen und nicht vergelten ließ, und – in solchem Augenblick fallen wohl auch höhere Schranken und füllt sich eine weitere Kluft aus – der Officier legte einen Moment lang leise seinen Arm um die Schulter des Dieners und drückte warm und innig dessen Hand.

„Gute Nacht, Friedrich!“ sagte er weich. „Was auch kommen mag, für Dich ist gesorgt, Doctor Stephan hat die betreffenden Papiere in Händen. – Und nun“ – er richtete sich schnell empor, „laß mich gehen, ich muß fort!“

Friedrich gehorchte, er ließ zögernd die Hand los, die er mit seinen beiden fest umschlossen hielt, und trat zurück. Walther winkte ihm noch einmal zum Abschiede und verließ dann rasch das Zimmer. Mit gesenktem Haupte schlich der arme Bursche zum Fenster, er sah die in den Mantel gehüllte Gestalt über die vom Monde hell beschienene Terrasse schreiten, er hörte den Schritt sich weiter und weiter entfernen, endlich ganz verhallen, und die bitteren Thränen stürzten ihm auf’s Neue aus den Augen, er fühlte es mit unumstößlicher Gewißheit, er hatte seinen Herrn zum letzten Male gesehen.




„Machen Sie auf, Jane!“ Weisen Sie mich nicht wieder unter irgend einem Vorwande zurück, es handelt sich um eine Angelegenheit von der äußersten Wichtigkeit, ich muß Sie jetzt sprechen!“

Mit diesen Worten klopfte Atkins energisch an Jane’s Zimmer und erzwang sich damit in der That den Eintritt. Der Riegel wurde zurückgeschoben und die Thür geöffnet. Es brannte auch hier Licht, und Jane war noch völlig angekleidet, ein Blick auf das Bett zeigte es noch unberührt, sie hatte wohl nicht an Schlafen gedacht. Sie trat ihm entgegen, mit einer düsteren Frage im Antlitz, die Augen waren wach und geröthet vor innerer Aufregung, aber Spuren vergossener Thränen zeigten sie nicht. Jane kannte nicht das Weinen, den so oft einzigen und unersetzlichen Trost des Weibes, sie hatte es verlernt seit ihren Kinderjahren. Das Schluchzen, mit dem sie einst am Sterbebette ihres Vaters zusammenbrach, mit dem vorhin ihre Kraft erlag, es kam über sie wild und heftig wie ein Krampf, aber thränenlos, ihre starre eiserne Natur kannte nicht einmal dies Zeichen von Weichheit, sie trug Alles, wie sie es den Vater hatte tragen sehen, wie ein Mann.

Atkins ließ ihr keine Zeit, die Frage auszusprechen, die auf ihren Lippen schwebte. „Es gilt eine Gefahr!“ sagte er hastig. „Ich dachte sie hinauszuschieben, abzuwenden, aber sie erweist sich stärker, als ich geglaubt. Meine Macht ist zu Ende, jetzt müssen Sie dazwischentreten.“

„Welche Gefahr?“ fragte Jane ahnend und athemlos. „Wovon reden Sie?“

„Von Alison und Mr. Fernow! Sie sind aneinandergerathen, Henry hat den Deutschen gefordert und dieser ihm die Genugthuung verweigert, weil er sich während des Krieges nicht schlagen kann oder darf. Henry brütet Rache – sie dürfen sich nicht zum zweiten Male treffen!“

Jane war zusammengeschreckt bei der Nachricht, aber sie faßte sich sofort wieder, eine überströmende Bitterkeit klang aus ihrer Stimme.

„Sie haben Recht! Die Beiden dürfen sich nicht zum zweiten Male gegenüberstehen, ein Kampf zwischen ihnen und um mich, das wäre mehr als Mord! Henry ist im Irrthum, es bedarf nur eines einzigen Wortes, ihn aus seiner Täuschung zu reißen, ich wollte es erst morgen thun, jetzt ist kein Augenblick mehr zu verlieren. Rufen Sie ihn sofort zu mir!“

Atkins schüttelte bedenklich den Kopf. „Das ist es eben! Henry ist nirgends zu finden, ich habe bereits das ganze Schloß vergebens nach ihm durchsucht.“

[391] „Und Walther? Um Gotteswillen, wo ist Walther?“

Atkins zog die Augenbrauen in die Höhe. Walther! Also so weit waren die Beiden doch bereits miteinander, und Henry sollte dennoch im Irrthum sein!

„Mr. Fernow ist im Gebirge,“ sagte er ernst. „In einer Dienstangelegenheit, wie er behauptet, und allein. Henry weiß das. Wenn er ihm folgte – Jane, ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was dann zu fürchten steht.“

Jane stand einen Moment lang wie eine Bildsäule, dann aber riß sie sich gewaltsam aus der Erstarrung empor, ihre ganze Entschlossenheit kehrte zurück.

„Ich kenne Henry! Er darf nicht fort, ehe ich ihn gesprochen, wir müssen ihn zurück haben um jeden Preis. Ich glaube,“ sie legte die Hand an die Stirn, bemüht, trotz der betäubenden Angst, ihre Gedanken zu sammeln, „ich glaube, es führt nur ein einziger Paß von hier in’s Gebirge. Sagte man uns nicht so heute Morgen in P.?“

„Nur einer, und den halten die Deutschen besetzt, aber den Weg wird Henry schwerlich versuchen, er weiß, daß die Posten ihn unter allen Umständen zurückweisen würden.“

„So kann er nur im Parke sein, er ist sicher dort! ich werde ihn aufsuchen.“

Atkins bemühte sich unruhig, sie zurückzuhalten. „Um Gotteswillen,“ rief er, „bedenken Sie, wir sind im fremden Lande, mitten im Toben des Krieges, es ist Nacht, Sie können doch unmöglich allein –“

Jane hörte nicht auf ihn, sie hatte bereits ihren Reisemantel vom Tische gerissen und um die Schultern geworfen.

„Bleiben Sie hier, Mr. Atkins! Es könnte auffallen, wenn wir alle Drei das Schloß verlassen, man könnte uns zurückweisen. Sie vermögen doch nichts über Henry, Ihnen folgt er schwerlich hierher, ich muß ihn selbst sprechen.“

Sie war aus der Thür und die Treppe hinunter, noch ehe Atkins seine Einwendungen zu Ende brachte. Er ballte unwillkürlich die Hand.

„Das ist ja eine wahre Höllennacht! Dieser blauäugige Deutsche bringt uns noch alle Drei in Lebensgefahr! Aber Jane hat Recht, ich darf nicht auch noch hinaus, und überdies – es ist besser, sie machen das allein unter sich aus. Im Park muß sie ihn finden! Er kann nirgend anders sein!“ –

Der weitläufige, waldartige Park des Schlosses S. lag im hellsten Mondlicht und im tiefsten Schweigen, das nur von Zeit zu Zeit unterbrochen ward durch den schweren Schritt der Patrouille, die ihn auf Anordnung des Hauptmanns heute Nacht durchstreifte. Sie hatte ihre Runde durch die Hauptalleen beendigt, ohne auf irgend etwas Verdächtiges zu stoßen, und theilte sich jetzt, am Ende der Anlagen angelangt, dem erhaltenen Befehle gemäß, um einzeln den Rückweg anzutreten und auf diese Weise auch die entlegenen Gänge und Bosquets zu sondiren; Friedrich fiel der zur Linken befindliche Theil des Parkes zu, die anderen Beiden nahmen den zur Rechten und die Mitte auf sich, an der Terrasse wollten sie wieder zusammentreffen.

Langsam, sein Gewehr im Arm, schritt Friedrich auf dem ihm zugewiesenen Terrain vorwärts; er brauchte sich nicht gerade zu beeilen, es kam nicht auf die Zeit an, und besonders leise aufzutreten, was ihm jedesmal zur besondern Pein gereichte, brauchte er auch nicht; es hatte sich, wie schon erwähnt, bei der Runde nichts Verdächtiges ergeben. Der Bursche war einem Auftrage, dessen Ausführung besondere Intelligenz erforderte, nicht gewachsen; aber den einfachen Befehl, Augen und Ohren offen zu halten, die Umgebung möglichst genau zu beobachten und sich bei der geringsten Entdeckung, dem geringsten Unfall, sofort mit der Meldung davon in’s Schloß zurückzuziehen, den verstand er und erfüllte ihn pünktlich und gewissenhaft. Dieser Befehl hatte nebenbei noch das Gute, ihn von dem nutzlosen und trostlosen Grübeln über den Abschied seines Herrn abzuziehen, der Dienst erheischte die gespannteste Aufmerksamkeit und ließ ihm nicht Zeit zu trüben Ahnungen oder dergleichen.

Er hatte bereits einen Theil seines Terrains hinter sich und befand sich jetzt gerade an der Flora, deren weiße, vom Monde hell beschienene Statue sich inmitten einer weiten Rasenfläche erhob. Es war ihm noch besonders eingeschärft, an der dabei befindlichen Muschelgrotte nicht vorüberzugehen, ohne einen Blick hineinzuwerfen; er schritt also nach jener Richtung hin und hatte soeben die Statue erreicht, als er auf einmal stehen blieb und das Gewehr schußfertig hob. Aber er setzte es wieder ab, noch ehe der Anruf aus seinem Munde kam; das lange helle Gewand unter dem Mantel hatte ihn in der am Rande des Gebüsches auftauchenden Gestalt eine Frau errathen lassen, und als sie jetzt in’s Mondlicht hinaustrat und auf ihn zukam, erkannte er Miß Forest.

Friedrich’s früherer Argwohn begann sich wieder mächtig zu regen; er hielt noch immer hartnäckig an der Idee fest, daß die Fremden eigentlich Spione seien, und die „amerikanische Miß“ galt ihm dabei als die gefährlichste von allen Dreien. Daß sie eine Dame war, kam dabei wenig in Betracht; sie nahm es an Klugheit mit jedem Manne auf, und diese einsame und seltsame Begegnung gab dem Verdachte Friedrich’s nur neue Nahrung.

„Was machen Sie denn hier im Parke, Miß?“ fragte er mißtrauisch. „Sie sollten sich in Acht nehmen! Wäre Ihr Kleid nicht gewesen und hätten Sie mir vielleicht nicht die richtige Antwort geben können, ich hätte auf Sie geschossen.“

Jane beachtete die Drohung nicht, sie kam noch näher und blieb dicht vor ihm stehen. „Sie sind es, Friedrich? Gott sei Dank, daß ich wenigstens Sie finde!“

Friedrich zeigte sich wenig geneigt, in dies „Gott sei Dank!“ einzustimmen; er hätte sie in seinem Diensteifer wahrscheinlich sehr rauh angelassen, aber die Erinnerung an die Worte seines Herrn band ihm die Zunge und machte jeden herben Ton unmöglich.

„Gehen Sie zurück, Miß!“ sagte er nur. „Sie dürfen nicht hier bleiben, und ich darf es nicht leiden, daß Sie so herumstreifen.“

Jane schien sich an das Verbot so wenig zu kehren wie vorhin[WS 2] an die Drohung. „Sie haben den Park durchsucht?“ fragte sie hastig. „Sind Sie Mr. Alison nicht begegnet?“

Friedrich’s Argwohn wuchs. Mr. Alison! Nun sollte der auch hier sein! Trieb sich denn die ganze amerikanische Sippschaft hier draußen umher? Dem lag sicher etwas Besonderes zu Grunde.

„Mr. Alison ist nicht hier!“ sagte er mit großer Entschiedenheit. „Wir haben die Runde durch den Park gemacht, und wenn er da wäre, so müßten wir ihn gesehen haben. Er wird wohl anderswo sein.“

Ein jähes Entsetzen malte sich in Jane’s Zügen. „Allmächtiger Gott, ich kam zu spät! Er muß bereits einen Weg gefunden haben!“ murmelte sie verzweiflungsvoll; aber es war jetzt keine Zeit, sich der Verzweiflung hinzugeben, und die Begegnung mit Friedrich rief bereits einen neuen Hoffnungsstrahl in ihr wach.

„Wissen Sie, wohin Ihr Herr gegangen ist?“ fragte sie entschlossen.

„Nein, das weiß ich nicht!“ versetzte Friedrich störrisch, „aber ich sage Ihnen jetzt im vollen Ernste, Miß –“

„Er ist im Gebirge!“ unterbrach ihn Jane, ohne auf seine weitere Rede zu achten. „Ich muß gleichfalls dorthin, ich muß ihm folgen.“

Friedrich starrte sie im vollen Entsetzen an. „Gott steh’ mir bei, Miß, aber ich glaube, Sie haben den Verstand verloren! In’s Gebirge wollen Sie? Unter die Franctireurs wohl gar? Geben Sie sich nur zufrieden, dahin kommen Sie gewiß nicht, dafür sind unsere Posten da.“

„Ich weiß es!“ sagte Jane fest, „und doch muß ich hin. Man wird mich zurückweisen, aber Sie, Friedrich, kennen jedenfalls die Losung, Sie müssen mir durch die Posten helfen.“

Friedrich hätte im Uebermaß des Entsetzens beinahe sein Gewehr fallen lassen, dann aber richtete er sich stramm empor und blickte mit dem Ausdruck eines unendlichen Mitleides und Selbstgefühls auf die junge Dame nieder.

„Nun, Miß, man sieht es, daß Sie aus dem wilden und gottlosen Amerika kommen!“ sagte er mit großem Nachdruck. „Einem deutschen Christenmenschen fiele eine solche Sünde gar nicht bei! Ich soll Ihnen durch die Posten helfen? durch unsere Posten? soll Ihnen am Ende gar die Losung sagen? Sie haben wohl gar keinen Begriff davon, was ein Krieg und was ein Soldat eigentlich ist?“

Jane trat ihm noch einen Schritt näher, ihre Stimme sank jetzt herab bis zum Flüstern.

„Es gilt das Leben Ihres Herrn! Hören Sie, Friedrich, Ihres Herrn! Es droht ihm eine Gefahr, die nicht vom Feinde [392] kommt, von der er keine Ahnung hat und die ich nur allein kenne. Er ist verloren, wenn es mir nicht gelingt, ihn zu warnen! Begreifen Sie nun, daß ich um jeden Preis ihm nach muß?“

Eine schmerzliche Bewegung zuckte in dem breiten, treuherzigen Gesicht des Burschen. „Dacht’ ich’s doch!“ rief er kläglich. „Ich wußte es gleich, es giebt ein Unglück heute Nacht!“

„Es giebt keins,“ sagte Jane entschlossen, „wenn ich ihn rechtzeitig erreiche, und ich erreiche ihn sicher, sobald mir nur die Möglichkeit gegeben ist, ihm zu folgen. Sie wissen jetzt, um was es sich handelt, Friedrich, Sie werden mir helfen, nicht wahr?“

Friedrich schüttelte statt aller Antwort den Kopf. „Ich darf nicht!“ sagte er endlich dumpf.

Jane faßte in verzweiflungsvollem Flehen seine beiden Hände. „Aber ich sage Ihnen ja, es gilt das Leben Ihres Herren, ich sage Ihnen, er ist verloren ohne meine Warnung! Wollen Sie ihn denn sterben lassen, wo ein einziges Wort ihn retten kann? Friedrich, Gott im Himmel, Sie müssen es ja doch sehen, daß es hier keinen Verrath, keine Täuschung gilt, daß nur die Todesangst mich treibt um seinetwillen. Bei der Liebe zu Ihrem Herrn beschwöre ich Sie, helfen Sie mir durch die Posten!“

Friedrich blickte schweigend auf sie nieder, er sah und fühlte die Wahrheit ihrer Worte, das war wirklich Todesangst, die aus ihrem Antlitz redete, von ihren Lippen flehte, und diese Angst galt seinem Herrn, galt allein dessen Rettung – ein paar große, schwere Thränen rollten langsam aus den Augen des armen Burschen über seine Wangen herab, aber er faßte sein Gewehr nur fester.

„Ich darf nicht, Miß! Ich kann nicht fort von meinem Dienst hier, könnte ich’s aber auch, durch unsere Posten kommen Sie nicht und wenn – und wenn es meinem Herrn das Leben kostet. Sehen Sie mich nicht so an, bitten Sie nicht! Beim Herrgott oben, ich kann nicht anders!“

Jane wich zurück und ließ seinen Arm fahren, damit sank die letzte Hoffnung, das Gebot der Pflicht war für Friedrich stärker, als selbst die leidenschaftliche Liebe zu seinem Herrn – Atkins hatte Recht, sie waren furchtbar diese Deutschen, mit ihrem eisernen Pflichtgefühl.

„Also Walther ist verloren!“ sagte sie matt.

Friedrich machte eine heftige Bewegung. „Versuchen Sie mich nicht weiter, Miß! Friedrich Erdmann ist kein Verräther!“

Jane zuckte zusammen bei dem Worte, ihre Augen öffneten sich weit und schreckensvoll.

