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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 44.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Die Braut in Trauer.

Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)
7.

Vetter Grün benutzte die Erlaubniß, sich nach seinem Belieben als Gast einführen zu dürfen, viel eifriger, als Helene erwartet hatte. Ihre Befürchtung, daß ihm die Hausgenossen bald gleichgültig werden würden, schien sich nicht bestätigen zu wollen. Er gab freilich allemal mehr, als er empfing, und hielt dies offenbar auch ganz in der Ordnung. Wenigstens ließ er sich selbst gegen die Cousine nichts merken, daß er etwas vermißte. Er fehlte auch bei den kleineren und größeren Gesellschaften selten, vielleicht nur so oft, als ihm gerade schicklich schien, um nicht für unvermeidlich gehalten zu werden. Dann konnte Helene überall das Bedauern aussprechen hören, daß man seine anregende Unterhaltung entbehren müsse. „Haben Dir neulich nicht die Ohren geklungen, Walter?“ pflegte sie ihn bei nächster Gelegenheit zu fragen, die sie manchmal selbst durch einen Besuch bei Onkel Benjamin herbeiführte.

Herr von Brendeln hatte sich ihm in jeder Weise entgegenkommend bewiesen. Zu Anfang schien es auch so, als hätten sich ein Paar Männer gefunden, die nach ihrer geistigen Structur zu einander gehörten und rasch gute Freunde werden müßten. Aber bald zeigte sich eine sehr merkliche Abkühlung. Sie gingen sich nun eher aus dem Wege, so weit dies möglich war. Betheiligten sie sich bei einem gemeinsamen Gespräch, so schien es sich ganz von selbst zu verstehen, daß auf die Behauptung des Einen der Andere gerade das Gegentheil vertheidigte. Diese Redekämpfe wurden oft sehr interessant. Vielleicht bewies sich der Assessor darin als der gewandtere Dialektiker, aber der Doctor hatte das tiefere und gründlichere Wissen für sich, und er überzeugte auch mehr.

Helene freute sich, in Vetter Grün eine feste Stütze finden zu können, deren sie in diesem Hause so sehr bedurfte. Es war ihr Wunsch, sich ihm recht innig anzuschließen. Sie durfte erwarten, daß er sich, wenn er erst im Hause bekannt geworden, vornehmlich mit ihr beschäftigen, sich liebevoll um sie bekümmern werde. Aber darin täuschte sie sich schwer. Er begrüßte sie, wie man eben eine Verwandte begrüßt, und verabschiedete sich auch so – mit einem nichtssagenden Wort, mit dem üblichen Händedruck. Er suchte nicht die Unterhaltung mit ihr, und wenn sie sich von selbst ergab, war sie so allgemeiner Natur, daß der Fremdeste Zeuge sein durfte. Oft stellte sie sich absichtlich allein in eine Fensternische oder an’s Clavier, immer so, daß sie von ihm bemerkt werden mußte. Sie wurde auch bemerkt, aber er machte nicht die mindeste Anstalt zu ihr zu treten, sondern ließ sich nur um so eifriger in das Gespräch mit dem Nächststehenden verwickeln. Es war, als ob er geflissentlich jedes Mißverständniß beseitigen wollte, als wuchere die Jugendthorheit noch heimlich fort und habe Mühe sich zu verbergen.

Sie empfand darüber den heftigsten Verdruß. Es war ihr gar keine Entschädigung, daß Herr von Brendeln fortfuhr sie auszuzeichnen und mit immer auffälligerer Ausschließlichkeit sich ihr zu widmen. Unlieb war ihr dies jetzt freilich nicht. Wenn Walter sich so wenig aus ihr machte, so war da doch ein Anderer, der sich desto mehr um sie bemühte.

Sie glaubte auch wirklich zu bemerken, daß Walter sich zu diesem augenfälligen Entgegenkommen nicht ganz gleichgültig stellte. Sprach sie mit Herrn von Brendeln, so streifte sein Blick viel häufiger an ihr vorüber, als wenn sich ein Anderer mit ihr beschäftigte. Wurde die Unterhaltung munterer, so konnte sie sich einbilden, daß Walter etwas wie Beunruhigung merkbar werden ließ. Gelegentlich fehlte es auch nicht an flüchtigen Aeußerungen über den „galanten“ Herrn Assessor, die scherzhaft eingekleidet waren, aber einen mürrischen Klang hatten. Verspürte er am Ende doch eifersüchtige Regungen? Mindestens beachtete er sie.

Sie hatte also ein Mittel, sich bei ihm Beachtung zu verschaffen. Trotzig sagte sie sich: gut! treib’s nur, wie du’s willst. Ich glaube dir nicht recht, daß du im Ernst von mir so wenig wissen willst. Wenn du aber dein Vergnügen daran hast, mich so obenhin zu behandeln, als ob ich für dich gar nicht zähle, so will ich mir wenigstens die Genugthuung schaffen, dich ein Bischen dafür zu ärgern. Und es ärgert dich, daß mir einer den Hof macht, den du nicht leiden kannst, und daß ich ihn nicht abfallen lasse, weil du ihn nicht leiden kannst. Ich will auch zeigen, daß ich mich ganz frei weiß. Ich will recht boshaft sein, um dir’s zu vergelten!

Darnach handelte sie nun auch. Und gar nicht boshafter meinte sie sein zu können, als wenn sie Herrn von Brendeln die Wege zu sich ebnete und ihn recht auffällig ermunterte, seine Liebenswürdigkeit an sie zu verschwenden. Hatte er sich auch keiner heimlichen Gunst zu erfreuen und mußte er sie für recht launisch halten, wenn sie an Abenden, wo Walter fehlte, ihm recht übermüthig zu erkennen gab, wie weit er vom Ziel sei, so durfte er sich zu anderen Zeiten doch zu seinen Erfolgen gratuliren. Sie hielt dann seinen schmeichelhaftesten Lobsprüchen und vorzüglichsten Redewendungen nicht nur muthig Stand, sondern schien durch ihr heiteres Lachen und ihre witzigen Antworten ihr Wohlgefallen daran beweisen zu wollen. Seine Aufforderung zu musiciren oder zu singen blieb selten unbeachtet, und er stand [710] dann hinter ihrem Stuhl, ihr die Blätter umzuschlagen, oder lehnte sich ihr gegenüber auf’s Clavier und rief von Zeit zu Zeit ein 1eises Bravo hinüber. Es war ärgerlich genug, daß er immer dreister wurde, aber sie litt es doch nicht seinetwegen.

Der Frau Consul war es jedesmal ein Stich in’s Mutterherz, wenn sie die Beiden zusammenstehen, Herrn von Brendeln sich geschäftig um das schöne Mädchen bemühen, Helene aber mit gerötheten Wangen munter lachen und plaudern sah. Sie faßte einmal den Muth, Doctor Grün auf das Paar hinzuweisen.

„Ist Ihnen das Benehmen des Herrn Assessors nicht auffällig?“ fragte sie ihn.

„Er interessirt sich unzweifelhaft für meine Cousine,“ antwortete er, leicht die Achsel zuckend.

Die Frau Consul wurde sehr unruhig. „Aber Herr Doctor –“ zischelte sie, „Sie sagen das so, daß ich vermuthen muß … Nein! auf etwas der Art darf man ja gar nicht kommen. Vergessen Sie nicht, daß Helene Braut ist.“

„War –“

„O! in ihrem Herzen kann Robert nicht gestorben sein. Man soll sie dessen aber auch nicht mit einem Schein von Grund beschuldigen dürfen. Und sie ist wirklich recht unvorsichtig. Es sind schon von anderer Seite Bemerkungen gefallen, die mich besorgt machen müssen, daß sie sich schadet. Und doch ist mein Verhältniß zu ihr – meines Sohnes wegen – so zarter Natur, daß ich unmöglich eingreifen kann, ohne ihr etwas Kränkendes zu sagen. Sie aber –“

„Ich, gnädige Frau –?“

Walter versprach nichts. Er hatte über das, was die Frau Consul anregte, seine eigenen Gedanken, die er denn auch am liebsten für sich behielt. Das nächste Mal aber, als Herr von Brendeln wieder mit mehr als gewohnter Dreistigkeit Helene von der Gesellschaft im Garten zu isoliren wußte und sie sich’s sogar gefallen ließ, daß er ihr den Fächer aus der Hand zog und damit allerhand Spielereien trieb, stand er doch auf und ging zu ihr, irgend eine gleichgültige Frage einwerfend. Der Assessor, der seine Absicht merken mochte, zog sich bald zurück. Walter legte Helenens Arm in den seinigen und führte sie durch den Garten, der Laube zu, in der die Anderen saßen. Sie war sich augenscheinlich nicht klar darüber, wie sie sein Benehmen deuten sollte, sah zur Erde, oder schielte zur Seite, wie er’s eigentlich meine. Er bemerkte es. „Du bist eine kleine Kokette,“ sagte er in scherzendem Tone.

Sie machte sogleich ihren Arm frei und blieb stehen.

„Gefällt Dir das nicht?“ fragte sie herausfordernd.

„Aufrichtig gesagt – nein!“ antwortete er.

„Und warum nennst Du mich so?“

„Nun … ich habe doch Augen.“

Die Thränen perlten ihr über die gerötheten Wangen. „So bin ich also doch für Dich noch auf der Welt!“ rief sie mit schluchzender Stimme.

„Helene –!“

„Du siehst wenigstens, was Dir mißfällt! Aber ich verdiene diesen Vorwurf von Dir nicht.“

„Von mir oder einem Andern. Man beobachtet Dich.“

„Mag man doch!“ Ihre Lippen zitterten. „Man täuscht sich – ich weiß es am besten.“

„So ist Dir’s wirklich voller Ernst, Helene?“

„Was?“

„Du läßt Herrn von Brendeln glauben, daß er sich nicht umsonst bemüht.“

Die Thränen flossen reichlicher. „Und was geht’s Dich an?“

Die Frage setzte ihn in Verwirrung. „O! mich …? Ich bin Dein Vetter.“

„Das spricht nicht mit,“ entgegnete sie rasch. „Das gar nicht.“

„Du bist sonderbar, Helene. Ich verstehe Dich nicht.“

Sie wendete sich mit Heftigkeit ab und drückte das Tuch auf die Augen.

„Wie willst Du mich denn auch verstehen,“ sagte sie trotzig, „da Du von mir gar nichts wissen magst?“

„Du hörst ja, Helene, daß ich –“

„Ach! wenn Du schelten kannst. Das war ja auch früher so Deine Art und damit hast Du alles verdorben.“

Er wiegte den Kopf. „Aber ich habe ja noch gar nicht gesagt, daß ich Dich tadle, wenn Du diesem Herrn von Brendeln in allem Ernst –“

„Siehst Du, daß ist Dir ganz gleichgültig,“ rief sie. „Und wenn es Dir gleichgültig ist, so mache ich mir auch nichts daraus, was Herr von Brendeln von mir glaubt. Ach, ich – ich …!“ Sie preßte das Tuch in der Hand zusammen, warf ihm einen zornigen Blick zu und entfernte sich schnell nach dem Hause.

Walter folgte ihr nicht. Einen Moment nahm sein Gesicht einen recht heiteren Ausdruck an. „Er wird doch der Glückliche sein,“ murmelte er. „Was darf es mich kümmern? Sie sollte ja volle Freiheit haben …“ Der Kopf schien ihm heiß, er zog den Hut ab und trug ihn in der Hand, während er nach der Laube ging. „Aber unbegreiflich ist’s – unbegreiflich. Dieser Faun –!“

Er blieb nur noch kurze Zeit. –

In den nächsten Tagen ließ er sich gar nicht blicken. Dann stattete er eine flüchtige Visite ab. Und dann kam er seltener und immer seltener, sich mit überhäufter Arbeit entschuldigend. Gegen Helene zeigte er sich ganz unverändert, wenn nicht freundlicher. Sie aber that, als ob sie ihm nicht frei in’s Gesicht sehen könne. Er meinte, sie schmolle, weil er zu dreist in ihrem Herzen geforscht und eine wunde Stelle getroffen habe.

Eine wunde Stelle gewiß. –




8.

Helene trieb’s nun wieder auf den Kirchhof. Sie fühlte sich sehr unglücklich und hoffte, daß die melancholische Stimmung der Gräberstätte ihr wohlthun würde. Auf dem Plätzchen vor dem Monument war ihr nur noch beklommener zu Muth. Sie quälte sich absichtlich mit Gedanken an Robert. Sein Bild blieb nebelhaft verschwommen; sie konnte mit dem Herzen nicht zu ihm. Der Assessor beirrte sie dabei nicht. Aber desto mehr Walter. Nicht daß sie mit zärtlichen Empfindungen seiner gedacht hätte. Sie konnte sich einreden, daß sie ihn recht aus Herzensgrund hasse. Wer sonst verschuldete denn auch, daß sie sich selbst so zuwider geworden war?

Die Frau Consul begleitete sie jetzt wieder öfter. Das war ihr anfangs lieb. Sie meinte, so werde sich am leichtesten das gewohnte Verhältniß wieder herstellen. Bald mußte sie erkennen, daß Mißtrauen im Spiel war. Nun hatte es die alte Dame ganz bei ihr verschüttet.

Indessen rückte der Hochzeitstag immer näher heran. Hauptmann von Gräwenstein war sehr ungeduldig geworden und hatte so dringend die Abkürzung der Wartezeit gewünscht, daß die Mama schon nachgeben mußte. Die Hochzeitsreise im Spätsommer versprach auch erfreulicher zu werden, als weiter hinaus im Herbst. Dazu kam, daß man jetzt noch auf den Garten rechnen durfte, der, wenn auch nicht am Hochzeitstage selbst, doch am Polterabende die sehr wünschenswerthe Aushülfe schaffen konnte. In der Hoffnung auf gutes Wetter war ein Gartenfest geplant, bei dem sich die Gäste, aus dem Hause ab- und zugehend, abwechselnd betheiligen konnten.

Wichtige Fragen waren schon Wochen lang vorher zu erörtern: wie viel Brautführerpaare erwünscht sein könnten, wie man Civil und Militär möglichst gleichmäßig heranziehe, wer den Brautkranz zu überreichen habe. Vera weigerte sich mit aller Entschiedenheit, den Kranz aus Helenens Händen anzunehmen. So starkgeistig sie sich sonst gerne bewies, hier behielt die abergläubische Vorstellung die Oberhand, daß eine Kranzjungfer, deren Bräutigam gestorben sei, ihr Unglück bringen müsse. Sie hielt dieses Bedenken auch gegen Helene selbst nicht zurück; unter den zärtlichsten Liebkosungen versicherte sie, daß ihr der Gedanke schreckhaft wäre, von einer Braut in Trauer geschmückt zu werden; sie würde die Empfindung nicht los werden, daß ihr ein Todtenkranz geweiht sei. „Es ist ja auch ganz unmöglich,“ rief sie, „daß Du in Deinem schwarzen Kleide das Gedicht sprechen kannst!“ Helene beruhigte sie völlig. „Uebrigens,“ fügte sie lächelnd hinzu, „würde mein schwarzes Kleid nicht gestört haben. Ein so frohes Ereigniß, wie Deine Hochzeit, giebt mir den schicklichen Anlaß es abzulegen.“

Natürlich erfuhr die Frau Consul von dieser „sehr merkwürdigen“ Aeußerung. Sie gab sich den Anschein, sie leichthin zu nehmen, spürte aber doch nach, was Helene etwa wegen ihrer Garderobe veranlasse. Es war lange nicht dahinter zu kommen. Eines Nachmittags kurz vor dem Feste fand sie endlich Helenens [711] Stübchen in einen Bazar umgewandelt. Auf allen Möbeln lagen die herrlichen Roben ausgebreitet, mit denen sie als Robert’s glückliche Braut überreich beschenkt worden war. Alle Farben zeigten sich vertreten. Mit allen Zeichen des Schreckens blieb die alte Dame an der Thür stehen, faltete die Hände und zitterte mühsam die Frage: „Aber was treibst Du, Kind –?“ heraus.

