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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[693]

No. 43.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Die Braut in Trauer.

Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)


6.

Helene war durch dieses Zusammentreffen auf dem Friedhofe sehr beunruhigt. Je mehr sie darüber nachdachte, um so weniger zweifelhaft wurde es ihr, daß ein bloßer Zufall dabei nicht obgewaltet hatte. Sie meinte anfangs, der Mama davon Mittheilung machen zu sollen, allerdings nur ganz gelegentlich im Gespräch, wie über irgend etwas anderes an sich ziemlich Gleichgültiges. Aber sie gab den Gedanken wieder auf. Warum von solchem Nichts ein Aufheben machen?

Ihr war aber doch recht beklommen zu Muth, als sie das nächste Mal nach dem Kirchhofe fuhr. Sie mußte sich immer wieder die Frage vorlegen, ob der Assessor sich blicken lassen werde. So zerstreut hatte sie noch nie auf dem Bänkchen vor Robert’s Monument gesessen. Sie schalt sich selbst närrisch. Eben stand sie auf, um jeder unliebsamen Eventualität aus dem Wege zu gehen, als wirklich der Assessor hinter den Linden vortrat und sich grüßend an’s Gitter stellte.

Nun ärgerte sie sich über seine Dreistigkeit, hielt es aber doch für ungeschickt, sofort aufzubrechen. Der Assessor wußte von dem Manne, dessen Grab er suchte, eine lange Geschichte zu erzählen, aus der doch nicht recht klug zu werden war. Sie währte so lange, daß sie immer ungeduldiger und unaufmerksamer zuhörte. „Aber das ist ja ein ganzer Roman,“ sagte sie; „erzählen Sie mir den gelegentlich einmal im Salon der Frau Consul zu Ende.“

„Wie Sie befehlen,“ antwortete er geschmeidig.

„Ich möchte Ihnen auch nicht hinderlich sein, Ihre Nachforschungen fortzusetzen,“ nahm sie wieder das Wort. „Es wird Ihnen lieb sein, recht bald zum Ziele zu kommen.“

„O, glauben Sie das nicht!“ rief er. „Jede Minute, die ich in Ihrer Nähe zubringen darf, entschädigt mich reichlich für alle Zeitversäumniß.“

Das ging zu weit. „Dann erlauben Sie, Herr Assessor,“ sagte sie mit abgewendetem Gesicht, „daß ich mich schleunigst entferne. Es kann wohl nicht meine Absicht sein, Ihnen Gelegenheit zu geben, mich hier zu unterhalten.“

Er folgte ihr. „Wenn ich Sie erzürnt haben sollte …“

„Nein, nein! Aber bleiben Sie zurück.“

„Darf ich Sie nicht zum Wagen –“

„Ich bitte, nein.“

Er verbeugte sich.

Helene eilte fort. Es war ihr schon unangenehm, daß die Frau des Todtengräbers in demselben Gange arbeitete und sie beobachten konnte.

Am folgenden Tage fuhr sie eine Stunde früher aus und blieb nun unbehelligt. Am dritten aber nützte diese List schon nichts mehr. Sie hatte die Stelle des Erbbegräbnisses noch nicht erreicht, als der Assessor ihren Weg kreuzte. „Ich wollte Sie nur begrüßen,“ sagte er, „da ich Sie kommen sah. Fürchten Sie nicht, daß ich Ihre Andacht störe.“

Sie war im Augenblick ganz verwirrt. „Aber es ist doch sonderbar,“ stotterte sie, „daß Sie stets gerade zu derselben Zeit …“

„Ja, es trifft sich sonderbar,“ bestätigte er ganz ernst. „Aber für mich sehr glücklich,“ setzte er hinzu. „Uebrigens war mir heute sicher diese Belohnung zu gönnen. Ich habe einige alte Steine von den Brennnesseln gesäubert und mir dabei tüchtig die Hände verbrannt.“

Das war höchst unwahrscheinlich. Seine modefarbenen Handschuhe zeigten keine Spur der Berührung mit irgend welchem Unkraut. Helene achtete denn auch nicht weiter darauf. Sie überlegte, was sie zu thun habe, um Herrn von Brendeln den deutlichsten Beweis zu geben, daß er ihr lästig sei. Schnell entschlossen machte sie Kehrt und ging nach dem Pförtchen zurück. Das hatte er doch nicht erwartet. Noch eine Weile stand er mit abgezogenem Hut und sah der schlanken, sich im Gehen überhastenden Gestalt nach. Dann ließ er die Spitze seines Stöckchens eine Schlangenlinie durch die Luft beschreiben. „Der Kirchhof ist ihr verleidet,“ murmelte er. „das kann auch als ein Erfolg gelten.“

Helene hatte Mühe, die Thränen zurückzuhalten, als sie wieder in den Wagen stieg. Sie lehnte sich in die Kissen zurück und senkte den Sonnenschirm so tief, daß die Vorübergehenden ihr nicht in’s Gesicht sehen konnten. Was beabsichtigte Herr von Brendeln eigentlich? Diese Annäherung war so persönlicher Natur, daß sie kaum noch mißverstanden werden konnte. Welche Tollheit, sie auf dem Kirchhofe aufzusuchen! Wenn Jemand dieses Zusammentreffen bemerkt hatte, davon sprach –! Wie konnte sie den Schein abwehren, im Einverständniß gewesen zu sein? Sie biß die Zähne in die Lippe ein. Eine solche Rücksichtslosigkeit!

Und doch sprach da noch eine andere Empfindung mit. Sie hatte sich in ihrem Innersten oft genug dem Zwange widersetzt, sich gleichsam als eine der Welt abgestorbene Nonne zeigen zu sollen: aber es war ihr bisher noch nie in den Sinn gekommen, daß sie Anderen und sich selbst aufhören könne, die Braut Robert’s zu sein. Einem Anderen noch begehrenswerth zu erscheinen, einem Anderen zu werden, was sie Robert gewesen war, stellte sich ihr [694] nicht einmal im Traume als eine Möglichkeit vor. Und nun trat plötzlich etwas an sie heran, das ihr Denken und Empfinden in diese Richtung drängen mußte.

Es bemühte sich Jemand offenbar sehr ernstlich um sie. Hatte sie ihn abzuweisen ohne jede Prüfung, ob er ihr gefallen könne oder nicht, lediglich aus dem Grunde, weil sie einem Verstorbenen die Treue zu bewahren verpflichtet blieb? Oder durfte sie, ohne sich zu versündigen, ihr Herz befragen? Die Antwort war vielleicht in diesem Falle leicht, aber in einem anderen … Daß die Frage überhaupt aufgeworfen werden konnte, das war das Ueberraschende, Berauschende. Wie stand sie mit ihrem Herzen dazu?

Nicht weit von der Brücke über den Fluß klopfte sie mit dem Sonnenschirm dem Kutscher auf die Schulter und gab ihm die Weisung, sie zu Herrn Benjamin Grün zu fahren. Sie beabsichtigte durchaus nicht den alten Onkel in’s Vertrauen zu ziehen, oder gar von ihm einen Rath zu erbitten; aber es war ganz ihrer Stimmung gemäß, jetzt gerade seine Gesellschaft aufzusuchen.

Noch eine ziemliche Strecke von seiner Wohnung entfernt, mußte der Kutscher die Pferde im Schritt gehen lassen, da ein Lastfuhrwerk die Straße sperrte. Seitwärts ging ein junger Mann in derselben Richtung und wurde eingeholt. Helene schien ihn aufmerksamer in’s Auge zu fassen. Als nun die Peitsche knallte – ein Zeichen für den Lastfuhrmann, rascher zu fahren oder auszuweichen – wandte er den Kopf zurück – nochmals und nochmals, und blieb dann stehen, um die Equipage dicht an sich herankommen zu lassen. „Vetter!“ rief Helene hinaus. „Bist Du’s wirklich?“

Er reichte die Hand über den Wagenschlag. „Guten Tag, Helene! Der Zufall will’s, daß ich Dich bei meinem ersten Ausgange treffe – wirklich nur um die Ecke herum zu meinem Director.“

Sie schüttelte seine Hand. „Seit wann bist Du zurück?“

„Seit vorgestern. Gestern ließ mich der alte Papa keine Minute fort.“

„Zu mir wärst Du wohl auch nicht gekommen.“

„Kann sein! Aber ich hatte mir’s vorgenommen, der Frau Consul möglichst bald meine Visite abzustatten.“

„Das ist löblich. Wohin gehst Du nun?“

„Nach Hause.“

„Dahin wollte ich auch. Komm zu mir in den Wagen.“ Sie drückte die Feder an der Thür, die nun aufsprang.

„Es lohnt kaum,“ meinte er, stieg aber doch ein und setzte sich ihr gegenüber. Eben war auch die Straße frei geworden und der Wagen rollte rasch weiter.

Helene reichte dem Vetter nochmals die Hand zum Gruß. Sie schien sogleich ein recht freundschaftliches Verhältniß anbahnen zu wollen.

„Du siehst übrigens gut aus,“ sagte sie, ihn musternd. „Wenn ich an das bleiche Mondscheingesicht von damals denke –“

„Denke nicht daran,“ bat er.

Sie beugte sich ein wenig vor. „Ist das da auf der Backe eine Schmarre?“

Er erröthete leicht. „Nicht die einzige, der Bart verdeckt die andern.“

„Wirklich? Ich denke, Du warst ein principieller Gegner des Duells?“

„Der bin ich noch,“ versicherte er lachend. „Aber wie weit kommt man im Leben mit seinen Principien? Und in gewissen Jahren reitet man sie doch in der That zu pedantisch. Hatte ich nicht überhaupt die glücklichste Anlage ein arger Pedant zu werden?“

„Das muß ich bestätigen,“ sagte Helene. „Du hast mich oft grausam gequält.“

„Das war gegenseitig.“

„Wie das? Ich wüßte nicht –“

„Ach, Du konntest so wenig dafür, als ich. Mir ist’s übrigens ganz heilsam gewesen. Wenn man Neigung zum Stubenhocken und Büffeln hat, kann man nur dankbar sein für einen kräftigen Stoß ins Freie.“ Er schien jetzt erst ihren schwarzen Anzug in’s Auge zu fassen. „Das konnte allerdings Niemand vorhersehen,“ sagte er in ganz verändertem Tone. „Aber wer weiß, ob Dir’s anders – nicht noch trauriger ergangen wäre.“

Ihre Stirn verfinsterte sich. „Du warst gegen Robert ganz blind eingenommen.“

„Das mag sein. Obgleich … Zu Leuten mit seinen Passionen werde ich immer schwer Vertrauen fassen können. Und glaube mir, Du warst keine Frau für ihn.“

„Aber –“

Er zuckte die Achseln. „Was stöbern wir da in dem alten Staube herum? Er fliegt doch nur auf, um sich wieder zu senken und liegen zu bleiben, wo er liegt. Freilich – wie konnten wir Beide einander nach Jahren begegnen, ohne eine Strecke Weges zurückzugehen? Am besten geschah’s gleich. Man ist’s dann hoffentlich für alle Zeit los.“

Der Wagen fuhr am Hause des Uhrmachers vor. Der alte Herr saß an seinem Werktisch am Fenster und arbeitete fleißig. Nun sah er auf, schob den grünen Augenschirm zurück und lachte über das ganze Gesicht, als ihm die Zwei zunickten. Dann kam er ihnen bis an die Thür entgegen.

„Nun, was sagst Du zu meinem langen Jungen, Lenchen?“ war sein erstes Wort. Dazu schmunzelte er recht wohlgefällig. Er behielt ihre Hand und führte sie in’s Zimmer, in dem sie mit lautem Ticktack empfangen wurde.

„Ich hätte Walter kaum wieder erkannt,“ sagte sie.

„Zu seinem Vortheil verändert, nicht wahr?“ schloß er rasch an. „Sehr zu seinem Vortheil. Man kann’s nicht anders sagen.“ Er klopfte ihm die Wange.

„Er hatte früher etwas komisch Unfertiges,“ meinte Helene. „Nun ist er als ein ganzer Mann zurückgekommen.“

„Ein ganz anderer Mensch, ein ganz anderer Mensch!“ rief der Uhrmacher und küßte ihn rechts und links. „Und doch der alte, Lenchen – wenn man ihm auf den Grund geht, der alte. Eine wahre Seele von Mensch.“

„Da soll man nun nicht ganz eitel werden!“ sagte der Doctor, sich zu dem Mädchen wendend.

„Ah pah, eitel!“ polterte der Alte. „Du weißt am besten, was Du werth bist. Laß mir meine Freude an Dir. – Hast mir ja auch Sorgen genug gemacht.“

„Nun kommt die Kehrseite obenauf,“ neckte Walter.

„Ja, ja, mit Deinem vergrämten Wesen und unsinnigen Gerede damals. Und als Du ganz wild ausschlugst und recht liederliche Briefe schriebst! Ja, ja, Du Schwerenöther!“ Er faßte ihn wieder beim Kopfe und küßte ihn ab. „Gereimt habe ich mir’s doch.“ Er blinzelte dem Mädchen zu. „Verstehst Du, Lenchen?“

„Kein Wort, Onkel.“

Walter meinte ihm jetzt zuvorkommen zu müssen.

„Hast Du denn nicht gemerkt, Cousinchen, daß der lange Junge in Dich ganz närrisch verliebt war?“ rief er lachend. „Zum Tollwerden!“

Sie schien zu erschrecken. „Walter,“ sagte sie, „so darfst Du nicht scherzen.“

„Scherze ich denn? Ja, jetzt, nun ich curirt bin! Ich hab’s wahrscheinlich sehr klug angefangen, Dir zärtliche Gefühle für mich einzuflößen. Mein Himmel, heut kann man sich ja kritisch zerfleischen. Ich war ein Narr, Lenchen. So ein komisch unfertiger junger Mensch –“

„Vetter –“

„Du hattest ganz Recht, der zählt nicht mit. Ihm selbst fallen dann freilich so viel Heine’sche Verse ein; er verzweifelt am Leben und begeht noch nicht den dümmsten Streich, wenn er sich nun erst recht hineinstürzt. Es muß irgend ein Kopfüber gewagt werden. Nach einiger Zeit steht man wieder fest auf den Füßen.“

„Ohne Gefahr ist’s doch nicht,“ meinte der Papa und tätschelte ihm die Schulter. „Mancher setzt sich so etwas in den Kopf, das er dann niemals wieder herausbringt, oder das verzweifelt lustige Leben hört gar nicht mehr auf. Eine so kerngesunde Natur freilich … na, ich freue mich, daß Alles wieder in bester Ordnung ist. Und nun sage ich’s auch ganz dreist heraus: Die beste Figur hast Du als Liebhaber nicht gespielt, mein Junge. Was, Lenchen? Da verstand’s der junge Herr Berghen besser.“

Helene war ganz still und ernst geworden. Nun ihr Name genannt wurde, schien sie erst wieder aufzumerken. Da sie das vergnügte Gesicht des alten Onkels sah, lachte sie auch und sagte:

[695] „Ja, es ist sehr lustig.“ Und dann rückte sie vor dem kleinen Spiegel das Hütchen zurecht, strich die Handschuhe glatt und verabschiedete sich, indem sie Vater und Sohn zugleich die Hände reichte.