„Was ist das für ein Name? Wie heißen Sie?“

„Erdmann! Wußten Sie das nicht, Miß? Freilich, Sie haben mich nur immer Friedrich rufen hören.“

Jane stützte sich auf das Postament der Statue, ihre Brust hob und senkte sich stürmisch, ihr Auge hing an dem vor ihr Stehenden mit einem Ausdruck, der nicht zu enträthseln war, Schmerz, Angst, Entsetzen, das alles flammte darin, und durch dies alles hindurch etwas wie die Ahnung eines unendlichen Glückes.

„Kennen Sie – kennen Sie einen jungen Handwerker, Franz Erdmann, aus M., der später nach Frankreich auswanderte, zuletzt in N. war, und jetzt im preußischen Heere dient?“

„Was werde ich den nicht kennen!“ sagte Friedrich betroffen, noch mehr durch den seltsamen Ton der Frage, als durch den Blick. „Es ist ja mein Bruder, das heißt, mein Pflegebruder, wie man das gewöhnlich so nennt.“

„Also –“ Jane’s Stimme erstickte fast in der furchtbarsten Erregung, „also Sie waren jener Knabe, den die Eltern Erdmann’s von Hamburg mitbrachten? der mit ihm in M. aufwuchs und nach dem Tode der Eltern von dem Pfarrer Hartwig aufgenommen wurde? Sprechen Sie um Gotteswillen, ja oder nein!“

„Freilich war ich es!“ bestätigte Friedrich, beunruhigt durch das seltsame Verhör gerade in diesem Augenblicke. „Aber, Miß, woher in aller Welt können Sie das wissen?“

Jane blieb ihm die Antwort schuldig, sie raffte alle ihre Kräfte zusammen, an der nächsten Frage hing für sie Tod und Leben.

„Und Mr. Fernow? Auch er wurde beim Pfarrer Hartwig erzogen, wie kam er dorthin?“

„Nun, ganz einfach, der Herr Pastor nahm uns Beide in einem und demselben Jahre in’s Haus. Mich zuerst aus Gnade und Barmherzigkeit, weil mich sonst Niemand wollte, und ein paar Monate später meinen Herrn, seinen Schwestersohn, weil ihm Vater und Mutter plötzlich gestorben waren und er sonst keine Anverwandten hatte. Ich war doch nun einmal da, er konnte mich nicht gut wieder fortschicken und so behielt er uns Beide. Gern that er es gerade nicht, und das Brod, was er uns gab, haben wir redlich abarbeiten müssen, ich im Hause, bis ich kein Glied mehr rühren konnte, und mein Herr am Schreibtisch, bis ihm die Feder aus der Hand fiel, er sollte mit Gewalt ein Gelehrter werden und im Anfange machte er doch weit lieber Verse. Nun, das hörte bald auf; der Herr Pastor verstand es, uns scharf zu halten. Gott habe ihn selig! Mir ist es erst gut gegangen, als er wirklich selig war, und als mein Herr, der sein Erbe wurde, mich bei sich behielt. Wir sind nun bald an die zwanzig Jahre zusammen gewesen.“

Jane hatte regungslos zugehört, die Hände gegen die Brust gepreßt, es war ihr, als müsse diese zerspringen, und doch war eine Felsenlast von ihr gesunken. Der Aufschrei des Glückes, der aus ihrem tiefsten Innern hervorbrach, galt er dem endlich gefundenen Bruder oder dem jetzt verlorenen, den sie so lange dafür gehalten – sie wußte es nicht, aber selbst der Gedanke an Walther’s Gefahr trat in den Hintergrund für diesen Augenblick, sie wußte nur Eins: der furchtbare Widerstreit in ihrer Seele war gelöst, der entsetzliche Kampf geendet. Was nun auch kommen mochte – die Liebe zu ihm war kein Verbrechen mehr!

„Friedrich!“ Sie legte die Hand auf seinen Arm, Friedrich aber wendete sich plötzlich von ihr ab und blickte gespannt nach der entgegengesetzten Richtung.

„Was giebt es da? Lassen Sie mich los, Miß! In der Grotte drüben ist es nicht geheuer. Wer da? Gebt Antwort!“

Es kam keine Antwort, aber Friedrich bedurfte auch ihrer nicht mehr, er wußte bereits genug. Der Mondstrahl, der schräg in den Eingang fiel, hatte es ihm verrathen, er hatte dunkle Gestalten gesehen und blitzende Flintenläufe. Die geistigen Fähigkeiten des Burschen waren im Moment der Gefahr nicht so untergeordnet, als im gewöhnlichen Leben. Was ihm an Intelligenz abging, das ersetzte er durch Instinct, und dieser leitete ihn stets richtig. Er berechnete nicht, daß seine beiden Cameraden, die nicht wie er aufgehalten waren, bereits viel näher am Schlosse sein mußten und die Meldung schneller dorthin tragen konnten, als er, daß es dort vor Allem darauf ankam, die Richtung zu wissen, aber er handelte genau so, wie es das Resultat einer solchen Berechnung gewesen wäre, und nahm alle Kraft seiner mächtigen Lunge zusammen.

„Verrath!“ donnerte seine Stimme laut durch den Park. „Ueberfall! Sie sind da! Sie kommen von der Grotte her! Achtung!“

[405] Zugleich schoß Friedrich sein Gewehr in jener Richtung ab und Jane’s Arm ergreifend riß er sie mit sich fort. Die Warnung hatte das Ohr der Cameraden erreicht, durch die stille Nacht wurde in einiger Entfernung der Ruf deutlich wiederholt und dieser zweite Ruf mußte im Schlosse gehört werden. Aber auch der Feind blieb jetzt nicht länger unthätig, er sah, daß ferneres Verbergen nutzlos war, und ließ es dem kecken Warner entgelten, ein halbes Dutzend Schüsse krachten zu gleicher Zeit, Friedrich achtete nicht darauf, aber Jane sank mit einem leisen Schmerzenslaut in die Kniee.

„Vorwärts, Miß! Vorwärts in die Gebüsche!“

Er riß sie empor, Jane versuchte zu folgen, aber der verwundete Fuß versagte selbst der äußersten Willenskraft den Dienst, sie brach von Neuem zusammen.

„Fliehen Sie!“ stieß sie athemlos hervor. „Rette Dich! Ich muß zurückbleiben!“

Friedrich sah auf sie nieder, aber er sah jetzt nicht das bleiche schöne Antlitz, das jeden Anderen mächtig zur Rettung angespornt hätte, er dachte gar nicht daran, daß es ein hülfloses und verwundetes Weib sei, das er preisgeben mußte, wenn er sich selbst retten wollte; vor seiner Seele stand mit Blitzesklarheit nur eine einzige Erinnerung:

„Sage ihm, Miß Forest sei mir das Liebste gewesen auf der ganzen Welt! Er soll sie schützen – wenn es sein muß, mit seinem Leben!“

Wie ein Kind hob der riesige Mann sie vom Boden empor und trat mit der Last auf den Armen den Rückweg an; Entschluß und Ausführung war nur das Werk eines Augenblicks. Der Feind folgte den Beiden nicht; er wollte augenscheinlich die sichere Deckung nicht verlassen und glaubte, da er den Park bewacht sah, die Hülfe wohl dicht in der Nähe. Aber der ihn verrathen, sollte nicht ungestraft davonkommen. Von Neuem krachten die Schüsse aus der Grotte her und noch immer waren die Flüchtigen auf diesem endlosen Rasen dem hellsten Mondlicht und den Kugeln als Zielpunkt preisgegeben. Friedrich brauchte jetzt die dreifache Zeit zu dem Wege, den er in wenig Secunden zurückgelegt hätte. Jane hatte die Arme um seinen Hals geschlungen, ihre Entschlossenheit verließ sie auch in dieser Lage nicht, sie wußte, daß jede Bewegung ihrerseits seinen Lauf hemmte, daß nur ihre völlige Unbeweglichkeit ihm die Bürde erleichtern konnte, deshalb verharrte sie regungslos. Um sie Beide zischten die Kugeln, aber sie schossen schlecht dort drüben, es traf nicht eine – da auf einmal zuckte Friedrich zusammen und blieb stehen, ein dumpfer Schmerzenslaut brach von seinen Lippen.

„Um Gotteswillen, Sie sind getroffen!“ Jane wollte sich herabwerfen, aber er verhinderte es, mit eiserner Gewalt umschlossen sie seine Arme und hielten sie fest. Es ging von Neuem vorwärts, nur schwerer, langsamer als vorhin. Jane hörte seine Brust schwer und angstvoll keuchen und fühlte es feucht und heiß über ihre jetzt herabhängende Hand niederrieseln, aber vorwärts ging es dennoch. Jane blickte angstvoll in sein vom Monde hell beschienenes Antlitz und es wandelte sie unwillkürlich ein Grauen an, es war ihr, als schaue sie in das Antlitz des todten Vaters. Die plumpen geistlosen Züge Friedrich’s zeigten in diesem Moment eine wahrhaft erschreckende Aehnlichkeit mit den ihren, mit jenen anderen, die längst das Grab deckte. Der Ausdruck war es, der Friedrich’s Züge auf einmal adelte und verwandelte, und diese Aehnlichkeit war es denn auch, die seine Abstammung deutlicher verrieth, als alle anderen Beweise, es war die düstere Energie, die finstere harte Unbeugsamkeit der Forests, es war ihr starrer Trotz selbst gegen das Unmögliche.

Und er erzwang es in der That, dies Unmögliche, er trug sie weg über den Rasen und noch eine Strecke hinein in die Allee, bis in den sichern Schutz der Bäume, und ließ sie dann erst aus seinen Armen gleiten. In der Richtung des Schlosses war es inzwischen lebendig geworden, Stimmen ertönten, Commandorufe wurden laut, mit Blitzesschnelle weitergegeben erscholl das Alarmsignal bereits vom Dorfe her, an der Spitze der mit im Schlosse befindlichen Soldaten stürmte der junge Lieutenant Witte als der Erste die Allee herauf.

„Bei der Grotte sind sie?“ rief er, die Uniform erkennend, Friedrich zu. „Schließ Dich uns an! Vorwärts!“

Er stürmte weiter, die Uebrigen ihm nach, aber Friedrich schloß sich ihnen nicht an und ging auch nicht vorwärts. Er stand noch einen Augenblick aufrecht und stürzte dann schwer zu Boden. Mit einem Schrei der Angst sank Jane an seiner Seite nieder, über das Lederzeug quoll es jetzt dunkelroth – der Bruder hatte mit seinem Lebensblute die Schwester gerettet! –

Eine Stunde war vergangen, der Kampf war unbedeutender und kürzer gewesen, als man es anfangs geglaubt. Die Feinde, die sich vom Walde her in einer nur kleinen Anzahl in der Grotte gesammelt, hatten jedenfalls die Absicht gehabt, das Schloß, in [406] dem, wie man wußte, die Officiere einquartiert waren, möglichst geräuschlos zu überfallen, um die im Dorfe liegenden Mannschaften führerlos dem Angriffe der Hauptmacht preiszugeben, der allen Anzeichen nach von der andern Seite her beabsichtigt war. Der zu früh ausgebrochene Alarm hatte jenen Plan vereitelt, der Angriff erfolgte nicht, und das Handgemenge an der Grotte konnte daher auch nur ein kurzes sein. Einige Franctireurs waren gefallen, ein halbes Dutzend gefangen, die anderen stoben in wilder Flucht in den Wald zurück. Bei dieser Gelegenheit ward auch der geheime Ausgang dorthin entdeckt und besetzt; auch von den Deutschen waren Einige mehr oder weniger schwer verwundet, tödtlich keiner, Friedrich war das einzige Opfer.

Man hatte ihn in Jane’s Zimmer getragen und auf das dort befindliche Bett niedergelegt. Sie saß an seiner Seite, ihre eigene Verwundung hatte sich als ein unbedeutender Streifschuß herausgestellt, der sie allerdings am Auftreten hinderte und ihr die Flucht unmöglich gemacht hätte, sonst aber gefahrlos war. Doctor Behrend verzichtete, nachdem er den Verband angelegt, auf jede weitere Maßregel, er sah, daß sie jetzt nicht in der Stimmung war, eine solche Wunde zu beachten.

Am Fenster des Gemaches stand Atkins und betrachtete schweigend die Gruppe. Jane hatte ihn in fliegender Hast von dem Vorgefallenen unterrichtet, und aus den Zügen des Amerikaners waren der Spott und Sarkasmus verschwunden, ein tiefer Ernst war jetzt allein darin sichtbar. Da lag der so lange und schmerzlich Gesuchte, für dessen Auffinden die Eltern Reichthümer geopfert hätten, dem die Schwester gefolgt war über’s Meer, durch die ganze Heimath bis hierher. Er war ihnen so nahe gewesen wochenlang, und sie hatten Beide so vornehm auf ihn herabgeblickt, hatten den armen Burschen mit Hochmuth und Hohn gekränkt und hatten ihn verspottet, wo sie nur gewußt und gekonnt. Freilich, ihm war nichts von allen jenen reichen Schätzen des Wissens und der Bildung zu Theil geworden, welche die Jugend seiner Schwester überströmt hatten; arm und unwissend, in elender Dienstbarkeit war der Erbe einer Million aufgewachsen und herumgestoßen worden im Leben, bis er endlich einen gütigen Herrn fand, und die Stunde, welche zuletzt die Wahrheit enthüllte, welche ihn dem Reichthum, der Zukunft zurückgab, sie war auch seine Todesstunde.

Doctor Behrend, den einige Worte Atkins’ von dem Zusammenhange unterrichtet hatten, vermochte keine Hoffnung zu geben. Die Wunde war unbedingt tödtlich, vielleicht wäre sie es nicht gewesen, hätte Friedrich, als er die Kugel empfing, sich sofort und allein in’s Gebüsch gerettet; aber die furchtbare Anstrengung, mit der er Jane noch die ganze Strecke getragen, wurde verhängnißvoll, es war eine innere Verblutung eingetreten, er hatte nur noch kurze Zeit zu leben.

Der Verwundete hatte bisher in tiefer Ohnmacht gelegen, jetzt regte er sich und schlug die Augen auf, sie hafteten zunächst auf dem Arzte, der am Fußende des Bettes stand.

„Es geht wohl zu Ende mit mir, Herr Doctor?“ fragte er matt.

Doctor Behrend trat zu ihm, er wechselte einen Blick mit Jane, ihr Auge verbot ihm die Antwort.

„Das nicht, Friedrich, aber Sie sind schwer verwundet.“

Friedrich war bei vollster Besinnung, er hatte sehr gut den Blick gesehen. „Sie können es mir immer sagen, ich habe keine Furcht davor. Mein Herr“ – er wandte das Auge fragend zu Jane, „sagten Sie nicht, Miß, mein Herr wäre verloren?“

Jane verbarg das Gesicht in den Händen, sie litt eine doppelte Folter, die Bewachung verdoppelt, sie selbst unfähig, einen Schritt vorwärts zu thun, vor ihr der sterbende Bruder, und vielleicht fiel in diesem Augenblick auch Walther, sie vermochte nichts mehr dagegen, sie wich dem Unmöglichen.

Friedrich verstand die stumme Antwort. „Dann mag ich auch nicht mehr leben!“ sagte er ruhig, aber mit vollster Entschiedenheit. „Ich habe es gewußt, als er Abschied von mir nahm, und ich hätte es ohne ihn doch nicht ausgehalten!“

Er schloß wieder die Augen und lag bewegungslos wie vorhin, der Arzt trat zu Jane und beugte sich flüsternd zu ihr nieder.

„Ich kann Ihnen den Trost geben, daß das Unvermeidliche sich ruhig und fast schmerzlos vollziehen wird. Wenn Sie ihm aber noch etwas mitzutheilen haben – eilen Sie.“

Er verließ das Zimmer, um nach den übrigen Verwundeten zu sehen, auf ein leises Wort Jane’s zog sich auch Atkins in das anstoßende Gemach zurück, Bruder und Schwester waren jetzt allein.

Sie beugte sich über ihn, sein Gesicht hatte wieder ganz den gewöhnlichen Ausdruck, nur daß es jetzt matt und todtenbleich erschien; er schien in der That kaum zu leiden, jener erst in der Todesgefahr aufflammende Zug war verschwunden und die Aehnlichkeit mit ihm. Sie fühlte, daß sie vorsichtig zu Werke gehen müsse, sollte der schwache Lebensfaden nicht allzu jäh zerrissen und ihm ein letzter Schmerz statt einer letzten Freude bereitet werden. Sie hatte die Kraft dazu. Es gab nur ein Wesen auf der ganzen Welt, das im Stande war, Jane die Selbstbeherrschung zu rauben. Auch am Sterbebett des Bruders behauptete sie ihr Recht, aber ihr Entschluß war gefaßt, er sollte nicht scheiden ohne den letzten Kuß der Schwester.