Helene gelang es nicht sonderlich, den Ton der Unbefangenheit festzuhalten, als sie antwortete: „Ich suche mir ein Kleid zum Polterabend aus, Mamachen, und krame deshalb alle meine Schätze vor. Es ist eigentlich überflüssig, da ich schon vorher mit mir ganz einig war.“

„Aber wie konntest Du überhaupt im Zweifel sein?“ fragte die Frau Consul, die sich die letzten Worte günstig auslegte. „Wir Beide, denke ich, sind ein für allemal entschuldigt, wenn wir auch freudigen Ereignissen gegenüber an der Farbe der Trauer festhalten.“

„O Mama!“ rief das Mädchen, „mit mir ist’s doch etwas anderes. Ich bin jung und gehöre zur Jugend. Die Jugend aber will an einem lustigen Polterabend nicht daran erinnert sein, daß Freude sich rasch in Leid wandeln kann. Ich habe mir’s überlegt, daß ich’s dem Brautpaar, den Gästen – wenn Du willst, auch mir selbst schuldig bin, die Umstände zu berücksichtigen. Natürlich kann von der Wahl heiterer Farben nicht die Rede sein. Aber Du bist gewiß einverstanden, wenn ich ein weißes Kleid wähle und mich auch sonst ganz mit Weiß schmücke. Selbst Nonnen tragen ja weiße Gewänder.“

Der alten Dame fingen die Backen an zu glühen, und die zornige Aufwallung machte sich auch in der Stimme bemerkbar. „Weiß oder Roth! Es ist in diesem Falle ganz gleich. Sei ehrlich! Der Polterabend ist Dir nichts als ein Vorwand, endlich die verhaßte Trauer los zu werden. Schon lange trauerst Du nicht mehr im Herzen. Geh, geh! Du hast meinen Sohn nie geliebt!“

Diese heftigen Vorwürfe verfehlten ihre Wirkung. Helene setzte sich trotzig zur Gegenwehr, überzeugt, daß ihr Unrecht geschehe. „Sprich nicht von der Vergangenheit,“ sagte sie. „Robert ist glücklich gewesen – ich will mir kein Verdienst zurechnen, aber Robert ist glücklich gewesen durch mich. Ob ich ihn geliebt habe, das weiß nur Gott. Ich gab ihm mein ganzes Herz, so weit ich es selbst verstand. Und noch immer empfinde ich’s als einen Schmerz, daß ich ihn verloren habe. Nie kann ich ihn vergessen! Aber lebendig todt mag ich nicht sein. Schmähe mich deshalb, wie Du magst, ich werde nicht geringer von mir denken.“

Frau Berghen lenkte ein. „Es ist, wie es ist,“ sagte sie, traurig den Kopf senkend, „die Menschen sind sich alle gleich. Unter Millionen leistet einmal einer etwas Ungewöhnliches, das doch das Gewöhnliche sein sollte. Ist es möglich, daß eine so geringfügige Sache, wie ein Kleid, uns entzweien kann? Wenn Du nun weißt, daß eine alte Frau, die Du doch liebst und ehrst, als eine Kränkung empfindet, was Dir höchstens eine unbedeutende Befriedigung der Eitelkeit ist – sollte das nicht schon Beweggrund genug sein, von Deinem Vorhaben abzustehen und Dich ihren Wünschen zu fügen?“

Helene begriff sehr wohl, was Nachgiebigkeit in diesem Augenblick bedeutete. Aber sie traute sich auch nicht die Festigkeit zu, durchgreifen und ihr Stück behaupten zu können. „Wenn Du’s so nimmst …“ sagte sie unmuthig, „gut! Das weiße Kleid soll Dir kein Aergerniß bereiten. Aber auch das schwarze soll Niemand die Festfreude verkümmern: ich werde zu Vera’s Polterabendgästen nicht gehören.“

Davon wollte nun freilich die Frau Consul nichts wissen. Aber ihr Zureden war doch nicht einmal besonders dringlich. „Wie Du willst, liebes Kind,“ sagte sie endlich, „Du hast ja noch Zeit, Dir’s zu überlegen.“

Damit küßte sie ihre Stirn und ging. Helene suchte ihren Aerger zu verbeißen. „Ihr seid Alle nur auf Euch bedacht,“ murmelte sie in sich hinein, „und habt nicht einmal einen greifbaren Nutzen davon. Es ist Euch eine Genugthuung, daß ich unglücklich bin: der Todte soll sein Opfer unter den Lebenden haben. Wenn sich mir noch einmal etwas Frohes ereignete, Euch wär’s ein Dorn in’s Fleisch. Aber seid ruhig, seid ganz ruhig! Mein Glück wird Euch nicht kränken! Ich habe nicht einmal Wünsche, die Euch besorgt machen dürften.“

Ihre Stimmung wurde sehr schwermüthig, als sie alle die bunten Fähnchen wieder bei Seite schaffte, und sie blieb es auch in den folgenden Tagen. Meist war sie mit sich allein. Als nun der Polterabend herankam, schloß sie sich wirklich auf ihrem Zimmer ein und ließ sich auch durch Vera nicht herauslocken, so gefällig sie ihren Festanzug bewunderte.

Es kamen doch recht schwere Stunden. Nicht daß sie starke Sehnsucht empfunden hätte, an Tanz und Spiel da unten Theil zu nehmen. Aber sie konnte doch auch nicht von da hinwegdenken; es mahnte sie fortwährend, nun sei’s für alle Zeit mit Spiel und Tanz zu Ende und dürfte doch nicht zu Ende sein. Die Unruhe des Festabends drang bis zu ihr. Die nächsten Zimmer waren zu Garderoben eingeräumt. Sie hörte die Damen, die dort ihre Toilette ordneten, laut sprechen und lachen. Dann rauschten die seidenen Schleppen vorüber. Unter ihr im Saale wurde es lebhaft. Aus ihren Fenstern sah man in den Garten. Dort brannten Hunderte von Lampions. Bengalische Flammen wurden angezündet und färbten das Laubdach der Bäume roth, blau und weiß.

Die Aufmerksamkeit wurde fortwährend dahin abgelenkt. Sie ließ die Vorhänge herab, aber trotz der Lampe auf ihrem Tische machte sich der Wechsel des Lichts bemerkbar. Die Musik spielte lustig auf. Von Zeit zu Zeit, nach gelungenen Aufführungen, wurde laut gelacht oder geklatscht und Bravo gerufen. Helene hatte ein Buch aufgeschlagen und schien auch eifrig zu lesen. Aber die Blätter wurden selten gewendet, und der Blick, der sich darauf heftete, war starr. Sie hatte die Ellenbogen aufgestützt und die Fingerspitzen in die Ohrmuscheln gelegt – es half doch nichts; sie hatte keine Ruhe bei sich selbst.

Sie sprang auf und ging mit raschen Schritten durch das Zimmer. In den Spiegel warf sie einen flüchtigen Blick im Vorbeigehen. Die Backen glühten ihr, als ob sie getanzt hätte. Sie kam sich recht häßlich vor. Auf dem Wege zurück wendete sie absichtlich das Gesicht ab. Sie wiederholte den Gang auch nicht wieder, sondern setzte sich in einen tiefen Lehnstuhl, streckte den Kopf zurück und träumte zur Decke hinauf. Ob mich doch einer vermissen wird? Einer! Wer? Erst war’s wirklich kein Bestimmter. Irgend einer. Es wäre ihr eine Wohlthat gewesen, wenn sie’s gemußt hätte. Dann schien doch die Frage nicht mehr so ganz gleichgültig: wer? Der Kreis zog sich enger und enger. Der und der und der … was mache ich mir daraus? Es blieben noch ein paar Menschen, auf deren Vermissen sie eine Art von Anspruch hatte. Die Gestalten huschten vorüber. Vom Garten herauf scholl wieder ein vielstimmiges Beifallrufen, und gleich darauf setzte die Musik mit einem Tusch ein. Wer hat Zeit an Dich zu denken?

Ob doch Walter gekommen sein mag? Er konnte an diesem Tage kaum fehlen. Was sollte er nur davon denken, daß sie sich gar nicht blicken ließ? Ah! Wahrscheinlich hatte die Mama entschuldigend von einem Unwohlsein gesprochen, auch ohne daß er sich nach ihr erkundigte. Gefragt hatte er sicher nicht. Oder so beiläufig. Sie konnte sich vorstellen, wie?

Die kleine Stutzuhr auf der Spiegelconsole schlug zehn. Es ist Zeit zum Schlafengehen. Die Decke über den Kopf!

Sie erhob sich langsam und müde im Stuhl. Da klopfte es leise an die Thür. Nun zuckten die Hände, die auf den Seitenlehnen lagen. Ihr erster Gedanke war: Walter.

Lächerlich! Wahrscheinlich hatte die Frau Consul eins von den Hausmädchen geschickt, sich zu erkundigen, ob ihr das Abendessen hinaufgebracht werden solle. Helene stand auf und trat an die Thür. „Wer ist da?“ fragte sie.

Statt der Antwort erfolgte ein neues Klopfen. Es war ihr, als ob sie ein leises Kichern vernahm. Nun drehte sie den Schlüssel um. In demselben Augenblicke öffnete sich auch schon die Thür. Eine männliche Gestalt trat auf die Schwelle.

„Herr von Brendeln!“ rief sie sehr erschreckt. „Was in aller Welt wollen Sie?“

„Mich durch den Augenschein überzeugen, daß Sie nicht krank sind,“ sagte er.

„Aber das ist unschicklich – bleiben Sie!“ bat Helene. Sie versuchte, die Thür wieder zu schließen. Es gelang nicht.

„O!“ sagte er, „ich komme nicht allein. Meine Schwester, die zum Feste hergekommen ist, brennt vor Verlangen, Sie kennen zu lernen. Wollen Sie ihr gütigst erlauben …“

Er schob eine junge Dame vor, die seitwärts gestanden hatte und von Helene bis jetzt nicht bemerkt war.

[712] „Ihre Schwester?“ fragte sie verwundert. „Aber hier … Ich bitte, mein Fräulein –“

Die so Angemeldete schlüpfte hinein. „Darf ich? Mein Bruder hat in seinen Briefen so viel von Ihnen geschwärmt, daß ich auf’s Herzlichste bedauern mußte, Sie in der Gesellschaft nicht anzutreffen. Man sagte, Sie seien unwohl; aber er versicherte so zuversichtlich, das sei ein Vorwand, daß ich dem Verlangen nicht widerstehen konnte, mich zu Ihnen führen zu lassen. Da bin ich nun und bitte um Verzeihung, wenn ich zu dreist war. Der ganze Polterabend wäre mir verdorben gewesen, wenn ich Sie nicht gesehen hätte.“

Der Assessor war gleich nach ihr eingetreten und hatte die Thür hinter sich geschlossen. „Aurelie hofft sich im Sturm Ihr freundschaftliches Vertrauen erobern zu können,“ sagte er; „ich darf ihr das Zeugniß geben, immer eine treffliche Schwester gewesen zu sein, und das spricht doch, wie Sie mich kennen, bestes Fräulein, entschieden für ihr gutes Herz.“

Helene war so verwirrt, daß sie darauf nicht eine passende Antwort fand. Sie kehrte ihm den Rücken zu und führte das Fräulein nach dem Sopha. Jetzt im Lichtschein der Lampe bemerkte sie erst, daß sie es mit einer nicht mehr ganz jugendlichen Erscheinung zu thun hatte. Die Verwandtschaft war unverkennbar. Aurelie hatte die spitzen Züge ihres Bruders und auch in den Augen etwas Lauerndes wie er. Der Assessor hatte öfters von ihr gesprochen und dann immer nur ihre Klugheit gerühmt.

Jedenfalls wußte sie rasch und mit großem Geschick Helene aus der Verlegenheit zu ziehen. Herr von Brendeln stand hinter seinem Stuhl und mischte sich gelegentlich in das Gespräch. „Es ist hier so reizend in Ihrem stillen Stübchen,“ sagte Aurelie, „daß ich am liebsten gar nicht mehr zur Gesellschaft zurückkehren möchte.“

„Da es uns aber schwerlich so gut werden wird,“ bemerkte der Assessor mit einem bestätigenden Seufzer, „wird uns nichts übrig bleiben, als das Fräulein zu entführen.“

„Das gelingt nicht,“ sagte Helene kopfschüttelnd.

„Warum nicht? Wir sind Zwei gegen Einen,“ scherzte er.

Helene lachte schon. „Also Gewalt?“

„Im Nothfall,“ gab er zu. „Aber ich hoffe, daß gute Worte –“

„Verschwenden Sie sie nicht an mich, Herr Assessor. Ich bin taub.“

„Aber im Ernst, liebes Fräulein,“ mischte sich Aurelie ein und nahm deren Hand zärtlich in die ihrige, „warum entziehen Sie sich der Gesellschaft?“

„Es ist eine Nothwendigkeit,“ sagte Helene den Blick senkend, „erlassen Sie mir die Gründe.“

„Sehr ungern,“ versicherte Fräulein von Brendeln. „Ich würde sie gewiß sämmtlich nicht gelten lassen dürfen.“

„Und die Nothwendigkeit liegt auch wohl nicht in Ihnen selbst,“ fügte der Assessor hinzu.

„O doch – doch!“

„Wie? Es widerstrebt Ihnen innerlich an diesem frohen Familienfeste theilzunehmen?“

„Im Trauerkleide.“ Es war ausgesprochen. Schon im nächsten Augenblicke wurde es ihr leid.

„Aber was nöthigte Sie –?“

„Forschen Sie nicht weiter,“ fiel Helene ein. „Die besonderen Verhältnisse bedingen es so.“

„Und da haben wir denn wohl auch sämmtliche Gründe auf einem Haufen zusammen,“ rief Aurelie lachend. „Das Trauerkleid! Aber die Trauerzeit ist längst vorüber. Das Trauerkleid ist ein schwarzes Kleid, nichts weiter, und das schwarze Kleid“ – sie lehnte sich in die Sopha-Ecke zurück und musterte sie mit sichtlichem Wohlbehagen – „das schwarze Kleid steht Ihnen außerordentlich gut, liebstes Fräulein. Ihr zarter Teint, Ihre frischen Farben, das blonde Haar –“

„O, ich bitte Sie –!“ unterbrach Helene. „Sie beschämen mich.“

„Aber warum soll man’s nicht sagen dürfen,“ meinte das Fräulein, „wenn es wahr ist? Ach! Lassen Sie sich bewegen, liebes Fräulein! Es ist ja gar zu traurig, daß Sie hier so allein sitzen sollen und an dem schönen Fest nicht Theil haben. Wenn ich Sie recht herzlich bitte –!“

„Bitten Sie nicht! Es ist einmal so beschlossen.“ Der Ton war nicht so fest, wie ihn die Worte bedingt hätten.

„Aber kein Beschluß ist unabänderlich,“ bemerkte der Assessor. „In so kleinen Dingen muß man nicht consequent sein wollen.“

„Eigensinn ist sonst nicht mein Fehler,“ meinte Helene. „Aber meine Toilette ist wirklich nicht geeignet –“

„Sie läßt sich ja im Augenblick ergänzen,“ rief Aurelie, sich erhebend. Auf dem Tisch stand ein Glas mit prächtigen rothen Rosen, Helenens Lieblingsblumen. Die lebhafte Dame zog zwei davon heraus und steckte sie ihr in’s blonde Haar. „Kann es einen reizenderen Kopfputz geben?“ fragte sie. „Lebende Blumen – Rosen. Wie unschuldig das aussieht! Noch ein Sträußchen hier auf die Schulter … Nein, nein! wehren Sie meine Hand nicht ab, das gehört dazu. Zwei Rosen, ein Knöspchen, ein paar grüne Blätter – allerliebst! Was sagst Du, Leopold?“

„Ich bin stumm vor Bewunderung,“ versicherte er, über die Brille wegsehend. „Das ist ja das Ei des Columbus! Lebende Blumen – trefflich! Daran kann auch die trübste Grillenfängerei keinen Anstoß nehmen.“

Aurelie zog sie nach dem Spiegel. „Und wie die schwarze Farbe gleich paralysirt ist! Sehen Sie nur.“

„Ich werde mich wohl hüten eine Eloge zu sagen,“ äußerte Herr von Brendeln, sich abwendend. „Fräulein Helene hört dergleichen, wie ich weiß, sehr ungern.“

Dieses Anerkenntniß schmeichelte ihr. „Ich danke Ihnen,“ sagte sie recht freundlich.

Er trat zu und reichte ihr den Arm. „Darf ich bitten?“

„Nein, es ist zu lächerlich, daß ich mich so abholen lasse.“

„Lachen wir doch! Man feiert ja Polterabend. Ihren Arm, mein Fräulein –“

„Aber Handschuhe wenigstens ….“ Sie zog eine Schieblade im Schränkchen auf und durchwühlte den Inhalt. Aurelie nickte hinter ihr dem Bruder zu. „Natürlich weiß,“ sagte sie.

„Weiß – hier.“ Helene war in fieberhafter Aufregung. „Wenn Sie’s denn wirklich so wollen ….“ Der Handschuh riß auf. Sie suchte ein zweites Paar vor. „Es ist wirklich – nicht einzusehen – warum ich nicht ….“ Aurelie knöpfelte mit geschickter Hand zu. „So –! ich bin bereit.“

(Fortsetzung folgt.)




Doctor Martin Luther.

Von Emil Zittel.

Wir stehen vor einem deutschen Mann der Weltgeschichte. Niemand wird behaupten, daß alle weltgeschichtlich hervorragenden Helden auch immer persönlich anziehende oder auch nur interessante Menschen gewesen sind. Bei Luther könnte man eher streiten, ob die geschichtliche Bedeutung oder die individuelle Persönlichkeit desselben uns mehr Interesse und Bewunderung abgewinnt. An dieser letzteren wird sich auch der wirklich gebildete Katholik voll und ganz erfreuen können und jeder Deutsche bekennen müssen, daß hier echt deutsche Art, echt deutscher Geist und deutsche Kraft, germanische Gemüthstiefe bei echt deutschem Witz und Humor in der That in einer so eigenthümlich nationalen Färbung uns entgegen tritt, daß unser Herz unwillkürlich für ihn gewonnen wird.