„Willst Du schon fort?“ fragte der Onkel verwundert. „Du bist kaum eingetreten.“

„Ich darf die Pferde nicht so lange stehen lassen,“ entschuldigte sie. „Ich wollte auch nur fragen kommen, ob Walter schon angekommen sei, und da ich ihn nun gesehen habe, braucht’s darauf nicht einmal einer Antwort. Aber ich finde mich schon wieder ein – Abends einmal, wenn wir zum Plaudern Zeit haben. Walter hat gewiß viel zu erzählen.“

Er begleitete sie zum Wagen und hob sie hinein. Sie nickte ihm freundlich zu, aber ihr Lächeln hatte etwas Wehmüthiges. Und als sie nun allein mit sich war, überkam sie eine Bangigkeit, die sich gar nicht meistern lassen wollte. Was war ihr denn geschehen? Sie war auf ihrem Lebenswege an einer offenen Thür vorübergegangen, und jetzt erst, da sie sich weit, weit entfernt hatte und zufällig zurückblickte, sah sie, daß sie zum Eintritt eingeladen hatte. Sie empfand keinen Schmerz darüber; aber es beunruhigte gleichsam ihr Gewissen. Wie viel Kummer hatte sie Walter bereitet! Und wie schwer mußte sein Kampf gewesen sein, wenn es ihm gelang, sich so völlig zu befreien, daß er nun in ihrer Gegenwart über sein früheres Leid scherzen konnte!

Walter war sicher der strenge Idealist geblieben, der an sich die höchsten Anforderungen stellte. Und nicht nur an sich. Wie er das Gefühl, das keine Erwiderung gefunden, von sich ausgestoßen hatte, so setzte er auch bei ihr die Festigkeit voraus, ihr Geschick hinzunehmen, wie sie sich’s bereitet hatte. Eine Rückkehr gab’s nicht. Wohin auch? Sie waren beide andere Menschen geworden in diesen Jahren.

Er hatte sie geliebt … Es war doch wundersam, das jetzt zu erfahren und nachträglich ein Verständniß für das Unverstandene zu suchen und zu finden. Vorbei – vorbei!

Zu viel hatte an diesem Nachmittage auf ihr Gemüth eingestürmt. Sie ging sogleich auf ihr Zimmer, schloß sich ab und ließ sich auch am Abend nicht mehr in der Familie blicken. Robert’s großes Bild verhängte sie, die Photographien stellte sie um. Sie konnte heute nicht mit reinen Empfindungen und auch nicht gleichgültig genug darauf blicken. Und es war ihr auch, als müßte es ihn kränken, sie zu sehen. Sie konnte nichts dafür. Es war ohne ihr Zuthun geschehen, daß der Eine und der Andere sich ihrer bemächtigt hatte. Aber bei Robert konnte sie nun doch nicht sein.

Am folgenden Tage ließ sie sich unwohl melden. So fiel die Fahrt nach dem Kirchhof aus. Aber auch am nächsten suchte sie Ausflüchte.

Die Frau Consul entschloß sich, einmal wieder selbst auf den Kirchhof zu fahren. Nach ihrer Rückkehr erzählte sie, daß sie dort Herrn von Brendeln getroffen habe. Helene hörte auffallend zerstreut zu. „Es scheint mir doch aber recht unpassend,“ sagte sie, „daß er da …“ Sie wurde roth und stockte.

„Wieso?“ fragte die Mama. Dann kam ihr ein Gedanke, der frappirend wirkte. „Er ist wohl auch sonst schon dort gewesen?“

„Ja – in letzter Zeit,“ antwortete Helene.

„So – so! Wahrscheinlich erwartete er auch heute, Dich da zu finden? Ich erinnere mich jetzt, daß er mich so sonderbar anredete. Er hatte mich offenbar von weitem nicht gleich erkannt, da ich gebückt stand und der Lebensbaum ihm mein Gesicht verdeckte. Er wußte es hinterher zu verreden. Ja – was will er denn von Dir?“

„Das weiß ich nicht.“

„Sehr sonderbar. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb Du in den letzten Tagen … Du hast ganz Recht, mein liebes Kind. Sein Benehmen ist mindestens unzart. Mein Himmel! der Tag ist ja lang, und er kann auch zu anderer Stunde seine Nachforschungen nach dem versunkenen Geheimrath anstellen, oder was er sonst gewesen ist.“

Die Frau Consul wollte sich’s überlegen, was dagegen zu thun sei. Die Sache wurde mit den Töchtern besprochen. Vera versprach durch ihren Bräutigam ganz unter der Hand Herrn von Brendeln wissen zu lassen, daß man mit ihm unzufrieden sei. Durch Selma erfuhr Osterfeld regelmäßig, was sich in der Familie ereignete. Er nahm den Vorfall sehr ernst. „Dieser Herr von Brendeln,“ sagte er, „ist mir längst verdächtig. Habe ich’s denn allein bemerkt, daß er Helenen auffällig den Hof macht? Er ist zu klug, um irgend etwas ohne Absicht zu thun. Wenn er sich ernstlich um Helene bemühen sollte …“

„Sie ist jung und hübsch,“ äußerte Selma wie zur Bestätigung.

„Pah!“ sagte er, „und reich.“

„Reich?“

„Vergeßt doch nicht Robert’s Testament. Ich weiß nur noch nicht bestimmt, ob er davon Kenntniß hat. Aber es ist mir sehr wahrscheinlich – es ist anders kaum denkbar. Herr von Brendeln strebt vorwärts und braucht dazu die solide Unterlage eines möglichst unabhängigen Vermögens. In ein armes Mädchen verliebt er sich nicht.“

„Schade um seine ganz nutzlosen Bemühungen.“

„Hm … Er kann sehr liebenswürdig sein.“

Selma lächelte ungläubig. „Aber wie kannst Du nur denken, daß Helene einer solchen Verirrung fähig wäre! Sie hat geliebt! Vermagst Du Dir vorzustellen, daß man mehr als einmal lieben kann? Das würde mich sehr unglücklich machen.“

Damit war jede Fortsetzung des Gesprächs abgeschnitten. Osterfeld hatte nur noch alle Mühe aufzuwenden, seine Frau durch Zärtlichkeiten zu überzeugen, daß er ganz ihrer Meinung sei. Sie kosteten ihm allemal einen gewissen Zwang. Zum Glück kam er nur sich selbst als Liebhaber komisch vor; Selma war immer leicht gerührt, wenn er weich wurde.

Uebrigens erreichte er durchaus seinen Zweck. Selma sprach natürlich mit der Mama über die wichtige Angelegenheit und beleuchtete sie hier mit dem Lichte, das er ihr angesteckt hatte. Nun freilich gab sich die Frau Consul den Anschein, gar nicht begreifen zu können, wie ein solcher Verdacht sich durch die Thatsachen rechtfertige. „Osterfeld rechnet da zu kaufmännisch,“ sagte sie, „und übersieht, daß es für das Gefühl unmögliche Combinationen giebt.“ Trotz dieses Absprechens beschloß sie doch, im Stillen schärfer zu beobachten. Helene wurde mit zärtlichster Sanftmuth wie eine Leidende behandelt; sie sollte nicht einmal ahnen, daß man etwas anderes als völlige Resignation von ihr erwarten könne.

Herr von Brendeln setzte übrigens seine Besuche im Hause fort und änderte sein Benehmen in keiner Weise. Vielleicht noch auffälliger, als vorher, hielt er sich zu Helene; so oft sich irgend die Gelegenheit dazu bot, war er bemüht, sie in ein vertrauliches Gespräch zu ziehen. Er erschreckte sie oft genug durch seine Offenherzigkeit in der Beurtheilung der Menschen, unter deren täglichem Einfluß sie stand.

Helene entnahm für sich aus seinen anscheinend ganz allgemeinen Betrachtungen, was auf ihre besondere Lage Bezug haben konnte, und fühlte sich immer unbefriedigter. Es ängstigte sie manchmal, daß der Assessor so viel Macht über sie gewann; aber dann erschien er ihr wieder als der Befreier aus den drückendsten Banden. Es war ihr ganz sicher, daß sie nichts für ihn empfand, was herzliche Zuneigung hätte heißen dürfen, aber sie fühlte sich ihm doch zu Dank verpflichtet. Sie täuschte sich vielleicht über den eigentlichen Grund jener Sicherheit, aber darin, daß sie vorhanden war, täuschte sie sich gewiß nicht.

Nun hielt auch Walter Grün Wort: er stattete im Hause der Frau Consul seine pflichtschuldige Visite ab. Man empfing ihn dort allseitig mit einer gewissen Voreingenommenheit. Eine so achtbare Persönlichkeit der Uhrmacher war, man wußte eben in diesem Kreise nichts mit ihm anzufangen, und sein Sohn, mochte er auch studirt haben, war doch wohl zu sehr unter dem Einflusse kleinbürgerlicher Anschauungen und Gewohnheiten erzogen, um hier heimisch werden zu können. Nun machte sein Erscheinen offenbar den günstigsten Eindruck auf die weiblichen Mitglieder der Familie. Der Herr Doctor bewegte sich mit der vollen Freiheit eines geschulten Cavaliers, und nicht einmal das den jungen Gelehrten sonst wohl eigene steife Wesen, das sich namentlich in der Schule so leicht angewöhnt, wurde fühlbar. Er führte das Gespräch mit größter Leichtigkeit in jenem spielenden Tone, der auf die wenigen Minuten des Zusammenseins berechnet ist. Dabei war doch kein Wort ganz unbedeutend, der Gegenstand, den er berührte, sofort interessant. Bald wendete er sich an die Frau Consul, bald an eine der Töchter und warf ihnen den Ball zu. Ein Fremder hätte überzeugt sein müssen, daß er seit Jahren in dem Hause aus- und eingehe.

[696] Die Damen selbst, höchst angenehm und anregend beschäftigt, suchten den Besuch zu verlängern. Mit dem Hut in der Hand mußte er stehend noch eine Weile die lebhafte Conversation fortsetzen. Als er dann endlich entlassen wurde, lud die Frau Consul, der Zustimmung ihrer Töchter gewiß, ihn auf’s Freundlichste zum Wiederkommen ein. „Warten Sie nicht auf die feierliche Einladung,“ sagte sie, „sondern kommen Sie, so oft Sie ein Stündchen frei haben. Sie sollen uns jederzeit willkommen sein.“

Das mußte Helene sehr liebenswürdig finden, und sie bewies auch ihre Dankbarkeit durch die heiterste Stimmung nach seinem Weggange. Vorher hatte sie sich bei dem Gespräch kaum betheiligt, wie denn auch Walter wenig bemüht gewesen war, sie hineinzuziehen. Das hatte sie nicht für eine Zurücksetzung gehalten, sondern eher im Stillen die geschickte Weise gelobt, wie er sich zunächst den fremden Damen bekannt machte und die Frau vom Hause merken ließ, daß er ihretwegen gekommen. Sie war mit dem Vetter außerordentlich zufrieden, wohl sogar ein wenig stolz auf ihn. In die Freude darüber mischte sich wieder die Verwunderung, was der linkische, pedantische Student in den Wanderjahren aus sich gemacht habe. Sein Vater behielt Recht: er war ein ganz anderer Mensch geworden.

„Was für ein hübscher, stattlicher Mann ist Dein Vetter!“ rühmte die Frau Consul.

„Er hat etwas Geistiges im Gesicht, das sehr anzieht,“ meinte Vera.

„Und aus den Augen spricht ein tiefes Gemüth,“ ergänzte Frau Selma Osterfeld.

„Die Haltung ließ nichts zu wünschen,“ nahm die Mama wieder das Wort. „Erinnert er nicht in der Figur ein wenig an Robert? Auch ungefähr dieselbe Größe.“

„Was er spricht, ist eigentlich Alles ganz ernst,“ kritisirte Vera, „und man muß manchmal recht scharf aufpassen, um ihm folgen zu können; aber es fließt ihm so leicht vom Munde, als fänden sich die Worte von selbst zusammen. Ich mußte wiederholt an Herrn von Brendeln denken, mit dem er doch sonst nicht die mindeste Aehnlichkeit hat.“

„Nicht die mindeste,“ bestätigte Helene.

„Der Assessor ist vielleicht noch gewandter,“ sagte Selma lächelnd – sie glaubte, daß Helene für ihn Partei ergriffen habe. „Aber man weiß doch nie, wie weit es ihm Ernst mit der Sache ist. Ich bin da in letzter Zeit sehr vorsichtig geworden und möchte Jedem rathen, meinem Beispiel zu folgen. Herr Doctor Grün hat etwas in seiner ganzen Art, das Vertrauen erweckt. Ich würde ihm ohne Bedenken die Erziehung meines Sohnes anvertrauen. Ob er sich nicht möchte bereit finden lassen, wenigstens einige Stunden zu übernehmen?“

„Wohl schwerlich,“ meinte Helene.