„Fritz!“

Er öffnete wieder die Augen, betroffen durch die seltsame Anrede, aber es schien eine wehmüthig freundliche Erinnerung zu sein, die der Name in ihm erweckte, dieser Name, den Jane so sehr gezittert, von Walther’s Lippen zu hören; sie beugte sich nieder und nahm sanft die Hände des Verwundeten in die ihrigen.

„Sie haben mir vorhin von Ihrer Jugend gesprochen. Erinnern Sie sich gar nicht mehr der Eltern? der wirklichen, meine ich!“

Friedrich schüttelte den Kopf. „Nur wenig! Ich weiß noch von dem großen Schiffe, auf das wir gehen wollten, und wie der Vater mich losließ und der Mutter nachschickte, wie dann auf einmal Vater und Mutter fort waren, und ich allein stand, in einer engen Gasse, unter vielen Menschen. Ich mag wohl arg geschrieen und geweint haben, denn ich wurde erst ruhig, als mich der alte Erdmann auf den Arm nahm und zu seiner Frau brachte; das ist Alles, was ich weiß.“

„Und haben Sie niemals wieder von den Eltern gehört?“

„Nie! Sie werden wohl gestorben sein drüben in Amerika, oder sie haben mich vergessen. Nach mir hat Niemand gefragt mein Lebelang – außer meinem Herrn.“

Jane faßte seine Hand fester. „Die Eltern haben Sie nicht vergessen, Fritz, sie haben nach Ihnen gefragt und sich schmerzlich genug um Sie gekümmert, jahrelang, sie hätten gern allen Reichthum und alles Glück hingegeben, um nur ihr Kind wieder zu haben, aber es blieb verschwunden.“

In Friedrich’s Zügen zeigte sich eine tiefe Unruhe, er machte einen Versuch, sich aufzurichten.

„Kannten Sie denn meine Eltern, Miß? Sind Sie ihnen begegnet drüben in Amerika?“

„Sie sind todt!“ sagte Jane schwer.

Friedrich’s Haupt sank matt auf das Kissen zurück. „Ich dachte es mir!“

Sie beugte sich noch tiefer auf ihn nieder, ihr Athem streifte seine Wange, und ihre Stimme sank zum Flüstern herab.

„Als die Mutter zum Schiffe ging, da war sie nicht allein, sie trug ein Kind auf dem Arme. Erinnern Sie sich noch dessen?“

Ein schwaches, aber freundliches Lächeln zuckte um seine Lippen. „Ja, meine kleine Schwester, unser Hannchen! Sie muß noch sehr klein gewesen sein damals, erst wenig Wochen alt, aber ich hatte sie doch schon lieb.“

„Und diese Schwester“ – Jane mußte innehalten, die Stimme versagte ihr, „würde es Dir Freude machen sie zu sehen? Soll ich sie Dir zeigen?“

Friedrich blickte sie an in ahnender Erwartung, ihr Auge, ihr Ton verrieth ihm bereits die Wahrheit.

„Miß – Sie –?“

„Mein Fritz! Mein Bruder!“ brach Jane jetzt leidenschaftlich aus und sank am Bett auf die Kniee nieder, ohne den Schmerz ihrer Wunde zu achten, sie fühlte ihn nicht in diesem Augenblick.

Aber der Eindruck dieser Entdeckung war anders, als sie gedacht. Die leidenschaftliche Erregung, die sie trotz alledem gefürchtet, kam nicht, Friedrich lag ruhig wie vorhin und blickte sie an; aber es lag etwas wie Aengstlichkeit, wie Scheu in diesem Blick, und jetzt zog er leise seine Hand aus der ihrigen und wandte den Kopf zur Seite.

„Fritz!“ Jane’s Stimme klang befremdet und erschreckt. „Willst Du Deine Schwester nicht ansehen? Zweifelst Du, an meinen Worten?“

Eine eigenthümliche, halb schmerzliche und halb bittere Bewegung [407] zuckte über sein Antlitz. „Nein! Ich denke nur, wie gut es doch ist, daß ich jetzt sterbe. Sie hätten sich sonst gewiß meiner geschämt!“

Jane zuckte zusammen, der Vorwurf war gerecht. Hätte sie, als sie zuerst an den Rhein kam, den Diener Fernow’s als Bruder umarmen müssen; sie hätte sich bitter seiner geschämt. Welch eine Reihe von Kämpfen und Leiden, welch letztes furchtbares Opfer war nothwendig gewesen, um den Hochmuth aus ihrem Herzen zu reißen und dort Raum zu schaffen für das Gefühl, das jetzt nur allein darin noch herrschte, für die mächtig sich regende Stimme der Natur! Sie wußte jetzt nicht blos, sie fühlte es, daß es ihr Bruder war, der da vor ihr lag, der Einzige ihres Blutes und Namens, der Einzige, der ihr angehörte, durch die heiligen Bande der Familie, und Alles, was sie je mit ihrem herrischen Stolz an ihm und anderen gesündigt und verletzt, es ward zehnfach gestraft in diesem Augenblicke. Der Bruder hatte selbst im Moment des Wiedersehens nur die Erinnerung daran behalten – er bebte scheu zurück vor ihrer Umarmung.

Friedrich deutete ihr Schweigen falsch, und er mißverstand auch den Ausdruck ihres Gesichtes.

„Es wird schon so sein!“ sagte er ruhig, aber ohne alle Bitterkeit. „Sie sind nie freundlich zu mir gewesen, und gleich das erste Mal, als ich Sie sah, ich hatte mir solche Mühe gegeben mit all den Kränzen und Blumen – Sie wollten nicht eine einzige davon, und doch hat mir nie in meinem ganzen Leben etwas so wehe gethan, als wie Sie damals an mir vorbei gingen.“

Er schwieg, aber was all die Kämpfe und Qualen, all die Verzweiflung Jane nicht abzuzwingen vermocht, das vollbrachten diese einfachen Worte mit ihrem ergreifenden Weh, dessen sich Friedrich wohl nicht einmal recht bewußt war, ein heißer Thränenstrom stürzte aus ihren Augen; und sie verbarg das Gesicht in den Kissen. In diesem lauten herzzerreißenden Weinen brach endlich der kalte Hochmuth, mit dem sie bisher auf Alles herabgesehen, was ihr an Geist und Lebensstellung nicht ebenbürtig war, brach die starre Härte ihrer Natur, brach selbst die männliche Willenskraft, die der Vater in ihr geweckt und genährt hatte, sie weinte jetzt, wie ein Weib weint; in trostloser Angst und Verzweiflung, wenn es Alles um sich zusammenstürzen sieht – Jane Forest war nun einmal nicht zu beugen gewesen, sie mußte erst gebrochen werden.

Aber diese Thränen, die ersten seit ihrer Kinderzeit, drangen auch mächtig zu ihres Bruders Herzen und besiegten seine ängstliche Scheu vor ihr. Er sah jetzt auch, daß die Schwester sich seiner nicht mehr schämte, daß er sie tief gekränkt um seinem Verdachte, und mit der letzten Kraft wendete er sich ihr wieder zu.

„Hannchen!“ sagte er leise, und der alte liebe Name fiel halb scheu noch und halb zärtlich von seinen Lippen. „Sei mir nicht böse, liebes Hannchen! Es ist ja Alles gut, ich habe wenigstens Dich gerettet!“

Er streckte die Arme nach ihr aus, und die Lippen der Geschwister begegneten sich in dem ersten Kusse – es war auch der letzte! –

Als der neue Tag sein erstes mattes Licht über die Erde sandte, war Forest’s Sohn nicht mehr unter den Lebenden. Langsam ließ Jane die Leiche ihres Bruders aus den Armen und wandte das Antlitz dem Fenster zu; im Zimmer herrschte noch kalte graue Dämmerung, aber draußen flammte es bereits am Himmel auf, eben brach der Morgen blutigroth in die Berge – welches Opfer war dort gefallen?


Eine klare duftige Herbstnacht liegt über dem Gebirge, hell scheint der Mond herab und beleuchtet mit seinen geisterhaften Strahlen die Bergstraße; die dunkeln scharf begrenzten Linien der Berge heben sich so deutlich von dem lichten Nachthimmel ab, daß man jede Kluft, jede Felszacke davon unterscheidet. Höher hinauf verschwimmen die Wälder zu einer einzigen dunklen, formlosen Masse, auf der ein leichter weißer Nebel wie schimmernder Flor ruht, und an der hellbeschienenen Bergwand tritt jeder Baum, jedes Gebüsch klar hervor, wie im Tageslicht.

Auf dem niedrigen Felsplateau, am Eingange der Schlucht, dicht am Fuße der riesigen Tanne, die dort wurzelt, steht Henry. Er hat dem Gegner einen Vorsprung abgewonnen, hat den Weg offen gefunden; nichts von alledem, was sich eine Stunde später dort regte, ist ihm begegnet. Der Pflicht, der Rettung stellen sich so oft unübersteigliche Hindernisse entgegen, – das Verbrechen geht meist ungehemmt seinen Pfade, als schützten es dämonische Mächte.

Atkins’ Wort ist zur Wahrheit geworden, die unbändige Natur Henry’s kennt keine Grenze mehr, nun sie einmal ihre Schranken gebrochen; aber sie entfesselt sich nicht in wildem Toben, der Kopf des Amerikaners bleibt klar und kühl, es gilt neben der Rache an dem Verhaßten auch die Sorge für die eigene Sicherheit, und er hat sie gewahrt. Das Gebirge ist unsicher, das weiß Jeder, und der deutsche Officier, der am Morgen todt gefunden wird, ist von der Kugel eines Franctireurs gefallen; das kommt oft vor im Kriege, warum wagte sich der Tollkopf auch zur Nachtzeit allein in’s Gebirge! Die Posten halten alle Eingänge besetzt, sie haben Niemand gesehen, und Henry, der auf seinem Wege zurückkehrt, hat den Umkreis des Parkes nicht verlassen.

Die Entdeckung ist unmöglich und dies Bewußtsein vermehrt noch die kalte entschlossene Ruhe des Amerikaners, die durch keine Schranken und keine Gewissensscrupel gestört wird. Er giebt sich in der That nicht mit „idealen Zweifeln“ über das Recht oder Unrecht seines Vorhabens ab, er hat dem Gegner den Kampf auf gleich und gleich geboten, und war bereit, sein eigenes Leben auf’s Spiel zu setzen, Jener wollte nicht, wohlan – auf sein Haupt die Folgen!

Der Standpunkt konnte nicht besser gewählt sein, Henry steht tief im Schatten der Felswand, am Fuß der Tanne, völlig gedeckt durch ihre Zweige, dicht unter ihm zieht sich die Bergstraße und der Fußweg hin, er beherrscht beide mit Blick und Waffe, kein menschliches Wesen, das in der Richtung von S. her kommt, kann ihm entgehen, und Henry’s Waffe fehlt ihr Ziel niemals, seine Geschicklichkeit im Schießen ist von jeher die Bewunderung seiner Umgebung gewesen. Er wartet, das Auge unverwandt auf die Windung der Straße gerichtet, in der Walther erscheinen muß; alle seine Seelenkräfte drängen sich zusammen in diesem athemlosen Spähen und Lauschen, es kümmert ihn nicht, was hinter seinem Rücken, was ihm zur Seite geschieht, und er hört nicht das leise, unheimliche Rauschen in den Tannen drüben.

Tiefes Schweigen im Gebirge! Nur bisweilen tönt der Schrei eines Raubvogels durch die Luft, der in schwerem, langsamem Fluge über den Wald hinstreift und in seinem Dunkel verschwindet. Bisweilen fährt ein Windstoß über die Felswand hin und dann schwanken die Wipfel der Bäume auf und nieder, dann wehen und winken die Gesträuche im Mondlicht, dann knarren die Aeste der Tanne leise und unheimlich, als wollten sie weinen oder klagen. –

Da endlich! In der Windung des Weges taucht eine dunkle Gestalt auf und kommt näher, langsam, aber festen Schrittes. Henry erkennt deutlich den Gang und die Haltung Walther’s, erkennt jetzt auch seine Züge, er hat bereits das Felsplateau erreicht und ist im Begriff, den Weg zu betreten, der hinaufführt, langsam hebt der Amerikaner den Revolver.

Da auf einmal Schüsse von der andern Seite, aus dem Tannendunkel jenseit der Bergstraße stürzen fremde Gestalten und werfen sich auf den Deutschen, entschlossen springt dieser seitwärts und giebt gleichfalls Feuer; aber das scheucht nur augenblicklich den Feind zurück, der das Bewußtsein seiner Ueberzahl hat, Walther wird an den Fels gedrängt und in einem Nu ist er umringt von allen Seiten.

Henry steht regungslos, die Waffe noch schußfertig in der Hand, und blickt auf das blutige Schauspiel zu seinen Füßen, noch steht Walther aufrecht an die Felswand gelehnt, aber das Blut rieselt bereits über seine Stirn herab, und er vertheidigt sich nur noch mit dem Degen. Es liegt den Feinden augenscheinlich daran, ihn lebend zu überwältigen, nicht ein Einziger macht mehr Gebrauch von seiner Büchse; da er im Rücken gedeckt ist, so suchen sie ihn von vorn und von der Seite niederzureißen, im nächsten Moment wird es geschehen sein.

Henry sieht das und er sieht auch, daß ihm die schreckliche That erspart bleibt, er braucht dies Leben nicht mehr zu nehmen, es ist ohnedies verfallen, denn Walther ergiebt sich nicht. Sechs gegen Einen! Seltsam, der Gedanke schießt auf einmal mit heißer, wilder Scham durch die Seele des Amerikaners, er wollte den Mord begehen mit fester Hand, aber unthätig zusehen, wie [408] er sich unter seinen Augen vollzieht, das vermag er nicht, ein secundenlanger furchtbarer Kampf – und die edle Natur Henry’s bricht mächtig durch Haß und Wuth und reißt ihn gewaltsam fort zur Hülfe, zur Rettung.

Ein Schuß, und der hinterste der Franctireurs liegt am Boden, ein zweiter, und der ihm zunächst Befindliche stürzt zusammen; betroffen halten die Anderen inne, sie lassen von Walther ab und geben in ihrem Zurückweichen einen nur um so besseren Zielpunkt für Henry. Zum dritten Mal! Entsetzt blicken die Franzosen auf die Höhe, aus der diese einzelnen geisterhaften Kugeln kommen, deren jede mit tödtlicher Sicherheit ihr Opfer fällt, und als auch jetzt der Angegriffene sich wieder zusammenrafft und von seinem Degen Gebrauch macht, da wenden sich die Uebrigen drei zur Flucht, ein letzter Schuß des Amerikaners hallt ihnen nach, und der halblaute Fluch, mit dem der eine sein Gewehr fallen läßt und nach der Schulter greift, während er in noch eiligerem Laufe seinen Cameraden nachstürzt, beweist, daß auch dieser letzte nicht gefehlt hat – sie verschwinden im Tannendunkel jenseit des Weges, aus dem sie gekommen.

Walther steht noch athemlos, als er sich auf einmal von einem Arme gefaßt und weggezogen fühlt. „Fort!“ flüstert eine Stimme in sein Ohr, „sie dürfen nicht ahnen, daß wir unser nur zwei sind!“

Er folgte mechanisch, in wenig Minuten sind sie im sicheren Dunkel der Felswand und der Tannenzweige, der Gerettete lehnt sich an den Stamm des Baumes, bleich, blutend, halb betäubt noch und sein Retter steht neben ihm, stumm und düster, aber tief, tief aufathmend, wie von einer furchtbaren Last befreit.

Sie waren vorläufig in Sicherheit, von hier aus konnte man jedes Nahen des Feindes bemerken; aber es war jedenfalls nur eine einzelne Patrouille gewesen, mit der sie zu thun gehabt, die Franctireurs dachten nicht daran, wiederzukommen, sie blieben spurlos verschwunden.

„Mr. Alison – Sie sind es!“

„Sind Sie verwundet?“ fragte Alison kurz.

Walther faßte nach seiner Stirn. „Unbedeutend! Eine der ersten Kugeln muß mich gestreift haben. Es ist nichts!“

Statt aller Antwort zog der Amerikaner sein Taschentuch hervor und reichte es ihm; er sah schweigend zu, wie Jener es zusammenlegte und um die Stirn band, von der das Blut noch in einzelnen schweren Tropfen herabrieselte, aber er machte nicht die geringste Bewegung, ihm zu helfen.

Walther trocknete sich mit seinem eigenen Tuche das Blut vom Gesichte, dann näherte er sich seinem Retter und bot ihm stumm die Hand; dieser zuckte zurück.