Und wahrlich, selten hat ein Mann dem deutschen Volke so aus der Seele geredet, wie Martin Luther, und ebenso selten hat es einer so wie er verstanden, in der knappen Sprache des einfachen Volkes die ernstesten und heiligsten Dinge mit derber Geradheit und Handgreiflichkeit und doch zugleich in so religiös würdiger und ergreifender Weise auszusprechen. Dabei standen ihm jederzeit eine solche Menge drastischer, aus dem einfachsten Leben gegriffener Bilder, so köstliche Sprüchwörter oder von ihm selbst geschaffene sprüchwortähnliche Schlagworte zu Gebote, daß seine Schriften uns darin noch heute eine wahre Fundgrube sein könnten. Luther’s erste Biographie waren Predigten, welche Matthesius zum Andenken seines entschlafenen Lehrers gehalten hat, und weil

[713]

Das Luther-Denkmal zu Eisleben.
Nach Professor Rudolf Siemering’s Entwurf.

[714] auch nachher die meisten Luther-Biographien von Predigern und Theologen als „christliche Erbauungsschriften“ geschrieben worden sind, kommt gerade diese volksthümlichste Seite Luther’s selten genügend zur Geltung, und doch beruhte gerade auf ihr offenbar ein sehr großer Theil seiner Popularität.

Wie seine besonderen Naturanlagen, so hat aber auch die Erziehung, Bildung und Lebensschule, welche Martin Luther bis zum Jahre 1817 zu Theil geworden ist, ihn wohl dazu vorbereitet, der Führer der religiösen Reform im deutschen Reiche zu werden. Aus diesem Grunde ist seine Jugendgeschichte von besonders hohem Interesse.

Wie allbekannt, stammt Luther aus einer einfachen Bauernfamilie des unfern von Eisenach gelegenen Dorfes Möhra. Sein Vater, ein tüchtiger und schließlich wohlhabender Bergmann, war zuerst nach Eisleben gezogen, wo ihm sein Sohn Martin geboren wurde, und bald darauf in eine günstigere Stellung in dem nahen Mansfeld eingetreten, wo er schließlich Pächter mehrerer Schmelzöfen ward und bis nach dem Augsburger Reichstag (1530) als angesehener Bürger lebte.

In Mansfeld ist Luther in der damals üblichen strengen „Zucht“ herangewachsen, durch welche die seine ganze Jugendzeit erfüllende Verschüchterung und Betagtheit erzeugt wurde, die ihn später dazu trieb, aus Furcht vor Gottes Gericht und der verführerischen Macht der Sünden der Welt in’s Kloster zu gehen. Auch von den Schulen jener Zeit sagte er einmal, sie seien „Kerker und Höllen, die Lehrer aber Tyrannen und Henker gewesen“.

Von dem Segen einer gewissenhaften und treuen Erziehung aber, wie sie ihm von Vater und Mutter zu Theil geworden, hat er später die schönen Worte geschrieben:

„Wenn ich in des Kaisers Schmuck umherginge, oder eine junge Frau im Schmuck der Königin von Frankreich, das wäre ein so köstlich Ding von der Welt, daß Jedermann das Maul aufsperrte. Aber in Wahrheit ist’s nichts gegen diesen geistlichen Schmuck eines Christen, wenn ein Weib dahergeht in Gehorsam gegen Gott, ihren Ehemann lieb und werth hat, die Kindlein wohl und fein zieht, und sich in ihrem Beruf nach Gottes Wort und Befehl richtet. Gegen solchen Schmuck sind Perlen, Sammt, goldene Stück wie ein alter, zerrissener, geflickter Bettlersmantel.“

Von der nöthigen Strenge hat er aber auch ein ernst-heiteres Wort geschrieben:

„Es ist ein Werk der Barmherzigkeit, das Gott lohnen will, daß man, wo böse Kinder und Gesind im Hause sind, einen eichenen Butterwecken in die Hand nehme, und schmiere ihnen die Haut damit voll. Solches ist eine geistliche Salbe wider der Seele Krankheit, die da heißt Ungehorsam gegen Väter und Mutter.“

Im vierzehnten Lebensjahre kam Luther mit einem wohlhabenderen Mitschüler auf eine bessere Schule nach Magdeburg und ein Jahr darauf nach Eisenach, wo sich eine Patricierfrau, Ursula Cotta, seiner freundlich annahm.[1]

Mit dem Frühjahre 1501 siedelte der siebenzehnjährige Luther in die fromme und blühende Universitätsstadt Erfurt über, wo er zunächst in der Artistenfakultät diejenigen humanistischen Studien trieb, welche heutzutage in die Oberclassen der Gymnasien verlegt sind, oder als „Philosophien“ neben den akademischen Fachwissenschaften unserer Universitäten hergehen. Nach drei Semestern bestand er ruhmvoll das Examen eines „Baccalaureus“ und im Jahre 1505 mit größtem Lobe das unserem „philosophischen Doktorexamen“ entsprechende Magisterexamen. Nun kam die Zeit, ein Fachstudium zu wählen, und gern hätte sich Luther der Theologie zugewandt, mit der er sich schon viel beschäftigt hatte, aber sein Vater, „der die Pfaffen nicht leiden konnte, die wohlversorgt von fremden Gütern leben“, wollte, daß er die juristische Laufbahn betrete, und der Sohn gehorchte.

Aber ihn, der auch als Student noch täglich die Messe besuchte und in der Universitätsbibliothek eine vollständige Bibel gefunden, die er noch nie gesehen hatte und die ihn nun ganz gefangen nahm, beschäftigte bald die Frage seines Seelenheils so ausschließlich und so lebhaft, daß er endlich in eine überreizte Gemüthsverfassung gerieth. Bald meinte er in jedem Schrecken und Unfall, zumal im raschen Tode eines Freundes, die drohende Stimme Gottes erkennen zu müssen, und gelobte schließlich am 2. Juni 1505 bei einem furchtbaren Gewitterschlage im Walde bei Stotternheim der heiligen Anna, der angeblichen Mutter der Jungfrau Maria und Schutzpatronin der Bergleute, falls er diesmal noch durch ihre Fürbitte das Leben behalte, ein Mönch zu werden. Am 16. Juli lud er alle seine Freunde zu sich und überraschte sie nach froh und munter verlebten Stunden schließlich, wie er das nachher auch noch öfter gethan hat, mit einem fertigen unwandelbaren und sofort in’s Werk gesetzten Entschlusse. In der Frühe des folgenden Morgens am Alexius-Tage überschritt er, von den ihn vergeblich abmahnenden Freunden bis zum Thore begleitet, die Schwelle des in der Stadt gelegenen hochberühmten Augustinerklosters.

Aber auch hier fand er nicht, was er suchte: die heiß ersehnte Ruhe seiner Seele, weil er nicht Herr werden konnte „der Erregtheit des Herzens, das sich vor den Sünden entsetzt und unablässig trachtet nach der Fülle guter Werke der Gerechtigkeit und Seligkeit“. Auch mußte es ihn doch fort und fort betrüben, daß sein Vater über diesen Schritt sehr entrüstet war. „Er,“ so erzählt uns Luther selbst, „wollte darüber toll werden und es mir nicht gestatten. Er antwortete mir schriftlich und hieß mich Du – vorher hieß er mich Ihr, weil ich Magister war – und sagte mir alle Gunst ab.“

Schließlich hat sich der Vater freilich in das Unabänderliche geschickt und sogar, wenn auch ungern, am 2. Mai 1507 an dem Feste der Priesterweihe seines Sohnes persönlich Antheil genommen. Dieses sein trostloses Klosterleben schildert Luther später selbst in den bezeichnenden Worten:

„Wahr ist’s, ein frommer Mönch bin ich gewes’t, und hab’ meine Ordenspflicht so streng gehalten, daß ich sagen darf: Ist je ein Mönch in Himmel kommen durch Möncherei, so wollt’ ich auch hineingekommen sein. Das werden mir alle meine Klostergesellen bezeugen, die mich gekannt haben; denn ich hätte mich, wenn es länger gewährt hätte, zu Tode gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.“

Als er nun schließlich ernstlich krank wurde, trat dann, wenn auch nur sehr allmählich, jene von Grund aus entschiedene Veränderung in seiner religiösen Weltanschauung ein, die er in Anlehnung an die Redeweise seines liebsten Apostels, des Paulus, als den Uebergang von der „Werkheiligkeit“ zur „Glaubensgerechtigkeit“ bezeichnet hat. Je fester er sich dann in den folgenden Jahren in diese Grundidee der Paulinischen Schriften hineinarbeitete – „das ist,“ sagte er einmal, „die Saite, auf der ich immer leiere“ – um so ruhiger und freudiger wurde sein Gemüth. Um so eifriger aber warf er sich nun auch auf das Studium der ihm hierdurch persönlich so theuer gewordenen heiligen Schrift.

Im Spätjahre 1508 wurde der zum einfachen Mönche herabgestiegene Magister auf die Empfehlung des Generalvicars seines Ordens, Johannes von Staupitz, zunächst in das Wittenberger Augustinerkloster versetzt, um als „Magister der philosophischen Wissenschaften“ an der neugegründeten Universität Wittenberg Vorlesungen zu halten. Im folgenden Jahre schon wurde er zum „biblischen Baccalaureus“ und dann zum „Sententiarius“ promovirt, als welcher er nun das Recht hatte, auch dogmatische Vorlesungen zu halten. Aber schon im Spätjahre 1509 wurde er wieder als Professor nach Erfurt gerufen und 1511 in Ordensangelegenheiten sogar nach Rom geschickt. Dort steigerte sich seine Abwendung von dem äußerlichen Wesen der Werkheiligkeit um so mehr, als er nun auch „des Papstes Hinterseite ohne Majestät geschaut“ und erfahren hatte, wie die italienischen Priester die Messe in frivolster Weise abhielten, von dem bon Christian, dem „guten Christen“ wie von einem dummen Esel redeten und die „deutschen Bestien“ höchlichst verachteten. Nach seiner Rückkehr von Rom wurde er alsbald wieder nach Wittenberg berufen, wo er nun sein Lebenlang geblieben und schon im November 1512 fast wider seinen Willen Doctor der Theologie geworden ist. Wie er dieses Amt aufgefaßt hat, ist in den folgenden, aus dem Jahre 1531 stammenden Worten sehr charakteristisch ausgesprochen:

„Zu einem guten Werke gehört ein gewisser göttlicher Beruf und nicht eigene Anschläge. Ich, Doctor Martin, bin damals dazu berufen und gezwungen worden, daß ich mußte Doctor werden, ohne meinen Dank aus lauter Gehorsam. Da hab’ ich das Doctoramt müssen annehmen und meiner allerliebsten heiligen Schrift [715] schwören und geloben, sie treulich und lauter zu predigen und zu lehren. Ueber solchem Lehren ist mir das Papstthum in den Weg gefallen, und hat mir’s wollen wehren. Aber ich will in Gottes Namen ,auf Leuen und Ottern treten’ (Ps. 91, 13) und das soll bei meinem Leben anfangen und nach meinem Tode vollends ausgerichtet sein. Johannes Huß hat von mir geweissagt, da er aus dem Gefängniß in Böhmerland schrieb: ,Sie werden jetzt eine Gans braten – denn Huß heißt: eine Gans – aber über hundert Jahren werden sie einen Schwan singen hören, den sollen sie leiden.’“

Wie zum Doctorat, so hat ihn von Staupitz auch zum Predigen gedrängt, zuerst in der Klosterkirche, bald aber, weil diese zu klein und baufällig war, in der Stadt- und in der Schloßkirche.

Luther blieb stets bei seinem Bibeltext und klagte, daß so viele Prediger anstatt dessen gleich „in’s Schlaraffenland“ fahren: „Einer predigte von Weltweisen, einer von Heiligen; der von blauen Enten und jener von Hühnermilch; wer kann’s aufzählen, das Ungeziefer!“

Im Jahre 1513 war Luther auch zum „Districtsvicar“, das heißt zum Visitator aller Augustinerklöster in Meißen und Thüringen erwählt und war somit im Jahr 1517 wenigstens in Kursachsen eine sehr hochangesehene Persönlichkeit.

Da kam nun im Spätjahr 1517 der Ablaßstreit, den wir in Nr. 43 der „Gartenlaube“ ausführlich geschildert haben, und sofort begann sich aus ganz Deutschland die bisher im Stillen grollende Reformpartei in frischem thatenlustigem Regen um Luther als wie um einen plötzlich erschienenen Führer zu schaaren; Luther selbst aber hat später die Art und Weise, wie er in diese Sache hineingeführt wurde, in folgenden bezeichnenden Worten geschildert:

„Ich war allein und aus Unvorsichtigkeit in diesen Handel gerathen, und weil ich nicht zurückweichen konnte, räumte ich dem Papst in vielen und hohen Artikeln nicht allein viel ein, sondern betete ihn auch mit rechtem Ernst williglich an. Denn wer war ich elender, verachteter Bruder, der dazumal mehr einer Leiche als einem Menschen ähnlich sah, daß ich mich sollte wider des Papstes Majestät setzen, vor welchem sich nicht allein die Könige auf Erden und der ganze Erdboden, sondern – daß ich so sage – auch Himmel und Hölle entsetzten, und nach dessen Winken sich Alle richten mußten. Was und auf welche Weise mein Herz jenes erste und zweite Jahr erlitten und ausgestanden hat, in welcherlei Demuth, die nicht falscher und erdichteter, sondern echter Art war, wollte schier sagen Verzweiflung, ich da schwebte: ach davon wissen die sichern Geister wenig, die nachher des Papstes Majestät mit großem Stolz und Vermessenheit angegriffen haben! Ich aber, der ich allein in der Gefahr steckte, war nicht so fröhlich, getrost und der Sache gewiß, denn ich wußte Vieles nicht, was ich Gott lob jetzt weiß. Ich disputirte nur und war begierig mich belehren zu lassen. Und weil mich die todten und stummen Meister, das ist der Theologen und Juristen Bücher nicht genugsam berichten konnten, begehrte ich bei den Lebendigen Rath zu suchen und die Kirche Gottes selbst zu hören.“

Am 7. August 1518 erhielt Luther in Folge des bekannten Anschlagens seiner 95 Thesen an der Schloßkirche zu Wittenberg am 31. October 1517 (vergl. Nr. 43 d. J.) eine Vorladung nach Rom, da aber Jedermann erkennen konnte, daß man dort am Ablaß nicht werde rütteln lassen, versagte der weise Kurfürst seinem Professor den zur Reise nöthigen Urlaub. Darauf erhielt umgehend der in Augsburg anwesende päpstliche Legat, Cardinal Cajetan, von Rom aus den Auftrag, Luther zu verhören, zum Wideruf aufzufordern und im Falle der Verweigerung desselben seine Auslieferung nach Rom, im Nothfall unter Androhung des Bannes, ja des Interdictes über Kursachsen, zu erzwingen.

Im Oktober trat Luther in Augsburg vor Cajetan; er trat zuerst zaghaft und voller Scheu und Ehrfurcht vor diesen Großen der Kirche, fand aber bald den festen Muth des Bekenners wieder.

Dem frivolen Italiener Urban von Serralonga, der ihm sagte: „Was ist’s denn um die sechs Buchstaben r e v o c o (ich widerrufe)?“ hatte er auf die Frage: „Glaubst Du, daß der Kurfürst um Deinetwillen sein Land wird verlieren wollen?“ geantwortet: „Das will ich selbst nicht.“ Auf die fernere Frage: „Wo willst Du dann aber bleiben?“ gab er die stolze Antwort: „Unter dem Himmel!“ –

Cajetan brach nach zwei Tagen alle weiteren Verhandlungen mit den harten Worten ab:

„Geh! Widerrufe, oder komm mir nie wieder vor die Augen.“

Als ihn dann Staupitz bat, noch einmal mit Luther zu reden, gab Cajetan die bereits in unserm Ablaß-Artikel erwähnte Antwort: „Ich verhandle nicht weiter mit dieser Bestie, die so tiefe Augen und wunderbare Speculationen im Kopfe hat.“

Darauf entfloh Luther, Böses ahnend, plötzlich nach Wittenberg, worauf Cajetan vom Kurfürsten dessen Auslieferung nach Rom, mindestens dessen Landesverweisung forderte. Luther remonstrirte in einer Gegenschrift beim Kurfürsten und bat denselben, er möge ihn nicht nach Rom schicken, wo ja „selbst der Papst seines Lebens nicht sicher“ sei.

„Sie haben Papier und Federn und Tinte in Rom und unzählige Notarien; es wird leicht sein, zu Papier zu bringen, worin und warum ich geirrt habe. Ich kann mit geringeren Unkosten abwesend durch Briefe belehrt, als anwesend durch Nachstellungen umgebracht werden.“

So lehrte und predigte nun Luther in Wittenberg ohne Anfechtung die neue Lehre in Gemeinschaft mit dem vor Kurzem dahin berufenen einundzwanzigjährigen Melanchthon, dem Professor Amsdorf und dem Privatdocenten Bugenhagen, der dann 1523 Stadtpfarrer geworden ist.

„Es sind mehr als anderthalbtausend Studenten hier,“ schrieb damals ein Zeitgenosse, „welche beinahe alle beständig, wo sie gehen und stehen, ihre Bibel mit sich führen. Alle gehen bewaffnet, aber es herrscht unter ihnen, als unter Brüdern, die in Christo vereinigt sind, große Eintracht.“

Aber Rom ruhte nicht. Im Januar 1519 wurde Luther von dem päpstlichen Kämmerer Miltitz nach Altenburg berufen. Was der stolze Cardinal mit Härte nicht erreicht, das sollte nun der feine sächsische, mit den deutschen Verhältnissen besser vertraute Edelmann durch höfische Liebenswürdigkeit erlangen.