„Weshalb nicht?“

„Ah! Ich kann mir nicht denken, daß er sich dazu verstehen wird, den Hauslehrer zu spielen – am wenigsten in diesem Hause.“

„Warum am wenigsten in diesem Hause?“ fragte Frau Berghen ein wenig gereizt. „Man ist anderswo kaum in der Lage so hohe Honorare zu bewilligen.“

„Gerade des Honorars wegen, Mamachen,“ antwortete Helene. „Doch kann man sich ja bei ihm erkundigen.“

Das geschah bei nächster Gelegenheit, genau mit dem Erfolge, den Helene vorhergesehen hatte. Er lehnte aber so liebenswürdig ab, daß man die Anfrage nicht bereuen durfte. Er gedenke alle seine freie Zeit wissenschaftlichen Arbeiten zu widmen, sagte er, die seine Habilitation bei der Universität vorbereiten sollten. Doch erbiete er sich gern, den Knaben von Zeit zu Zeit zu prüfen und – ganz freundschaftlich – wegen seiner weiteren Ausbildung Rath zu ertheilen. Er ließ sich auch zugleich die Bücher zeigen und spendete den Arbeiten so freundliches Lob, daß die zärtlichste Mutter hätte beruhigt sein können.

(Fortsetzung folgt.)




Die elektrische Kraftübertragung.

Ein Bild aus der elektrischen Ausstellung in Wien.

Ein fröhliches, buntes Leben durchwogt seit Wochen die Kaiserstadt an der Donau. Seit den Tagen der Weltausstellung im Jahre 1873 hat Wien nicht eine solche Zahl von Fremden begrüßt, wie es nun beherbergt, wo zwei hochinteressante Ausstellungen ihre mächtige Anziehungskraft in weite Ferne hinaus, selbst über den Ocean hinüber wirken lassen. In dem neuen Rathhause, diesem wunderbaren Meisterwerke moderner Baukunst, versetzt uns die historische Ausstellung der Stadt Wien in die Erinnerungen an eine vergangene und für immer todte Zeit – und „im Prater draußen“, in der majestätisch imposanten und stolzen Rotunde schauen wir die Wunder einer Naturkraft, welcher die Zukunft gehört.

Es wird wohl kaum ein Menschenalter währen und der elektrische Strom wird in dem ewigen Kampfe der Menschheit um die Wohlfahrt ihres Daseins keine bescheidenere Rolle spielen, als Dampf, Wasser und Gas in unserem heutigen Leben. Wer sollte daran noch heute zweifeln, wenn er offenen Auges und empfindlichen Sinnes die Rotunde durchwandert und ihre Kreuzflügel und Gallerien durchschreitet? Freilich, das Licht, welches die Elekricität uns spendet, ist der gewaltigste Magnet für die Tausende und Tausende, die Abend für Abend durch die von Musik, Sang und Lust durchrauschten Prater-Auen dem Flammenscheine entgegenziehen, welcher die Rotunde umfluthet. Entzückt, überrascht wogt die Menge in die Lichtatmosphäre des Palastes, sie drängt sich durch die reizenden „Interieurs“, die im Glanze ihrer Beleuchtung uns anheimeln wie Bilder aus „Tausend und einer Nacht“; sie jubelt in dem kleinen Theater den Tänzen Beifall, über welche das elektrische Licht den Zauber der Märchenwelt unserer Jugendphantasie ergießt. … Und so wandert die Menge weiter durch all die künstlerisch ausgeschmückten Hallen, in welchen die Völker der civilisirten Welt ihre Errungenschaften auf dem Gebiete der Elektrotechnik ihr vor Augen führen, sie staunt an und bewundert die äußere Pracht, die wohl der zeichnende Stift des Künstlers, wie dies auf unserm nebenstehenden Bilde geschehen ist, wiederzugeben vermag, auf deren Beschreibung jedoch die Feder des Journalisten aus freien Stücken verzichtet. Wenn der Maler die geschmackvollen Pavillons, die Portale und Theater darstellt, so versuchen wir lieber den inneren, geistigen und volkswirthschafllichen Werth der weniger in’s Auge fallenden Maschinen an einem Beispiele zu erörtern, denn nur eine solche Betrachtung wird uns belehren können, wie groß der Werth und die Bedeutung dieses friedlichen Wettstreites für die gesammte Menschheit ist.

Das Licht ist ohne Zweifel die imposanteste Erscheinung, in welcher die Elektricität in dem letzten Jahrzehnte, seit die Telegraphie uns eine alltägliche Anwendung geworden, sich geäußert hat; jedoch wir meinen, es sei ihr noch eine andere Anwendung von höherer Bedeutung, von größerem Werthe für die arbeitende Menschheit in der Zukunft vorbehalten, eine Anwendung, welche die gegenwärtige Ausstellung uns wohl nicht in erschöpfender, aber doch in anregender Weise vorführt.

Zu den schwierigsten Aufgaben der Mechanik zählt es, eine Kraftquelle an einem von ihr weit entfernten Orte Arbeit verrichten zu lassen, eine Kraft auf große Entfernungen hin gleichsam zu übertragen. Die Erfindung der dynamo-elekrischen Maschine, bei welcher durch die Bewegung eines Drahtkreises in der Nähe eines Magnetes elektrische Ströme erzeugt werden, hat diese Aufgabe ihrer Lösung näher geführt.

Wir können mechanische Arbeit in einer solchen Maschine in elektrische Energie verwandeln, wir können diese durch Drähte weiter leiten, um sie schließlich an einem fernen Orte durch eine gleiche Maschine wieder in mechanische Arbeit umzusetzen. Hippolyte Fontaine, ein französischer Ingenieur, bewies auf der Weltausstellung in Wien zum ersten Mal diesen Transport mechanischer Arbeit mittelst des elektrischen Stromes. Seit jener Zeit haben Gelehrte und Praktiker an der Ausbildung, an der Erforschung und Verwertung dieser Erscheinung unermüdlich gearbeitet.

Paris, München und Königsberg haben uns in rascher Folge die Ergebnisse dieser Studien und Versuche vor Augen gestellt, und Tausende haben in Anschauung derselben die Ueberzeugung von der großen Zukunft der elektrischen Kraftübertragung gewonnen.

[697]

Die elektrische Ausstellung in Wien. Originalzeichnung von J. J. Kirchner.
1. Gruppe der deutschen Aussteller. 2. Elektrische Bahn. 3. Seilbahn und Motor. 4. Englischer Pavillon. 5. Pavillon des österreichischen Handelsministeriums. 6. Rotunde mit dem großen Reflector. 7. Orientalischer Pavillon. 8. Kaiser-Pavillon. 9. Portal der Kunsthalle. 10. Haviland-Theater.

[698] Die Elektricitäts-Ausstellung in Wien ist nicht mit leeren Händen erschienen. Wenn wir von dem in großartigster Weise beliebten „Pratersterne“ aus aus der breiten Reichsstraße nur wenige Minuten in den Prater hineingewandert sind, da treffen wir schon das erste Object, an dem uns die elektrische Kraftübertragung höchst wirksam demonstrirt wird: die elektrische Eisenbahn von Siemens und Halske. In horizontaler Lage und theils in gerader Linie, theils im Bogen, führt diese schmalspurige Bahn anderthalb Kilometer weit bis vor das Nordportal der Rotunde. Pfeilschnell stiegen die beiden schmucken Wagen zwischen den Bäumen und über die Wiesen dahin, mit lautem Jubel von der Jugend begrüßt, die längs des Schienenstranges ein lebendes Spalier bildet.

Die bewegende oder secundäre Maschine, die „Locomotive“ des elektrischen Wagens, ist zwischen den Radachsen desselben verborgen; die stromerzeugende oder primäre Maschine hat in der Westgallerie der Rotunde ihren Platz erhalten; eine mächtige Dampfmaschine verleiht ihr Leben und läßt sie jenen Strom erzeugen, welcher den Schienenstrang durcheilend an jeglicher Stelle, wo der Wagen sich befindet, durch die Radreifen auf der einen Seite zu dem Pole der secundären Maschine gelangt. Von dem zweiten Pole fließt der elektrische Strom durch die Radreifen und den Schienenstrang zurück zu jener Dynamomaschine in der Rotunde, also den Kreislauf schließend, ohne welchen ein Strom nie und nimmer bestehen kann.

Siemens und Halske denken an noch kühnere und großartigere Anwendungen dieser Art der Kraftübertragung: einen Pfeiler des Ausstellungspalastes schmücken nette Skizzen und Pläne, die Entwürfe zu einer „Stadtbahn“ durch Wien. Der Gedanke ist nicht neu: schon vor vielen Jahren hat B. Mendel, dessen Schriften im Lesezimmer der Ausstellung ausliegen, für die elektrischen Hochbahnen in den verkehrsreichsten Theilen der Großstädte manch warmes Wort geschrieben.

Wenn wir den Palast durch das Südportal betreten, wenn wir den reizenden Kaiserpavillon umschreiten und bei dem funkelnden Kupferobelisken uns nach rechts wenden, da treffen wir in der Abtheilung der kaiserlich königlich privilegirten Südbahn-Gesellschaft einen hübschen Wagen, von Holzstangen überragt. Das ist ein Modellwagen der ersten „elektrischen Gebirgseisenbahn“, welche von Mödling aus mit einer Spurweite von einem Meter, mit Steigungen von fünfzehn pro Rille und mit Bogen, deren Halbmesser oft nur dreißig Meter beträgt, durch die enge „Klause“ drei Kilometer weit in das reizende villenreiche Thal der „Brühl“ geführt wird. In anderem Sinne wieder, als bei der keinen Bahn von Siemens, ist hier die Aufgabe gelöst, die mächtige Dampfkraft durch die Vermittlung des elektrischen Stromes an jene stets wechselnde Stelle zu übertragen, wo sie wirksam werden soll. Starke hölzerne Stangen bilden auf der einen Seite der Bahn gleichsam Spalier und tragen zwei Leitungskabel, welche die stromerzeugende Maschine mit den tiefer hängenden, schwachen, nach unten hin geschlitzten Eisenröhren verbinden. In ihnen läuft das kleine, durch eine Hanfschnur mit dem Wagen verbundene „Contactschiff“, von dem ein Metallfaden hinabführt zu der Dynamomaschine zwischen den Radachsen. Das Schiffchen, das so unscheinbar mitläuft, spielt eine gar wichtige Rolle, denn es vermittelt den Uebergang des Stromes aus der Leitung zu der stetig ihren Ort wechselnden Betriebsmaschine, und gestattet ihm auch wieder aus dieser zu seiner Ursprungsquelle zurückzukehren.

Das ist nun Alles recht schön erdacht und gar sinnreich durchgeführt, aber es giebt ein Häkchen dabei, an dem wir nicht achtlos vorübergehen dürfen. Von der Arbeit, die wir nutzbar zu machen gedenken, bringt uns der elektrische Strom nur einen Theil, und zwar einen verhältnißmäßig kleinen Theil, mit dem anderen haben wir gleichsam die Uebertragung der Kraft auf eine so weite Strecke bezahlen müssen. Er hat nämlich dazu gedient, die Leitungsdrähte oder Leitungsschienen und die Eisenmassen der Maschinen zu erwärmen, ist also für den beabsichtigten Zweck verloren gegangen. Diese Verluste erleiden wir bei jeder elektrischen Kraftübertragung; sie wachsen mit der Entfernung der beiden Maschinen, wie der Botenlohn mit der Länge des Weges sich steigert; sie werden sich verringern, wenn einmal die Principien der Kraftübertragung der Construction der Dynamomaschinen in richtiger Weise zu Grunde gelegt werden – aber allzeit wird man darauf bedacht sein müssen, diese Uebertragung der Arbeit nur dort anzuwenden, wo vor dem hohen Vortheile derselben jene Verluste ihre Bedeutung einbüßen. Aber schon heute sehen wir in den Ausstellungshallen eine große Anzahl verschiedenartigster Maschinen, deren Hämmer, Sägen und Bohrer durch elektrischen Strom getrieben werden.

Leider ist die Elektricität in all den einzelnen Fällen ein kostspieliger Geselle, der nicht so viel nützt, als er verzehrt, und den Jeder darum gern weiter schickt. Der Schlosser, dessen Maschine ein kleiner Motor betreiben soll, stellt sich eine Gaskraftmaschine in seine Werkstätte, läßt den schmucken, prächtig arbeitenden Motor mittelst Wellen- und Riemenübertragung seine Werkzeuge bewegen und weist dem theueren „Kraftvermittler“ die Thür. Aber man muß bedenken, daß alle diese Maschinen hier nur als Proben und Beispiele für die Lösung des großen Räthsels der Kraftübertragung ausgestellt sind.

„Seht ihr“ – so wollen sie uns lehren – „der elektrische Strom kann mechanische Arbeit in einfacher Weise übertragen. Denk euch alle diese einzelnen Maschinen, wie sie hier im weiten Palaste der Rotunde verstreut sind und von denen jegliche zu ihrer Bewegung einer anderen Arbeitsgröße bedarf, denkt sie euch an den verschiedenen Punkten einer Stadt – und denkt euch nun draußen vor ihren Thoren einen mächtigen elektrodynamischen Motor, betrieben von einer gewaltigen Dampfmaschine oder einer nicht minder kräftigen Turbine – wie anders wird nun plötzlich das Bild! Der elektrische Strom, welchen jene entsendet, er theile sich in viele Arme; in die Werkstätte eines Mechanikers führe der eine, in die Dachstube einer armen Näherin der andere; hier verzweige der Strom sich in den Arbeitssälen einer großen Buchdruckerei, dort trete er in die Kammer eines Galvanoplastikers; der schlichte Tischler gebrauche einen Theil seiner Kraft und einen anderen wieder verwerte der Spengler – ist der elektrische Strom nun auch noch ein unnützer Geselle, ein überflüssiger Vermittler?“

Nein, wahrhaftig nicht! Nun wird er ein mächtiger Bundesgenosse des Kleingewerbes, der Kleinindustrie. Die Dampfmaschine hat ihre Allgewalt einst dem „Capitale“ geliehen und das Sprüchwort Lügen gestraft: es habe das Handwerk einen goldenen Boden. Die Gaskraftmaschine ist dem Handwerk zuerst wieder hülfreich beigesprungen, sie hat sich seinen Bedürfnissen angepaßt, aber noch immer nicht in jenem Maße, wie es erforderlich war. Nun aber ist es möglich, eine bedeutende Arbeitsgröße billig zu gewinnen, sie auf weite Entfernungen zu übertragen und in fast beliebig kleine Arbeitsmengen, je nach dem Bedürfnisse des Einzelnen, zu vertheilen.