„Mr. Alison!“ Walther’s Stimme klang in tiefster innerer Bewegung. „Man hat Ihnen bitteres Unrecht gethan heut’ Abend, und es war Ihr eigener Landsmann, der Sie verleumdete. Ich hatte besseres Vertrauen zu Ihnen, als Mr. Atkins.“

Henry wies finster und kalt die dargebotene Hand zurück. „Nehmen Sie sich in Acht mit Ihrem Vertrauen, Mr. Fernow!“ sagte er rauh. „Um ein Haar wäre es getäuscht worden!“

„Sie haben mich gerettet, gerettet mit Gefahr Ihres Lebens! Die Franctireurs konnten Ihren Standpunkt entdecken und auch Sie angreifen. Ich hätte das nicht erwartet, nach der Art, wie wir uns vor zwei Stunden noch gegenüberstanden. Auf Ihre Ehre baute ich, auf Ihre Hülfe nicht! Sie dürfen meinen Dank jetzt nicht zurückweisen, trotz Allem, was noch zwischen uns liegt, er kommt aus vollem Herzen, und Sie werden auch –“

„Schweigen Sie!“ unterbrach ihn Henry mit wilder Heftigkeit. „Ich will keinen Dank! Sie schulden ihn mir am wenigsten!“

Walther wich zurück und blickte ihn befremdet an; das Benehmen des Amerikaners blieb ihm völlig räthselhaft.

„Dank!“ wiederholte Henry mit vernichtendem Hohne. „Nun, heucheln kann ich nicht, und bevor Sie mich als Ihren hochherzigen Retter preisen, sollen Sie doch die Wahrheit wissen! Ich stand hier, nicht um Sie zu beschützen, tödten wollte ich Sie! Schrecken Sie nicht so zurück, Mr. Fernow! Es war mir blutiger Ernst, die Waffe hier war für Sie geladen, ein Schritt noch, und ich hätte Sie niedergeschossen. Danken Sie es jenem Ueberfall, er hat Sie gerettet, er allein; als ich sechs Mann gegen Sie anstürmen und Sie dem Angriff erliegen sah, da – nahm ich Ihre Partei.“

Ein tiefes secundenlanges Schweigen folgte diesen Worten. Walther stand ruhig da und blickte ihn fest und ernst an; dann trat er auf ihn zu und bot ihm auf’s Neue die Hand.

„Ich danke Ihnen, Mr. Alison, danke Ihnen selbst nach diesem Geständniß; Ihr Herz sprach doch besser als Ihr Mund, und wir können jetzt trotz alledem nicht mehr Feinde sein.“

Henry lachte bitter auf. „Nicht? Sie vergessen immer, daß wir nicht Eines Stammes sind! Nach Eurer deutschen Sentimentalität freilich müßten wir einander jetzt in die Arme sinken und uns Freundschaft schwören. Wir sind darin anders geartet, hassen wir einmal, so geschieht es auch bis zum letzten Athemzuge, und Sie,“ hier flammte wieder die ganze verzehrende Gluth der Leidenschaft in seinen Augen, „Sie hasse ich, Mr. Fernow, denn Sie haben mir mein Liebstes geraubt. Glauben Sie nicht, daß ich Sie Ihres Versprechens entlasse nach dem Kriege oder Sie dann schone; glauben Sie nicht, daß Jane Ihnen jemals zu Theil wird. Ich halte sie fest an ihrem Wort und ihrem Schwur, und wenn sie stürbe an dieser Liebe zu Ihnen, mein Weib wird sie dennoch!“

Walther’s Auge sank zu Boden, und ein Ausdruck unverstandenen Schmerzes lag auf seinem Gesicht.

„Ich dachte nicht daran,“ sagte er leise. „Ich habe nur danken wollen; aber Sie haben Recht, Mr. Alison, wir Beide sind zu verschieden geartet, wir werden uns nie verstehen. – Leben Sie wohl, ich muß jetzt weiter!“

„Weiter?“ fragte Henry betroffen. „Doch nicht weiter in’s Gebirge hinein? Sie haben es ja gesehen, wie unsicher es ist, die Franctireurs streifen überall.“

„Ich weiß es! Eine Stunde von hier liegt sogar ihre Hauptmacht. Ich muß durch sie hindurch – wenn es möglich ist.“

Der Amerikaner trat zurück und blickte ihn starr an. „Allein? Verwundet? Hat der Ueberfall soeben Ihnen nicht die Unmöglichkeit gezeigt?“

„Eben dieser Ueberfall hat mir Muth gegeben, er kam von unten her, selbst ihre Patrouillen gehen die Bergstraße, mein Weg wird vielleicht noch frei sein.“

„Schwerlich! Sie gehen in Ihr Verderben, Mr. Fernow!“

„Nun denn,“ das alte düstere Lächeln flog wieder über Walther’s Antlitz, „dann bleibt mir eine Wiederbegegnung erspart und Ihnen ein Mord beim Zweikampf, denn ich würde nach dem, was jetzt geschehen, doch nie wieder die Waffe gegen Sie richten. – Noch Eins, Mr. Alison, ich weiß nicht, wie Sie durch die Posten gekommen sind, und will auch nicht danach fragen, aber ich verlange Ihr Ehrenwort, daß Sie mir nicht weiter folgen und sofort auf demselben Wege zurückkehren, den Sie kamen. Ich muß das fordern, verweigern Sie es mir nicht.“

Henry sah finster vor sich nieder. „Ich habe im Gebirge nichts mehr zu suchen, ich kehre zurück, sofort!“

„Ich danke Ihnen, und nun leben Sie wohl!“

Er wandte sich um und verschwand im Gebüsche, Henry blickte ihm nach.

„Da geht er hin, mitten durch die Feinde, mit dieser Ruhe und diesem Auge, vor dem fast das meinige sank. O dieser Deutsche!“ er ballte in wildem Grimm die Hand. „Ich kann sie zwingen, mein Weib zu werden, ihr Herz wird doch nie von ihm lassen, sie kann nicht – ich begreife das jetzt!“ –

Am Abend des folgenden Tages traf Hauptmann Schwarz mit seinem Bataillon, dem sich auch Lieutenant Fernow angeschlossen hatte, in S. ein. Sie hatten fast einen vollen Tag zu ihrem Marsche gebraucht, da sie den Umweg über E. genommen, aber sie brachten willkommene Nachricht. Bereits am nächsten Morgen brach der Oberst mit seinem Stabe und dem übrigen Theile des Regimentes von L. auf, um, genügend verstärkt und genau unterrichtet, den Feind zu werfen, falls er bis dahin noch nicht von dem Passe gewichen war, und sich in S. mit den beiden Detachements zu vereinigen. Das Regiment war von seinem Posten abberufen worden, es hatte gleichfalls Befehl erhalten zum Vormarsch auf Paris.

[421] Der Winter war vergangen; mehr als sechs Monate lagen zwischen jener Herbstnacht, die für so manches Leben verhängnißvoll geworden war, und dem Frühlingstage, der heute seine sonnige Pracht über B. ausgoß. Sechs Monate voll Schnee und Eis, voll neuer blutiger Kämpfe, voll neuer Siege und Triumphe. Jetzt war der furchtbare Streit geendet! Niedergeworfen in seinem letzten verzweifelten Ringen, erschöpft, bezwungen selbst im Herzen seines Landes, gab der Feind sich endlich überwunden. Der „letzte Krieg um den Rhein“ war ausgekämpft, fortan schützten neue Grenzen ihn und das Reich, das er durchströmte.

In den Rheinlanden war es gewesen, wo der erste Blitz des drohenden Kriegswetters aufzuckte, wo man am meisten gebangt und gezittert, am heißesten gebetet, weil hier die Gefahr am nächsten drohte, die Rheinlande waren es nun auch, die zuerst die Sieger, die Schützer begrüßen durften, und wie einst den Ausziehenden die Hoffnung, so wogte jetzt den Heimkehrenden der Jubel in tausendstimmiger Begeisterung entgegen.

Auch B. blieb nicht zurück in der Siegesfreude und dem Festesglanz, der sich über all’ die Städte und Flecken ringsum ergoß, auch hier wehten die Fahnen von Thürmen und Dächern, umkränzten sich Fenster und Pforten, wogte festlich buntes Leben überall. Das Haus des Doctor Stephan, sonst stets das erste, wenn es galt einen Sieg zu feiern, gehörte diesmal zu Denen, die kahl und schmucklos, mit geschlossenen Thüren und herabgelassenen Jalousien verkündeten, daß man dort einen Gefallenen zu beweinen habe. Der Tod seines Neffen und die Rücksicht auf die noch hier weilende Schwester des Verstorbenen legten dem Stephan’schen Ehepaare diese Zurückhaltung auf, aber all’ die gerechte Trauer um Friedrich, und alle billige Rücksicht auf Jane konnten den Doctor nicht daran verhindern, „seinem Professor“, dessen Rückkehr auf morgen zu erwarten stand, einen festlichen Privatempfang zu bereiten, und da sein Haus außen keinen Schmuck zeigen durfte, so war er ganz heimlich, nur in Begleitung seiner Frau, in die inneren Wohnungsräume des Professors gedrungen, wo Beide bereits den ganzen Nachmittag herumhantirten.

In diesem Augenblick stand der Doctor hoch oben auf einer riesigen Leiter, im Kampfe mit den widerspenstigen Enden einer Guirlande begriffen, die sich durchaus nicht in die vorgeschriebenen Windungen des Namenszuges fügten, der über der Thür des Studirzimmers prangen sollte. Die Frau Doctorin stand am Fuße der Leiter und übte eine ziemlich schonungslose Kritik über die Kunstfertigkeit ihres Eheherrn, bald war ihr das Gewinde zu hoch, bald zu niedrig, bald wollte sie es nach rechts, bald nach links geschoben wissen, endlich behauptete sie gar, der ganze Namenszug sei schief; der Doctor änderte, schwitzte und brummte abwechselnd, zuletzt verlor er die Geduld.

„Du kannst das von da unten gar nicht beurtheilen, mein Kind!“ sagte er ärgerlich. „Geh’ einmal bis an die Thür zurück und beschaue Dir von dort die Sache. Auf den Totaleindruck kommt es an und nicht auf die mathematische Genauigkeit der Linien, der Totaleindruck ist die Hauptsache!“

Die Frau Doctorin ging gehorsam rückwärts, aber gerade in dem Augenblick, wo sie sich an die Thür lehnte, um den wichtigen Totaleindruck besser zu genießen, ward sie von außen geöffnet und der unvermuthet Eintretende fing mit einem Ausruf des Schreckens und Bedauerns die alte Dame, welche beinahe gestürzt wäre, in seinen Armen auf.

„Herr College,“ tönte die Stimme des Doctors im tiefsten Basse von der Leiter herab, „bleiben Sie gefälligst so stehen! Richtig! Und nun sagen Sie mir, ob die Guirlande zu hoch und ob der Namenszug wirklich schief ist.“

Doctor Behrend, an den diese Worte gerichtet waren, hatte anfangs erschreckt in die Höhe und dann nicht minder erschreckt auf die Frau Doctorin herabgesehen, denn er war beim ersten Theil der Anrede noch in dem Irrthum befangen, er solle genau so wie in diesem Augenblick, nämlich mit der alten Dame in den Armen, stehen bleiben. Jetzt ließ er sie mit einer höflichen Entschuldigung frei, um das betreffende Arrangement in Augenschein zu nehmen.

„Es ist sehr schön! Ganz ausgezeichnet, aber –“

„Ich sage es ja, der Totaleindruck!“ rief der Doctor triumphierend, indem er mit einem letzten Hammerschlage das Gewinde an die Thür fesselte, dann den Hammer bei Seite legte und von der Leiter herabkletterte, mit dem jüngeren, ihm seit lange befreundeten Collegen die Hand zu reichen.

„Ich wollte nachsehen, ob Walther’s Wohnung einigermaßen in Ordnung ist,“ erklärte dieser, „und finde zu meiner größten Ueberraschung hier festliche Anstalten. Sie bemühen sich sogar in Person –“

„Selbst ist der Mann,“ sagte der Doctor mit Selbstgefühl. „Hier sind wir noch nicht fertig, aber kommen Sie mit mir in [422] das Allerheiligste des Professors, da können Sie unsere Thätigkeit besser bewundern.“

Damit ergriff er ihn beim Arm und zog ihn in das Studirzimmer. Das „Allerheiligste des Professors“ sah heute allerdings anders aus, als zu der Zeit, da dieser darin zu arbeiten pflegte. Es zeigte überall Spuren von der ordnenden Hand der Doctorin, die grünen Vorhänge waren weit zurückgeschlagen und durch die geöffneten Fenster strömte das volle, blendende Sonnenlicht herein; der Schreibtisch, die Wände, selbst die Bücherschränke waren mit Blumen und Laubgewinden geschmückt, das Ganze hatte ein äußerst festliches Ansehen.

Seltsamerweise zeigte sich der junge Arzt wenig oder gar nicht erfreut darüber, er blickte schweigend und gedrückt im Zimmer umher, sagte etwas von „geschmackvollem Arrangement“ und „großer Freundlichkeit“, schien aber im Ganzen von der seinem Freunde erwiesenen Aufmerksamkeit eher peinlich, als angenehm berührt zu werden.

Zum Glück bemerkte der Doctor in seiner frohen Erregung nichts von dieser eigenthümlichen Gezwungenheit. „Nicht wahr, es macht sich so übel nicht?“ sagte er, sich vergnügt die Hände reibend. „So ganz ohne Sang und Klang soll unser Professor denn doch nicht in meinem Hause einziehen, das unter allen das erste Recht hat, ihn zu begrüßen. Draußen wird er freilich Empfang genug finden! B. hat ihn nun einmal als seinen Helden und Dichter auf’s Schild gehoben, und die Studirenden vollends sind ganz außer Rand und Band. Er ist der einzige von ihren Professoren, der mitgekämpft hat, und wie gekämpft! College, ich sage Ihnen, das hat einen Lärm gegeben, jedes Mal, wenn Ihre Briefe und die übrigen Nachrichten über ihn ankamen. Stadt und Universität schlug die Hände über den Kopf zusammen und seine Gedichte, die Sie uns hersandten, setzten nun vollends, wie der malitiöse Mr. Atkins sich ausdrückt, wie ebensoviel Brandraketen, Alt und Jung in lichterlohe Flammen. Sie wissen doch, daß die Universität einen Empfang beabsichtigt?“

„Ich hörte davon, habe aber den Herren gerathen, einstweilen noch keine Vorbereitungen deswegen zu treffen. Es ist sehr die Frage, ob Walther kommt.“

Der Doctor hätte vor Schreck beinahe die Blumenvase fallen lassen, die er soeben emporgehoben.

„Ob er kommt? Mein Himmel, wir erwarten ja morgen das Regiment mit der größten Bestimmtheit.“

„Gewiß! Aber ich zweifle sehr, daß Walther dabei sein wird. Nach seinem letzten Briefe, den ich heut Morgen erhielt, scheint er in H. zurückzubleiben und für’s Erste überhaupt gar nicht nach B. kommen zu wollen.“

Der Doctor setzte die Vase so heftig auf den Schreibtisch nieder, daß der Fuß zersprang. „Nun, so wollte ich doch, man machte einmal die ganze Militärstrenge gegen diesen widerspenstigen Lieutenant geltend, und zwänge ihn mit Gewalt dazu!“ rief er entrüstet. „So etwas ist denn doch noch nicht dagewesen! Als Kranker, als halb aufgegebener Patient reist er ab, und jetzt, wo er zurück soll, gesund, gefeiert, bewundert von aller Welt, jetzt will er in H. bleiben, will für’s Erste gar nicht herkommen – College, dahinter steckt irgend etwas! Sie haben sofort Urlaub erhalten, der Professor könnte auch längst hier sein, aber er flieht ja unser B. förmlich. Warum nahm er immer den Dienst zum Vorwande seiner Abwesenheit? warum will er jetzt, dem Dienste zum Trotz, fortbleiben? Die Sache ist nicht richtig! Beichten Sie mir einmal!“

„Ich weiß durchaus nichts darüber,“ sagte Behrend ausweichend. „Vielleicht sind ihm die Ovationen zuwider, mit denen man ihn hier zu empfangen gedenkt. Sie wissen ja, er konnte es nie ertragen, sich so in den Vordergrund gestellt zu sehen.“

„Zum Kukuk, so soll er es lernen!“ schrie der Doctor zornig. „Er muß jetzt in den Vordergrund! An dem Gelehrten haben wir uns die ängstliche Zurückgezogenheit noch allenfalls gefallen lassen, jetzt, wo er mit vollen Segeln auf den Dichter lossteuert, werden wir uns diese Grillen verbitten.“

Behrend schüttelte den Kopf. „Setzen Sie keine zu großen Hoffnungen auf Walther’s poetische Zukunft. Ich fürchte sehr, er legt mit dem Degen auch den Dichter bei Seite, vergräbt sich wieder unter seinen Büchern, verschließt sich ärger als je gegen die Außenwelt, und steht nach einem Jahre genau auf dem Punkte, wo er im Anfange des Krieges stand.“

„Er wird doch nicht!“ rief der Doctor erschreckt.