„Ich dachte,“ sagte Miltitz lächelnd, „Du wärst ein alter, verlebter Theologus, der hinterm Ofen säße und so mit sich selbst disputirte.“ Aber jetzt getraue er sich nicht, ihn selbst mit einem Heer von 2500 Mann aus Deutschland nach Rom zu holen! Ihm versprach denn Luther auch wirklich, er wolle vom Ablaß fernerhin ganz schweigen, der römischen Kirche treu gehorchen und an den Papst ein demüthiges Schreiben richten!

Das Letztere hat er gethan. Aber wenn er in diesem Briefe bekennen mußte, seine Schriften seien „weiter verbreitet, als er es je gedacht, und hätten in den Gemüthern tiefere Wurzeln geschlagen, als daß sie könnten widerrufen werden“, er also nur Schweigen geloben könne: so war es natürlich, daß sich die übrige Welt hierdurch nicht ebenfalls zum Schweigen verurtheilt sah. Siegesbewußt trat jetzt von der römischen Seite her der hochgelehrte Ingolstädter Theologe Dr. Eck auf und veranlaßte die Disputation zu Leipzig, und zwar gegen den Willen der Leipziger Facultät, die sogar durch den Herzog Georg dazu gezwungen werden mußte, indem er ihr schrieb: „Es liege ihm daran, daß die armen Laien erführen, woran sie hinsichtlich des Ablasses wären. Seinen Theologen aber, die er schon öfter als müßige und unzeitige Leute habe rühmen hören, werde das ein Exercitium sein, damit sie das mit an den Tag brächten, darüber sie so viele gute prandia verzehrt hätten; sonst sei ihm ein einjähriges Kind lieber, das doch mit Brei und geringer Kost mit der Zeit zu Etwas gebracht werde, oder ein altes Weib, das doch noch um Lohn singen oder springen könne.“

Das half! Im Juni und Juli 1519 fand die Disputation unter Anwesenheit des Herzogs Georg in der Pleißenburg statt. Die Wittenberger waren mit 200 Studenten, die „Spieße und Helleparten trugen“, eingezogen, und auch die Bürgerwehr war unter’s Gewehr getreten. Der Bischof von Merseburg freilich hatte noch in letzter Stunde die Disputation verboten und während des Einzugs der Wittenberger das Verbot an den Kirchenthüren anschlagen lassen. Aber der das besorgt hatte, wurde von Rechtswegen eingesteckt. Drei Wochen wurde gestritten, und schließlich behauptete jede Partei, den Sieg davon getragen zu haben.

Die hohe Bedeutung der Leipziger Disputation liegt lediglich darin, daß sie Luther und seine Gesinnungsgenossen nöthigte, über die Consequenzen ihres Standpunktes zu größerer Klarheit zu kommen; und in der That hat auch schon wenig Wochen nachher Luther in seiner „Erklärung zur Leipziger Disputation“ jenes bedeutende und kühne Wort geschrieben, welches als die erste helle und rückhaltlose Proklamation des protestantischen Princips betrachtet werden kann: [716] „Ich glaube ein christlicher Theologe zu sein und im Reiche der Wahrheit zu leben, deshalb will ich frei sein und mich keiner Autorität, sei es des Kaisers oder der Universitäten oder des Papstes, gefangen geben, um zuversichtlich Alles zu verkündigen, was ich als Wahrheit erkenne, sei es von einem Katholiken oder Ketzer behauptet, sei es von einem Concil angenommen oder verworfen.“

Damals hat ein gewisser Mosellanus den Reformator beschrieben: ein Bild, das ziemlich anders aussieht, als das des späteren wohlbeleibten Mannes, der uns auch in dem Wormser Denkmal entgegentritt. „Martinus“ schreibt dieser Zeitgenosse, „ist von mittlerer Statur; sein Leib ist schmächtig, durch Sorgen und Studien abgemagert, sodaß man fast alle Knochen an ihm zählen kann, seine Stimme tönt hell und scharf. Seine Gelehrsamkeit und sein Verständniß der heiligen Schrift ist unvergleichlich, sodaß er fast alles an den Fingern herzählen kann. Im Leben und Umgang ist er höflich und freundlich. In Gesellschaft führt er ein fröhliches und angenehmes Gespräch, ist lebhaft und heiter, immer munter und fröhlichen Gesichts, sieht immer freundlich aus, wie hart ihm auch seine Widersacher drohen, sodaß man wohl gern glaubt, er gehe nicht ohne Gott mit solchen wichtigen Dingen um.“

(Fortsetzung folgt.)




Des deutschen Volkes Ehrentag.

Von Ferdinand Hey’l.

„– Lebendig ist geworden,
Was uns’rer Väter Hoffen war.
Vom Fels bis zu des Meeres Borden
Flog unser mächt’ger Kaiseraar.
In Lieb’ und Treue jubelnd weihen
Wir Deutschland ewig Herz und Hand. –
Heil uns’rem Kaiser! Heil dem freien
Und ein’gen deutschen Vaterland!“
E. Rittershaus.

So sind sie denn vorüber, die herrlichen Festesstunden der letzten Septembertage, so ist denn die Weihe geschehen in würdigster Form, durch keinen Mißton gestört, durch keinen Unfall getrübt! Das waren Stunden, wie sie jedem Volk zu wünschen sind – hehr und geheiligt durch eine Stimmung der Andacht und Weihe, wie sie unter dem blauen Dom des Himmels nicht häufig erscheint!

Wenn auch die „Gartenlaube“ darauf verzichten muß, nachträgliche Schilderungen der Feier ihren Lesern zu bieten, wie solche in den Blättern des Tages längst vorgelegen, so gelingt es uns doch vielleicht, noch mancher Einzelheiten gedenken zu können, die der Aufbewahrung für spätere Zeiten würdig sind. Hat die „Gartenlaube“ mit zuerst den Gedanken der Errichtung unseres nationalen Denkmals auf dem Niederwald vertreten, so ist sie auch zu einem Schlußworte berechtigt, ja verpflichtet.

Ohne Ueberhebung dürfen wir sagen, daß edler wohl selten ein Volk das Fest einer Verbrüderung gefeiert, wie an jenem Tage das unsere. Welche Einstimmigkeit trat in diesen Menschenmassen hervor – in diesem Menschengewühl, das mindestens aus hunderttausend Theilnehmer zu berechnen war! Ja, wir sind ein Volk, und einig können wir handeln! Trotz Wein und Festesjubel, ohne Ueberwachung der heiligen Hermandad, würdig von Anfang bis zu Ende verlief der Tag. Nichts erinnerte an jene kriegerischen Zeiten, in denen wir uns zu der jetzigen Bedeutung als Volk hindurchrangen – Alles war vermieden, was auch nur irgendwie Feindseligkeit oder Uebermuth gegenüber dem Nachbarlande kund thun konnte – die deutsche Nation hat ein Beispiel gegeben, wie ein Volk sich selbst ehrt.– –

Schwer lagerten die Wolken drüben über der Grenze nach Frankreich hin, die Vogesenkette nur hier und da durch abwechselnde Aufhellung erleuchtend. Ein frischer, rheinischer Luftzug setzte die Helmbüsche der zahlreichen Generalität in flatternde Bewegung, daß sie erschienen wie friedliche Festesfahnen, die Banner der Krieger- und Sängervereine wehten ihre Grüße über die Festversammlung hin und hinunter in’s Land, als setzte sie eine unsichtbare Hand in diese grüßende Bewegung, und einzelne Sonnenstrahlen leuchteten hier und da über die hehre Gestalt der Germania, als geschähe dies Alles auf höhere Anordnung. Und als nun unser ehrwürdiger Kaiser seinem Wagen entstieg, als die alten Standarten mit den Resten ihrer zerschossenen und verwitterten Flaggentücher den Ehrengruß boten, sich vor dem Monarchen senkend, da ging es – nachdem der brausende Jubel des Willkomms sich endlich gelegt – wie ein geheimnißvolles Rauschen über den grünbelaubten Berg dahin, da erfaßte Rührung Alle, die da harrten des bedeutungsvollen Augenblicks der gemeinsamen Denkmal-Weihe. Vom Strom und vom anderen Ufer herüber tönte das fernschallende Hurrah mächtig wirkend in den Jubel der droben versammelten Festgenossen. Es war ein Gefühl, ein Band, welches das deutsche Volk in diesem unvergeßlichen Augenblicke umschlang. Wohl dem, der diese Stunde mit erlebt! Sie verkündete: Wir sind jetzt ein Volk, wir sind eines Stammes, eines Sinnes.

Wer konnte ungerührt bleiben, als die Vertreterinnen der rheinischen Städte (Marie Hey’l aus Wiesbaden, Helene Rittershaus aus Barmen, Anna und Clara Schilling aus Dresden, Emma vom Bruck aus Crefeld, Elise Götz-Rigaud aus Frankfurt und Louise von Ritter aus Rüdesheim) an den Monarchen herantraten, als die Sprecherin derselben (Marie Hey’l) das warmgefühlte treffliche Poem von Emil Rittershaus in innigster Erregung sprach, als der Heldenkaiser näher herantrat und unverwandten Blickes, selbst in offenbarer Gemüthsbewegung, der Rede lauschte:

„Segen, Heil dem Zollernsohne! – Sei gegrüßt im Land der Reben,
Du, der Deutschlands Kaiserkrone hat dem Reich zurück gegeben!
Dir, der Volkesglück zu schaffen, nimmer, nimmer müd’ geworden,
Friedensfürst und Held in Waffen, Gruß Dir an des Rheines Borden!
In des Rheines Rauschen hören wir das Herz von Deutschland schlagen.
Jauchzend schlägt es Dir entgegen, der durch Gottes gnädig Walten
Uns geführt auf Siegeswegen, der den Rhein uns deutsch erhalten!
Dank Dir, Herr, daß Du erschienen! Dankend blicken wir nach oben –
Treu dem Vaterland zu dienen, ist’s, was jubelnd wir geloben; –
Gott mit Dir! Er sprech’ ein Amen zu den Wünschen, die wir hegen!
In des deutschen Volkes Namen: Unserm, Kaiser Heil und Segen!“

Die Sonne brach einen Augenblick durch das bereits gelichtete Gewölk, so klar, daß sich selbst für die Theilnehmer auf den Schiffen drunten durch das offene Kaiserzelt hindurch ein Bild von mächtiger Wirkung bot. Wann drückte der Heldenkaiser der Sprecherin die Hand und sagte in innig bewegtem Tone:

„Wohl haben Sie Recht gehabt mit Ihren trefflichen Worten – durch Gottes gnädiges Walten ward uns der heutige Tag beschieden, und mit Dank blicke auch ich nach oben, zu Dem, der uns bis dahin geführt!“

Und nicht wohl anders als wahrhaft erschütternd mußte auf alle Theilnehmer nach dieser Rede der feierliche Choral: „Nun danket alle Gott“ wirken, der, von den Edelsten und den erlesenen Abgesandten des Volkes, von der ganzen Versammlung angestimmt, über den Berg weit, weit dahin tönte. Wer den greisen Kaiser beobachten konnte, wie er den Blick zu der im Sonnenlicht hier und da erglänzenden Germania hinaufwarf, während der Festrede des Grafen zu Eulenburg, der mußte unwillkürlich mit fühlen, was die Seele des Heldenfürsten in diesem Augenblick bewegte. Und wenn auch ein Ungefähr den Kanonendonner zu früh ertönen ließ, sodaß dieser sich in die Worte des Herrschers mischte, nicht leicht kann eine Rede einen mächtigeren Nachdruck empfangen, als es hier geschah, da der Kaiser, auf die Vorsehung hinweisend, sagte:

„Millionen Herzen haben ihre Gebete zu Gott erhoben, ihm für seine Gnade ihren demüthigen Dank dargebracht und ihn gepriesen, daß er uns für würdig befand seinen Willen zu vollziehen.“

Und als er endete:

„In diesem Sinne weihe ich dieses Denkmal: den Gefallenen zum Gedächtniß, den Lebenden zur Anerkennung, den kommenden Geschlechtern zur Nacheiferung,“ da bekräftigte der Donner der Geschütze die königlichen Worte, da gab der Widerhall der mächtigen Salven dem Gesagten ein bedeutsames Geleit. Hoch aufrechtstehend mit dem Blick nach dem Denkmal, das Haupt entblößend, schloß Kaiser Wilhelm mit den feierlichen Worten: „das walte Gott!“

[717] Als nun der Kronprinz dem bewegten Herrn und Vater die Hand küssen wollte, als der Kaiser den stattlichen Thronfolger an seine Brust zog und ihn küßte - wo ist eine Feder, welche diese Scene würdig und entsprechend schildern wollte?

Und neben dieser Gruppe stand Johannes Schilling, der bescheidene Künstler, dem die Thränen unaufhaltsam in den vollen Bart rannen, der beglückte Meister, der seiner Erregung kaum Herr werden konnte. Brausend erklang die Nationalhymne in das Thal, jubelnd ertönte der Weihegesang: „Lieb’ Vaterland magst ruhig sein“ vom Eichwalde herab, von tausend Kehlen angestimmt, mächtiger wirkend als je zuvor. Da trat der Kaiser an Moltke heran und reichte dem treuen Kampfgenossen die Rechte, ihn mit seinen gewinnenden Augen fest anblickend – in diesem kaiserlichen Gruße den Dank aussprechend allen Jenen, die da mitgeholfen, seien sie noch unter den Lebenden, seien sie dahingerafft im Kampfe um das heiß errungene Ziel. Das waren keine äußerlichen Formen mehr, das waren wahrhafte Ergüsse väterlicher Liebe und unverbrüchlicher Volkestreue. Das hehre Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Stolz auf die jetzige Größe unseres Vaterlandes und unserer Nation, wie gerechtfertigt waren sie heute, waren sie an dieser Stelle - es war ein Fest von unsäglichem Zauber, wie wir in Deutschland noch keines erlebt. –

Und wie die Fahrt zum Berge hinauf, so war auch jene hinunter zur Festesstadt Rüdesheim ein Triumphzug der Liebe und Verehrung für Kaiser und Reich. Da jubelten deutsche Herzen den Führern der Nation entgegen, da verstummte politischer Hader, da fühlten Alle, wie König Albert von Sachsen später in Wiesbaden bedeutungsvoll sagte, „die Erinnerung an eine ernste, aber schöne Zeit“ und gedachten, wie er, „in dankbarer Freude, daß unser Vaterland während zwölf Jahren des äußeren Friedens seine Siege genießen konnte!“

Die kleine Festesstadt Rüdesheim darf stolz sein auf die Veranstaltungen, die sie zum Weihetag getroffen. Natürlich fehlten auch Triumphbogen und Festestrunk nicht, namentlich aber lenkte ein riesiges Faß, für die weingesegnete Stadt charakteristisch genug, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Dasselbe bildete eine kolossale Ehrenpforte und war von dem Architekten Franz Schädel aus Frankfurt am Main ausgeführt worden. Es ist 9,50 Meter lang und 4,80 Meter hoch, ohne den Kuppelbau auf der Mitte des Fasses, der sich auf einem 1,35 Meter hohen Untersatze erhebt und in einem Riesenrömer gipfelt. Beiläufig gesagt, würde das Faß gefüllt 473,000 Flaschen oder gegen 136 Stück Wein fassen, ist also etwa um 70 Stück größer als das berühmte Heidelberger Faß. Als der kaiserliche Zug sich dem mächtigen Faß näherte und die kolossalen Pforten desselben sich erschlossen, um das Gefährt des Kaisers hindurch zu lassen, da nähert sich, bis dahin im Innern des Fasses harrend, der alte Meuer dem Kaiser. Meuer ist Küfer seines Zeichens und Weinbauer, eine originelle Persönlichkeit, wie sie eben dem Rheine nur eigen. Er bietet den Pokal dar, und der Kaiser, ihn wieder erkennend, nimmt dankend auch diesmal den Edeltrank von ihm entgegen. War es doch Meuer, der auch bei der Grundsteinlegung des Denkmals 1877 denselben Ehrenposten inne hatte.

Der Kaiser im Faß zu Rüdesheim.
Originalzeichnung von Ferdinand Lindner.

Als damals Kaiser und Kronprinz den ersten Wilkommbecher geleert, bot der biedere Rheingauer den schnell wiedergefüllten Becher zum zweiten Male dar. Der Kaisen lehnte dankend die edle, aber feurige Gabe ab, da aber blickt Meuer treuherzig hinauf zum Kaiser Wilhelm und dann zum Kronprinzen und sagt:

„Majestät, dann lassen Sie ihn noch emol!“

Der Kaiser lächelt und leutselig thut der Kronprinz ein zweites Mal Bescheid.

Heute reicht der Kaiser den Becher dankend zurück, mit einigen Worten der Genugthuung Ausdruck gebend, den biederen Alten wieder am selben Posten zu finden.

„Ja,“ sagt Meuer, „damals war’s scheen, Majestät, heit ist’s aber noch scheener! Heit is was passirt, was noch nit da war, seit die Weltgeschicht’ existirt!“

Auf die fragende Miene des Kaisers setzt Meuer schnell hinzu:

„Nu, Majestät, das war doch noch nit da, daß mer mit vier Pferd’ in ä Faß ’neinfährt unn drinn ä Glas Wein trinkt!“

Herzlich lachten Kaiser und Kronprinz über den treuherzigen „Rhingaer“, der glücklich vor sich hinschmunzelte.