Wir sagen, es ist möglich, auf solche Weise dem Kleingewerbe mechanische Arbeitskräfte zu bieten, nicht weil die Aufgabe schon vollkommen gelöst ist, sondern weil wir der Ueberzeugung sind, daß die Elektrotechniker auch die Schwierigkeiten dieses Problems besiegen werden. Und diese Schwierigkeiten sind bedeutender, als man auf den ersten Augenblick anzunehmen geneigt ist. Jede der secundären Dynamomaschinen muß eine bestimmte Arbeit leisten, keine von ihnen darf die andere in ihrer Thätigkeit beirren. Wenn die Nähterin oben in ihrem Stübchen ihre Maschine rasten läßt, darf es der Mechaniker in dem Gange seiner Maschine nicht fühlen; und wenn dem Tischler die Abendglocken zur Nahe läuten, dürfen die Druckpressen einer Zeitung sich darob nicht in ihrer Bewegung beeinflussen lassen. Es ist dieselbe Aufgabe, welche Edison in so genialer Weise bei der Beleuchtung eines ganzen Stadtteiles durch Glühlampen gelöst hat; denn auch hier mußte man beliebig viele Lampen verlöschen können, ohne daß die Leuchtkraft der anderen hierdurch verändert wurde.

Auf der elektrischen Ausstellung zu Paris vor zwei Jahren hat der französische Ingenieur Marcel Deprez nach einem sinnreichen Systeme der Stromverteilung siebenundzwanzig verschiedene Maschinen durch eine primäre Maschine in Thätigkeit setzen lassen; jede unabhängig von der anderen, wie die einzelnen Industriellen einer Stadt selbst. Noch ist die Discussion über dieses System nicht geschlossen, noch stoßen die Beweise der Gelehrten auf dem weiten Kampfplatze der Wissenschaft hart auf einander und führen Colonnen von Formeln einen ernsten Waffentanz, und schon erscheint inmitten der elektrischen Wunder der Rotunde ein neues System der Stromvertheilung. Der Civilingenieur Gravier aus Warschau hat in der Westgallerie zwei dynamo-elektrische Maschinen aufgestellt. Ihre Ströme sendet er nach allen Theilen des Ausstellungspalastes; er speist mit ihnen 24 Bogenlichtlampen, er [699] giebt einer Anzahl Glühlichtlampen den nöthigen Strom, er läßt die Schleif- und Bürstenapparate eines Galvaniseurs durch sie betreiben, er setzt mit ihrer Hülfe einen Ventilator in Bewegung und zeigt an der von ihnen bewirken Heizung eines Samowars und eines Kochapparates, wie sich vielleicht in Zukunft die Elektricität auch für häusliche Zwecke verwerten lassen wird.

Nun muß es sich also zeigen, ob Gravier den großen Wurf gethan, ob er eine glückliche Hand gehabt und das schwierige Problem gelöst hat. Die elektrische Kraftübertragung, sobald sie in wirklich prakischer Weise durchgeführt ist, wird zweifellos in die Verhältnisse unseres wirthschaftlichen Lebens tief eingreifen; denn mit ihr ist noch eine Frage von hoher Bedeutung für dieselben verbunden: die Ausnützung jener billigen Kräfte, welche die Natur den Menschen als mächtige Arbeitsfactoren darbietet.

In unseren Bächen, Flüssen und Strömen, da liegt ein werthvoller Schatz verborgen, der noch nicht voll und ganz gehoben ist: jene Arbeitsmenge, welche auf ihrem Laufe sich gleichsam ansammelt und stetig vermehrt. Die Hauptader des Verkehrs, die Eisenbahnen, führen nicht immer dicht hinan an solche Flüsse und schließen darum die „Werke“ an ihnen von ihren Vortheilen aus; auch die größeren Städte, die Mittelpunke der Industrie, liegen oft entfernt von jenen Punken, wo sich die Wasserkraft in günstigster Weise verwerthen ließe. Die Elektricität bringt hier Hülfe: ein Wassermotor, eine Turbine z. B., nimmt die Arbeit des Wassers in sich auf; die Dynamomaschine, welche von jener bewegt wird, verwandelt diese in Elektricität, und als solche nun wird sie in die Ferne geleitet und in all’ die verschieden großen und verschieden starken Dynamomaschinen vertheilt, welche sie wieder in mechanische Arbeit zurück verwandeln. Auch hier werden wir nicht die ganze Arbeit wieder erhalten, welche uns der Bach, der Fluß oder Strom geboten: aber das ist ja eine alte und wohlbekannte Wahrheit, daß dem Menschen Nichts umsonst wird, daß er sich Alles erringen und erwerben und erkaufen muß. Und ich denke, es ist besser, wir gewinnen nur einen Theil jener Arbeitsmenge der Gewässer, als daß wir sie ganz unbenützt hinabfluthen lassen in den Ocean.

Die elektrische Ausstellung in Wien bietet uns leider kein Beispiel dieser Art, wie es so anschaulich und so interessant die Ausstellung in München uns gelehrt hat. Aber sie zeigt die Anwendung einer anderen nicht minder mächtigen Naturkraft, des Windes.

Vor dem Nordportale der Rotunde, über die elektrisch betriebene Seilbahn, welche aus dem Lagerhause die Kohlen in das Kesselhaus der Rotunde befördert, ragt ein großes Windrad empor mit einem breiten Flügelarme – hier oben wirkt die Kraft der bewegten Luft und unten in dem hölzernen Häuschen wird sie in einer Dynamomaschine in Elektricität verwandelt, die nun in beliebiger Weise fortgeleitet, vertheilt und wieder in mechanische Arbeit umgesetzt werden kann. Aber der Wind ist ein unverläßlicher Arbeiter, heute rast er wie toll, als müßt’ er die ganze Welt zusammenfegen, und morgen ruht er gemächlich wie ein „alter Deutscher“ auf seiner Bärenhaut. Mit solchen Launen muß gerechnet werden: darum hat Ingenieur Friedländer, der Aussteller dieses Motors, zwischen die primäre und die secundäre Maschine jene unter dem Namen Accumulatoren bekannten Elektricitätssammler eingeschaltet, um durch sie die Elektricität, welche in den Zeiten des Windes gewonnen wurde, für die windlosen Tage aufzubewahren.

So sind wir nun wieder vor dem Portale angelangt, durch welches wir den lichtdurchflossenen Palast betraten: funkensprühend saust der elektrische Wagen an uns vorüber; von der Höhe der Rotunde huscht ein Lichtkegel magisch über die Baumwipfel und bleicht den Glanz der Sterne und des Mondes. Innen, in dem weiten Raume aber drängt und staut sich noch immer die bewundernde Menge, zischen und schnarren und lärmen Maschinen und Motoren, läuten die Glocken der Eisenbahnsignale, pochen die Hämmer der Telegraphen, tönen Schellen und Wecker und widerhallen die elektrisirenden Klänge der „Straußischen Walzer“, durch welche die unermüdliche Militärcapelle auf Tausende der Besucher eine gar mächtige Anziehungskraft auszuüben versteht.

Alfred Birk.




Wie verpflegen wir unsere gefiederten Freunde?

Rathschläge für eine verständige und ersprießliche Stubenvogelpflege.
Von Dr. Karl Ruß.

Als vor Kurzem der internationale Thierschutzcongreß in Wien im Einladungsprogramm unter anderen wichtigen Punkten auch die Besprechung des Vogelschutzes in allen seinen Beziehungen angekündigt hatte, erhielt ich – als Herausgeber der weit verbreiteten Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ – zahlreiche Zuschriften, in denen man mich aufforderte, dort in die Schranken zu treten einerseits gegen etwaige zu weitgehende Beschlüsse in Betreff des Haltens von Stubenvögeln überhaupt, andererseits aber auch mit den Thierschutzvereinlern gemeinsam gegen die Mißstände, welche allerdings in der Vogelliebhaberei vorkommen und die sich keineswegs leicht abstellen lassen.

Es war mir nicht vergönnt, nach Wien zu reisen; mit desto größerer Freude entnahm ich den Berichten die Mittheilung, daß man mit den gefaßten Beschlüssen sich lediglich gegen den nur zu argen Mißbrauch, Vögel für die Zwecke des Frauenputzes zu tödten, gerichtet, daß man sich mit Maßnahmen des Vogelschutzes im Freien beschäftigt und die Vogelliebhaberei verständiger Weise unberührt gelassen hat. Um so mehr haben wir, die Vogelliebhaber, nun aber auch Veranlassung dazu, ernstlich dahin zu streben, daß wir den billigen Anforderungen des Thierschutzes in möglichst vollem Maße genügen. Eigentlich sollte dies von vornherein als selbstverständlich gelten dürfen, denn der Vogelliebhaber muß doch eben die Vögel lieb haben und sie dementsprechend liebevoll verpflegen; – leider bleibt jedoch in zahlreichen Fällen darin viel zu wünschen übrig, und so will ich denn hier einmal einem weiten Bedürfnisse gegenüber vom Vogelschutz in der Häuslichkeit sprechen.

Mit aufrichtiger Betrübniß sehen wir allenthalben um uns her, daß es viele Leute giebt, welche Stubenvögel anschaffen, ohne wirkliche Vogelliebhaber zu sein und die ausreichenden Kenntnisse zur Verpflegung der Vögel zu haben und ohne auch nur darnach zu streben, sich solche anzueignen. Am schlimmsten erscheinen in meinen Augen jene herzlosen Reichen, welche einen prunkvollen Vogelkäfig irgendwo im Vorzimmer oder Salon aufstellen, um in demselben eine Anzahl möglichst buntfarbiger Vögel verständnißlos und liebeleer verkommen zu lassen. Dann folgen die kaum minder unverantwortlich handelnden Leichtfertigen, die, von der Schönheit, dem Gesange oder irgend einer anderen Eigenthümlichkeit eines Vogels augenblicklich hingerissen, ihn anschaffen, nur zu bald aber des bedauernswerten Thieres überdrüssig werden und es erbarmungslos wie ein verschmähtes Spielzeug beiseite werfen. Diese letzteren versuchen es gewöhnlich doch wenigstens einen Ertrag aus dem Verkauf desselben zu schlagen, und wohl dem Vogel, wenn er dann noch lebensfähig in die Hände eines wirklichen Liebhabers gelangt. Beiden, den Leichtfertigen ebensowohl als den Uebelwollenden, gilt meine ernste Mahnung, daß sie ihre sogenannte Vogelliebhaberei aufgeben und sich in irgend welcher andern Weise Vergnügen und Zerstreuung suchen mögen. Sie sollten bedenken, daß sie sich der allerärgsten Thierquälerei schuldig machen, und daß, wenn sie auch nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes strafbar sind, doch alle rechtschaffen und billig denkenden Menschen ihre Handlungsweise verabscheuen müssen.

Nur Der hat die Berechtigung dazu, einen Stubenvogel (oder irgend ein Thier überhaupt) anzuschaffen und zu haben, welcher sich die ausreichenden Kenntnisse der Eigenthümlichkeiten und insbesondere der Bedürfnisse des Pfleglings erworben und der nun ernstlich dahin strebt, den ersteren Genüge zu leisten und die letzteren zu befriedigen.

Die Entschuldigung, daß Jemand die Vögel gern sachgemäß verpflegen würde, daß es für ihn aber zu schwierig, zeitraubend oder doch zu unbequem sei, sich erst weitläufig über sie zu unterrichten, wird kein Einsichtiger gelten lassen, denn die Belehrungsquellen, [700] aus welchen für solchen Zweck zu schöpfen ist, stehen in staunenswerther Mannigfaltigkeit Jedermann zu Gebote. Eine stattliche Reihe von Namen der Schriftsteller haben wir vor uns, welche darin wetteifern, die Vogelliebhaberei nach allen Seiten hin zu fördern, ihre Anleitung und Rathschläge für alle möglichen Fälle zu gewähren. Jede Buchhandlung legt auf das Bereitwilligste eine reiche Auswahl an entsprechenden Büchern dem Suchenden vor.[1]

Alle Stubenvögel, und zwar ebenso einheimische wie fremdländische, müssen vor einigen üblen Einflüssen sorgsam bewahrt werden, weil dieselben ihnen nur zu leicht Verderben bringen, und zwar sind dies: Zugluft, plötzliche und starke Wärmeschwankungen, Naßkälte, verdorbene mit Dunst oder Qualm erfüllte Luft und Unreinlichkeit. Beim Reinmachen der Zimmer des Morgens droht allen Stubenvögeln, vornehmlich den zarteren, Gefahr, ohne daß die liebevollen Pflegerinnen daran denken. Das Aufrühren des Staubes, das Wischen und Waschen, plötzliches Oeffnen der Fenster verursacht schon bei Menschen Unbehagen, Schauer, Erkältung, Schnupfen etc., und erklärlicher Weise leiden die Tropenvögel erst recht darunter. Man sollte daher alle Sing- und Schmuckvögel, auch die einheimischen, während dessen stets in einen anderen Raum bringen oder doch durch eine dichte Decke sorgfältig schützen.

Der tausendjährige Rosenstock am Dom zu Hildesheim.
Nach der Natur gezeichnet von Robert Geißler.

Im Uebrigen hat die Erfahrung längst ergeben, daß alle unsere gefiederten Stubengenossen keineswegs so sehr hinfällig sind, als man anzunehmen pflegt; bei verständiger Pflege erhalten sich selbst die kleinen Prachtfinken von Afrika, Asien und Australien zehn Jahre und weit darüber hinaus vortrefflich im Käfige, die meisten Papageien sind sehr ausdauernd und einige erreichen bekanntlich ein staunenswerth hohes Alter, selbst bei den für äußerst zart und weichlich angesehenen Arten hat in letzterer Zeit verständnißvolle Pflege das Ergebniß gezeigt, daß sie durchaus nicht so hinfällig sind, wenn sie gesund und lebensfähig zu uns gelangen.