„Er wird es, seine Stimmung ist ganz danach. Walther bleibt mit all seiner Genialität ein unverbesserlicher Träumer, er hat nur die Energie des Augenblicks. Solche Naturen leisten in der Erregung und Begeisterung schlechterdings Alles; sobald ihnen dieser Anreiz fehlt, sinken sie wieder in ihre Träumerei zurück. Das Leben im Alltagsgewande vermag ihnen nichts zu geben, weil sie es einfach nicht verstehen.“

„Schöne Aussichten!“ sagte der Doctor, ärgerlich hin- und her gehend.

„Was in solchem Gelehrten- und Poetenkopfe Altes spukt, davon hat ein vernünftiger Mensch, wie Unsereiner, gar keine Idee!“

Behrend blickte gedankenvoll durch’s Fenster, wo zwischen den Büschen des Gartens hin und wieder ein dunkles Frauenkleid sichtbar ward.

„Im fehlt der Sporn zum Schaffen!“ sagte er ernst. „Ihm fehlt eine energische glühende Kraft, die ihm täglich und stündlich zur Seite ist und ihn immer wieder in’s Leben zurückreißt, die sich zwischen ihn und die Wirklichkeit stellt, für ihn den Kampf mit der Welt aufnimmt und ihm das giebt, was er nun einmal nicht besitzt, Ehrgeiz und Selbstvertrauen. Würde ihm das zu Theil, ich glaube, dann wäre seiner Zukunft das Höchste aufbehalten; wenn aber zu solcher Charakteranlage noch eine unglückliche Leidenschaft kommt –“

Hier fuhr der Doctor plötzlich herum und sah ihm mit grenzenlosem Erstaunen in’s Gesicht. „Eine unglückliche Leidenschaft! Um Himmelswillen, unser Professor ist doch nicht etwa gar verliebt?“

Behrend biß sich ärgerlich auf die Lippen. „Nicht doch! Es fuhr mir nur so heraus, es ist eine bloße Vermuthung.“

Der Doctor ließ sich jedoch nicht so leicht abweisen. „Nichts da! Sie haben sich verplaudert, jetzt heraus mit der Wahrheit! In wen ist der Professor verliebt? Seit wann ist er es? Weshalb ist die Liebe unglücklich? Am Ende gar eine Französin? Hindernisse von Seiten der Familie – Nationalitätenhaß – Nicht?“

„Ich weiß nichts darüber, Herr College.“

„Sie sind unerträglich mit Ihrem ewigen ‚Ich weiß nicht‘,“ grollte Stephan. „Sie wissen die Sache ganz genau, und meiner Discretion können Sie doch sicher trauen.“

„Ich wiederhole Ihnen, daß meine Idee sich auf eine bloße Vermuthung gründet. Sie kennen ja Walther’s Verschlossenheit, er hat nie auch nur ein Wort darüber zu mir gesprochen. Jedenfalls bitte ich Sie dringend, von meiner unfreiwilligen Indiscretion keinen Gebrauch zu machen, und etwa der Frau Doctorin –“

„Meiner Frau?“ Der Doctor warf einen Blick nach der Thür, die er zum Glück fest hinter sich geschlossen hatte. „Gott behüte! Die machte das ganze weibliche B. aufrührerisch mit der Entdeckung! Der Professor ist bei unseren Damen ohnehin schon zum Helden geworden; wenn ihn nun noch der Nimbus einer unglücklichen Liebe umgiebt, so kann er sich nicht retten vor all der romantischen Theilnahme. Wer hätte das von unserem schüchternen Gelehrten gedacht, als er hier am Schreibtisch saß, und ich ihm eine Vorlesung darüber hielt, daß an ihm körperlich und geistig eigentlich nichts mehr zu ruiniren wäre. Jetzt geht er in den Krieg, kämpft, macht Gedichte, verliebt sich – es ist himmelschreiend!“

„Ich muß fort,“ sagte Behrend, dem augenscheinlich daran lag, die Unterhaltung abzubrechen. „Sie entschuldigen mich für heut.“

„Gehen Sie nur!“ brummte der Doctor ärgerlich. „Aus Ihnen ist doch nichts herauszubekommen, aber lassen Sie den Professor nur erst hier sein, ich werde ihm den Kopf zurechtsetzen.“

Der junge Arzt lächelte flüchtig. „Versuchen Sie es! Ich habe bereits das Möglichste gethan, aber gegen diese krankhafte Schwermuth ist nun einmal nicht aufzukommen.“

Er ging und Stephan blieb äußerst verstimmt zurück. Die Freude an all den festlichen Anstalten war ihm durch die soeben empfangenen Nachrichten gründlich verdorben, er mußte sich sagen, daß der Professor, wenn er überhaupt kam, schwerlich in der Stimmung sein würde, den seinetwegen veranstalteten Empfang [423] zu würdigen. Es war nichts mit der gehofften Ueberraschung, seit Friedrich’s Tode ging überhaupt Alles verkehrt!

Der Tod ihres Neffen war dem Doctor und seiner Frau bei alledem doch sehr nahe gegangen, und es war für sie ein bitterer Tag gewesen, wo der, den sie als Diener hatten ausziehen lassen, als nächster Verwandter im Sarge zu ihnen zurückkehrte. Der Stachel, der Jane unaufhörlich peinigte und sie nicht zur Ruhe kommen ließ, hatte auch für sie einen Theil jenes Schmerzes in dem Gedanken, daß sie das so lange und angstvoll gesuchte Kind der Schwester, für dessen Auffindung Tausende vergebens geopfert waren, schließlich im eigenen Hause gehabt, ohne ihm auch den kleinsten Theil von all dem geben zu können, was ihm in so reichem Maße zukam. Und doch war der arme Bursche so dankbar gewesen für das Wenige, was er an Freundlichkeit von ihnen empfangen. Sie hörten immer noch seine treuherzigen Abschiedsworte: „Sie haben mir viel Gutes gethan in den drei Jahren; wenn ich zurückkomme, will ich’s redlich wieder gut machen, wenn nicht, vergelt’s Gott!“ – Er war nicht zurückgekommen.

Freilich, wer hätte auch in dem Friedrich Erdmann, den der Professor mit nach B. brachte, den verschwundenen Fritz Förster vermuthen können! Der Name, den seine Pflegeeltern auf ihn vererbt, vereitelte die Entdeckung, und eine zweite Namensänderung wurde auf’s Neue verhängnißvoll für ihn. Wäre die Schwester als Johanna Förster in das Haus ihrer Verwandten zurückgekehrt, es hätte den Bruder, der die Seinen ja in Amerika wußte, doch wohl zu einer Erinnerung, einer Aeußerung geführt, die Alles gelichtet hätte; das fremdklingende Jane Forest machte es unmöglich, und die untergeordnete Stellung Friedrich’s that das Uebrige. Den Diener hatte natürlich Niemand nach seinen Lebensschicksalen oder seinem früheren Namen gefragt, und Professor Fernow, der Beides kannte, stand in seiner einsiedlerischen Zurückgezogenheit dem Doctor viel zu fern, als daß dieser ihn zum Vertrauten von Familienangelegenheiten und Nachforschungen hätte machen sollen, die Jane, seit sie Atkins zur Seite hatte, mit ihrer gewohnten Selbstständigkeit so viel als möglich der Kenntniß des Oheims entzog. Der rettende Zufall, der so leicht mit irgend einem Worte, einem Zeichen zwischen die Geschwister hätte treten können, blieb aus, das entscheidende Wort wurde erst in der Todesstunde gesprochen. Vielleicht war es auch mehr als bloßer Zufall, es sollte eben nicht sein, dem Erben Forest’s sollte von all seinem Reichthum nichts zu Theil werden, als das prachtvolle Denkmal über seinem Grabe, und ihm nützte es ja auch nichts mehr, daß der junge Erdmann, an den man noch nachträglich geschrieben, den letzten Zweifel hob, wenn ein solcher noch möglich gewesen wäre. Er gab die geforderte Adresse seines Pflegebruders in B. bei dem Professor an und bestätigte im Uebrigen Wort für Wort, was man bereits wußte. Es gab dem Todten auch vor der Welt den Namen, der ihm rechtmäßig zukam, für alles Andere war es zu spät.

Das Verhältniß zwischen Jane und ihren Anverwandten war wo möglich noch kälter als früher, und sie ihrerseits that nicht das Geringste, es wärmer zu gestalten. Als sie, von Alison und Atkins begleitet, mit der Leiche ihres Bruders in B. anlangte, waren ihr Oheim und Tante mit herzlicher Theilnahme entgegengekommen, aber sie fanden keine Antwort darauf. Jane schloß sich in ihrer Trauer noch starrer ab als früher in ihrem Hochmuthe; sie trug auch dies, wie sie gewohnt war, alles Uebrige zu tragen, allein und schweigend. Der Doctor und seine Frau waren nicht im Stande, einen Schmerz zu begreifen, der dem Mitleid wie der Theilnahme unzugänglich blieb, und die vorgefaßte Meinung von der Herzlosigkeit ihrer Nichte galt ihnen jetzt als unumstößlich. In der That war diese eine zu energische, zu fest in sich abgeschlossene Natur, um sich so über Nacht zu ändern oder ihrem Charakter untreu zu werden. Was sie dem sterbenden Bruder im Moment der tiefsten Erschütterung gezeigt, daß sie wirklich ein Herz besaß, das zeigte sie eben keinem Andern, und was Doctor Behrend von Walther behauptete, das galt auch von ihr. Auch ihre Zukunft hing an einer fremden Kraft, und schon die nächsten Tage sollten darüber entscheiden, ob sie mit vollster Bitterkeit zu der alten Härte zurückkehren oder allmählich zu jenem Wesen werden sollte, das bis jetzt nur Einer in ihr kannte, gegen das sie selbst mondenlang angekämpft und dem erst die Todesstunde des Bruders wirklich die Bahn gebrochen.

Atkins hatte während des Winters gleichfalls seinen Wohnsitz in B. genommen; Alison dagegen war bereits nach wenigen Tagen wieder abgereist. Er mochte wohl fühlen, daß seine Gegenwart jetzt nicht geeignet war, Jane Trost zu geben; so nahm er denn seinen ursprünglichen Reiseplan wieder auf, den Herbst und Winter zu einer Tour durch die Schweiz und Italien zu benutzen, und stand jetzt, nachdem er im Frühjahr noch die größeren Städte Deutschlands besucht, im Begriff, nach B. zurückzukehren. Noch wußten der Doctor und seine Frau nichts von seinen nahen Beziehungen zu ihrer Nichte. Jane hatte sie davon mit keinem Worte unterrichtet; sie wußten nur, daß jetzt, wo das Jahr ihres Aufenthalts um und der Zweck desselben erreicht war, sie nach Amerika zurückkehren werde, und daß die Abreise auf den Anfang des nächsten Monats festgesetzt war. Es sollte Atkins überlassen bleiben, den neuen Verwandten einzuführen und ihnen die Mittheilung zu machen, daß Jane als Mrs. Alison die Rückreise antreten werde, da man es passender fand, die Ceremonie der Heirath hier im Hause der Verwandten zu vollziehen. Der übergroße Respect und die Unterordnung, welche diese stets dem Reichthum der jungen Dame gegenüber gezeigt, trug jetzt seine Früchte; man behandelte sie gleichfalls als untergeordnet und gab ihnen von den intimsten Familienbeziehungen erst in dem Augenblicke Kenntniß, wo man ihrer bedurfte, um eine längst beschlossene Verbindung mit den nöthigen Förmlichkeiten zu vollziehen.

In Atkins’ Wohnung befand sich dieser mit Alison, der erst vor wenigen Stunden angekommen und vorläufig bei ihm abgestiegen war; aber sein Wesen verrieth heute nichts von jener leidenschaftlichen, mühsam unterdrückten Ungeduld, die ihn damals bei seiner ersten Ankunft in B. sofort zu Jane trieb und ihm den Spott seines Begleiters zuzog; er stand jetzt so gelassen am Fenster und blickte so gleichgültig hinab auf die Straße, als eile es ihm durchaus nicht mit dem bevorstehenden Wiedersehen.

Der junge Amerikaner sah heut anders aus, als in jener Nacht, wo die entfesselte Leidenschaft ihn über alle Schranken hinwegriß. Er hatte in den sechs Monaten hinreichend Zeit gehabt, sich selbst wiederzufinden, und dies schien ihm auch im vollsten Maße gelungen zu sein. Er war wieder ganz der gemessene, ruhige Geschäftsmann, mit dem kalten berechnenden Blick und der conventionellen Glätte; was darunter verborgen war und sich einst so gefahrdrohend enthüllt hatte, war zurückgesunken in die Tiefe. Sein Antlitz sah aus, als habe es nie eine Erregung gekannt, nur Eins war dort zurückgeblieben, jener Zug feindseliger Härte und kalter Grausamkeit, der bei dem Zusammentreffen in S. zum ersten Mal hervortrat; er stand noch immer in seinem Gesichte, stand noch so fest eingegraben darin, als sei er während der ganzen sechs Monate auch nicht eine Secunde lang von ihm gewichen.

„Sie kommen sehr spät, Henry!“ sagte Atkins, der neben ihm stand. „Wir haben Sie früher erwartet.“

Alison wendete sich um und blickte ihn an. „Wir? Sprechen Sie auch in Miß Forest’s Namen?“

Atkins umging die Antwort. „Sie hätten früher kommen sollen,“ wiederholte er ernst. „Es war nicht rücksichtsvoll, Miß Jane dem ganzen Siegesjubel hier preiszugeben, der ihr nach dem Verlust, den sie erlitten, bitter sein muß. Wir könnten längst alle Drei auf dem Wege nach Amerika sein.“

Henry zuckte gleichgültig die Achseln, „Meine Reisedispositionen ließen keine Aenderung zu, überdies nahm ich an, man würde mir für jeden Aufschub dankbar sein. Mr. und Mrs. Stephan sind noch nicht unterrichtet?“

„Bis jetzt noch nicht.“

„Wohl, so werde ich mich ihnen heut, nach der Unterredung mit meiner Braut, als Verwandten vorstellen. Die drei Wochen bis zum Anfange des nächsten Monats sind hinreichend für alle die hier nothwendigen Formalitäten, und unmittelbar nach der Ceremonie treten wir die Rückreise an. Sie kennen doch meine Uebereinkunft mit Miß Forest?“

„Jane hat mir nur mitgetheilt, daß sie Alles gänzlich Ihrer Bestimmung überläßt, und daß ich mich wegen der Anordnungen einzig an Sie zu wenden habe.“

„Gut, ich bestimme es so!“ sagte Henry kurz, „also haben Sie die Güte, die nöthigen Vorbereitungen zu treffen.“

Er wandte sich wieder zum Fenster und blickte hinaus, Atkins schwieg eine Weile, plötzlich aber legte er die Hand auf seinen Arm.

„Das Regiment wird morgen zurückerwartet, Henry!“

[424] Alison blieb unbeweglich. „Ich weiß es!“

„Und Mr. Fernow kommt ebenfalls,“ fuhr Jener mit bedeutsamem Nachdruck fort.

Henry blickte ihn ruhig an. Wissen Sie das so genau?“

„Nun, er wird doch nicht zurückbleiben bei einem Empfange, der hauptsächlich ihm gilt!“

„Er wird nicht kommen!“ sagte Henry kalt. „Nach dem, was zwischen uns vorgefallen ist, betritt er das Haus nicht, so lange meine Braut darin weilt, oder ich müßte das deutsche Ehrgefühl nicht kennen.“

Atkins sah ihn zweifelnd an. „Nun, ich war nicht Zeuge Ihrer Unterredung, Sie müssen wissen, was von ihm zu erwarten ist, aber wenn er wirklich fortbleibt – sind Sie Miß Forest’s ebenso sicher?“

Henry gab keine Antwort, er lächelte blos in seiner unheimlichen Weise.

„Sie haben ihr Versprechen, es ist wahr! Wenn sie Ihnen nun aber jetzt die Erfüllung verweigerte?“

„Sie wird sie nicht weigern.“

Atkins schien diese mit großer Bestimmtheit ausgesprochene Ueberzeugung nicht zu theilen. „Sie könnten sich doch im Irrthum befinden!“ sagte er. „Jane ist nicht mehr in der dumpfen Betäubung, wie bei unserer Ankunft in B. Sie schweigt, wie gewöhnlich, aber ich weiß es, daß alle ihre Seelenkräfte jetzt auf einen Entschluß hinarbeiten, und dieser Entschluß wird schwerlich blinde Unterwerfung unter Ihren Willen sein. Sehen Sie sich vor!“

Henry lächelte wieder, es war ein fast mitleidiger Blick, mit dem er auf den Warner herabsah.