Aber schon naht sich der kaiserliche Zug der Rheinhalle unten am Rheinufer. Jungfrauen von Bingen und Mainz bringen auch hier in poetischer Form den Willkomm dar. Und draußen im Strome salutirt die buntbewimpelte Flotte, da harren die prächtigen Dampfer des Rheins, da jubeln die schmucken Matrosen droben in den Raaen, da ertönt ein tausendfaches Hurrah von Bord zu Bord, da donnern die Geschütze vom andern Ufer und von den Höhen herab über den Strom, und die volle Sonne scheint hernieder auf Berg und Thal, auf Flur und Au, als sei ein Sommertag erschienen, um lichte Strahlen zu gießen auf die fröhliche, glückliche Menge.

Und in dem reichen Kranze der Fürsten, der Heerführer und Staatsmänner die festlich geschmückten rheinischen Mädchen, Jugend und Alter in bunter Gruppe.

Dann zogen sie vorüber, die dreißig Dampfer in ihrem Festesschmucke, die Insassen derselben die nationale Hymne anstimmend, und wenn ein Musikcorps endete, setzte das nächste ein – es war der Freude und des Jubels kein Ende. Wo aber Graf Moltke erschien, da stimmte von Neuem der tausendstimmige Chor sein Hurrah an, waren doch der Kampfgenossen so viele aus allen Gauen hier zusammengeströmt, auch ihn noch einmal zu sehen, der einst die Getreuen zum Siege geführt. Wenn selbst die allerdings nur wenig zahlreich erschienene französische Presse durch einen ihrer Vertreter uns das Lob spendet, „daß dies Fest [718] eine hohe, einmüthige Empfindung gewesen sei, die ein Volk erstarken macht“, so bedarf es kaum anderer Zeugnisse für die Weihe des Tages mehr.

Im Schmucke der Stadt Rüdesheim glänzte auch der von König Ludwig I. von Baiern dem Dichter des bekannten „Sie sollen ihn nicht haben“ – Niklas Becker – verehrte Pokal. Derselbe, fast einen Fuß hoch, zeigt ein Medaillon mit der allegorischen Darstellung des Vaters Rhein und trägt die Inschrift: „Der Pfalzgraf bei Rhein dem Dichter des Liedes: Der deutsche Rhein.“ Auch mit diesem Ehrenbecher ward dem Kaiser ein Ehrentrunk geboten.

Um die dritte Stunde des Nachmittags entführte unter dem Gesange der Nationalhymne und dem Hoch der tausendköpfigen Menge das Dampfroß den Kaiser nach Wiesbaden. Auch hier war der Empfang ein glänzender, auch hier sprach Kaiser Wilhelm seine Freude aus über das gelungene Fest. Und als bei der im königlichen Schlosse veranstalteten Galatafel König Albert von Sachsen den Führer der Nation, der Deutschland geeinigt, in warmen Worten feierte, da stand Kaiser Wilhelm auf und brachte den kaiserlichen Dank dar allen Fürsten und dem deutschen Volke, das in schwerer Stunde sich eins gefühlt in dem Gedanken an Heimath und Reich. Es war ein ernster feierlicher Augenblick! Wohl hatte der ehemalige Präsident des Reichstags, Simson, Recht, als er sagte: „bisher sei wohl die Krönungsfeier zu Königsberg das glänzendste Fest gewesen, das er gesehen, das Niederwaldfest aber habe jenes weit übertroffen, es sei weder ausschließlich Hoffest noch Volksfest – es sei eine schöne Verbrüderung beider gewesen.“

In Rüdesheim aber entwickelte sich unterdessen die ausgelassenste Festfreude. Da klangen deutsche und holländische, englische und französische Laute und alle deutschen Dialecte an’s Ohr, da verkehrten unter den Mitgliedern der Kriegervereine und den Sängern Amerikaner, Belgier und selbst italienische Minstrels in ihrer heimathlichen Tracht, da schlagen kräftige und zarte Hände die Guitarre und die Tambourins, da entwickelte sich ein heiteres Bild echt rheinischen Lebens. Und mitten in dem Gewirr der förmlich umlagerten Eßwaarenhändler, der Medaillen- und Festzeitungcolporteure tauschte Freund zu Freund den Bruderhandschlag, jubelte der Norden mit dem Süden, West und Ost Alldeutschlands in gleicher Gesinnung. Allein 65,000 Menschen beförderten die Eisenbahnen in Rüdesheim und Bingen an diesem Tage in sechsundsechszig Bahnzügen, der Verkehr auf dem Strome aber war nach ungleich bedeutender. Und nicht eine Störung, nicht ein Mißton!

Während die Stadt Wiesbaden durch eine bis dahin kaum jemals gesehene prächtige Illumination, durch eine sinnige Huldigungsfeier im Theater, durch Feuerwerk und Festball den Tag abschloß, wie er verlaufsen – groß und herrlich – fanden sich in Rüdesheim deutsche Männer zum Festmahle zusammen, in ihren Trinksprüchen Aller jener gedenkend, die an dem großen Tage Theil hatten. Da liefen Telegramme ein von den Deutschen in Oesterreich und Rußland, und während am selben Tage in Paris (dem Gedächtnißtage der Capitulation von Straßburg) die Statue jener Stadt auf dem Concordienplatze bekränzt wurde, sandten die germanischen Stammesgenossen von Odessa einen Lorbeerkranz mit den deutschen Farben und den poetischen Gruß nach Rüdesheim:

„Zu des Niederwaldes Eichen,
Zu Germania’s hehrem Stand
Senden wir dies Dankeszeichen
Von des Schwarzen Meeres Strand.“

Aber mit dem Tage schloß nicht das Fest. Täglich erschienen Vereine zum Besuche des Niederwaldes mit flatternden Fahnen und schallender Musik. Drüben in Bingen knatterten die Büchsen vom Schießplatz der deutschen Schützen herüber, droben am Rochusberge wetteiferten die Turner im Kampf um den Preis für deutsche Manneskraft, und drunten in Rüdesheim erklang der Gesang der preiswerbenden deutschen Männergesangvereine. Wie manche kräftige Rede legte den Hunderten der zum Berge wallfahrenden Schulen und Corporationen die Liebe zum Vaterlande nahe!

Rührend war der Moment, da über 2000 Kinder der Schulen des Rheingaues der trefflichen Rede des Schulinspectors Pfarrer Horz von Winkel lauschten und da ihr kindliches Gemüth in dem Gesang patriotischer Lieder Zeugniß gab auch von ihrer Theilnahme an dem herrlichen Feste und seiner nationalen Bedeutung.

Warm und gefühlt sprach Theodor Dilthey von Rüdesheim anderen Tages zu den versammelten Gesangvereinen vom Fuße der großen Freitreppe des Denkmals. Was störte da ein vorübergehender Regenschauer! Brach doch die Sonne immer wieder hindurch, die hehre Germania umstrahlend.

Und als der prächtige Festzug der Ruderer, Schützen- und Gesangvereine in Bingen, dem der Großherzog von Hessen beiwohnte, darüber war, da zog es uns hinauf zum Rochusberge, und in den Zimmern, die Berthold Auerbach einst bewohnt, in denen er sein „Landhaus am Rhein“ geschrieben, angesichts der Germania, warfen wir diese Zeilen auf’s Papier in dem aufrichtigen Gefühle: daß das deutsche Volk in Wahrheit hier am grünen Rheinstrom seinen herrlichsten Ehrentag gefeiert.

„Wie euch verbrüdert hat des Kriegs Geschick,
So bleib’ es jetzt auch in des Friedens Tagen;
Der Andern Lasten helfe Jeder tragen
Und theile gern mit ihnen auch sein Glück!
Es schöpfe jeder Stamm den frischen Saft,
Der stark ihn macht, aus freiem Einzelleben,
Bereit, doch immer seine volle Kraft
Dem Wohl des Ganzen freudig hinzugeben.“




Die Frauentage und die Frauenbewegung.

Während sich auf dem Niederwald die festlichen Vorbereitungen zur Einweihung des Nationaldenkmals vollzogen, hatte sich in dem nahen Düsseldorf eine Schaar Frauen aus allen Gauen Deutschlands zusammen gefunden, um vom 25. bis 27. September den dreizehnten Frauentag des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“ abzuhalten. Der Verlauf desselben erfüllte alle Betheiligten mit hoher Befriedigung und hat, nach den vielseitigen Kundgebungen aus der anmuthigen Künstlerstadt zu schließen, wiederum den beabsichtigten Zweck erreicht, die erwünschte Propaganda für die sittlich ernsten Bestrebungen dieser weiblichen Pioniere in weitere Kreise getragen.

Diese Thatsache muß mit aufrichtiger Freude begrüßt werden, denn wiewohl die Frauenbewegung in Deutschland seit zwei Jahrzehnten die bedeutendsten Fortschritte gemacht und Tüchtiges geleistet hat, um der heranwachsenden weiblichen Jugend eine den Zeitforderungen entsprechende praktische und geistige Ausbildung zu ermöglichen und neue Berufswege zu eröffnen, so ist trotzdem das Verständniß für diese Bestrebungen noch kein allgemeines. In Folge dessen wird auch die Ankündigung der Frauentage an vielen Orten mit gewisser Beunruhigung aufgenommen. Was wollen diese fremden Frauen von den unsrigen? Wie werden sie auf dieselben wirken? Das sind Fragen, die man fast überall vernimmt.

Sind diese Befürchtungen auch berechtigt?

Sehen wir uns nun die deutschen Frauen, die seit Jahren an diesen Tagen sich betheiligen und die hervorragendsten Verdienste um die Lösung der Frauenfrage in Deutschland sich erworben haben, genauer an, lauschen wir ein Weilchen ihren Vorträgen und fragen wir nach ihrem früheren Leben und Wirken! Da wird uns nun ein interessantes und erhebendes Stück der Zeitgeschichte entgegentreten, ein Bild jener Thätigkeit sich vor unsern Augen entrollen, die in aller Stille rastlos an der sittlichen Hebung und Vervollkommnung unseres Volkes arbeitet. Wer da dachte, er würde hier einer wüsten Emancipation begegnen, der wird beschämt den Hut abnehmen müssen und den Kämpferinnen für die Rechte der Frauen auf deutschem Boden gern den wohlverdienten Lorbeer gönnen.

Treten wir also ein in den Versammlungssaal des letzten Düsseldorfer Frauentages!

An der Spitze des grünen Tisches sitzt Frau Dr. Louise Otto-Peters, die Begründerin des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“ und Vorsitzende desselben seit der ersten Versammlung [719] deutscher Frauen, welche sie 1865 nach Leipzig berief, wo kurz vorher der erste „Frauenbildungsverein“ in’s Leben getreten war.

Eine wunderbare Ruhe und Festigkeit blickt aus den Zügen dieser Frau, welche durch ihr ganzes Leben bewiesen hat, daß sie unter allen Verhältnissen Charakterstärke, Gesinnungstreue und Rechtsliebe bewahrte. Louise Otto wurde 1819 zu Meißen geboren. Eine glühende Freiheitsliebe und echten deutschen Sinn bekundete sie seit ihrer Jugend, und ihr warmes Herz für die nothleidenden Schwestern zeigte sich im Jahre 1848, wo sie, als in Sachsen eine Commission zur Organisation der Arbeit zusammentrat, eine Adresse an die Volksvertretung und den betreffenden Minister richtete, in welcher sie auch um Berücksichtigung der Arbeiterinnen bat.

Im Jahre 1849 redigirte sie die erste Frauenzeitung in Sachsen. Ein Jahr früher hatte sie August Peters (als Dichter Elfried v. Taura) kennnen gelernt. Näher trat sie ihm, als er, ein Kämpfer für die Reichsverfassung, zu Rastatt zum Tode verurtheilt war. Nachdem das Urtheil aufgehoben und er in’s Zellengefängniß zu Bruchsal gekommen war, verlobte sich Louise Otto dort mit ihm, in Gegenwart des Aufsehers, durch ein Gitter von dem Geliebten getrennt. Sie blieb der Engel seines Gefängnisses, bis er 1857 die Freiheit erhielt. Ihre Romane und Dichtungen sind bekannt. 1858 erfolgte ihre Vermählung mit A. Peters, mit dem sie die „Mitteldeutsche Volkszeitung“ herausgab, doch löste der Tod das glückliche Ehebündniß schon im Jahre 1864.

Seit 1865 trat Louise Otto-Peters energisch und begeistert füre das Recht der Frau ein. Seit achtzehn Jahren redigirt sie im Verein mit Fräulein Auguste Schmidt, der Mitbegründerin des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“, dessen Organ „Neue Bahnen“ (Verlag von Moritz Schäfer in Leipzig). Als stetige Vorsitzende leitete sie alle Frauentage und Versammlungen mit Gleichmuth und Umsicht.

Wie ein Orchester der verschiedensten Instrumente, welche jedoch harmmonisch im Concert zusammenstimmen, so verschieden sind die Persönlichkeiten der Frauen, welche mit Louise Otto den Vorstand des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“ bilden.

Keinen größeren Gegensatz vermag man sich vorzustellen, als den von Louise Otto mit der kleinen gedrungenen Gestalt und Auguste Schmidt. Diese, eine imposante Figur, mit einem Kopf, dessen ausdrucksvolle, lebhafte Züge und geistsprühende dunkle Augen von ehemaliger außergewöhnlicher Schönheit sprechen, hat eine vollklingende Stimme, deren warmer Brustton Jeden sympathisch berührt. Sie besitzt eine seltene Rednergabe im freien Vortrag, weshalb ihr bei den meisten Frauentagen die Aufgabe zufiel, in der ersten öffentlichen Versammlung durch eine Ansprache gleichsam das Programm der Bestrebungen darzulegen.

Auch in Düsseldorf hielt sie am selben Abend vor einem zahlreich erschienenen Publicum die Begrüßungsrede, aus welcher tief innerliche Ueberzeugung und Begeisterung sprach und geistreiche Diction wie schwungvolle Ausdrucksweise die Zuhörer fesselte. Sie ging von dem Widerstreit zwischen Bildung und Cultur, zwischen Ideal und Wirklichkeit aus und bewies, wie nur wahre Geistes- und Gemüthsbildung im Stande sei, den Kampf um das Dasein mit sittlicher Kruft aufzunehmen. Jeglicher Mangel an Gelegenheit für das weibliche Geschlecht zur Ausbildung für das prakische Leben und für einen Fachberuf sei Veranlassung gewesen, daß im Jahre 1865 ein Häuflein muthiger Frauen zusammengetreten, um den nothleidenden Schwestern, den alleinstehenden Frauen neue Bahnen zu eröffnen, auf denen sie einen festen Boden gewinnen in dem Culturkampf der Gegenwart, dem Ringen um’s Dasein.

Man hatte die Frau von jeher gelehrt, daß ihr Platz nur im Hause, ihr Wirken nur in der Ehe und in der Erziehung der Kinder sei, allein die Veränderungen und Umgestaltungen im socialen und wirthschafllichen Leben durch das Maschinenwesen und erleichterten Völkerverkehr haben dem Hause einen total veränderten Charakter gegeben. Durch die Massenproduction wurde eine Menge Haus- und Handarbeit entbehrlich, die früher das ganze Frauenleben ausgefüllt haben. Die zugleich sich immer mehr steigenden Lebensbedürfnisse machten Einschränkungen nothwendig, welche das Heirathen erschwerten; so wuchs die Zahl der unverheiratheten Frauen, die darauf angewiesen waren, sich selbst zu erhalten, wollten sie nicht sittlich untergehen. Auf welche Weise aber sollten die Frauen erwerben, da sie, im engsten Rahmen des Hauses nur zu mechanischer Arbeit angehalten, nie gelernt hatten, diese zu verwerthen? Ja, sie wurden sogar verhindert, für Geld zu arbeiten, weil dies als eine gesellschaftliche Erniedrigung galt.

Diesem Vorurtheil entgegenzuarbeiten, schrieb der „Allgemeine Frauenverein“ das erlösende Wort auf sein Banner: „Die Arbeit ist eine Pflicht und Ehre für die Frau wie für den Mann“ – und „die Frau ist zu jedem Berufe berechtigt, zu dem sie befähigt ist“.

Um seine Ideale zu verwirklichen, wurde Anregung zur Organisation von Frauenbildungsvereinen gegeben, welche Mädchen-Fortbildungsschulen errichteten und jegliche Frauenarbeit förderten. Dies geschah im Anschluß an die Frauentage, welche, außer mehrmals in Leipzig, dem Hauptsitz des Vereins, in Braunschweig, Kassel, Eisenach, Stuttgart, Gotha, Frankfurt am Main, Hannover, Heidelberg und Lübeck stattgefunden hatten.

Zunächst galt es, durch gründlichere und umfassendere Bildung den Frauen jene Befriedigung zu geben, welche aus dem Bewußtsein fließt, daß unser Dasein einen Zweck haben müsse in der großen Völkerfamilie.