Wenn Jemand bei der Lotterie einer Vogelausstellung einen Gewinn gemacht oder, plötzlicher Eingebung folgend, sich in den Besitz eines Vogels gesetzt hat, welchen er gar nicht kennt, so muß es ihm zunächst darauf ankommen, den Namen des Pfleglings zu erfahren und sich über dessen Bedürfnisse zu belehren. Da giebt dem Neuling in der Liebhaberei entweder der Vorstand des betreffenden Vereins oder ein älterer Liebhaber mit Vergnügen Auskunft. Vor allem ist es nothwendig zu wissen, ob der Vogel ein Hartfutter-, also Samenfresser oder ein Weichfutterfresser sei. Im ersteren Fall ist die Verpflegung überaus einfach, denn die bei den Lotterien der Ausstellungen in der größten Anzahl abgegebenen sogenannten kleinen Exoten, also Prachtfinken, Widafinken und Webervögel, bedürfen zur Fütterung zunächst nur weißer, ungeschälter Hirse, Kanarien- oder Spitzsamen nebst gelegentlicher Zugabe von etwas frischen Ameisenpuppen oder sogenanntem Weichfuttergemisch aus getrockneten Ameisenpuppen und geriebenen Möhren oder Gelbrüben nebst Eierbrod und einigen Mehlwürmern. Dabei kann man sie jahrein und -aus erhalten, und nur wenn man sie züchten will, spendet man mehr von den letzterwähnten Zugaben, auch eingequellte Sämereien, Eierbrod, Grünkraut und, so viel wie man beschaffen kann, Gräsersamen von den Fluren in frischen Rispen. Den aus Ostindien herstammenden Arten, namentlich den kostbaren Papagei-Amandinen, muß man auch immer unenthülsten Reis, sogenannten Paddy, anbieten.

Die größeren Körnerfresser, wie rothe und graue Cardinäle etc., bekommen noch etwas Hanfsamen und beständig Mehlwürmer und Weichfutter dazu. Auch bei ihrer Züchtung füttert man wie bei der aller vorigen und giebt ihnen anstatt der Gräserrispen vornehmlich Hafer in frischen Aehren mit noch nicht vollreifen Körnern.

Gewöhnlich bilden weiter eine Hauptzahl der Gewinne bei jeder Vogellotterie auch kleine Papageien, so vor allen Wellensittiche und Zwergpapageien von einigen Arten. Sie werden mit Hirse, Kanariensamen und Hafer gefüttert und erhalten als Zugabe beim Nisten dieselben Sämereien eingequellt, sowie in Rispen, auch Gräsersamen, etwas Grünkraut und das Weichfuttergemisch mit etwas [701]

Kleine Bilder aus der Gegenwart.

Nr. 7. 0Bei J. Wickersheimer.

„Mit Gläsern, Büchsen rings umstellt,
Mit Instrumenten vollgepfropft —“

ist das eigenartige Laboratorium, in welches wir heute unsere Leser einzuführen gedenken. Eine sonderbare Kunst wird in seinen Räumen ausgeübt, die Kunst, abgestorbenen Thieren und Pflanzen ein möglichst lebensfrisches Aussehen für möglichst lange Zeit zu verleihen. Aber diese Kunst ist selbstverständlich keine Schwarzkunst; den Zauberstab vertritt hier das einfache Recept, welches also lautet:

„In 3000 Gramm kochenden Wassers werden 100 Gr. Alaun, 25 Gr. Kochsalz, 12 Gr. Salpeter, 60 Gr. kohlensaures Kali und 10 Gr. arsenige Säure aufgelöst. Zu je 10 Liter der erkalteten und filtrirten Lösung werden 4 Liter Glyzerin und 1 Liter Methyl-Alkohol zugesetzt.“

Das ist die bekannte Wickersheimer’sche Konservirungsflüssigkeit, wie der „Reichs-Anzeiger“ seiner Zeit ihre Zusammensetzung veröffentlicht hat, und wir befinden uns in dem Laboratorium des Präparators und Conservators am anatomischen Institut der Berliner Universität J. Wickersheimer, dessen epochemachende Erfindung im Jahre 1879 das deutsche Reich angekauft und zum allgemeinen Besten der Oeffentlichkeit übergeben hat.

Bei J. Wickersheimer.
Originalzeichnung von E. Höppner.

Wozu diese Flüssigkeit dient, das wissen unsere Leser bereits aus einem früheren Artikel der „Gartenlaube“ (Jahrg. 1879, Nr. 22). Mit ihrer Hülfe werden Thierleichen und Pflanzen vor Verwesung geschützt, wobei sie, im Gegensatz zu allen anderen Konservierungsmethoden ihre ursprüngliche Weichheit, Biegsamkeit und Farbe beibehalten. Die Erwartungen, welche man damals an diese Erfindung knüpfte, haben sich vollständig erfüllt.

J. Wickersheimer hat sich auch in letzter Zeit einen einfachen Apparat construiren lassen, an welchem er genau beweisen kann, daß die inneren Organe der von ihm conservirten Thierleichen wirklich ihre Elastizität beibehalten. Auf unserer Abbildung ist der geschickte Präparator dargestellt, wie er gerade im Begriffe steht, das Experiment seinen Zuschauern vorzuführen.

Auf dem Tische liegt ein bereits vor zwei Jahren mit der Conservirungsflüssigkeit präparirtes Zicklein. In die Luftröhre desselben wird ein Schlauch eingeleitet, welcher wiederum mit der unter dem Tische sichtbaren, durch Wasserkraft getriebenen Maschinerie in Verbindung steht. Setzt man nun den mit einem Blasebalg versehenen Apparat in Bewegung, so tritt durch den Schlauch die Luft in regelmäßigen Zeitabschnitten in die Lunge des Zickleins ein, und man sieht, wie der Brustkorb sich genau wie beim lebenden, athmenden Thiere senkt und hebt.

Naturgemäß hat sich in dem Maße, wie die Erfindung in weiteren Kreisen Eingang gefunden, auch die Zahl derer, welche sich Rath und Hülfe bei Herrn Wickersheimer holen, vergrößert. Nicht allein „Leute vom Fach“, wie Mediciner, Zoologen, Botaniker, Chemiker, gehören zu diesem Kreise, auch Private, Liebhaber und Sammler, kommen mit ihren Wünschen. Dieser will ein Hirschgeweih mit der die Wurzeln desselben umgebenden Stirndecke nebst Haut und Haar erhalten wissen, jener sich einige Lieblingswürmer und Käfer conserviren lassen u. dergl. m.

Aber auch eine höhere Mission war der Erfindung noch beschieden; ich meine die außerordentlichen Vortheile, die sie den Malern von Thier- und Stillleben gewährt. Die namhaftesten Meister, wie Paul Meyerheim, A. Hertel, Grönland und viele andere, sind längst in regen Connex zu Herrn Wickersheimer getreten, und bald ist es ein Schwan, bald ein schon etwas anrüchiger Kranich, oder Meister Reinecke, auch wohl Freund Lampe, welchen ein Bad in dem Lebenselixir von nöthen, und welche dann, gestählt zu mehrwöchentlichem Modell-Liegen, einzeln, in Gruppen oder mit dem nötigen Kohl garnirt, irgend ein Stillleben verherrlichen helfen.

Durch neue Modificationen der Flüssigkeit ist es Herrn Wickersheimer gelungen, auch ganz große Organismen, wie Pferde, zu imprägniren. So hat er vor Kurzem für den Bildhauer Professor Siemering (Berlin) zu dem für Dresden bestimmten Denkmale den Schimmelhengst Sultan, welchen Kaiser Wilhelm in vielen Schlachten geritten, in eine lebensvolle Stellung bringen und imprägniren müssen, worauf ein vorzüglicher Abguß des Schlachtrosses angefertigt werden konnte. Dies ist in der That eine bedeutende Errungenschaft, die im Vergleich zu dem bisherigen Modelliren nach dem unruhig stehenden lebenden Thiere gar nicht hoch genug anzuschlagen ist. Die von vielen Tagesblättern gebrachte Notiz, bezüglich der geplanten späteren Überführung des „Sultan“ nach dem Hohenzollern-Museum, entsprang vermuthlich der blühenden Phantasie eines Combinations-Reporters. Bezweckt war nach Herrn Wickersheimer’s Aussage thatsächlich nur der erwähnte Abguß, und, nachdem das Fell entfernt, ein nochmaliger Abguß der Muskellagen in eben derselben, kraftvoll schreitenden Stellung des Pferdes, und dieser Zweck ist vollkommen erreicht.

Zum Schluß sei noch erwähnt, daß Herrn Wickersheimer von vielen Industriellen Vorschläge und Anerbieten gemacht worden sind und noch werden, um Lebensmittel (Wein, Bier, Fleisch etc.) für längere Transporte zu präpariren. Diese Errungenschaft dürfte für Export und Import eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erlangen, jedoch hat sich Herr Wickersheimer nähere Mittheilungen hierüber noch vorbehalten, um erst nach Abschluß der Versuche und Unterhandlungen mit der vollendeten Thatsache in die Oeffentlichkeit zu treten.


Ameisenpuppen. Mittelgroße Papageien, die sogenannte Perikiten, versorgt man ebenso, doch mit Zugabe von etwas Hanfsamen.

Alle australischen Prachtsittiche, von den kleinen Schönsittichen bis zu den größten Arten der Plattschweifsittiche hinauf, werden hauptsächlich mit Kanariensamen, Hirse, Hafer und die größten unter Zugabe von Hanfsamen ernährt. Zur Zucht bekommen sie dieselben Zugaben wie die Zwergpapageien, sodann aber auch erweichtes Eierbrod oder Biscuit.

Die großen sprechenden Papageien, der Graupapagei, die Amazonen und alle ihre Genossen, sollte man nur mit Hanfsamen [702] und Mais unter Zugabe kleiner Mengen von bestem trockenem Weizenbrod (Semmel oder Wecken), besonders dem sogenannten Potsdamer Zwieback, und gelegentlicher Spendung von ein wenig vorzüglichstem Obst versorgen, dagegen die bisher übliche Fütterung mit in Kaffee, Thee oder auch Wasser geweichtem Weißbrod aufgeben; noch unheilvoller als die letztere aber ist für solche kostbaren Vögel die leider stark verbreitete Darreichung aller möglichen menschlichen Nahrungsmittel, Fleisch, Fett, Gemüse, Kuchen u. a. m., denn selbst in kleinen Gaben, nur als Leckerei bringen dieselben ihnen doch ganz regelmäßig über kurz oder lang Verderben, Krankheit und Tod.

In neuerer Zeit werden bei den Vogellotterien auch Weichfutterfresser, das heißt eigentlich nur die allbekannten und allbeliebten Sonnenvögel ausgegeben, und diese müssen das schon erwähnte Mischfutter aus Ameisenpuppen und Gelbrüben, nebst etwas erweichtem Eierbrod, ferner auch einige Mehlwürmer und als Zugabe ein wenig Hirse, Kanarien- und Mohnsamen empfangen.

Während die kostbaren Harzer Kanarienvögel, von denen bei den Ausstellungslotterien mancher Vereine wohl einige oder mindestens einer im Werthe von 75 bis 100 Mark unter den Hauptgewinnen vorhanden sind, mit bestem süßem Sommerrübsamen zu drei Theilen und Kanariensamen zu einem Theil oder auch blos mit dem elfteren allein, immer aber unter Zugabe von ein wenig Eifutter (hartgekochtem Gelbei mit geriebener Semmel zu gleichen Theilen) oder anstatt dessen wenigstens mit etwas Löffelbiscuit versorgt werden, bekommen die Kanarienvögel von gemeiner Landrasse lediglich Rüben, Kanarien- und Hanfsamen, letzteren gequetscht.

Nachdem ich nun im Wesentlichen eine Uebersicht der Fütterung aller jener anspruchslosen Vögel gegeben, welche einerseits als Gewinne bei den Lotterien und andererseits als Hauptgegenstände einer bescheidenen Vogelliebhaberei in der Gegenwart zur Geltung kommen, werden die Leser mir darin zustimmen müssen, daß die Verpflegung derselben im Ganzen außerordentlich einfach, mühe- und kostenlos erscheint.

Ungleich schwieriger und bei weitem kostspieliger ist die Haltung der herrlichsten einheimischen Sänger, der Sprosser, Nachtigallen, Schwarzplättchen und anderer, sowie der verwandten fremdländischen, Spottdrossel, Schama und anderer Sängerköniginnen. Sie werden theils mit bloßen, besten, frischen Ameisenpuppen nebst Frucht, theils mit verschiedenen Weichfuttergemischen und Mehlwürmern und gleichfalls Beeren und anderer Frucht verpflegt; dazu aber bedarf es durchaus der Anleitung entweder von Seiten eines erfahrenen Vogelwirths oder der Belehrung durch ein stichhaltiges Handbuch der Vogelpflege.

In allen Fällen wollen die Vogelliebhaber entschieden daran festhalten, daß es zum Wohlgedeihen ihrer Pfleglinge nothwendig ist, ihnen sämmtliche Futtermittel, beziehentlich Nahrungsstoffe überhaupt, nur im allervortrefflichsten Zustande zu reichen. Ferner mögen sie es nicht außer Acht lassen, daß man jeden neueingetroffenen gefiederten Gast zunächst ganz ebenso verpflegen muß, wie es beim Verkäufer bisher geschehen ist, und daß man ihn erst ganz allmählich an die Nahrung gewöhnen soll, welche als zuträglicher für ihn gilt.

Von größter Wichtigkeit für das Wohlergehen und Wohlbefinden der Stubenvögel ist sodann die Beschaffenheit ihrer Wohnungen, das heißt also der Käfige. Es würde hier zu weit führen, wollte ich eine vollständige Darstellung aller Käfige, wie sie für die zahlreichen Stubenvögel am besten hergerichtet werden müssen, nebst genauen Einrichtungs-, Größen- und anderen Angaben anfügen; dies ist auch gar nicht nothwendig, denn eine große Anzahl von Käfigfabrikanten, Nadlermeistern und Anderen wetteifern förmlich darin, die Erfahrungen, welche die neuere Vogelpflege gebracht, auch in den Vogel-Wohnungen zu verwerthen. Allerdings sieht man noch immer auf den Ausstellungen die weder schönen, noch praktischen Käfige in Thurm-, Schweizerhaus-, Burg- und anderen Formen, in Holzschnitzerei und Laubsägearbeit, weil sie von einsichtslosen Leuten stets von Neuem verlangt werden – aber im wohlthätigen Gegensätze dazu treten uns doch mehr und mehr die zweckmäßig eingerichteten Käfige entgegen. Die großen Fabriken von A. Stüdemann, H. B. Hähnel, L. Wahn in Berlin, Wenzel Czerveny in Pilsen und Andere liefern für jede Vogelwelt passende Käfige in sachgemäßer Ausführung und zu mäßigen Preisen.