„Und glauben Sie denn wirklich, ich wäre im Stande gewesen, abzureisen und ruhig ein halbes Jahr lang fern zu bleiben, wenn ich mich nicht vorher nach allen Seiten hin gesichert hätte? – Ich habe Mr. Fernow gefordert, er verweigerte es mir damals bis nach beendetem Kriege, jetzt bindet ihn sein Wort und mir steht als dem Beleidigten der erste Schuß zu. Miß Forest weiß das, und sie weiß auch, daß ich ihn niederschießen werde, wenn sie sich nicht bedingungslos dem fügt, was ich zu beschließen für gut finde. Die Wahl ward ihr schon damals gestellt, als der Tod meines Schwagers einen Aufschub der Heirath veranlaßte und sie so energisch von mir Zeit für ihre Trauer verlangte. Ich habe sie ihr hinreichend gelassen, denn ich wußte, daß keine Sinnesänderung zu befürchten stand. Es gilt sein Leben! an der Angst halte ich sie fester, als an einem zehnfachen Schwur; sie wird nicht wagen, nur auch nur mit einem Worte zu widerstreben, sie kennt den Preis seiner Rettung.“

Atkins sah ihn fast mit Entsetzen an. „Und Sie wollen wirklich ihre Hand so erzwingen? Nehmen Sie sich in Acht, Henry! Jane ist kein Wesen, das sich geduldig opfern läßt, sie wird das gestörte Lebensglück an Ihnen rächen; Sie erkaufen sich die ersehnte Million mit einer Hölle im Hause.“

Alison’s Lippen zuckten verächtlich. „Beruhigen Sie sich, Mr. Atkins, über unser zukünftiges Eheglück. Ich glaube denn doch, daß ich meiner Gattin einigermaßen gewachsen bin. – Doch es möchte jetzt wohl Zeit sein, daß wir uns zu Mr. Stephan begeben; darf ich Sie bitten, sich fertig zu machen?“

Atkins zögerte noch einen Augenblick. „Henry,“ sagte er bittend, „was auch zwischen Ihnen Beiden erörtert werden mag – schonen Sie Jane, sie hat furchtbar gelitten in dieser ganzen Zeit.“

„Hat sie mich geschont?“ fragte Henry eiskalt. „Die stolze Miß Forest hätte mich bei Seite geworfen, wie eine unnütze Last, ruhte nicht zufällig ein anderes Leben in meiner Hand. Jetzt habe ich die Macht und setzt werde ich sie brauchen, der Trotz soll mir zu Boden um jeden Preis!“

Atkins stieß einen Seufzer aus, als er in das Nebenzimmer ging, um Hut und Handschuhe zu holen. „Das wird eine Ehe! Gnade uns Gott, wenn die Beiden erst Mann und Weib sind!“ –

Der formelle Theil des Besuches im Stephan’schen Hause war vorüber. Alison hatte den Doctor und seine Frau begrüßt und die bei einer solchen Visite unvermeidlichen Redensarten, Fragen und Antworten über sich ergehen lassen, aber diesmal verrieth er keine brennende Ungeduld, die Unterhaltung abzubrechen, sondern wartete ruhig, bis Atkins sie beendete und ihn zu Jane führte, die, trotzdem sie von seiner Ankunft wußte, in ihrem Zimmer geblieben war.

Auch hier gab es eine höfliche kalte Begrüßung, einige Worte über die Reise, die Ankunft und die letzten Orte des Aufenthaltes, dann zog sich Atkins zurück, Henry und Jane blieben allein.

Sie saß ihm wieder gegenüber, wie einst, als er um ihre Hand warb, nur bleicher als damals, sie war um so vieles bleicher geworden während dieses Winters, aber auch sie hatte sich in der langen Zeit wiedergefunden. Das Haupt erschien wieder aufrecht, die Züge fest und kalt und das Auge begegnete mit dem alten Trotze dem seinigen. Das war nicht die Haltung der Ergebung oder Unterwerfung, Atkins hatte Recht, sie wollte noch einen letzten Kampf wagen. „Wozu das nutzlose Ringen! Ich lasse dich ja doch nicht los!“

Vielleicht las Jane diesen Gedanken auf seinem Gesicht, denn ihre Stirn verfinsterte sich und ihre Lippen preßten sich fester aufeinander! Diese beiden Wesen, die sich in Kurzem vereinigen sollten für immer, sie standen sich jetzt so feindlich gegenüber, als gelte es einen Kampf auf Leben und Tod. Beide wußten es, sie waren einander ebenbürtig an Energie, an Willenskraft und Unbeugsamkeit, nicht einen Fußbreit Raum wollte Einer dem Andern gönnen, jetzt galt es zu zeigen, wessen Wille der stärkere war.

Henry hatte bereits seine Stellung genommen, er hüllte sich gänzlich in jene kalte Höflichkeit, die er schon bei der Begrüßung zur Schau getragen.

„Ich komme, Miß Forest, ein Versprechen einzufordern, das ich bereits vor Jahresfrist erhielt, und das mir hier an dieser Stelle wiederholt ward. Ihrer Trauer um den jungen Mr. Forest, der auch ich mich aufrichtig anschloß, ist wohl jetzt genug geschehen, und ich darf Sie bitten, den Tag unserer Verbindung festzusetzen. Mr. Atkins wünscht die genaue Kenntniß desselben, all’ der Umständlichkeiten wegen, die hier zu einer Heirath nöthig sind, und auch ich habe noch verschiedene Vorbereitungen für die Abreise zu treffen. Wir hatten den Anfang des nächsten Monats dazu bestimmt; Tag und Stunde, sowie die Art der Ceremonie bleibt natürlich gänzlich Ihrer Entschließung überlassen; ich erwarte Ihre Befehle in Bezug darauf.“

Jane athmete schwer. Der Eingang war meisterhaft gewählt, er machte jede Einwendung von vornherein unmöglich, aber so leicht sollte ihm der Sieg denn doch nicht werden.

„Sie haben mein Wort, Mr. Alison, es ist wahr, und ich bin bereit, es einzulösen, wenn Sie nach dem, was zu Ihrer Kenntniß gelangt ist, noch wagen, es einzufordern.“

Worte und Blicke glitten gleich wirkungslos an der Eiseskälte ab, mit der sich Henry gewaffnet hatte, er blieb vollkommen gelassen.

„Und weshalb sollte ich es nicht wagen, eine Hand zu fordern, die mir freiwillig zugesagt ward und mir auch freiwillig zu Theil geworden wäre ohne jenen – Zwischenfall, der in meinen Augen nur von sehr untergeordneter Bedeutung ist? Miß Forest ist denn doch ein zu kostbarer Besitz, als daß man ihn einer romantischen Aufwallung wegen opfern sollte, ich wenigstens bin nicht gesonnen, es zu thun.“

„Sie vergessen Eins!“ Jane’s Stimme verrieth unwillkürlich die furchtbare Erregung, in welcher sie sich befand. „Bisher hatten Sie die Macht, mich zu quälen, und Sie haben es redlich gethan, von dem Augenblick unserer Vermählung an fällt sie mir zu. Ein Weib kann dem Manne zum Fluche werden, wenn er sie hassen lehrt, wo sie lieben sollte – zwingen Sie mich in jenes Band, und ich werde es Ihnen sein.“

Aber auch diese so energisch herausgeschleuderte Drohung blieb machtlos gegen Henry’s Ruhe, er lächelte dazu, wie er vorhin zu Atkins’ Worten gelächelt hatte.

„Ich glaube schwerlich, daß wir den Roman, in den uns die deutsche Sentimentalität wider Willen hineingezogen, auch auf amerikanischem Boden fortsetzen werden, die Luft ist dort nicht günstig für dergleichen Extravaganzen, wir lassen sie besser hier zurück. Ich bin überzeugt, Mrs. Alison wird mein Haus so glänzend repräsentiren und in den Cirkeln unserer Stadt so unbedingt die erste Rolle spielen, wie Miß Forest es einst that, sie wird dafür Umgebungen finden, die ihrer würdig sind, und einen Gatten, dessen Name und Stellung ihr Ehre macht. Zu einer Schäferidylle wäre unsere Ehe ohnehin nie geworden, tragisch braucht sie auch jetzt noch nicht zu werden, und sollten Sie die Absicht haben, Miß, sie in dieser Weise zu gestalten, so würde das eben nur auf Ihren Antheil fallen, denn ich meines Theils besitze auch nicht die geringste Empfänglichkeit dafür.“

[450] Jane zuckte zusammen unter diesem Hohne, sie fühlte, daß ihr Henry von dieser Seite nicht zugänglich war, und fühlte zugleich, daß er sie jetzt das hochmüthige „Ich will nicht!“ büßen ließ, das sie ihm einst hier entgegengeschleudert. Nicht umsonst hatte Atkins sie vor diesem Manne gewarnt, der keine Beleidigung je vergaß oder verzieh, selbst wenn er sie zu übersehen schien. Er rächte sich jetzt dafür, und Jane wußte, daß sie auf kein Erbarmen rechnen durfte, aber diese Gewißheit gab ihr auf einmal die Fassung zurück. Sie erhob sich fest und kalt und ein verächtlicher Ausdruck legte sich um ihre Lippen. Die Nutzlosigkeit dieses letzten Versuchs war ja vorherzusehen gewesen, sie hatte andere und ihrer Meinung nach unfehlbare Waffen in Bereitschaft.

„Bevor wir diesen Punkt weiter erörtern, darf ich Sie wohl bitten, einen Vorschlag anzuhören, den ich Ihnen zu machen habe.“

Henry war gleichfalls aufgestanden, er verneigte sich zustimmend.

„Sie wissen, daß ich nach dem Tode meines Bruders die Alleinerbin alles dessen bin, was mein Vater hinterließ. Sein Testament spricht mich mündig, mir steht also die freie gesetzliche Verfügung über das gesammte Vermögen zu.“

„Allerdings!“ Henry sah sie befremdet an, er wußte nicht, wo das hinauswollte.

„Nun denn, ich bin bereit, Ihnen dies ganze Vermögen abzutreten – um den Preis meiner Freiheit.“

Henry trat einen Schritt zurück, er war auf einmal bleich geworden und sein Blick heftete sich mit einem unheimlich räthselhaften Ausdruck fest auf ihr Antlitz.

Jane schritt rasch zum Schreibtisch und zog aus einer dort liegenden Mappe ein Papier hervor.

„Ich habe das Nöthige bereits aufgesetzt, Sie werden daraus ersehen, daß ich nichts zurückbehalte, als was sich augenblicklich in meinen Händen befindet. Eine Summe, hinreichend, mir hier in Deutschland eine Existenz zu sichern, und kaum nennenswerth im Vergleich zu dem, was Ihnen zu Theil wird. Die gesetzliche Vollziehung kann jeden Augenblick stattfinden, sobald Sie es wünschen, die Sache bleibt natürlich Geheimniß für jeden Fremderen. Ich biete Ihnen alles an, was ich besitze, nur lassen Sie mich frei!“

Sie reichte ihm das Blatt, Henry nahm es schweigend aus ihren Händen und las es schweigend durch, die Blässe seines Gesichtes wurde noch tiefer und das Papier knitterte seltsam in seinen Fingern, endlich legte er es langsam wieder auf den Tisch und schlug die Arme übereinander.

„Vor allen Dingen möchte ich Sie ersuchen, Miß Forest, den Ton zu ändern, in dem Sie mit mir zu sprechen belieben. Man begegnet einem Manne, der die ganze Zukunft in seinen Händen hält, nicht mit solcher – Verachtung.“

Jane erröthete flüchtig, ihre Stimme hatte unwillkürlich verrathen, was sie bei diesem „Vorschlag“ empfand, indessen faßte sie sich schnell.

[451] „Ich sehe nicht ein,“ entgegnete sie, „weshalb wir beide einander noch belügen wollen. Sie warben um mein Vermögen und halten jetzt die Hand fest, an der es hängt. Ich befreie Sie von einer lästigen Zugabe und mich von einem verhaßten Bande mit diesem Entschluß. Sie sind Kaufmann genug, um seine Vortheile zu würdigen, und ich habe lange genug in Amerika gelebt, um den dortigen Interessen und Verhältnissen Rechnung zu tragen.“

Jane ahnte es nicht, welch ein furchtbares Spiel sie in diesem Augenblick spielte, und sie ließ sich auch nicht warnen durch den leisen zischenden Laut, der wieder von Henry’s Lippen kam, wie an jenem Abende, wo er ihr Gespräch mit Walther belauschte; seine Ruhe täuschte sie vollständig.

„Das bezweifle ich, Miß Jane, dazu ist Ihr Vorschlag denn doch zu – deutsch! Man wirft bei uns zu Lande nicht eine Million hin, um einer Heirath zu entgehen! Im Uebrigen glaube ich kaum, daß Sie sich wirklich klar gemacht haben, was es für Sie, die im Schoße des Reichthums Erzogene, eigentlich heißt, arm zu sein.“

Jane hob stolz das Haupt. „Mein Vater war auch einst arm, und er bedachte sich nicht, Lebensstellung und Zukunft dem zu opfern, was ihm Freiheit hieß, ich gebe seinen Reichthum hin für die meine!“

„Wirklich?“ Henry’s Blick haftete durchbohrend auf ihr und seine Stimme klang in vernichtendem Hohne. „Und überdies meinen Sie, läßt es sich zur Noth auch von einem Professorengehalt leben! Darf ich fragen, ob Mr. Fernow Antheil an diesem romantischen Entschlusse hat? Im anderen Falle rathe ich Ihnen, seiner Idealität nicht allzuviel zuzumuthen; die Heldin in seinem Roman war eine Erbin, und auch seine Gefühle könnten sich abkühlen, wenn sie plötzlich arm vor ihn hintritt.“

Jane’s Augen flammten, sie vergaß alle Vorsicht, vergaß, wie furchtbar sie schon einmal eine Beleidigung dieses Mannes hatte büßen müssen, sein Spott raubte ihr alle Besinnung.

„Legen Sie Ihren eigenen Maßstab nicht an solche Naturen, Mr. Alison! Walther Fernow ist nicht Ihres Gleichen!“

Das war zu viel! Die tiefe tödtliche Verachtung in ihren Worten riß die Maske ab, mit der er bisher sich selbst und ihr Gleichgültigkeit geheuchelt. Henry biß die Zähne zusammen, noch beherrschte er den Sturm, aber es war nur für einige Secunden.

„Nicht meines Gleichen! Sie sind sehr aufrichtig, Jane, in Ihren Augen hat Mr. Fernow wohl überhaupt nicht seines Gleichen in der Welt, und ihm hätten Sie natürlich nie gewagt mit dem Anerbieten zu nahen, sich für Geld die Braut abkaufen zu lassen. Sparen Sie Ihre Entrüstung, ich sehe ja, wie Ihr ganzes Wesen sich empört, schon bei dem bloßen Gedanken. Ihm nicht, aber mir,“ hier war es zu Ende mit der Selbstbeherrschung, die alte unbändige Leidenschaft brach wieder furchtbar hervor aus der Tiefe, „mir wagen Sie dies zu bieten! Mir muthen Sie einen solchen schmachvollen Handel zu! Sie wagen es, Mr. Alison zu behandeln, als wäre er ein Wucherer, dem Wort und Ehre für Dollars feil sind – Jane, beim Himmel, die Beleidigung sollen Sie mir büßen!“

Jane wich zurück, sie sah ihn befremdet und völlig verständnislos an, auf eine solche Aufnahme ihres Anerbietens war sie nicht gefaßt gewesen.