Diese ausgezeichnete Rednerin, die Tochter eines höheren Officiers in Breslau, widmete sich dem Beruf der Lehrerin und Schulvorsteherin. Vom Jahre 1862 an wirkte sie in Leipzig an der Schule des Fräulein von Steyber sieben Jahre und übernahm die Direction derselben nach deren Tode im Jahre 1869. Thakräftig begann sie diese Unterrichtsanstalt nach den jetzigen Bildungsansprüchen zu reformiren und an sie ein Seminar für Lehrerinnen zu schließen, das sich eines Rufes der Vorzüglichkeit erfreut. Das Zusammenwirken mit berufstreuen verschwisterten Verwandten ermöglichte neben der vielclassigen Schule die Aufrechthaltung eines größeren Pensionats von Mädchen, die hier die Grundlage zu einem befriedigenden Leben empfangen.

Unter den Vorstandsmitgliedern des „Deutschen Frauenvereins“ ist Frau Dr. Henriette Goldschmidt geb. Benas eine der begabtesten, geistreichsten Frauen und Rednerinnen, welche gleichfalls durch ihre Eröffnungsreden manchem Frauentag den Erfolg von vornherein gesichert hat. Die zierliche, kleine Frauengestalt mit dem interessanten, ausdrucksvollen Gesicht und den leicht beweglichen Zügen ist die Trägerin energisch durchgeführter Reformbestrebungen für die weibliche Erziehung. In Krotoschin, in der preußischen Provinz Posen, geboren, verheirathete sie sich mit dem Rabbiner Dr. Goldschmidt, an dessen Seite sie erst fünf Jahre in Warschau lebte und seit fünfundzwanzig Jahren in Leipzig ihren Wohnsitz hat. Auch ihre öffentliche Wirksamkeit begann mit der im „Allgemeinen deutschen Frauenverein“. Unabhängig von demselben war sie in Leipzig Mitbegründerin des „Vereins für Familien- und Vokserziehung“.

Vier Volkskindergärten und eine Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen, aus der bereits dreihundert geprüfte Jugendführerinnen hervorgingen, sind der Obhut der Frau Goldschmidt als Vorsitzende des Vereins anvertraut; ihre Hauptaufgabe ist die, eine höhere Lehranstalt für den erziehlichen Beruf des Weibes zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Gedankens begründete sie im Verein mit hochangesehenen Männern der Wissenschaft das „Lyceum für Damen“ in Leipzig, das einzige in Deutschland, das mit Volkskindergärten in Verbindung steht, welche den jungen Damen Gelegenheit geben, sich für den erziehlichen Beruf vorzubereiten. In diesem Lyceum findet auch die Kunst ihre Lehrstätte; in dem Modellircursus ist schon Hervorragendes geleistet worden.

Die hohe Begabung für die Redekunst verschaffte Frau Dr. Goldschmidt Einladungen nach Kassel, Braunschweig, Bremen, Lübeck, Stettin, Mannheim, Mainz etc., wo sie Vorträge hielt, welche für die Frauenbewegung von großem Nutzen waren und in denen sie unter Anderem für die Kindergartenschule plaidirte, in ihrer Bedeutung für den Fortbildungsunterricht der weiblichen Jugend.

Außer in zahlreichen Brochuren faßte sie ihre Ansichten zusammen in dem Buche: „Ideen über weibliche Erziehung“ (Reißner, Leipzig). Auch auf dem Düsseldorfer Frauentage hielt Frau Dr. Goldschmidt einen Vortrag über die Reform der weiblichen Erziehung, der um so mehr zündete, als man fühlte, daß Alles, was die Rednerin so scharfsinnig wie logisch darlegte, auch von ihr im Leben und Wirken bethätigt worden war.

Fräulein Marie Calm aus Kassel ist den Lesern der „Gartenlaube“ als begabte Schriftstellerin bekannt, sie schrieb unter Anderem auch für junge Mädchen „Blick in’s Leben“", „Weibliches Wirken“, [720] „Echter Adel“, „Daheim“ und „Draußen“, auch Novellen, Romane und Gedichte.

Marie Calm, 1832 als die Tochter des Bürgermeisters in Arolsen geboren, bildete sich ihrer innersten Neigung nach als Lehrerin aus, ging ein Jahr nach Genf, um die französische Sprache gründlich zu erlernen, war sieben Jahre in England und Rußland als Erzieherin und übernahm, als sie heimgekehrt, zwei und ein halbes Jahr die Vorsteherschaft einer Töchterschule zu Lennep.

Begeistert schloß sie sich im Jahre 1865 an den „Allgemeinen deutschen Frauenverein“ an, in dem sie eine agitatorische Wirksamkeit entfaltete. In Kassel begründete sie mit anderen Damen einen Zweigverein, aus dem eine „Fachschule für confirmirte Mädchen“ hervorgegangen ist, welche, Dank ihrer Vortrefflichkeit, sich der Unterstützung der Behörden erfreut. Jetzt der Vereinsthätigkeit als Vorsitzende des „Frauenbildungsvereins“ mit voller Kraft sich widmend, hat sie zu unterrichten aufgehört.

Außer den genannten Damen sind es Fräulein Marianne Menzzer in Dresden, Frau Stadtrath Winter in Leipzig und Frau Lina Morgenstern in Berlin, welche den Vorstand des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“ vervollständigen. Die kleine Gestalt der Ersteren mit dem vom weißen, schlichten Scheitel umrahmten lieben, ehrwürdigen Gesicht, verbirgt einen hohen edlen Sinn, ein warmes Gemüth für die Leidenden und Unterdrückten. In stiller bescheidener Zurückgezogenheit lebend, nahm sie dennoch von Beginn an lebhaften Antheil am „Allgemeinen deutschen Frauenverein“, auf dessen Versammlungen sie die Lohnfrage der Arbeiterinnen auf das Eingehendste erörterte.

Durch ihre auf statistische Beweise begründeten Anklagen der Arbeitgeber, sowie durch ein mühselig zusammengeholtes Material über das Elend der Arbeiterinnen wußte sie mit ihren einfachen, einem edel entrüsteten Gemüthe entsprossenen Worten die lebhafteste Sympathie der Zuhörerinnen zu erwecken, so daß als nächste Aufgabe der Betheiligten beschlossen wurde, über ganz Deutschland Frauenvereinigungen zum Rechtsschutz der Arbeiterinnen zu veranlassen, die sich in jeder Beziehung der hülflosen Arbeiterinnen anznnehmen und sie vor Ausbeutung zu schützen haben.

Der Vortrag des Fräulein Menzzer fiel in die letzte Düssesdorfer öffentliche Versammlung. Unter den Theilnehmenden war es Fräulein Joh. Friedr. Wecker aus Frankfurt am Main, welche gleich mit einer That antwortete, indem sie erklärte, die Initative bereits ergriffen zu haben: noch in diesem Winter werde sie Feierabendsäle für Arbeiterinnen eröffnen und damit versuchen, verbessernd auf das Loos derselben, ihre sittlichen Anschauungen und ihre materielle Lage einzuwirken.

Wenngleich Frau Stadtrath Winter dasjenige Vorstandsmitglied ist, das selten einen Frauentag besucht oder sonst in die Oeffentlichkeit tritt, so hat sie doch einen der wichtigsten Ehrenposten, als Schatzmeisterin des Vereins, den sie seit 10 Jahren mit anerkennenswerther Pflichttreue und Umsicht vertritt.

Hier sei gleich bemerkt, daß ein Jahresbeitrag von 6 Mark jede unbescholtene Frau berechtigt, Mitglied des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“ zu werden, und jeder Zweigverein für je 100 Mitglieder 6 Mark an die Hauptcasse zu zahlen hat, womit die Vereinskosten gedeckt werden. Außerdem besteht eine Stipendiencasse für weibliche Studirende.

Die kleine Frau mit der Brille, an die wir uns jetzt wenden, ist unsern Lesern wohl bekannt, denn gerade in letzter Zeit hat die „Gartenlaube“ gelegentlich der Hygiene-Ausstellung auf ihre Verdienste mehrmals hinweisen können. Es ist Frau Lina Morgenstern, die sich vor den andern Damen namentlich durch ihren praktischen Sinn und ein hervorragendes Organisationstalent auszeichnet.

In Breslau am 25. November 1830 als das dritte Kind des Fabrikanten Albert Bauer und seiner Frau Fanny, geb. Adler, geboren, erhielt sie von ihrer Mutter eine sehr sorgfältige Erziehung und das Beispiel, sich mit selbstloser Hingebung wohlthätigen und gemeinnützigen Werken zu widmen und darin den höchsten Lebenswerth, nächst einem beglückenden, friedlichen und geordneten Familienleben zu erkennen. 1848 begründete sie an ihrem Geburtstage den in ihrer Vaterstadt noch heute bestehenden „Pfennigverein zur Unterstützung armer Schulkinder“.

Nachdem ihre Verheirathung mit Theodor Morgenstern sie im Jahre 1854 nach Berlin geführt, gab sie sich als Lieblingsbeschäftigung in den Mußestunden, welche die Pflege der Kinder freiließ, der Dichtung und Schriftstellerei hin. Ihre „Jugendschriften“ und „Kindererzählungen“ sind meist der eigenen Kindheit und dem Umgang mit den eigenen Kindern entnommen.

Im Jahre 1859 schloß sie sich den Frauen und Männern an, welche den „Verein zu Beförderung der Kindergärten“ in Berlin begründeten, dessen Vorsitzende sie fünf Jahre lang bis 1866 gewesen ist. Die Frucht ihres Fröbel-Studiums war das für Mütter geschriebene Büch „Das Paradies der Kindheit“ und mehrere Kinder- und Jugendschriften. Innerhalb des Vereins begründete sie neben dem bestehenden „Seminar für Kindergärtnerinnen“ das „Kinderpflegerinnen-Institut“. Mit Vorliebe wirkte sie für Verbreitung der Volkskindergärten.

Der Krieg von 1866 gab ihr Veranlassung zur Gründung des „Vereins der Berliner Volksküchen“, den sie, Dank den treuen Mithelfenden, die sie gefunden, mit ausdauernder Energie seit bald achtzehn Jahren leitet und der zugleich Nachbildung in vielen Städten und Fabrikorten gefunden hat.

Die Excesse der sogenannten Engelmacherinnen und die große Kindersterblichkeit bei den Armen gab ihr den Gedanken, im Jahre 1868, im Zusammenwirken mit tüchtigen Frauen und Männern, den „Kinderschutzverein“ in’s Leben zu rufen, den sie als Vorsitzende bis 1871 leitete und der noch heute Hunderte von Kindern rettet, die sonst dem Untergang geweiht worden wären.

Der Eintritt in den „Allgemeinen deutschen Frauenverein“ ließ sie der Erziehungsidee erwachsener Mädchen ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden. Um ihrerseits ein Ideal zu verwirklichen, das ihr dabei vorschwebte, errichtete sie 1869 im April auf eigene Kosten eine „Wissenschaftliche Fortbildungsschule für junge Damen“, der sie bis 1873 vorstand und welche sie alsdann nur aufgab, weil das eigene Haus sie zu sehr beanspruchte. In dieser sehr besuchten Anstalt gab sie selbst, neben einer großen Anzahl männlicher Lehrkräfte, den Unterricht in Kindespflege und Erziehungslehre. Verbunden mit dem Institut war ein Privatkindergarten, in welchem die Fortbildungsschülerinnen hospitirten.

Während des Kriegsjahres 1870 und 1871 übernahm sie die Oberleitung bei der Verpflegung und Erfrischung durchziehender Truppen auf den Ost- und Niederschlesischen Bahnhöfen, unterstützt von den Vorsteherinnen der Berliner Volksküchen und andern Damen.

Die in jedes Hauswesen tief eingreifenden wirthschaftlichen Veränderungen in Folge der Gründerjahre waren Veranlassung, daß die kleine Frau ihre Mitschwestern aufforderte, zur Selbsthülfe zu greifen, um die häuslichen Interessen der Familie zu wahren, und so begründete sie mit Gesinnungsgenossinnen den „Berliner Hausfrauenverein“, der die zersplitterten Frauenkräfte aufforderte, sich zu einer Macht zu vereinigen, um erfolgreich gegen die das Haus gefährdenden Uebelstände anzukämpfen. Seit zehn Jahren besteht dieser Verein, dessen Einfluß auf den Lebensmittelmarkt die hiergegen errichteten Verkaufsstätten vorläufig überflüssig macht, während er nach anderer Richtung hin Veranstaltungen traf, die einen dauernden Segen für Frauenwohl haben, wie die unentgeltliche Stellen- und Arbeitsvermittelung, die Kochschule, die Prämien- und Altersversorgungscasse für Dienstboten u. a. m. Seit zehn Jahren redigirt Frau Morgenstern die „Deutsche Hausfrauenzeitung“, Organ des Vereins und der gesammten Fraueninteressen, welche sich zu einem wahren Anwalte für das weibliche Geschlecht, seine Pflichten und Rechte herausgebildet hat.

Ihre letzte Vereinsstiftung unter Mitwirkung anderer Damen ist eine „Hausindustrie- und landwirthschaftliche Schule für minorenne Mädchen, die aus dem Gefängnisse kommen“; dieselbe steht seit 1880 unter Leitung eines größeren Damen-Comités, das seine schwierige Aufgabe nach Kräften zu lösen sucht.

Die Theilnahme an den Frauentagen war für die vielbeschäftigte Frau stets ein freudiges Ereigniß; ihres Lebens Sonnenstrahlen aber sind ihre erwachsenen Kinder, drei Töchter und zwei Söhne und das glückliche Eheleben mit ihrem Manne, Theodor Morgenstern, der alle ihre Bestrebungen begünstigte. –

Unter den vielen Frauen, welche hervorragende Verdienste um den „Allgemeinen deutschen Frauenverein“ hatten, nenne ich besonders Emma Laddey in München und Frau Professor Weber in Tübingen. Die Letztere, welche in Düsseldorf einen durchschlagenden Erfolg mit ihrem Vortrage: „Die Pflichten der gebildeten Frau gegen die Frau aus dem Volk“ hatte, ist eine der liebenswürdigsten Persönlichkeiten. In ihrer äußeren Erscheinung repräsentirt sie die echte deutsche Hausfrau, aus deren freundlichen

[721]

Die Führerinnen der Frauenbewegung in Deutschland. Originalzeichnung von Adolf Neumann.
Fräulein Marie Calm.               Frau Henriette Goldschmidt.
Frau Louise Otto-Peters.     Frau Lina Morgenstern.     Fräulein Auguste Schmidt.
Fräulein Jenny Hirsch.               Frau Anna Schepeler-Lette.

[722] Gesichtszügen ein menschenfreundliches würdevolles Gemüth spricht. Sie wurde am 10. August 1829 auf dem Gute ihres Vaters, Herrn Walz, auf dem Schweizerhof bei Ellwangen in Württemberg geboren und zog mit ihren Eltern später nach Hohenheim, wo der Vater Director der Landwirthschaft- und Forstakademie wurde. Sie heiratete den Laudwirthschaftslehrer Dr. Weber, welcher später Professor an der Universität Tübingen wurde. Jahre lang lebten sie auf dem Lande, ihrem Gute Bläsieberg. Hier bildete sich im Verkehr mit dem Volke das Verständniß der human fühlenden Frau für dessen Bedürfnisse.

Seit 1870 nach Tübingen in’s eigene Haus übergesiedelt, wandte sie alle freie Zeit humanen Vereinen zu, die sie zum großen Theil selbst begründet und in denen sie die Mission der socialen Pflichten der Frau erfüllt, über die sie so meisterhaft geschrieben hat. Soeben erscheint von ihr eine Broschüre: „Die Mission der Hausfrau“.

Ein halbes Jahr später, als der „Allgemeine deutsche Frauenverein“, wurde zu Berlin auf Anregung des verewigten Präsidenten Lette, an dessen Namen sich so viele Schöpfungen für’s Wohl der Menschheit knüpfen, ein Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts begründet, der bald nach dem Tode des Stifters den Namen „Lette-Verein“ annahm. Der Begründer, der zugleich Vorsitzender war, übergab alsbald das Amt der Schriftführung einer Dame, welche bereits den ersten Frauentag zu Leipzig besucht und sich stets mit den Bestrebungen für Frauenerwerb und Frauenerziehung beschäftigt hatte. Es war Jenny Hirsch, geboren den 25. November 1829 zu Zerbst, welche dies Ehrenamt mit großer Umsicht unterbrochen bis zum April 1883 verwaltete; in ihrer Eigenschaft als Schriftführerin besuchte sie die Frauentage zu Berlin, Darmstadt, Hamburg, Wiesbaden, Breslau und Lübeck. Von 1870 bis 1881 redigirte sie den „Frauenanwalt“. Seit dem April dieses Jahres hat sich Jenny Hirsch von aller Vereinsthätigkeit zurückgezogen, um sich ausschließlich der schriftstellerischen Thätigkeit zu widmen, die sie schon von 1860 bis 1864 als Mitglied der Redaction des „Bazars“ geübt hatte.

Nach des edlen Präsidenten Lette Tode leitete eine zeitlang Professor von Holtzendorff den nach seinem Stifter genannten „Lette-Verein“, bis die älteste Tochter des Verstorbenen den Vorsitz übernahm, welche seit 1855 ihrem Vater bereits eine wesentliche Stütze gewesen war.