Wer nun also die verhältnißmäßig geringe Mühe nicht scheut, sich über die Bedürfnisse seiner gefiederten Gäste genau zu unterrichten, und wessen Liebe zur gefiederten Welt so groß ist, daß er Freude darin findet, ihr Dasein behaglich zu machen, der darf als Vogelliebhaber im schönsten Sinne des Wortes gelten, und weder die Mitglieder der Thierschutzveleine, noch irgend ein anderer vernünftiger Mensch wird an der Berechtigung rütteln, daß er Stubenvögel halte, hege und pflege.




Der Ablaßstreit im Jahre 1517.

Von Emil Zittel.

Zuweilen treten die tiefgreifendsten Umwälzungen auf dem Gebiete des staatlichen und kirchlichen Lebens scheinbar plötzlich in einem ganz genau zu benennenden Zeitpunkte und in Folge irgend einer jedem Auge auffallenden Thatsache zu Tage, um sich dann bald langsamer, bald schneller in ihren weithin erkennbaren Folgen zu entwickeln. In diesem Sinne hat man den Anfang der deutschen Reformation wegen der 95 Thesen von je her auf den 31. October des Jahres 1517 gesetzt. Dem tiefer Blickenden freilich ist es in diesem Fall, wie in allen ähnlichen Fällen, kein Geheimniß, daß sich alle derartigen tiefergehenden Umwälzungen des herkömmlichen Wesens und Lebens nur allmählich, oft sogar Jahrhunderte lang deutlich vorbereiteten, ehe sie endlich Jedem erkennbar in auffallenden Thatsachen sich offenbaren, ganz so, wie in einer Nacht die langsam entwickelte unscheinbare grüne Knospe zur farbenreichen Blume aufbricht.

Der Beginn der deutschen Reformation erinnert uns speciell an das bekannte Bild von dem letzten Tropfen, der ein Gefäß zum Ueberfließen bringt. Der Tetzel’sche Ablaßhandel war ein solcher Tropfen, der in unserem Vaterlande wie in der Schweiz einer seit Jahrhunderten im Stillen immer mächtiger herangewachsenen Unzufriedenheit mit der römischen Kirchenherrschaft schließlich zum unaufhaltbaren Ausbruch verhalf. Und weil damals Dr. Martin Luther, „die Wittenbergisch Nachtigall, die man jetzt höret überall“ (Hans Sachs), mit ebenso seltenem Muth der Ueberzeugung wie seltener Kraft und Macht der Rede das aussprach, was Hunderttausende, wenn auch zum Theil nur unklar, dachten oder fühlten, wurde er sofort zum bewunderten Führer der damals längst mit Rom zerfallenen Mehrheit der deutschen Nation. So war in der That die Ablaßpredigt Tetzel’s oder vielmehr Luther’s feierlicher Protest gegen dieselbe der Schlag, welcher, um mit des Letzteren eigenem Wort zu reden, „der Pauke ein Loch gemacht hat“.

Wir dürfen das Wesen des Ablasses wohl bei unseren Lesern als bekannt voraussetzen. Der Ablaß, wie ihn Johann Tetzel predigte, war die in’s Frivole gezogene Entartung einer alten kirchlichen Einrichtung. Zu den Kirchenstrafen, welche die Kirche reumüthigen Sündern auferlegte, ehe sie dieselben wieder in die Gemeinschaft der Gläubigen aufnahm, gehörten auch Gaben an Andere oder für kirchliche Zwecke; auch wurden körperliche Bußen zu Gunsten eines frommen Zweckes öfters in Geldbußen umgewandelt. Je verschwenderischer sich aber der Hofstaat und je üppiger sich das Leben der Päpste gestaltete, desto rücksichtsloser suchte man diese ergiebige Geldquelle auszubeuten, und zu Luther’s Zeit war es dahin gekommen, daß der Papst aus der Vergebung der Sünden ohne Weiteres ein Geldgeschäft machte.

Der Ablaß tritt uns hier in der Form entgegen, daß die Vergebung der Sünden direct erkauft werden konnte, ja nicht nur die Vergebung der schon begangenen, sondern selbst zukünftiger Sünden. Dieser Mißbrauch der ursprünglichen päpstlichen Schlüsselgewalt war ein so in die Augen springender, daß er einem Manne wie Luther in seiner ganzen grellen Ungerechtigkeit erscheinen und ihm das Herz bewegen mußte vor Zorn gegen die leichtfertigen Ablaßprediger und vor Mitleid mit dem bethörten Volke; denn die Speculation auf die Thorheit der [703] Menschen ist nie eine vergebliche gewesen, und gar Mancher gab den letzten Groschen hin in dem Glauben, sich damit die Vergebung seiner Sünden zu verschaffen.

Ein unreines Geschäft wird aber nie von reinen Händen betrieben, und es ist daher wohl erklärlich, daß die Ablaßhändler, wie man sie bezeichnend nannte, denn ein Handel war es ja, den sie betrieben, meist Personen von recht zweifelhafter Vergangenheit und Moral waren. Sie hielten es nicht für Raub, einen recht beträchtlichen Theil ihrer Einnahmen in die eigene Tasche verschwinden zu lassen, und eine alte Berechnung zeigt uns, daß der bekannteste aller Ablaßkrämer, Johann Tetzel, gegen den Luther zunächst die Blitze seiner schneidigen Worte schleuderte, im Festsetzen seiner „Diäten“ durchaus nicht übertrieben bescheiden war. Er führte ein so fröhliches Leben, daß Kurfürst Albrecht später klagte, Tetzel habe mit seiner Gesellschaft „wahrlich nicht ärmlich und peinlich“ gelebt, sondern jährlich so gegen 28.000 Mark verbraucht. Freilich waren die Einnahmen auch darnach; es wird in alten Aufzeichnungen versichert: in Freiberg in Sachsen habe Tetzel einmal in zwei Tagen 2000 Goldgulden (16,000 Mark) eingenommen und in Görlitz im Laufe des Jahres 1808 auf 1509 45,000 Gulden, das heißt 360,000 Mark!

Dieser Johann Tetzel war ein redebegabter und kenntnißreicher, aber auch, wie schon aus dem Vorgehenden erhellt, über die Maßen gewissenloser Mensch. Er war zuvor einmal wegen Ehebruchs zum Tode verurtheilt gewesen und „im Sack in Innsbruck“ gesteckt, das heißt wohl zum Ersäufen im Sack verurtheilt gewesen, dann aber vom Kaiser Maximilian zu lebenslänglichem Gefängniß begnadigt worden. Später war er überhaupt frei gekommen, um als Ablaßprediger schon seit 1802 an verschiedenen Orten Verwendung zu finden. Im Jahre 1817 nahm ihn Kurfürst Albrecht in seine Dienste, und, er wurde nun auch von Rom aus zum Inquisitor und geistlichen Commissar ernannt.

Es ist uns einer der lateinischen Ablaßbriefe Tetzel’s aus dem Jahre 1517 erhalten, der zu charakteristisch für das Ablaßwesen ist, als daß wir ihn hier nicht zum Abdruck bringen sollten. Er lautet in deutscher Uebersetzung folgendermaßen:

„Frater Johannes Tetzel,

Mitglied des Predigerordens, aus Leipzig; Baccalaureus der heiligen Theologie und

speciell ernannt zum Ketzermeister

durch die göttliche Fürsorge unseres heiligen Vaters in Christo, Papst Leo’s X, des Hohenpriesters Gottes und seines Stellvertreters auf der ganzen Erde;

auch
des heiligen römischen Stuhles Unter-Nuntius und Commissär der heiligen Ablässe
für die

Kirchen-Provinzen, Diöcesen, Staaten, Länder und einzelnen Orte Deutschlands

sammt dem

Guardian der Minoriten des heiligen Franziscus, seinem Collegen,

wünscht

allen und jedem Christgläubigen, insbesondere den Magistraten und Rechtsgelehrten, Untersuchungsrichtern und Justizbeamten, Klerikern, und Laien ewigen Frieden in dem Herrn!




Mit großem Leid bekannte und beichtete uns voll Trauerns Matthäus Menner, Hintersasse des Hofgutes Crichow der Pfarrei Burgwerben an der Saale, daß er den Hund seines Nachbars, der ihn angebellt, mit einem Stein habe werfen wollen. Während des Werfens aber sei die Tochter seines Nachbars dem Hunde unversehens nahe gekommen, so daß er sie ganz wider Willen und Absicht getroffen habe. Dieser Mord aber schmerze ihn sehr.

Um sich nun seines Heils zu versichern, ließ er sich mit gebeugten Knieen und gefalteten Händen und unter Thränen von uns einen Indulgenzbrief ausstellen. Kraft dessen sprechen wir, deren Sache es ist, das Heil zu bringen, wo wir es können, den genannten Matthäus Menner, der sich mit uns nach Vermögen zum Besten des Kirchenärars des Apostelfürsten abgefunden hat, mit dem apostolischen Ansehen, mit welchem wir für diese Gegend bekleidet sind, mitleidshalber von diesem unfreiwilligen Morde los und erklären durch gegenwärtiges Schreiben, daß er durch eben diese Autorität von dem genannten Morde ganz freigesprochen ist, und befehlen Jedermann, es seien Kleriker oder Laien, unter Androhung der Verurtheilung, Censuren und Strafen, die in unserem apostolischen Vollmachtschreiben uns übertragen sind: Niemand solle den Matthäus Menner dieses Mordes wegen weder anklagen noch richten, sondern jeder ihn überall für ganz und vollkommen losgesprochen halten.

Zur Beglaubigung und Zeugniß der Wahrheit haben wir das Siegel genannten Aerars und das päpstliche Wappen, das wir zu diesem Behufs führen, ausgedrückt.

Gegeben Crichow im Jahr des Herrn 1515 den 19. Mai; im dritten Jahr der Regierung unseres heiligen Herrn, des Papstes.“




Obgleich Tetzel nicht nach Wittenberg, noch überhaupt in das kursächsische Land kommen durfte, so fühlte man doch auch dort die Folgen seiner Wirksamkeit; denn die Unterthanen Friedrich’s des Weisen strömten zu Hauf nach Magdeburg, Halle und Naumburg, um so leicht und schnell von ihren Sünden losgesprochen zu werden, und das nahm noch zu, als Joachim I. Tetzel und seinen Begleitern am 16. September 1517 auch die Mark Brandenburg öffnete.

So predigte Tetzel im Oktober 1517 in Berlin und in Jüterbogk unter dem Zuströmen von Vornehmen und Geringen, und bis nach Wittenberg spürte man die sittlich bedenklichen Folgen. Da vermochte der pflichttreue Professor der Theologie, Gemeindeprediger und Ordensvorsteher Dr. Martin Luther in Wittenberg seine bisherige Zurückhaltung nicht länger zu bewahren und entschloß sich, „der Pauke ein Loch zu machen“.

Aber wohl wissend, daß ihm selbst die gleichgesinnten Freunde ernstlich abrathen würden, theilte er Niemand sein Vorhaben mit, sondern schlug nach alter akademischer Sitte am 31. October, das ist vor dem Vorabendgottesdienst des Allerheiligenfestes, 98 Sätze in lateinischer Sprache an der Schloßkirche zu Wittenberg an, deren Thüren damals zu derartigen öffentlichen Ankündigungen der Universitätsprofessoren als „schwarzes Brett“ benützt wurden. Diese 98 Sätze erscheinen uns nun freilich, zumal in der deutschen Uebersetzung des Justus Jonas, durchaus gemäßigt und tragen durchaus kein scharf reformatorisches oder gar revolutionäres Gepräge an sich. Aber sie fanden bei der allgemeinen Mißstimmung aller eifrigen, aber edler denkenden Christen, wie aller aufgeklärten Geister, Politiker und Gelehrten einen so überaus lebhaften Widerhall, daß ein Zeitgenosse sagen konnte: „sie liefen in vierzehn Tagen durch ganz Deutschland, und in vier Wochen hatten sie schier die ganze Christenheit durchlaufen, als wären die Engel selbst Botenläufer gewesen.“

Uebrigens gilt doch auch von diesen Thesen das Wort „ex ungue leonem“ – selbst an der Klaue erkennt man den Löwen. Die heilige Begeisterung, die tüchtige theologische Bildung, der kühne Muth, der klare Verstand, der praktische Sinn, der köstliche Humor: sie alle leuchten uns aus den in schönem Latein geschriebenen Sätzen entgegen, welche längst eine reinere und geschmackvollere Uebersetzung verdient hätten.

In seinen Thesen führte Luther aus, daß der Papst nur die von ihm auferlegten Kirchenstrafen erlassen könne; im Uebrigen vermöge derselbe nur insofern Schuld zu erlassen, als er verkündigt und bestätigt, daß die Schuld von Gott erlassen sei. Es irren also diejenigen, welche sagen, daß der Mensch durch des Papstes Ablaß von jedweder Strafe erlöst werde und die Seligkeit erlange. In der 36. These steht der entscheidende Satz: „Jeder wahrhaft reumüthige Christ erlangt als solcher vollständigen Erlaß seiner Strafe und Schuld und besitzt ihn mit Fug und Recht auch ohne Ablaßbrief.“

Es ist begreiflich, daß eine solche Sprache überall verstanden wurde! Das Alles war zwar in lateinischer Sprache, aber doch recht „deutsch“ geredet. Die Thesen machten auch in Wittenberg gewaltiges Aufsehen, aber zu einer Disputation, zu welcher Luther aufgefordert hatte, kam es nicht – weil in Wittenberg Niemand war, der diese Sätze zu bekämpfen gewagt hätte. Auch Tetzel fühlte sich zunächst nicht gemüßigt, mündlich oder auch schriftlich zu antworten. Vielmehr stellte er bald darnach seine Predigten und Ablaßankündigungen ein und erbat sich Verhaltungsbefehle seiner Vorgesetzten. Um sich aber auf den sichtlich entbrennenden Kampf besser zu rüsten, ging er zunächst nach Frankfurt an der Oder, um sich daselbst mit der theologischen Doctorwürde bekleiden zu lassen. Die dortige Universität vollzog das unter dem Zuströmen von gegen dreihundert Dominikanern mit Freuden, und der Rector derselben, Wimpina, fertigte zwei große Thesenreihen an, die nun Tetzel gegen die Luther-Thesen ausgehen ließ, nachdem er die letzteren am 22. Januar 1518 in Frankfurt an der Oder feierlich als Ketzerwerk verbrannt hatte. Bald darauf aber zog er sich still in sein Kloster nach Leipzig zurück: denn in dem heftig ausgebrochenen Streite fing man von Seite der Päpstlichen an ihn fallen zu lassen und der Taktlosigkeit, ja der Verschwendung und Untreue zu beschuldigen. Es kam so weit, daß, als der von Rom abgesandte päpstliche Nuntius Miltitz im Jahre 1519 Luther nach Altenburg berief und auch den Johannes Tetzel dahin vorlud, dieser in unterthänigstem Tone

[704]

Der Ablaßstreit im Jahre 1517.
Nach dem Oelgemälde von W. Lindenschmitt.