Henry riß das Papier vom Tische und zerknitterte es wüthend in der Hand. „Mit diesem elenden Blatt wollten Sie sich frei kaufen und mir dann mit dem Gelde noch Ihre Verachtung nachwerfen! Sie haben in mir immer und ewig nur den Geldmenschen gesehen – mag sein, daß es Berechnung war, die mich zu Ihnen führte, Sie lehrten mich bald genug mit einem anderen Factor rechnen, als mit dem Dollar. Ich habe Sie geliebt, Jane, geliebt bis zum Wahnsinn, und nur um so heißer geliebt, je kälter Sie sich von mir zurückzogen, bis zu dem Augenblick, wo dieser blauäugige Deutsche in meinen Weg trat und ich Euch beide hassen lernte. Sie wissen nichts von meiner Unterredung mit ihm, als was ich Ihnen selbst davon gesagt, ahnen nicht, was zwischen uns vorfiel in jener Nacht, wo Ihr Bruder starb. Nun denn, ich wollte zum Mörder an ihm werden, weil er mir das Duell verweigerte. So weit hatte die – Berechnung den Geldmenschen gebracht, daß er alles vergaß, daß er Leben, Ehre und Zukunft auf’s Spiel setzte um des einen Gutes willen, das man ihm streitig machte. Begreifen Sie nun, Jane, was Sie mir gewesen sind und weshalb ich Sie festhalte? Ich weiß, daß ich kein Glück mehr zu hoffen habe, daß mein Haus mir zur Hölle wird, aber ich weiß auch, daß keine Macht der Erde Euch von einander reißt, wenn nicht mein Arm es thut. Er wird es thun und gälte es Ihr ganzen Erbe und gälte es das meine bis auf den letzten Dollar, ich würfe beides hin, aber er soll Dich nicht besitzen!“

Er zerriß das Papier und warf die Fetzen verächtlich von sich, dann trat er mit einer stürmischen Bewegung zum Fenster und starrte abgewandt hinaus.

Jane stand regungslos, erschreckt, betäubt von diesem jähen Ausbruch einer Empfindung, die sie in Henry nie geahnt. Zum ersten Mal zeigte er ihr dies Antlitz, sie fühlte tief im Innersten, es sei das wahre, und fühlte zugleich mit heißer Beschämung, was sie ihm gethan, aber mitten durch Schreck und Scham brach jetzt leise und licht ein Hoffnungsstrahl, sie wußte, daß das Weib allmächtig ist, wo es geliebt wird.

Henry fühlte seine Schulter leise berührt; als er sich umwandte, stand Jane dicht vor ihm, aber der Trotz und die Verachtung waren aus ihrer Haltung verschwunden, sie hatte das Haupt gesenkt, wie schuldbewußt, und der Blick haftete am Boden.

„Ich that Ihnen Unrecht!“ sagte sie leise, und es klang fast wie Abbitte aus ihrem Ton, „ich dachte nicht, daß Sie lieben könnten.“

Henry wich zurück, es überkam ihn eine Ahnung von dem, was ihm jetzt bevorstand, und die Stirn furchte sich noch tiefer, die Züge wurden noch härter, sein ganzes Wesen war finstere, eisige Abwehr.

„Genug der Bekenntnisse!“ sagte er rauh. „Ich bitte Sie jetzt nochmals, Miß Forest, den Tag unserer Verbindung zu bestimmen. Ich erwarte Ihre Antwort, erwarte sie sofort.“

Jane stand noch immer mit zu Boden geschlagenen Augen vor ihm, jetzt legte sie plötzlich beide Hände auf seinen Arm.

„Henry!“

Er zuckte zusammen und wendete sich ab.

„Sie haben mir eine grausame Wahl gestellt und furchtbar war die Drohung, mit der Sie mich zu schweigender Unthätigkeit zwangen. Sein Leben und meine Zukunft liegt jetzt in Ihrer Hand allein, Henry – geben Sie ihm dies unselige Wort zurück, und mir die Freiheit!“

Mit einer ungestümen Bewegung stieß er ihre Hand zurück. „Was soll der Ton, Jane? Denken Sie mich damit zu zwingen? Haben Sie aus meinen Worten nichts Anderes gehört, als daß ich jetzt eine Großmuthsscene spielen und Sie in seine Arme führen würde? Kein Wort weiter, nicht ein einziges mehr – oder ich vergesse mich!“

Das Verbot klang wild und drohend genug, aber es blieb wirkungslos; Jane war sich jetzt ihrer Macht bewußt, sie ließ sich nicht mehr schrecken.

„Ich biete Ihnen nicht mehr mein Vermögen, und Alles, was ich sonst zu geben habe, gehört einem Andern. Ich konnte nichts von Ihnen erzwingen und nichts erkaufen, nun denn, so bitte ich jetzt: Henry, zu Ihrem und meinem Heile – geben Sie mich frei!“

Sie war vor ihm niedergesunken, ihre Stimme bebte in angstvollem Flehen, in weicher rührender Bitte, wie er sie noch nie aus diesem Munde gehört, die großen dunkeln Augen blickten ihn jetzt voll und unverwandt an, sie standen voll heißer Thränen, das ganze Wesen war so seltsam verwandelt, so ganz anders als die Jane Forest, die er bisher gekannt, Henry fühlte erst in diesem Augenblicke, was er in ihr verlor.

„Zu meinen Füßen! Ich könnte stolz sein auf den Triumph, wüßte ich nicht zu gut, wem ich ihn verdanke! Miß Forest wäre eher gestorben, hätte eher ein ganzes Leben voll Qual und Elend auf sich genommen, ehe auch nur ein Wort der Bitte von ihren Lippen gekommen wäre. Aber es gilt ja sein Glück, seine Zukunft, da kann man die ärgste Demüthigung auf sich nehmen, und wenn der Stolz auch aus tausend Wunden blutet, da kann man flehen, knieen sogar, was man für sich selber nie vermocht! Nicht, Jane?“

Diesmal blieb Jane empfindungslos gegen den Hohn, sie fühlte nur die grenzenlose Bitterkeit, der er entstammte, fühlte durch all’ sein finsteres Sträuben hindurch ihren Sieg sich emporringen.

„Ja!“ sagte sie leise, noch immer unverwandt zu ihm aufblickend.

[452] Er beugte sich zu ihr nieder und zog sie empor, seine Arme legten sich um die schlanke Gestalt, als wolle er sie festhalten für ewig, und mit eiserner unwiderstehlicher Gewalt preßte er sie an sich. In Henry’s Antlitz stürmte wieder die ganze wilde Leidenschaft jener Herbstnacht, und seine Brust hob und senkte sich im furchtbarsten Kampfe, aber es war etwas Edleres als Haß und Wuth, was jetzt in der Seele dieses Mannes wühlte, es war ein stummer, qualvoller Schmerz, der sein ganzes Wesen durchbebte und es bis in die innersten Tiefen hinein erschütterte.

Jane sah diesen Kampf und hatte nicht den Muth, weiter zu bitten, obgleich sie fühlte, daß ein Wort von ihr setzt Alles entschied, sie schwieg und ihr Haupt sank widerstandslos auf seine Schulter, aber ein paar schwere Thränen rollten langsam aus ihren Augen herab auf seine Hand.

Da fühlte sie plötzlich Henry’s Lippen heiß und zuckend auf ihrer Stirn, es war ein anderer Kuß als jener erste, den sie von ihm empfing, er brannte wie ein Feuermal auf der Stirn. „Lebe wohl!“ klang es glühend, halb erstickt, dann ward sie frei gelassen, zurückgestoßen, und als sie aufblickte, hatte er das Zimmer bereits verlassen – sie war allein.




Der Frühling am Rhein! Das ist ein Gedanke, aus dem es so Manchen anweht mit heißer unwiderstehlicher Sehnsucht. Er kommt zwar überall, ob in den Stürmen und dem Wogen des Meeres, ob in dem frischeren Waldeshauch und dem brausenden Hochwasser des Gebirges, oder in der Blüthenpracht und dem Lerchenjubel der Ebene, aber er lächelt doch nirgends so, wie hier an der Wiege der deutschen Romantik, wo sie ihn umfließt mit all’ ihrem poetischen Hauch. Der Frühling schritt durch die Rheinlande und legte leise die erste segnende Hand auf Felder und Rebenhügel zu künftigem Gedeihen, er schwebte sonnig über Wald und Felsenkluft und blickte hell und licht von den altersgrauen Burgen – der deutsche Frühling, wie er eben nur in diesem Jahre begrüßt und gefühlt ward, wo er einem ganzen Volke das Sieges- und Auferstehungsfest, wo er der Welt den Frieden brachte.

Die weitere Umgebung von B. war heute trotz des herrlichen Wetters wie ausgestorben, und der Herr und die Dame, welche den Weg zum Ruinenberge hinaufstiegen, schienen die einzigen Spaziergänger ringsum zu sein. War es Zufall oder Absicht, Jane hatte heute zum ersten Male die tiefe Trauer abgelegt, ihre Kleidung war noch dunkel und schmucklos, aber sie zeigte doch nicht mehr so ausschließlich das finstere trostlose Schwarz und es schien fast, als sei damit auch der starre, finstere Ausdruck geschwunden, der ihr Antlitz während des ganzen Winters umschattete; es lag dort auch etwas wie Frühlingshauch, wie leises sehnendes Hoffen, das sich nur erst schüchtern hervorwagte unter der kaum gesprengten Eisdecke, das noch nicht den Muth hatte, dem Glücke und der Zukunft voll in’s Auge zu schauen. Es war ein seltsamer, ganz neuer Zug in dem stolzen, energischen Antlitz der jungen Dame, aber er gab ihm etwas, was bisher trotz aller Schönheit darin gefehlt hatte – die Anmuth.

Mr. Atkins, der an ihrer Seite schritt, sah um so grämlicher aus; es schien fast, als empfinde er all die Lenzespracht ringsum als eine persönliche Beleidigung, so grimmig schaute er darauf hin, es ärgerte ihn schlechterdings Alles, was da war, und noch weit mehr Alles, was nicht da war. Er konnte nicht begreifen, weshalb das Grün schon so frühzeitig hervorbrach, es mußte sicher den Nachtfrösten unterliegen; er fand es lächerlich, daß die Sonne schon mit einer wahren Junihitze herabschien, das bedeutete ohne Frage baldigen Regen, und der Rhein war ihm heute vollends ganz und gar zuwider. Denn dieser hatte sich herausgenommen, vorhin die Stiefel des Mr. Atkins zu durchnässen, und großes Verlangen gezeigt, dessen ganze Person in seine feuchte Tiefe hinabzuziehen, was natürlich den höchsten Zorn des Amerikaners erregte. Freilich, es ging ja alles verkehrt in diesem Deutschland, nichts wollte sich mehr dem alten Herkommen und der alten Ordnung fügen, die Natur that es darin nur den Menschen nach. Da war dieser Frühling so ganz vorzeitig und unangemeldet, so gleichsam über Nacht in’s Land gekommen, als habe er es gar so eilig, das neue Reich mit seinem Sonnenschein und Blüthenduft zu grüßen. Da wußte sich das „gelehrte Nest“ dort drüben vor Jubel und Triumph nicht zu lassen, und empfing heute seine Universitäts-Professoren als gefeierte Kriegshelden; da griff dieser Rhein sogar mordlustig nach jeder fremden Nationalität, die sich in seine Nähe wagte; Mr. Atkins war sehr geneigt, in dem Unfall, der ihn vorhin beim Ausgleiten betroffen, eine politische Bosheit zu wittern, hatte er sich doch überhaupt gewöhnt, den Strom als eine Art von persönlichem Feind zu betrachten, den er mit seinem besonderen Haß beehrte; jedenfalls kam er zu dem Resultat, daß es auf diesem Boden nicht länger auszuhalten sei, und daß man je eher, je lieber nach Amerika zurückkehren müsse.

[474] Jane achtete wenig auf diese Ausbrüche der üblen Laune ihres Begleiters, und was sie davon vernahm, wurde mit ungewöhnlicher Nachsicht aufgenommen, sie wußte sehr gut, daß der alleinige Grund in dem dumpf herübertönenden Geschützdonner lag, der drüben in B. die heimkehrenden Sieger grüßte, aber als Atkins von Neuem über den beschwerlichen Weg und die entsetzliche Hitze zu stöhnen begann, sagte sie mit einem Anfluge von Ungeduld:

„Sie hätten in der Stadt bleiben sollen! Mich schließt meine Trauer von der Theilnahme an den Festlichkeiten aus, und ich mochte dem Oheim und der Tante nicht den Zwang auferlegen, meinetwegen zu Hause zu bleiben, deshalb unternahm ich den Spaziergang. Sie bindet keine solche Rücksicht, und ich bedurfte auch heute keiner Begleitung.“

Atkins verzog das Gesicht. „Ich fühle mich durchaus nicht so unwiderstehlich zu der Stadt hingezogen, wo mir heute jeder kleine Straßenbube die ‚neue Weltmacht‘ zu kosten giebt und jeder Student verlangt, daß ich dem ‚germanischen Geiste‘ meine unterthänigste Verbeugung mache. Sie mögen sich allein bewundern! sie haben es ja nun wirklich durchgesetzt, ihren geliebten Rhein als Strom Deutschlands zu sehen, und die Grenzen ein gutes Theil weiter hinausgeschoben. Der germanische Idealismus fängt wirklich an praktisch zu werden, ich aber habe das neue deutsche Reich während der letzten Wochen bereits in allen Clubs und Gesellschaften so gründlich genossen, daß es mich dringend verlangt, endlich einmal etwas anderes zu hören. Ich wollte,“ er erinnerte sich noch zum Glück der in S. erhaltenen scharfen Zurechtweisung und wandelte rechtzeitig seinen frommen Wunsch in einen Seufzer um, „ich wollte, ich wäre erst wieder in Amerika, obgleich das möglicherweise vom Regen in die Traufe geht, denn mit den dortigen Deutschen wird nun vollends kein Auskommen mehr sein!“

Es lag ein halbes Lächeln auf Jane’s Lippen bei diesem Ausbruch von Bitterkeit, als sie ruhig entgegnete:

„Sie werden sich wohl endlich daran gewöhnen müssen, die ‚neue Weltmacht‘ anzuerkennen, Mr. Atkins, so herzlich schwer es Ihnen auch wird. Es läßt sich nun einmal nicht ändern, und Sie werden sich schließlich auch bequemen, unserem germanischen Geiste in Ihrem eigenen Lande die Honneurs zu machen.“

Unserem? Ihr Land?“ wiederholte Atkins gedehnt. „Ja so! Ich vergesse immer, daß Sie jetzt ganz und gar unter die Deutschen gegangen sind und für Ihre Landsleute schwärmen. – Nun, da wären wir ja endlich oben! Ich begreife nicht, Miß Jane, wie Sie hier Aussicht genießen wollen, die Sonne blendet ja so entsetzlich, daß man nichts sieht als Strahlen, der Fluß blitzt, daß man Augenschmerzen davon bekommt, und dies alte Gemäuer sieht mir ganz so aus, als werde es sich das besondere Vergnügen machen, einzustürzen, um uns Beide zu erschlagen. Sehen Sie sich vor!“

Jane gab keine Antwort, sie setzte sich nieder und überließ es ihrem Begleiter, mit der Sonne, dem Fluß und der Ruine nach Gefallen zu hadern; als Mr. Atkins in seiner Umgebung nichts mehr fand, worüber er sich ärgern konnte, kam er an ihre Seite.

„Ich bedauere nur,“ sagte er, und der Ausdruck seines Gesichtes verrieth, wie boshaft er sich darüber freute, „ich bedauere unendlich, daß B. heute seinen Haupthelden entbehren muß. Mr. Fernow ist wirklich nicht beim Regimente; die Kränze, mit denen sich Mr. und Mrs. Stephan so unendliche Mühe gegeben haben, müssen verwelken, der großartige Empfang, den die Herren Studirenden geplant, wird sammt ihrem Enthusiasmus zu Wasser, und die gelehrten Begrüßungsreden der Herren Collegen werden etwas antiquarisch werden. Ich bin überzeugt, der Professor kommt eines Abends ganz heimlich zur Hinterthür herein, und sitzt eines Morgens ganz ruhig wieder an seinem Schreibtisch, mit der Feder in der Hand, als wäre gar nichts geschehen. Das sieht ihm ganz ähnlich, ich glaube, er ist der einzige Deutsche, mit dem jetzt noch auszukommen ist!“

Atkins mißbrauchte die ungewöhnliche Sanftmuth Jane’s in der ausgedehntesten Weise, er wagte es sogar, einen Namen auszusprechen, der während des ganzen Winters nicht zwischen ihnen genannt worden war, und er hatte seine Gründe dazu. Man fing jetzt an, ihn wie Mr. Stephan zu behandeln, ihm den ganzen Verlauf dieser Familienangelegenheit zu entziehen, und ihm erst von der vollendeten Thatsache Kenntniß zu geben. Das ärgerte ihn unendlich, er wollte wissen, was zwischen Henry und Jane vorgefallen war, wollte wissen, wie die Sache überhaupt stand, und da er keine directe Frage thun mochte, so versuchte er dies Manoeuvre.

Es schlug indessen fehl. Jane erröthete zwar, als Fernow erwähnt ward, aber sie blieb ruhig und ihre Lippen öffneten sich nicht. Es gehörte denn doch mehr als eine bloße Namensnennung dazu, sie aus ihrer Selbstbeherrschung zu treiben. Atkins sah, daß er klarer auf sein Ziel losgehen müsse.