Frau Anna Schepeler-Lette, welche als Delegirte des von ihr vertretenen Vereins den Frauentag zu Düsseldorf besucht hat, ist 1829 zu Soldin geboren, verbrachte ihre Jugendjahre in Frankfurt an der Oder und Berlin, wohin ihr Vater versetzt worden war, und begleitete denselben 1848 nach Frankfurt am Main, als er zum Abgeordueten in’s deutsche Parlament gewählt worden war. Hier entschied sich ihr Lebensschicksal. Sie lernte den Großhändler Herrn Schepeler kennen und wurde dessen Gattin. Allein ihr Eheglück wurde durch den Tod ihrer Kinder, durch langes Leiden und den Tod ihres Mannes getrübt, und Frau Schepeler, die ihm allzeit eine treue Freundin, Beraterin und Pflegerin gewesen, zog nach seinem Verlust auf den Wunsch ihres Vaters 1866 nach Berlin; doch auch hier entzogen sie bald wieder ernste Pflichten der Wirksamkeit nach außen hin. Der Vater erkrankte. Monate lang war sie ihm nebst der liebreichen Schwester eine unermüdliche Pflegerin bis zu seinem am 3. December 1868 erfolgten Tode.

Es ist ihr gelungen, das Werk des edlen Vaters zu einem Muster aller ähnlichen Bestrebungen zu machen, aber sie hat auch ihr ganzes Sein dafür eingesetzt. Das Lette-Haus in Berlin mit all seinen segensreichen Anstalten ist das schönste Denkmal, das dem Stifter errichtet ist. In ihm wird die Erziehung der Frau zur Arbeit gepflegt, die Berufsbildung, und es wird auf immer neue Mittel und Wege gesonnen, die Schranken wegzuräumen, welche einer Entfaltung geistiger Kräfte und technischer Fertigkeiten der Frauen hindernd im Wege stehen. 1876 unternahm Frau Schepeler-Lette die Reise nach Amerika, um auf der Weltausstellung zu Philadelphia und in andern bedeutenden Städten weibliche Unterrichtsanstalten und Unterrichtsmittel kennen zu lernen.

Im Jahre 1869 berief der „Lette-Verein“ einen Frauentag nach Berlin, auf welchem die Erwerbs- und Bildungsvereine zu einem Verbande zusammentraten, welcher den „Lette-Verein“ als geschäftsführenden Leiter wählte, mit der Bestimmung, alle zwei Jahre einen Frauentag da abzuhalten, wo schon Verbandvereine bestehen und ein Austausch der Erfahrungen stattfinden, neue Anregungen gegeben werden sollen. Nachdem bis zum Jahre 1877 beide Vereinsgruppen neben einander ohne jegliche Verbindung tagten, wurde auf dem Frauentage zu Frankfurt am Main eine Vereinbarung getroffen, von da ab gegenseitig Deputirte zu den Jahr um Jahr abwechselnd abzuhaltenden Versammlungen zu senden. Diesen Modus siegreich durchgeführt zu haben, war eines der letzten guten Werke der hoch verdienstvollen Luise Büchner aus Darmstadt, deren Name unsterblich und hervorragend fortleben wird in der deutschen Frauenbewegung.

Diese Frauenbewegung wie wir sie nunmehr kennen gelernt haben, kann nur unsere Sympathien erwecken, und wir schließen mit dem herzlichen Wunsche, daß diese Zeilen dazu beitragen mögen, dies edle Streben deutscher Frauen mehr und mehr zu verbreiten und zu fördern.




Unter Spitzbuben.

Ergötzliche und lehrreiche Geschichte aus dem schönen Italien.
(Schluß.)

Der Staatsanwalt fragte mich zunächst, ob ich Italienisch rede. Als ich verneint hatte, ließ er mich durch den Dolmetscher, nachdem er ihn vereidet hatte, fragen, welche Sprachen ich spreche.

Ich erwiderte ihm: „Deutsch, Französisch, Englisch.“

Das könne nicht wahr sein, rief der kleine Mann, denn wie könne man diese Sprachen erlernt haben und nicht einmal das Italienische.

Als ihm der Dolmetscher in aller Bescheidenheit bemerkte, solcher Barbarismus sei in Deutschland oft zu finden, schüttelte er das weise Haupt und murmelte:

„Impossibile! Impossibile!“

Hierauf mußte ich mich über meine Person, meine Verhältnisse, den Zweck meiner Reise, sowie den an mir verübten Diebstahl und den Conflict mit dem Gastwtrth auslassen. Ich that dies und unterließ nicht, auf meine Legitimationspapiere hinzuweisen, sowie auf verschiedene Briefe, die die Wahrheit meiner Angaben zu bestätigen im Stande waren und die man mir abgenommen hatte.

Nach Schluß der Verhandlung wurde mir eröffnet, daß ich auf Antrag jenes Wirthes wegen Diebstahls angeklagt werde, da ich, wie er behaupte, lediglich in der Absicht bei ihm eingekehrt sei, um nicht zu zahlen. Ich glaubte erst, nicht recht gehört zu haben; dann aber, meiner kaum mächtig, protestirte ich laut und heftig gegen eine solche Insinuation und verlangte die Aufnahme des Protestes, indem ich bemerkte, daß wohl eher der Ankläger an meiner Stelle sein müsse, da aus der Rechnung ersichtlich sei, wie er Dinge angesetzt habe, die ich nicht empfangen, sogar die Zeit meines Aufenthaltes habe er doppelt gerechnet. Mein Protest wurde zwar aufgenommen; meine Angaben über den Wirth und seine Rechnung aber als nach Ansicht des Staatsanwaltes werthlos unbeachtet gelassen.

Während der Verhandlung hatten sich meine Schmerzen vermehrt und veranlaßten mich zu dem Versuch, einen gesünderen Aufenthalt zu erbitten und einen Arzt zur Untersuchung.

Lachend erwiderte der edle Herr: ein Mann, der noch am Tage vorher gegessen und getrunken habe – wobei er eine entsprechende Handbewegung nach dem Munde machte – könne heute unmöglich krank sein.

Darauf machte ich die Mittheilung, daß die Gefangenen voll – Ungeziefer wären.

Schallendes Gelächter war die Antwort und der Herr Staatsanwalt erkärte, indem er sich zurücklehnte und seine Virginia weiter schmauchte, ich werde behandelt, wie jeder andere Gefangene, mehr könne ich nicht verlangen.

Zurückgeführt in das feuchte Gewölbe, fühlte ich das Fieber zunehmen und mit ihm die Schmerzen. Aber niemand kümmerte sich darum. Am Abend kam Bruder Meiniges, um mit mir „gut deutsch zu spreche“. Ich fragte, ob es denn hier Gebrauch sei, die kranken Gefangenen ohne Arzt und Hülfe zu lassen.

„O, noi,“ erwiderte er, „wenn sein krank, muß melden an die Morgen bei Unterofficier.“

Nach einer abermaligen schlaflosen Nacht that ich dies denn auch, der Unterofficier notirte es und holte mich richtig gegen Mittag ab, um mich dem Arzte vorzustellen. Er war ein kleiner ältlicher Mann. Ich redete ihn in französischer Sprache an und bat ihn, mich auf meine Schmerzen hin zu untersuchen. Wie von der Tarantel gestochen, fuhr er auf und schrie mich an, hier habe man nur italienisch zu reden. Ich sah, hier war nichts zu machen, und deshalb ersuchte ich Bruder Meiniges, der dabei stand, mich in die Zelle zurückzuführen. Dieser zögerte und sah den Arzt an, indem er ihm mein Verlangen mittheilte. Da sprang dieser auf, stellte sich vor mich hin und: „Parlez français!“ lautete die nicht freundliche Aufforderung.

[723] Ich setzte ihm nun aus einander, was mir fehle, wo ich Schmerzen habe, wie dieselben sich äußerten und wie nach meiner Ansicht eine Entzündung, oder dergleichen vorliege. Als er keine Anstalt zur Untersuchung machte, bat ich ihn, mir wenigstens ein Tuch zu verschreiben, damit ich mir Kaltwasserumschläge machen könne.

„Sie erhalten nichts!“ rief der würdige Jünger Aesculaps, drehte sich kurz um und mit den Worten: „Man weiß nicht, ob es wahr ist,“ setzte er sich wieder an seinen Tisch.

Ich aber, um einen Thell Hoffnung auf menschliche Behandlung ärmer, spazierte mit Bruder Meiniges in meine Zelle zurück. Wollte man mich mit Gewalt umbringen? Unwillkürlich fiel mir Fritz Reuter und Onkel Dambach ein, und wie Ersterer mit dem Franzosen zusammen in der Berliner Hausvogtei krank und erschöpft drei Tage und drei Nächte im Winter auf bloßen Dielen in ungeheizter Zelle hatte zubringen müssen. Ich nahm mir vor, den Onkel Dambach’s hier und ihrer rohen Gewaltthätigkeit Gleichmuth und festen Muth entgegenzusetzen. Diese Italiener konnte ich zwar in ihrem augenscheinlichen Verlangen, einen Deutschen zu quälen, nicht hindern, wenn sie aber hofften, mich mürbe zu machen, so sollte ihnen das ungeachtet meiner Krankheit nicht gelingen, und sie sollten mich nicht schwach sehen.

So vergingen vier Tage, ohne daß ich einen Bissen genießen konnte, nur schmutziges Wasser, das ich mit Ekel trank, genoß ich des Fiebers wegen. Am fünften Tage erschien Bruder Meiniges. „Nimm Dein Mantel!“ sagte er, indem er auf meinen Ueberzieher zeigte.

Schon glaubte ich, die Stunde meiner Befreiung habe geschlagen, aber ich wurde bald enttäuscht, denn ich sollte nur die Zelle wechseln. Ich wurde in ein anderes, ebenfalls zu ebener Erde liegendes Gewölbe gebracht, das fünf Insassen zählte von dem verschiedensten Alter. Das Gewölbe hatte den Vorzug, daß die Strohsäcke nicht auf dem feuchten Steinboden lagen, sondern auf hölzernen Gestellen. Einer von den Bewohnern wurde mir vom Unterofficier als der französischen Sprache kundig vorgestellt und mir anheimgegeben, mich mit ihm zu verständigen. Alle waren außer einem leinenen Hemd nur mit leinenem Beinkleid bekleidet, die Füße mit Holzpantoffeln. Da ich in ihren Augen fein gekleidet war, mochten sie mich wohl für irgend einen Genossen halten, der sein Handwerk im großen Stile trieb, und sie traten, als ich von dem kurzen Gange erschöpft und voller Schmerzen mich auf mein Lager warf, mir mit einer Art vertraulichen Respectes entgegen und stellten sich um mein Bett herum. Der Aelteste, schon grau von Haaren, war eben der, welcher französisch sprach; er bewirkte die Vorstellung. Ich war also unter Leuten, die Lebensart hatten.

Er fing mit sich selbst an. In seinem italienischen Französisch begann er: „Ich bin afrikanischer Chasseur gewesen, habe vierzehn Jahre gedient, aber als Militär nur acht Jahre, im Gefängniß sechs Jahre.“

Ich fragte ihn, warum er jetzt hier wäre.

„Eh!“ erwiderte er verächtlich, „kleiner Diebstahl, nur eine Uhr.“

„Wie lange müßt Ihr dafür sitzen?“

„Drei Jahre,“ und erklärend setzte er hinzu: „Es ist das sechste Mal, daß ich bestraft werde, deshalb habe ich drei Jahre erhalten.“

„Was werdet Ihr thun, wenn Ihr die Strafe verbüßt habt?“

„Dasselbe, stehlen!“ erwiderte er ohne Zögern und mit entsprechender Handbewegung. „Und dieser hier,“ dabei zeigte er auf einen neben ihm stehenden jüngeren Mann, „mit diesem ist es dasselbe, er hat mehrere Male gestohlen.“

„Und die übrigen drei?“

„Alle haben sie mehrere Male gestohlen,“ war die Antwort.

Also unter mehrfach bestrafte Diebe hatte man mich eingesperrt, mich, den Bestohlenen; und ihr glücklicherer Genosse saß jetzt vielleicht mit meinem Gelde und ließ sich’s wohl sein, während ich an seiner Stelle im Gefängniß saß. Erhebendes Bewußtsein!

Der Jüngste der sauberen Gesellschaft, ein frecher Bursche von achtzehn Jahren, rühmte sich, schon als kleiner Knabe von acht Jahren den ersten Diebstahl begangen zu haben. Es war eine Diebsgesellschaft, die ihre weitere Ausbildung im Handwerk mit Ernst und Eifer betrieb, praktisch und theoretisch.

In Bezug auf die letztere, die theoretische Ausbildung, hatten sie sich mit der geeigneten Lectüre versehen. Gleich am folgenden Tage brachte mir einer derselben eine Anzahl Lieferungen eines, wie er sagte, vorzüglichen Buches. Ich warf einen Blick darauf und las mit Erstaunen: „Rinaldo Rinaldini, capo di Briganti di XVIII. secolo. I misteri degli Abruzzi, Romanze popolare per A. Sondermann. Editore Meyer in Genf.“ (Rinaldo Rinaldini, Räuberhauptmann des achtzehnten Jahrhunderts. Die Mysterien der Abruzzen; volksthümlicher Roman von A. Sondermann, Verleger Meyer in Genf.)

Also zwei Deutsche, wenigstens dem Namen nach, erwarben sich das unschätzbare Verdienst, durch Schilderung der Gräuelthaten des bekannten Räubers das Bildungsbedürfniß der eingesperrten Verbrecher zu befriedigen und ihre Laufbahn als edel und erhaben in den lockendsten Bildern ihnen vorzumalen.

„Rinaldo Rinaldini,“ so sagen sie in ihrer Ankündigung. „Wer hat nicht von ihm sprechen hören, das Leben dieses Sohnes der Wälder besingen hören, des mächtigen Beherrschers der Abruzzen? Selbst die Kinder kennen ihn dem Namen nach.“ – O, ihr Herren Sondermann und Meyer, möchtet ihr doch selbst in die Abruzzen gehen oder – zum Henker! – Mit großen Lettern war dann unter dieser Anpreisung verheißen: „Ciascun abbonate ricevera in premio gratuito:

Il ritratto del Re Umberto.“

Also jeder Abonneten erhielt gratis ein Bild des Königs Humbert von Italien! – Hatte diese Verheißung dem berühmten Räuber den Eintritt in das Gefängniß der Verbrecher ermöglicht, damit seine Geschichte fort und fort wirke zur Bildung würdiger Nachfolger? Ich weiß es nicht; ich habe nur gesehen, daß man diese Lectüre ruhig in den Händen der Leute ließ, während man mir Taschentuch, Kamm und Seife als wahrscheinlich unpassende, wenn nicht gefährliche Dinge versagte. – O Italien, wunderbares Land! Land der Contraste!

Während des ganzen Tages saßen die Leute und arbeiteten. Frauenstrümpfe mit kunstvollen Rändern, Kindermützchen u. dergl. wurden von ihnen ohne Vorlage geschickt und in unglaublich kurzer Zeit angefertigt. Gegen Abend aber wurde Rinaldo hervorgeholt. Einer der Jüngeren, der des Lesens kundig war – ein Priester kam jede Woche drei Mal, um die jüngeren Gefangenen in der Kunst des Lesens zu unterweisen und zu üben, wie man mir sagte, ohne dafür von der Regierung bezahlt zu werden – also Einer setzte sich dann auf einen Strohsack, die Anderen gruppirten sich um ihn und hörten mit sichtlichem Interesse zu. Der Vorleser unterbrach sich oft, um eine Stelle mit anderen Worten zu wiederholen oder auch eine Erklärung zu geben. Kam eine besonders interessante Stelle oder etwas, was sie nicht erwartet hatten – und interessante Stellen schien es viel zu geben – dann stießen sie den Ruf aus, der alle Empfindungen auszudrücken schien und den ich hunderte Mal täglich hörte: „O Christo! O Christo santo! O Christo e Madonna!“

Wenn dann die Dunkelheit hereinbrach, dann hörte wohl der Leser auf, aber das durch die Lectüre angeregte Thema wurde fortgesponnen; es wurden Geschichten erzählt (und der ehemalige Chasseur d’Afrique war besonders stark darin), in welchen Carabinieri und Briganti die Hauptrolle spielten. Dabei liefen sie in der Zelle auf und ab, der Chasseur gesticulirte nicht nur lebhaft, sondern stellte die geschilderten Situationen auch dar, so weit es der beschränkte Raum zuließ. Bald glitt er an der Wand hin, wie um den Verfolgern auszuweichen, bald machte er gewaltige Sprünge, immer dabei lebhaft erzählend, oder er sprang auch wohl in das hochgelegene Fenster, hier alle möglichen gymnastischen Uebungen vornehmend, während die Anderen ihm bewundernd zusahen, um es ihm später nachzuthun. Er zeigte eine Kraft des Körpers, verbunden mit einer katzenartigen Geschmeidigkeit, daß er ein guter Lehrmeister der Anderen war, diese aber gelehrige und willige Schüler.