[705] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [706] sein Ausbleiben entschuldigen zu wollen bat, da er Leipzig nicht ohne Lebensgefahr verlassen könne, „denn Martinus Luther, der Augustiner, hat die Mächtigen überall so wider mich erregt, daß ich nirgends sicher bin. Deshalb kann ich zu Ew. Ehrwürden, die ich lieber als einen Engel sehen möchte, aus meines Lebens Fahr nicht kommen“.

Da Miltitz bald darnach selbst nach Leipzig kam, ließ er sich den Tetzel vorführen und schrieb dann an den kurfürstlichen Rath Pfeffinger:

„Mir ist Tetzel’s lügenhaftes und schändliches Leben hinlänglich bekannt. Ich habe ihn dessen selbst mit gültigen Zeugnissen überführt und mit den Rechnungen überwiesen, daß er monatlich 130 Gulden (1040 Mark) für seine Mühe gehabt hat, dazu alle Kosten frei, einen Wagen mit drei Pferden und noch 10 Gulden monatlich für seinen Diener, ohne das, was er obendrein gestohlen hat. So hat Tetzel, der überdies auch noch zwei Kinder hat etc., der Kirche gedient! Ich werde Alles nach Rom berichten und ein Urtheil über ihn erwarten.“

Tetzel selbst wollte nach diesem bedrohlichen Zusammentreffen mit Miltitz aus dem Lande fliehen, erkrankte aber und wurde so elend, daß sogar Luther ihm einen freundlichen Trostbrief schrieb, in dem er ihn versichert, daß er nicht wider ihn, sondern gegen einen ganz Anderen kämpfe und daß sich Tetzel vor ihm und seinem Namen nicht fürchten solle.

Bald darauf starb Tetzel, im Juli 1519, als ein sechszigjähriger überlebter, verurtheilter und von Denen schon fast vergessener Mann, die ihn vor wenig Jahren im Triumphzug in ihre Städte eingeführt hatten! Der Streit aber, der sich über sein Treiben entzündet, hatte unterdessen die engen Grenzen der Ablaßfrage längst durchbrochen, viel gewaltigere Verhältnisse angenommen und sich gegen viel wichtigere Fundamentallehren der römischen Kirche gewendet. So war es denn ohne weitere Bedeutung, daß später selbst das Tridentiner Concil in dieser Frage sehr milde und versöhnlich urtheilte.

Diesen ganzen Ablaßstreit hat uns der bekannte Münchener Historienmaler W. Lindenschmitt in seinem an die Schule Kaulbach’s erinnernden Idealbilde mit ergreifender Charakteristik dargestellt und dabei alle historischen Personen in demselben vereinigt, welche an dem Ablaßstreit oder auch an der zum Theil mit dem Ablaß sich beschäftigenden Leipziger Disputation (27. Juni bis 15. Juli 1519) Theil genommen haben.

In einer Kirche, welche hier als Sinnbild der christlichen Kirche überhaupt erscheint, hat Tetzel dem Altar, welchem aber jetzt Alles den Rücken dreht, gegenüber seine erhöhte Verkaufsstätte unter dem Bilde des jüngsten Gerichts aufgebaut, wo uns vor Allem die große Geld- und Ablaßzettelkiste in die Augen fällt. Im rechten Vordergrunde unter dem Volke steht der abgehärmte, unbeugsame und von heiliger Gluth erfüllte Augustinermönch Luther, den damals der Cardinal Cajetan als eine „deutsche Bestie mit tiefliegenden Augen und tiefsinnigen Speculationen im Kopf“ bezeichnet hat, der er nicht mehr begegnen wolle. Auf die Bibel zeigend, erhebt er seine Stimme gegen den Unfug des Ablaßhandels. In seiner Umgebung finden wir die Bilder seines Gönners Staupitz und seiner Freunde Bugenhagen und Carlstadt.

Ueber dieser Gruppe sitzen in dem Chorstuhl der Kurfürst Johann Friedrich und der Herzog Georg von Sachsen mit ihren Begleitern. Vor Luther sehen wir in lebhafter Erregung verschiedene Gestalten: neben einer herrlichen Figur, den „christlichen Adel der deutschen Nation“ repräsentirend, Schüler und Volk, theils zuhörend, theils zum Zerreißen der Ablaßbriefe schreitend. Im Mittelgrunde des Bildes steht Johann Eck und der Dominikanerprior Hoogstraten, die beiden Hauptvertheidiger des Ablaßhandels, gegen das tobende Volk durch Waffengewalt geschützt. Ueber dieser Gruppe sieht man auf hoher Tribüne den Verkauf der Zettel und Tetzel dieselben ausrufend und auf die an der Wand hinter ihm gemalten Schrecken der Hölle weisend. Das heraufdrängende Volk stellt in Charaktergestalten die Ursachen des Ablaßbedürfnisses dar.

Zu oberst die als Rittersmann erscheinende rohe Gewaltthat – vor ihm ein knieender Dieb oder Strolch – zunächst der alte reiche Geizhals mit der jungen schönen Frau, die den Preis des Ablasses mit frecher Stirn der Börse ihres Liebhabers entlehnt, – dann mehr abwärts fanatische Weiber und Bauern, wucherische Bürger und gierige Advocaten, und ganz vorne links eine Gruppe eleganter Ritter und Frauen, die lustig und vergnügt ihren Ablaß einstecken, um – zur Fortsetzung des alten Wandels zu schreiten, begafft von den dreisten Augen der verwahrlosten in Faulheit und in Ehrfurchtslosigkeit aufwachsenden Jugend.

Dem gegenüber, auf der Kirchenbank rechts, sehen wir das Bild der inneren Reue und Zerknirschung, welche allein von der Sünde erlöst, und ein schlafendes Kind als Bild der Unschuld. Ueber dem Chorstuhl sieht man oben an der Wand das Bild des Sündenfalles und in dem Altarschrein auf der anderen Seite des Bildes die Geburt Jesu, die That der allen Zeiten und Völkern verheißenen Erlösungsgnade Gottes.




Unter Spitzbuben.

Ergötzliche und lehrreiche Geschichte aus dem schönen Italien.

Wenn der geneigte Leser etwa glauben sollte, ich wolle ihm irgend eine der oft erzählten Räubergeschichten in veränderter Form auftragen, z. B. Gefangennahme eines harmlosen Reisenden, Aufenthalt in einer romantischen Felsenhöhle, endlich eintreffendes Lösegeld, als der Räuber Kühnster schon im Begriff war, sein Opfer für immer zum Schweigen zu bringen, so ist er in gewaltigem Irrthum. Meine Geschichte ist zahmerer Art, und ich würde vielleicht gar nicht daran denken, sie zu erzählen, wenn ich nicht das Interesse derer im Auge hätte, die gleich mir – denn ich habe die Ehre in dieser Geschichte eine Hauptrolle zu spielen – von dem südlichen Himmel und wer weiß, wovon noch, angezogen, sich einfallen lassen sollten, allein, als simple Reisende, die eine oder andere Gegend zu durchstreifen, es verschmähend, dem rothen Bädecker zu folgen, der genau vorschreibt, wo man gehen, essen, trinken und schlafen soll; ich würde sie nicht erzählen, wenn ich ferner nicht glaubte, es würde für das deutsche Publicum ergötzlich und lehrreich sein, zu vernehmen, wie es einem ehrbaren deutschen Professor gehen kann, der nach Alterthümern sucht, und welche Achtung man in Italien zuweilen vor deutscher Bildung hat.

Meine Geschichte hat außerdem zwei Vorzüge, die von dem lesenden Publicum in der Regel besonders geschätzt werden: erstens ist sie funkelnagelneu, denn sie passirte im Juli und August dieses Jahres; zweitens ist sie so wahr, wie nur eine Geschichte wahr sein kann, denn alles, was ich erzählen werde, ist in den heiligen Archiven der Polizei und Justiz auf Staatspapier niedergeschrieben – ein Vorzug, den nur wenige Geschichten haben –. Was aber dort nicht niedergeschrieben ist, kann ich durch das Zeugniß ehrlicher italienischer Spitzbuben und anderer vornehmer Gesellschaft, wie Gefangenenaufseher, Gefängnißschreiber, Polizeidiener etc., als wahrheitsgemäß bezeugen lassen, wenn dem skeptischen Leser, der nur deutsche Zustände kennt, etwa Zweifel aufstoßen sollten. Auch ein gewisses deutsches Consulat hat, freilich in anderem Stile geschrieben und mit Weglassung der Randglossen, die Geschichte in seinen Acten, und wird sich darüber mit gewissen italienischen Behörden in sicher ganz freundschaftlicher Weise unterhalten. Für jeden Leser wird es vielleicht auch nicht uninteressant sein, einen Blick in Sphären zu thun, die den meisten Deutschen, die das Land des ewig blauen Himmels anzieht, verschlossen sind, aber doch ein Stück Cultur jenes gesegneten Himmelsstriches ausmachen. Wenn ich die Eigennamen weglasse, so möge der verehrte Leser dies entschuldigen; ich kann sie aus mancherlei Gründen nur der Verschwiegenheit der Redaction der „Gartenlaube“ anvertrauen. Doch nun die Geschichte!

Wie tausend Andere hatte ich die Sommerferien ersehnt, um Leib und Geist zu erfrischen in den höheren Regionen der Alpenwelt, und diesmal hatte ich mir die höchsten zum Umherbummeln ausersehen. Nachdem ich von Genf aus halb zu Wasser und halb zu Lande bis nach Martiginy gelangt war, begab ich mich auf die breite schöne Straße, die einst von Napoleon I. gebaut wurde, um mit seinen barfüßigen, aber kriegsruhmdürstigen Kriegern über den großen St. Bernhard nach Italien die französische Freiheit zu importiren.

Was mich anbetraf, so hatte ich die friedlichsten Absichten. Ich wollte mein Reisetaschenbuch mit Notizen anfüllen über die Gegend, die Geschichte jenes Zuges des großen modernen Welteroberers, die historischen Denkwürdigkeiten in Augenschein nehmen, die sich etwa noch vorfänden etc. Nach dem Besuch des weltberühmten Hospizes vom heiligen Bernhard wollte ich aber in das Thal von Aosta hinuntersteigen, um die verhältnißmäßig noch wenig bekannten Ueberbleibsel römischer Herrschaft kennen zu lernen, bis ich dann das Dampfroß mit dem Schluß der Ferien bereit finden würde, mich nach M. zurückzuführen, wo ich als simpler Professor wiederum über die Syntax verschiedener moderner Sprachen jungen Leuten Vortrag halten sollte.

Ich hatte die Gastfreundschaft der Bernhardiner genossen und war im Thale der brausenden Dora auf manchen Hügel und manchen Berg gestiegen, um die möglichen und unmöglichen Römerbauten, die mir als [707] solche bezeichnet wurden, kennen zu lernen, wobei ich von dem herrlichen Ausblick auf das Thal mit allen seinen Seitenthälern, den darüberragenden schneebedeckten Häuptern des Montblanc, Monte Rosa etc. oft mehr entzückt war, als von dem Trümmerhaufen, um dessen willen ich den Berg erstiegen hatte. Die Zeit war rasch verstrichen und der Tag rückte heran, wo dies Umherschweifen sein Ende erreichen sollte. So gelangte ich nach B…, von wo ich am andern Tage mit der Bahn direct nach M… zu fahren gedachte. Ich kehrte, ohne den rothen Bädecker zu fragen, in einem mir als gut und nicht zu theuer empfohlenen Hôtel ein, in welchem man, wie mir versichert worden war, auch französisch sprach, was für mich insofern von Wichtigkeit war, als ich der ltalienischen Umgangssprache nicht mächtig war, da ich bis dahin nicht Gelegenheit hatte, dieselbe zu practiciren, in gebildeten Kreisen Italiens aber überall französisch gesprochen wird. In Piemont ist letzteres sogar die Sprache der officiellen Kreise, und alle Versuche der italienischen Regierung, die italienische Sprache bei Gerichtsverhandlungen etc. einzuführen, sind bis jetzt an dem Widerstande der Beamten und Gemeinden gescheitert.

B., das im Kriege von 1859 mit seiner Festung noch eine Rolle gespielt hat, bietet manches Interessante, und ich versäumte nicht, es in Augenschein zu nehmen. Auch die Festung besah ich mir, von außen natürlich, ahnungslos, welche Bedeutung dieselbe für mich erhalten sollte.

Am anderen Morgen nahm ich mein bescheidenes Frühstück ein und erklärte dabei, daß ich nach Tische abreisen würde. Bei dieser Gelegenheit machte ich die Entdeckung, daß man mein Französisch nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Nach Tische überreichte man mir die Rechnung. Sie betrug für das staubige Zimmer nach dem Hofe hinaus und die drei bescheidenen Mahlzeiten, die ich genommen, ungefähr das Doppelte von dem, was man anderwärts bezahlt, nämlich siebenzehn Franken. Mein Professorenmagen war nicht gewöhnt, in so verhältnißmäßig kurzer Zeit mich zu so enormen Ausgaben zu veranlassen, und rebellirte, sodaß ich mir das Schriftstück, zu deutsch Rechnung, genauer besah. Da fand sich denn Verschiedenes, was ich weder verlangt noch gehabt hatte. Es war nicht der freundlichste Blick, den ich dem biederen Hôtelier zuwarf, als ich nach meiner Reisetasche griff, mein darin wohl verwahrtes Portefeuille herauszuholen und zu bezahlen.