„Unsere Reisedispositionen werden wohl einige Aenderung erfahren!“ begann er wieder in seinem scharfen forschenden Tone. „Henry’s plötzliche Abreise hat den ganzen Plan gekreuzt. Ich bin zwar,“ hier brach seine ganze Empfindlichkeit durch, „ich bin allerdings nicht davon unterrichtet worden, weshalb er gestern Abend so stürmisch in meine Wohnung stürzte, seine Reiseeffecten forderte und sofort nach dem Bahnhofe abfuhr, – in einer Stimmung, daß ich es für besser hielt, ihm so wenig als möglich nahe zu kommen, aber im Interesse meiner eigenen Rückkehr möchte ich Sie jetzt doch fragen, Jane, was Sie darüber beschlossen haben.“

Jane’s Blick sank zu Boden. „Ich erfuhr erst durch Sie Henry’s Abreise. Hat er keine Zeile für mich zurückgelassen?“

„Nein! Auch keinen Gruß, er äußerte nur, daß er mit dem ersten Schiff, das er in Hamburg bereit fände, nach Amerika zurückkehren werde.“

Jane gab keine Antwort, ein schwerer Athemzug entrang sich ihrer Brust, er hatte mehr vom Schmerz an sich als von Erleichterung.

„Was haben Sie mit Henry angefangen, Jane?“ fragte Atkins leise zu ihr niedergebeugt. „Er sah furchtbar aus, als er von Ihnen kam!“

Sie blickte leise auf, aber ihre Stimme klang gepreßt und unsicher. „Sie behaupteten stets, er hege eine Leidenschaft für mich! Ich hatte es nie geglaubt, ich hielt den Dollar für die einzige Macht, der er sich beugte.“

„Sie wird es wohl auch in Zukunft sein!“ sagte Atkins trocken. „Ein Mann wie Henry unterliegt nur einmal solcher Schwäche. Er hätte bei den Amerikanerinnen bleiben sollen, da hätte der Erbe und dereinstige Chef des Hauses Alison und Compagnie sicher keinen Korb erhalten. Es thut nicht gut, dies Vermischen mit deutschem Blut, das sehen Sie wohl jetzt [475] selbst ein, Miß Jane, und Henry hat wahrscheinlich für sein ganzes Leben genug davon. Uebrigens ist er keine Natur danach, eine unglückliche Liebe lange mit sich herumzutragen, ich zweifle nicht, daß wir schon binnen Jahresfrist von seiner Verbindung mit einer unserer Erbinnen hören.“

„Wollte Gott, es wäre so!“ klang es aus Jane’s tiefstem Herzensgrunde, indem sie sich erhob und den Arm auf die Mauer stützte.

Atkins stand eine Weile schweigend neben ihr. „Wollen wir unsern Spaziergang nicht fortsetzen?“ mahnte er endlich. „Die alte Burg ist ohne Zweifel äußerst interessant, aber – es zieht etwas hier in dieser mittelalterlichen Romantik. Ich dächte, wir suchten das geschützte Thal wieder auf.“

„Ich bleibe noch!“ erklärte Jane mit ihrer früheren Entschiedenheit. „Indessen will ich Sie nicht veranlassen, sich noch länger dem ‚romantischen Zugwinde‘ auszusetzen. Sie wollten ja wohl den Spaziergang nach M. richten, wir treffen auf dem Rückwege wieder zusammen.“

Der Wink war deutlich genug, und Atkins verstand ihn sehr bereitwillig, er fand es äußerst langweilig hier oben, und ergriff mit Vergnügen die Gelegenheit, sich zu verabschieden.

„Mir scheint, ich werde die Rückreise allein antreten müssen,“ spottete er, während er einen Seitenpfad einschlug, der gleichfalls in’s Thal hinabführte. „Und nebenbei werde ich noch das außerordentliche Vergnügen haben, das ganze Vermögen des Mr. Forest über den Ocean zu senden, dies Vermögen, an das Henry all seine Energie und Berechnung setzte, und das nun diesem Deutschen in den Schooß fällt, der albern genug war, sich gar nicht darum zu kümmern, und nöthigenfalls auf seinen Professorengehalt hin geheirathet hätte! Ich zweifle übrigens gar nicht mehr daran, daß er Carrière machen wird! Man feiert ihn ja setzt schon überall als künftigen Dichtergenius, irgend etwas muß doch an dem Lärm sein, den seine Gedichte machen, und wenn nun noch eine Million hinter und eine Frau wie Jane neben ihm steht – sie wird ihn schon vorwärts treiben! Unsere selige Missis würde triumphiren, aber ich möchte doch wissen, was Mr. Forest sagen würde, sähe er, daß sein Reichthum schließlich in deutsche Hände fiele und deutschen Interessen diente. Ich glaube, er hätte“ – hier blieb Mr. Atkins plötzlich stehen, besann sich und schloß dann mit einem Stoßseufzer: „Er hätte Amen dazu gesagt!“

Jane war allein zurückgeblieben. Sie athmete auf, wie einem lästigen Zwange enthoben, und nahm ihren Sitz wieder ein. Auch die altersgrauen Trümmer der Burgruine umfloß der helle Frühlingsschein, und auf und zwischen ihnen blühte, duftete und lebte es tausendfach. Der Epheu umspann wieder mit seinen grünen Netzen das dunkle Gestein und ließ die wehenden Ranken weit hinaus über den Abgrund flattern, ringsum lag die Landschaft im reichsten Sonnengold zu ihren Füßen, dort unten blitzte und schimmerte der Strom herauf, als seien nur Stunden vergangen seit jenem Tage, wo sie hier oben saß, als seien Herbst und Winter, mit all ihren Thränen und Kämpfen, mit ihrem düsteren Trauerflor nur ein schwerer böser Traum gewesen.

Und wie damals knirschte auch jetzt der Kies des Bodens unter einem nahenden Tritte. Sollte Atkins zurückkehren? Unmöglich! Das war nicht der bedächtige, ruhige Schritt des Amerikaners, es kam näher, ein Schatten fiel auf den sonnigen Raum vor ihr – Jane sprang auf, von einer Purpurgluth übergossen, zitternd, unfähig selbst zu dem Schrei der Ueberraschung – Walther Fernow stand vor ihr.

Er hatte in stürmischer Eile den Berg erstiegen, aber er kam diesmal nicht so athemlos und erschöpft an, wie einst bei dem ruhigen Spaziergange, dergleichen Anstrengungen waren ihm jetzt ein Spiel, und es war wohl etwas Anderes, was ihm in diesem Augenblicke den Athem versagte und die helle Röthe in’s Gesicht trieb; er wollte auf sie zueilen, blieb aber plötzlich stehen und sah stumm zu Boden, es schien, als sei mit der alten Kleidung, die er heute zum ersten Male wieder trug, auch die alte Zaghaftigkeit zurückgekehrt.

„Mr. Fernow – Sie hier?“

Ein Ausdruck schmerzlicher Enttäuschung ging über Walther’s Züge, vielleicht hatte er eine andere Anrede erwartet, die helle Röthe verschwand und der frühere schwermüthige Ausdruck umschattete wieder sein Antlitz. Jane hatte sich inzwischen einigermaßen gefaßt, obgleich sie noch immer nicht vermochte, das Zittern zu beherrschen, das ihren ganzen Körper durchbebte und verrätherisch aus ihrer Stimme klang.

„Ich – wir hörten, Sie seien nicht bei Ihrem Regimente, mein Oheim und Doctor Behrend versicherten es wenigstens.“

„Ich kam auch nicht mit meinen Cameraden, ich traf erst vor einer Stunde ein. Doctor Stephan und seine Frau waren nicht im Hause und meine Stimmung nicht danach, sogleich in den Festesjubel einzutreten. Ich unternahm diesen – Spaziergang, ich gerieth zufällig hierher –“

Sein Gesicht verrieth die Lüge! Er hatte jedenfalls im Hause gehört, daß Jane nicht beim Feste sei, und nicht ohne Grund diesen stundenlangen „Spaziergang“ so unmittelbar nach der Ankunft unternommen, es war wohl mehr Ahnung als Zufall, was ihn hergeführt. Jane mochte das fühlen, die Gluth in ihrem Antlitz wurde noch tiefer und die dunklen Wimpern senkten sich langsam, während ihre bebende Hand einen Stützpunkt an der Mauer suchte. Walther trat zögernd näher.

„Ich habe Sie erschreckt!“ sagte er gepreßt. „Es war nicht meine Absicht, so plötzlich zurückzukehren, ich wollte für jetzt überhaupt nicht wieder nach B. kommen, aber eine Begegnung, die ich mit Mr. Alison hatte –“

„Mit Henry!“ fuhr Jane angstvoll auf. „Sie haben ihn gesprochen?“

„Nein, nur gesehen! Er langte gestern Abend in dem Hôtel an, wo ich in K. Wohnung genommen hatte, wir begegneten einander auf der Treppe, aber er ging finster und stumm ohne Gruß an mir vorüber, als kenne er mich nicht. Heut Morgen brachte man mir ein Billet mit der Nachricht, daß der Herr, der es für mich zurückgelassen, bereits abgereist sei; es veranlaßte meine sofortige Herkunft.“

Er reichte ihr das Blatt, es enthielt nur wenige Zeilen:

„Ich entlasse Sie Ihres Versprechens, sich mir nach beendigtem Kriege zu stellen, es bedarf dessen nicht mehr. Künftig wird der Ocean zwischen uns liegen, das sichert Ihnen die Früchte Ihres Sieges. Ich hindere Sie nicht, nach B. zurückzukehren; fordern Sie dort die Erklärung dessen, was geschehen. Ich verlasse in den nächsten Tagen Europa für immer. Henry Alison.“

Jane hielt das Blatt schweigend in der Hand, ihr Auge verschleierte sich wie von einer aufsteigenden Thräne; es ist einer Frau nie gleichgültig, wenn sie ihretwegen ein Herz bluten sieht, am wenigsten, wenn sie die Erste und Einzige war, die dies kalte stolze Herz empfinden lehrte.

Walther’s Blick haftete forschend auf ihrem Antlitz, er war düster, schmerzlich gespannt, wie in einer qualvollen Unruhe.

„Ich soll hier die Erklärung fordern und weiß doch nicht, ob Miß Forest geneigt sein wird, sie mir zu geben. Als wir uns das letzte Mal sahen, an dem Tage, als ich von L. zurückkehrte, an der Leiche Friedrich’s, da stand Mr. Alison zwischen uns und hielt Ihre Hand so fest in der seinigen, als wolle er damit sein Recht behaupten vor aller Welt. Er hätte es nicht nöthig gehabt, uns so entschieden jedes Alleinsein zu rauben, der Moment verbot jedes andere Wort als das der Trauer um den Todten, wir verloren Beide gleich viel in ihm.“

Jane schüttelte leise und heftig das Haupt. „Sie verloren nur einen Diener, Mr. Fernow. Das Loos meines Bruders war ja harte Dienstbarkeit von frühester Jugend an, und es wäre ihm noch härter geworden, hätte er in Ihnen nicht einen gütigen Herrn gefunden. Ich – habe es ihm nicht erleichtert, so lange es in meiner Macht stand, dafür habe ich ihm auch später nichts geben dürfen, nichts als den kalten Marmor über seinem Grabe!“

Walther stand jetzt dicht neben ihr, er legte sanft seine Hand auf ihre bebende Rechte. „Und die letzte Umarmung der Schwester!“ sagte er leise.

Eine tiefe Bitterkeit lag um Jane’s Lippen. „Er hat sie theuer genug bezahlt, mit seinem Blute mußte er sie sich erkaufen! Wäre ich ihm nicht genaht in jener Stunde, er kehrte gesund und froh zurück mit den Anderen, meine Rettung ward sein Verberben. Ich bringe nur Weh und Schmerz Allem, was mich liebt, dem Bruder mußte ich den Tod geben, Henry mußte ich elend machen – bleiben Sie mir fern, Mr. Fernow, ich vermag kein Glück zu geben!“

Sie trat mit einer stürmischen Bewegung an den Rand der Brüstung und blickte abgewendet hinaus; Friedrich’s Tod warf [476] noch immer seinen Schatten, die Schwester konnte ihn nicht überwinden; es lag wieder etwas von der alten Härte und Bitterkeit in ihren Zügen, und der mühsam gebändigte Schmerz, der darin zuckte, verrieth nur zu sehr, wie ernst es ihr war mit diesen düsteren Worten, vor denen in diesem Augenblick alle Hoffnungen und alle Zukunftsträume machtlos zusammensanken.

„Johanna!“

Das war wieder jener Ton, der einst in S. so mächtig zu ihrem Herzen drang und es losriß von allen Schmerzen und Kämpfen; er zwang sie auch jetzt, sich umzuwenden, ihn anzublicken, und als sie erst seinen Augen begegnete, da hielten auch Härte und Bitterkeit nicht länger Stand vor diesen blauen Tiefen, die wieder zu ihr redeten in jener Sprache träumerischer Zärtlichkeit, die sie wie einst gebannt hielt.

„Du hast mir auch einst wehe gethan, Johanna, furchtbar wehe; es war in jener Herbstnacht, als ich Dich anflehte, Dich frei zu machen, und bereit war, das Aeußerste für Deinen Besitz zu wagen. Damals schleudertest Du mir dies harte ‚Niemals!‘ entgegen. ‚Und gäbe Alison mich frei und fiele jede andere Schranke, nie, Walther!‘ Das Wort steht noch immer drohend zwischen uns Beiden, es hat mich zurückgescheucht bis zu diesem Augenblick. Wirst Du mir nun endlich das Räthsel lösen?“

Jane senkte das Haupt, sie schwieg einige Secunden lang, dann sagte sie tonlos: „Ich hatte die Spur meines Bruders gefunden, ich wußte, daß er beim Pfarrer Hartwig erzogen war, und ich hörte den Namen von Deinen Lippen, als den Deines Pflegevaters.“

„Um Gotteswillen, Du glaubtest doch nicht –?“

„Ja! Schilt mich nicht, Walther, daß ich es für möglich hielt; ich habe furchtbar gelitten unter dieser Möglichkeit, ich bin fast zu Grunde gegangen an dem unseligen Irrthum!“

Jane Forest’s stolze Lippen ließen sich endlich herab zu dem Geständniß und in ihren Augen schimmerte es feucht und tief, der „Nordlichtschein“ darin war geschwunden und das Eis mit ihm, es brach jetzt daraus hervor wie lichtes Frühlingsleben. Was Henry gestern nur einen Augenblick gesehen, als sie bittend vor ihm niedersank, wovon allein er sich die Entsagung abzwingen ließ, die sie ohne jenen Blick nie erreicht hätte, das strömte jetzt in reichster Fülle dem entgegen, der verstanden hatte, es zu wecken; er fühlte den ganzen Zauber dieses Wesens, das so glühend zu fesseln, so unwiderstehlich festzuhalten und so unendlich zu beglücken verstand, das sich zum ersten Male voll und ganz gab.

Es war keine Bewerbung, kein Antrag, nicht einmal eine Erklärung, was zwischen den Beiden jetzt folgte; aber das Eine war da, was jener ersten Verlobung, die das Alles so formell enthielt, gefehlt hatte: das glühende Erröthen, die weiche Hingebung, die Thräne des Glücks in dem Auge der Braut, und die Leidenschaft des Mannes ward nicht mit kalter Berechnung zurückgehalten wie dort, hier flammte sie auf in ihrer ganzen Gluth und Begeisterung. Jane fühlte es in seinen Armen, daß der „Träumer“ so voll und heiß zu lieben verstand, wie er es verstanden hatte, statt der Feder daheim am friedlichen Schreibtisch draußen im Felde das Schwert zu führen.

Die Gebüsche am Fuße der Ruine rauschten, und Mr. Atkins, der dort abermals den Spion gespielt, kam zum Vorschein; aber diesmal störte er das Paar nicht und brachte auch keine Gratulationen; sein Gesicht sah nach Allem eher aus als nach einem Glückwunsch, während er eiligst und unbemerkt den Rückzug antrat.

„Merkwürdig! Sogar die Liebe ist in diesem Deutschland anders als bei uns! Jane ging uns verloren, als sie den Fuß auf diesen Boden setzte, es ist schändlich! Und an der ganzen Geschichte ist nur der verwünschte Rhein mit seiner Romantik schuld!“

Er warf einen Blick des tiefsten Ingrimms auf den gehaßten Strom und kehrte ihm dann grollend den Rücken; der Rhein aber schien sich diese Ungnade des Amerikaners nicht sehr zu Herzen zu nehmen. In seinen Wellen funkelte und glänzte es, als sei der alte Nibelungenhort heraufgestiegen aus der Tiefe und rolle jetzt in flüssigem Golde dem Ufer zu, und der Strom rauschte weiter, mächtig und triumphirend, als trage er auf seinen grünen Wogen den Frühling und den Frieden hinein in die Lande.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage Heft 14: C. Werner
  2. Vorlage: verhin