Wenn dann nach Dunkelwerden draußen die Glocke zum Schlafengehen ertönte, dann wurde das Gespräch leise, aber nicht minder lebhaft fortgeführt, bis um zehn Uhr die visitirende Wache kam. Ein Huschen hin und her, und die Eintretenden fanden Alles im tiefsten Schlafe. Doch nicht alle Abend wurde erzählt. Sie sangen und marschirten dazu. Unter den Marschliedern war eins, das besonders beliebt zu sein schien. Das Lied ist eine Erinnerung an 1870. Es wird in ihm von verrätherischen Generalen gesprochen, die 130,000 Gefangene an die Preußen geliefert haben, und schließlich Napoleon selbst als Verräter bezeichnet, den man nicht haben will: „Noi non vogliamo più Napoleone!“

Aber ich bin diesen Leuten doch zu Dank verpflichtet, und ich will nicht unterlassen, es zu erwähnen. Während die Wächter und Aufseher ihren ganzen Hohn und Spott tagtäglich über den kranken Tedesco ausschütteten, mir jede Hülfe versagt wurde, waren diese Ausgestoßenen barmherziger. Mit Sorgfalt machten sie mir die Kaltwasserumschläge, die ich verlangte.

Als ich eines Tages einen Asthma-Anfall bekam, der mich zu ersticken drohte, und die rohen Wächter, die gerufen wurden, auch jetzt, anstatt mir Hülfe zu leisten, respective den Arzt zu rufen, ärgerlich über die Störung in ihrem dolce far niente, nur Verwünschungen und Spott hatten, mit dem sie sich schleunigst wieder entfernten, bemühten sich diese Leute um mich, frottirten mir Brust und Rücken und ließen für ihr Geld – sie waren verurtheilte Verbrecher und konnten daher Alles haben, während man mir, dem Untersuchtungsgefangenen, Alles versagte – in der Cantine der Festung Camillenthee bereiten, den sie mir einflößten. Jeden Abend schüttelten sie mir meinen Strohsack auf, um mich so weich wie möglich zu betten, und verschiedene Abende besorgten sie mir sogar eine Tasse Milch, da sie, wie sie sagten, es unmöglich fänden, daß ich bei Wasser und Brod existiren könnte. Während sie seitens der Gefangenenanstalt mit reiner Wäsche sonntäglich versorgt wurden, versagte man mir ausdrücklich die Darreichung derselben. Da stellten sich die Verbrecher hin und wuschen mir meine Hemden, denn, bemerkten sie, es sei gegen ihre Ehre, mich in solchem Zustande zu lassen.

Dank Euch, Ihr ehrlichen Spitzbuben! Wer weiß, was ohne Euch aus mir geworden wäre!

Als ich zehn Tage in den geschilderten Zustande zugebracht hatte, wurde ich eines Morgens gezwungen, mich zu erheben, um vor das Tribunal geführt zu werden. Langsam nur konnte ich folgen. Man führte mich in die Schreiberstube, und hier geschah etwas, was nach allem Vorhergegangenen ich doch nicht erwartet hatte. Zwei Gensd’armen erwarteten mich. Kaum war ich eingetreten, als der eine derselben über mich herfiel, sich meiner linken Hand bemächtigte, eine starke eiserne Kette darum schlang, die er zusammenknebelte. Dann schloß er mich an ein anderes Individuum an, und nun wurden wir Beide hinausgetrieben über den Hof in ein gegenüber stehendes großes Gebäude, dort wurde ich in ein Zimmer gesperrt und an beiden Händen mit eiserner Kette geknebelt.

Ich glaubte, im Fiebertraum zu sein. Nach längerer Zeit wurde ich wieder herausgeholt, die Kette mir abgenommen und ich dann in einen Saal geführt, den ich sogleich als den Sitzungssaal des Tribunals erkannte. Er war mit Zuhörern dicht gefüllt und hatte ganz das Aussehen eines deutschen Gerichtssaales. Fünf Richter in schwarzem Talar saßen auf einer Tribüne, rechts der Staatsanwalt, links der Vertheidiger. Ich übergehe die ausführliche Beschreibung der Verhandlung, da sie von ähnlichen Proceduren in Deutschland nicht sehr verschieden ist.

Der Staatsanwalt beantragte auf Grund der Aussage jenes Wirthes, mich wegen versuchten Betrugs zu sechs Tagen Gefängnis zu verurtheilen, wie mir durch den Dolmetscher mitgetheilt wurde. Schon wollte ich, meine Schmerzen verbeißend, mich erheben, um meine Vertheidigung selbst zu führen, als auf einen Wink des Präsidenten der Vertheidiger sich erhob.

[724] In längerer Rede wies er, wie ich später erfahren, auf das gänzlich Unbegründete der Anklage hin. Ein Mann, so führte er aus, der einige Wochen eine wissenschaftliche Reise gemacht, wie aus den Notizen hervorgehe, die er bei sich trage, der ferner solche Documente, wie Paß und Diplom einer deutschen Universität, besitze, aus dessen Briefen man alle seine Angaben über seine Stellung, seinen Beruf etc. bestätigt finde, und der, was man auch gethan habe, um ihn zum Vagabonden zu stempeln, diesen Eindruck gewiß nicht mache, könne doch unmöglich hierher gekommen sein, in eine Gegend, die er nicht kenne, unter Leute, deren Sprache er nicht spreche, um einen Wirth um siebenzehn Franken zu betrügen. Vielmehr sei, da alle meine anderen Angaben sich als wahr ergeben hätten, auch wohl meine Aussage zu glauben, daß ich der Bestohlene sei. Er schilderte das Verfahren des Wirthes nicht blos als inhuman, sondern als perfid, da er, anstatt mir mit Rath in meiner durch den Verlust sehr unangenehmen Lage beizustehen, in perfider Weise mich als Betrüger der Polizei denuncirt habe.

Das war brav, Herr Advocat A…!

Der Gerichtshof zog sich zurück, die Verhandlung dauerte aber nicht lange. Bald erschienen die Herren und der Präsident verkündete den Spruch, wonach ich für nichtschuldig erklärt und mir eröffnet wurde, daß ich unmittelbar in Freiheit gesetzt werden sollte.

Ich athmete auf und vergaß sogar auf einige Zeit meine Schmerzen, so sehr wirkte dies freisprechende Urtheil auf mich und die Gewißheit, diesen Ort in wenigen Stunden schon verlassen zu können. Freiheit! Freiheit! Sie sollte mir Gesundheit und Alles wiedergeben, was mir theuer war. Als ich daher in das Gefängniß, diesmal ohne Ketten, zurückgeführt wurde, hielt ich dies blos für Formalität, bis die betreffenden schriftlichen Ordres etc. gegeben sein würden! Ich warf mich auf mein Lager, um Kräfte zu sammeln für den nachherigen längern Gang in die Stadt. Aber Stunde auf Stunde verging, und kein erlösender Engel in Gestalt eines blauen Unterofficiers erschien, um mich in die ersehnte Freiheit zu führen. Die Nacht brach herein, und für heute mußte ich wohl auf Befreiung verzichten, das sah ich ein.

Als der Morgen kam, hielt ich mich bereit, um auch nicht eine Minute länger hier bleiben zu müssen, wenn die Erlaubniß zum Fortgehen käme. Da kam denn endlich ein Unterofficier und theilte mir in französischer Sprache mit, daß ich auf Anordnung der Polizei bis auf Weiteres inhaftirt bleibe.

Ich war wie vom Schlage getroffen und brachte nur ein „unmöglich!“ heraus. Die Wächter brachen darüber in lautes Gelächter aus und entfernten sich. Es war aber auch gar zu spaßhaft, daß ein Deutscher eine solche Willkür der Polizei für unmöglich hielt. Ich mußte mich fügen und that es in stummer Resignation. Aber diese zehn Tage, die ich von dem freisprechenden Erkenntnisse an noch an diesem Orte zubringen mußte, waren härter als die vorhergehenden.

Ich verlangte Schreibmaterial, um endlich nach außen Nachricht von meinem Aufenthalte geben zu können – vergebens! Ich beanspruchte eine gesündere Zelle und bestand darauf, daß man kein Recht habe, mich mit bestraften Verbrechern einzusperren, nachdem ich freigesprochen sei – Alles vergebens! Ich war in der Gewalt der Polizei und sollte erfahren, was eine italienische Polizeibehörde vermag ungeachtet des Richterspruches, der in aller Form abgefaßt und rechtsgültig war.

Als einige Tage vergangen waren, rieth mir mein afrikanischer Chasseur, mich an den Geistlichen zu wenden, der alle Wochen mehrere Male zum Unterrichte komme. Er habe das Recht, sich der Kranken anzunehmen, und verschaffe ihnen die Bedürfnisse, die von der Verwaltung nicht gewährt würden. In meiner ungewöhnlichen Lage betrat ich diesen für mich ungewöhnlichen Weg, schickte ihm heimlich durch einen seiner Schüler einen Zettel, worin ich ihm meine Lage aus einander setzte und um seine freundliche Vermittelung bat.

Statt aller Antwort sandte er mir ein Buch in französischer Sprache „Conversion merveilleuse de Mr. Marie Ratisbonne“, eine Geschichte, in welcher unter Anführung der wahrheitsgetreuen Berichte von Augenzeugen erzählt wird, wie ein Jude, erfüllt von Haß gegen die katholische Kirche, im Jahre 1842 am 20. Januar in eine alte verlassene, der Jungfrau Maria geweihte Capelle eingetreten und dort in Zeit einer Viertelstunde durch das unmittelbare Erscheinen der heiligen Jungfrau in Person aus einem Feinde der Kirche in einen gläubigen Sohn derselben umgewandelt worden sei.

Ich schickte dem Herrn bei seinem nächsten Besuche das Buch mit bestem Danke zurück, worauf er mir sagen ließ, er habe nichts weiter für mich.

Da kam Bruder Meiniges und fragte mich, ob ich etwas lesen wolle, lesen sei erlaubt, aber weiter nichts. Ich erwiderte, daß es hier für mich wohl kaum etwas geben könne.

„O,“ erwiderte er, „der Chef hab Bücher, viel Bücher.“

Nicht lange darauf erschien der Gefängnißschreiber und redete mich mit seinem piemontesischen Französisch mit wichtiger Miene an. Er habe, so sagte er, auf sein Ansuchen vom Chef etwas Ausgezeichnetes erhalten. Der letztere lasse mir sagen, das Buch aber ja in Acht zu nehmen, da es ihm sehr werthvoll sei; es sei das Ausgezeichnetste und Feinste, was es gäbe. Zwar, und hier flog ein verschmitztes Lächeln über sein breites Gesicht, sei das Buch eigentlich unmoralisch, aber es ist etwas, das man lesen muß, denn der Zweck ist gut, ja man kann sagen, sehr gut.

Ich war nach dieser Einleitung etwas gespannt, dies sonderbare Buch kennen zu lernen. Als er es mir endlich in die Händc gab, las ich: „La dame aux Camélias par Alexandre Dumas fils“. Fast hätte ich gelacht, doch ich wollte den kleinen Mann nicht beleidigen, glaubte er doch, mir eine große Gefälligkeit zu erweisen durch Ueberreichung des Buches.

Welche werthvolle Lectüre gab es in diesem italienischen Gefängnisse! Die Verbrecher hatten ihren Rinaldo Rinaldini, der Priester seine Bekehrungsgeschichten von Juden, Protestanten und andern Heiden, der Chef aber seine „Cameliendame“ mit dem unmoralischen Inhalt, aber doch guten Zweck.

Ich schließe hiermit meine Geschichte und füge nur noch hinzu: Nachdem ich drei Wochen ohne Grund eingesperrt gewesen war, wie der gemeinste und schwerste Verbrecher behandelt, ließ man mich nicht etwa einfach frei, sondern ich wurde, auf Antrag der Polizei, vom Minister des Landes verwiesen. Ich will keinen zu schweren Stein auf die hier auf die Scene meiner Geschichte geführten Obrigkeiten werfen. Irren ist menschlich, nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland. Wenn aber eine Nutzanwendung für die Sicherheit von Reisenden gegen solche unberechenbare Irrthümer aus meinem Mißgeschick hervorgehen könnte, so würde dies mir die Erinnerung an dasselbe doch wenigstens zu etwas Erfreulichem machen.




Blätter und Blüthen.

Siemering’s Luther-Denkmal zu Eisleben. (Mit Abbildung S. 713.) Am 10. November wird die Hülle von dem Luther-Denkmal fallen, welches in seiner ehernen Macht den alterthümlichen Eislebener Marktplatz überragt. In der Linken die Bibel, seine Burg „voll guter Wehr und Waffen“, in der Rechten die päpstliche Bannbulle, welche dem treuesten Sohne der Kirche die Thür des Heiligthums verschließen will und welche darum ein Raub der Flammen werden muß, so schaut er vom Eislebener Marktplatz in die vielbewegte Gegenwart hinein, eine geistesgewaltige Illustration des kühnen Wortes: „Und wenn die Welt voll Teufel wär’!“

Woher Luther den Muth nahm, gegen eine mehr als tausendjährige Macht anzukämpfen, das zeigt uns Meister Siemering in den herrlichen Reliefs, welche den Sockel des Denkmals einschließen. Da finden wir zunächst Luther’s Wappen an der Vorderfront. Es ist ja allgemein bekannt, dieses Wappen, von welchem der volksthümliche Vers singt:

„Des Christen Herz auf Rosen geht,
Selbst wenn es unter’m Kreuze steht, –“

aber neu ist die packende Allegorie, zu welcher Siemering dieses Luther-Wappen umgedichtet hat. Das Wappenschild wird von einem Engel gehalten. Zu seinen Füßen liegt überwältigt zähneknirschend, noch einmal sich machtlos aufbäumend „der alt’ böse Feind“, dessen „groß Macht und viel List“ an der Wahrhaftigkeit zu Schanden geworden ist. Hier haben wir ein Bild von Luther’s Kämpfen und Ringen, welches mit ursprünglicher Gewalt auf den Beschauer wirkt.

Sein Rüstzeug hat Luther aus der Waffenkammer genommen, die er seinem Volke auf der waldumwobenen Wartburg erschlossen hat. Das Relief auf der Südseite zeigt ihn uns bei der Bibelübersetzung. Abweichend von den Darstellungen, welche den bibelforschenden Luther erhobenen Hauptes und weit hinausleuchtenden Blickes darstellen, giebt uns Siemering einen still sinnenden, innerlich vertieften Luther, welcher sich in Gottes Wort förmlich begraben fühlt, um als eine vom Geiste Gottes durchheiligte Persönlichkeit aus der Tiefe auszuerstehen. Luther’s Charakteristicum, seine demüthige Treue, tritt auf diesem Relief besonders schön in die Erscheinung.

Die Nordseite des Denkmals bringt ein Bild aus den Tagen des Kampfes. Luther und Eck – neue und alte Zeit im Geisteskampfe! Hier der wortreiche, an sophistischer Weisheit genährte Vertheidiger mittelalterlicher Ideen; dort der körnige, an Gottes Wort stark gewordene Augustiner. Diese beiden Profile – Luther und Eck – verkörpern zwei von Grund auf verschiedene Welt- und Lebensanschauungen, wie sie auch in Eck’s Decretalen und in Luther’s Bibel zum Ausdruck kommen. Beides gewaltige Mächte, und doch zeigt uns dieses Relief in seiner plastischen Ruhe, „wer hier seinen Feind niederreiten wird“.

Bedarf das letzte Bild noch einer Erklärung? „Luther im Kreise seiner Familie“ lebt ja durch alle Zeiten im Herzen des deutschen Volkes. Wie der heldenhafte Mann so kindlich in die Saiten greift, wie sein „Herr Käthe“ dem süßen Sange lauscht, wie Hans, Martin und Lenchen sich kindlich fromm an die Eltern schmiegen und wie dieses stille Familienglück für unzählige deutsche Häuser vorbildlich geworden ist – davon weiß ja jedes evangelische Herz zu singen und zu sagen. An Luther ist es doch wahr geworden, was auf die Nachricht von seinem Tode ein Freund schrieb: „Dieser Luther ist gar nicht todt, er lebt und wird leben.“

Jahre lang hat Professor R. Siemering an dem Denkmale gearbeitet, Jahre lang hat die Stadt Eisleben an den Geldern gesammelt, um die bedeutenden Kosten des Denkmals decken zu können – für alle Zeiten aber soll der protestirende Luther in seiner Geburtsstadt stehen, eine Mahnung für das deutsche Volk, seine besten und heiligsten Güter festzuhalten und vom Kampfe zum Siege durchzudringen.
– rch.



Inhalt: Die Braut in Trauer. Von Ernst Wichert (Fortsetzung). S. 709. – Doctor Martin Luther. Von Emil Zittel. S. 712. – Des deutschen Volkes Ehrentag. Von Ferdinand Hey’l. S. 716. Mit Illustration. S. 717. – Die Frauentage und die Frauenbewegung. S. 718. Mit Portraits. S. 721. – Unter Spitzbuben. Ergötzliche und lehrreiche Geschichte aus dem schönen Italien (Schluß). S. 722. – Blätter und Blüthen: Siemering’s Luther Denkmal zu Eisleben. S. 724. Mit Abbildung. S. 713.


Für die Redaction bestimmte Sendungen sind nur zu adressiren: „An die Redaction der Gartenlaube, Verlagsbuchhandlung Ernst Keil in Leipzig“.

Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der in den Gassen Eisenachs als armer Schüler mit herumsingende kleine Martin ist ein von den Luther-Malern oft behandelter Gegenstand; eine als Modell längst vollendete Statue dieses Currentschülers harrt noch ihrer Aufstellung.
    Die Redaction.