Wer beschreibt aber meinen Schrecken, als ich die Seitentasche, in der es verwahrt worden war, leer fand! Ich kramte die Tasche aus, aber kein Portefeuille war zu finden. Dagegen machte ich die angenehme Entdeckung, daß eine Naht der Tasche aufgetrennt war, an derselben Seite, an welcher inwendig das Behältniß für Papiere und Gold sich befand. Die aufgetrennte Naht war von außen durch eine Klappe verdeckt, sodaß man das Attentat erst beim Oeffnen der Tasche, behufs Herausnahme von Geld etc., bemerken konnte. Ich vergaß in meiner Bestürzung die Höhe der Rechnung und alles und griff mechanisch nach meinem Portemonnaie, um zu zahlen und fortzukommen. Aber auch dieses betrog mich heute.

Seit ich einst auf einem größeren Bahnhofe in Mitteldeutschland durch einen geschickten Taschendieb um mein Portemonnaie mit verschiedenen gelben Zwanzigern gekommen war, ohne daß ich das Geringste gemerkt hatte, habe ich die löbliche Gewohnheit, auf Reisen etc. so wenig wie möglich dem Portemonnaie anzuvertrauen, damit der Verlust im schlimmen Falle nicht zu groß sei. Jetzt fand ich darin wohl verschiedene ganze und halbe Franken, auch eine Zahl Fünf- und Zehn-Rappenstücke, aber im Ganzen machte dies nicht siebenzehn Franken aus. Ich wandte mich an den Wirth und theilte ihm mit, daß ich soeben die Entdeckung gemacht habe, ich sei meines Portefeuilles beraubt. Nachdem er mich von Kopf bis zu Fuß betrachtet, erwiderte er, er verstehe nicht französisch, wolle aber mit mir zu einem Freunde gehen, wo man mich verstände.

Ich war im Herzen froh darüber, daß ich Jemanden finden sollte, der mich verstand und mir in meiner Verlegenheit beistehen könnte. Wir traten in ein Haus ein, das ich für ein Handlungshaus hielt, und die Stube, in welcher wir uns bald befanden und in welcher verschiedene Schreiber saßen, schien mir ein Comptoir zu sein.

Mein freundlicher Hôtelwirth wandte sich an einen der Herren und redete ihn an. Auch ich begrüßte ihn in französischer Sprache; aber als ich ihm erzählen wollte, was mir geschehen sei, herrschte er mich an:

„Schweigen Sie!“

In demselben Augenblicke traten zwei uniformirte Persönlichkeiten ein, und nun ging mir ein Licht auf über den Ort, wohin mich der schlaue Wirth geführt hatte.

„Auch gut!“ dachte ich, „hier kannst Du Dich legitimiren und sogleich eine Vereinbarung mit dem Wirthe treffen.“

Ich zog daher ohne Umstände meinen guten deutschen Paß hervor, der außer Namen und Stand eine genaue Beschreibung meiner Person enthielt und in welchem alle Behörden des In- und Auslandes dienstergebenst ersucht wurden, dem Inhaber nöthigenfalls Schutz und Beistand angedeihen zu lassen. Dies in diesem kritischen Augenblick besonders wichtige Schriftstück überreichte ich dem hochmögenden italienischen Polizeicommissar.

Er besah die deutschen Hieroglyphen von oben nach unten und von rechts nach links, schüttelte mit dem Kopfe, dann schnauzte er mich an: Hier spreche man nur italienisch!

„Halt,“ dachte ich, „der Mann wird als Italiener vielleicht vor der Sprache seiner Urväter Respect empfinden!“

Damit kramte ich mein in lateinischer Sprache verfaßtes Doctordiplom aus, das ich zufällig bei mir führte, weil ich vergessen hatte, es in den großen Koffer zu packen, den ich von G. nach M. per Bahn hatte gehen lassen. Er besah sich das Opus, auf das ich einst so stolz war, als ich es zum ersten Mal in den Händen hielt, mit verächtlicher Miene, warf es auf seinen Tisch, fuhr auf mich los, drohte mir mit der Faust und überhäufte mich mit einer Fluth von Redensarten, aus denen die freundlichen Anreden „Vagabond“ und „Brigand“ mir in das Gesicht sprangen.

Es ist begreiflich, daß ich durch solche Behandlung erregt wurde, und ich schrie ihm noch lauter entgegen, ich sei ein Deutscher, habe meine vollgültigen Papiere bei mir und könne mich über meine Person nach jeder Richtung hin ausweisen.

„Un Tedesco! (ein Deutscher) und spricht französisch!“ lief es von Mund zu Mund.

Das mußte wohl neben meinen unleserlichen (wenigstens für den Commissar) Papieren ein neues schwerwiegendes Moment des Verdachtes sein, denn nun erklärte der Commissar, mich binden lassen zu wollen als Brigand.

Dabei liefen die Schreiber in der Stube auf und ab, die Polizeidiener um mich herum, und untersuchten prüfend meinen Anzug. Alle aber schrieen durch einander, daß es ein Heidenspectakel war, und die ganze südländische Erregbarkeit drückte sich in dem lebendigen Geberdenspiel und den Gestikulationen aus.

Ich wollte der elenden Komödie ein Ende machen und wandte mich, so ruhig wie möglich, an den Wirth, indem ich ihm erklärte, ich würde für die wenigen Franken, die ich, durch den an mir begangenen Diebstahl genötigt, augenblicklich schuldig bleiben müsse, ihm so viel von meinen Werthsachen da lassen, als er glaube, daß zu seiner Sicherheit nothwendig sei, nötigenfalls auch meinen Paß auf der Polizei so lange deponiren, bis ich ihm den Betrag gezahlt habe. Er schien zu überlegen, dann sprach er mit dem Commissar, ohne daß ich verstehen konnte, was sie verhandelten.

Aus einen Wink des letzteren fielen plötzlich zwei der Schergen über mich her, rissen mir Ueberzieher, Rock und Weste vom Leibe, um, wie ich aus den Worten des Machthabenden heraushörte, zu untersuchen, ob ich Revolver, Dolch oder Gift bei mir habe. Das Futter des Rockes wurde abgerissen und hinter demselben alles genau besichtigt. Sobald ich eine Bewegung machte, um zu verhindern, daß die Kleidungsstücke respective die in den Taschen befindlichen Sachen beschädigt würden, drohte man, mich gegen die Mauern zu drücken, und warf mir andere Redensarten in’s Gesicht, die mich zu der Ueberzeugung brachten, daß ich hier auf Alles, auch das Schlimmste, gefaßt sein müsse.

Meine Protestation, die ich in der energischsten Weise gegen solche Vergewaltigung losließ, und meine Berufung auf meine Eigenschaft als deutscher Staatsbürger, wurde mit Hohn und Spott aufgenommen. Als man ein größeres Taschenmesser fand, erregte dies die größte Aufmerksamkeit: es wanderte von Hand zu Hand, bis Alle es genau besehen und ihre Bemerkungen darüber gemacht hatten. Ein Scherge hatte meine Reisetasche ausgekramt und fand ein kleines Tintenfaß in Form eines Schweizerhäuschens, Federn und einen Federhalter. Das schlug dem Fasse vollends den Boden aus. Ein Brigand und Schreibzeug! Was für ein gefährliches Subject mußte ich sein!

Der liebenswürdige Wirth hatte sich inzwischen entfernt. Der Commissar saß überlegend da, während ein anderer Beamter mir sagte, ich möge meine Sachen wieder einpacken. Ich that dies so rasch wie möglich, um von diesem unheimlichen Orte fortzukommen. Da stürzte plötzlich ein anderer Beamter herein, flüsterte einige Worte, im Nu ertönte eine Klingel, drei Schergen erschienen im Locale und erhielten den Befehl, mir alles wieder abzunehmen und mich in’s Gefängniß zu führen. Die widerliche Scene des Herunterreißens wiederholte sich. Ich protestierte von Neuem und berief mich auf die deutsche Behörde, die mir den Paß ausgestellt habe und der ich bekannt sei.

„Ja,“ entgegnete der Commisar höhnisch, „dahin wird man Euch führen, aber so!“

Dabei hielt er die Arme über einander, was so viel heißen sollte als :

„Gebunden!“

Die Sache war außer dem Spaß. Was wollte man mit mir? Ich hatte keine Ahnung davon. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich von Gensd’armen durch die Straßen geführt, wo die Leute mich neugierig anstarrten: das Thor der Festung, die ich am Tage vorher von außen betrachtet hatte, öffnete sich, und über verschiedene Höfe hinweg wurde ich in das Innere eingeführt, um dies ganz gegen meinen Willen kennen zu lernen. Zunächst wurde ich in der Schreiberstube registrirt, dann in einem andern Gemache bis auf’s Hemd entkleidet und jedes Kleidungsstück sorgfältig untersucht. Dann nahmen mich zwei Unterofficiere in ihre freundliche Mitte, schwere eiserne Thüren öffneten sich, und ich befand mich bald darauf in einem feuchten, dumpfen Gewölbe zu ebner Erde, aus dessen dunkelem Hintergrunde mich zwei Galgengesichter neugierig anstierten.

Die Wärter entfernten sich; ich stand nahe der Thür, das Eisengitter betrachtend. Dann kniff ich mich in die Arme, um mich zu vergewissern, ob ich schlafe oder wache. Es schien wirklich das letztere der Fall zu sein. In einer Ecke lag auf dem feuchten Steinpflaster ein Strohsack, der mir als Lagerstätte angewiesen worden war – sehr einladend! Beim Hinausgehen hatte der eine Unterofficier, französisch radebrechend, mir das Local als schön, frisch und kühl angepriesen – sehr angenehm bei der tropischen Hitze da draußen! Der eine jüngere Strauchdieb kam auf mich zu, redete mich in seinem italienischen Patois vertraulich an, und als er merkte, daß ich ihn nicht verstand, ging er hin, nahm einen irdenen Topf, füllte ihn aus einem schmutzigen Fasse mit Wasser und hielt ihn mir entgegen mit der Aufforderung zu trinken – sehr liebenswürdig!

Doch da rasselten die Schlüssel draußen wieder; gewiß hatte man den Irrthum erkannt, meine Papiere und Briefe genau angesehen und kam, mich wieder in Freiheit zu setzen. Die äußere Thür öffnete sich und vor die zweite Gitterthür trat eine lange Gestalt in himmelblauer [708] Uniform mit gutmüthig dummem Gesichte. Nachdem der Himmelblaue mich eine zeitlang betrachtet, öffnete sich der breite Mund und fragte im reinsten österreich-ungarischen Dialekt:

„Sie sein Deutscher?“

„Ja“, erwiderte ich, froh, ein deutsches Wort zu hören, und that die Gegenfrage:

„Sie sprechen deutsch?“

„O,“ erwiderte mein Mann und warf sich in die Brust, „ick deutsch kann serr gut sprecke: ick bin gewese viele Jahren in der Oesterreik, wissen’s, hab’ ick gesprocke nicks als deutsch!“

In der Hoffnung, etwas von ihm über den eigentlichen Grund meiner Einsperrung zu erfahren, that ich eine hierauf bezügliche Frage.

„Ja, schaun’s,“ erwiderte Bruder Meiniges, „weil die Polizei Sie halt nit kennen, mer kann nit wissen, wer und woher sein.“

„Das steht ja in meinem Paß,“ erwiderte ich.

„Ja,“ versetzte er, schlau blinzelnd, „mer kann nit wisse, ob das ist Paß Ihriges, könne auch habe gestohle die Papier.“

„Nun, was will man denn machen, um zu erfahren, daß es wirklich meine Papiere sind?“

„Ja,“ erwiderte er bereitwilligst, „das kann warten drei oder vier Woche, bis hab’n beschriebe an Ihriges Polizei, wer sein.“ Und erzählend setzte er hinzu: „Hab’n hier gewesen eine Baier, der hat auch gehabt Papier, gut Papier, hat hier muß warte vier Woche bis Antwort.“

„Hatte er nichts verbrochen?“

„O nicks, gar nicks, mer wußt nit, ob sein Papier war ordentlich.“

„Aber man kann mich doch unmöglich so lange hier einsperren ohne Grund.“

„O, warum nit?“ erwiderte er gutmüthig, „das mackt nicks. Wenn hab’ gemackt nicks weiter, könne nachher gehe, wo Ihr wollen hin.“

Das waren ja herrliche Aussichten! Auf blosen Verdacht hin vier Wochen hier eingesperrt sein, in dieser Gesellschaft? Ich stellte mir vor, was man denken würde, wenn ich in den nächsten Tagen, wo mein Unterricht beginnen sollte, in M. nicht einträfe, auch in einigen Wochen nicht, und meine Erregung kannte keine Grenzen. Doch da kam mir ein glücklicher Gedanke. An den Consul in M. schreiben und seine Hülfe anrufen! Schon war Bruder Meiniges, über mein längeres Schweigen scheinbar verdrießlich, im Begriff, fortzugehen, als ich mich an ihn wandte.

„Können Sie mir nicht sagen, ob ich einen Brief schreiben kann?“

Erschrocken fast sah er mich an.

„O,“ rief er, „das kein Haus sein zum Schreiben! Hier nicks schreiben!“

In dem Augenblicke faßte ich an meine Rocktasche und vermißte einen dem Culturmenschen unentbehrlichen Toilettengegenstand.

„Aber ich werde doch mein Taschentuch, auch Seife, Kamm und Bürste aus meiner Reisetasche erhalten können?“

„No,“ war die phlegmatische Antwort, „die bekommen’s erst, wenn sein verurtheilt: vielleicht zwei, drei Monat, oder vier Woche, oder ick nit weiß, wie viel.“

„Verurtheilt? Weshalb denn?“

„Ja, schaun’s, weil nit hab’ bezahlen der Wirth.“

Damit ging er lachend fort, die Doppelthür schloß sich, und ich war allein, oder vielmehr nicht allein, woran mich das lebhafte Zwiegespräch der beiden Strolche, das sich nach Entfernung des Unterofficiers erhob, erinnerte. Ich lief in der Zelle auf und ab, die Gedanken gingen kreuz und quer, ohne daß ein vernünftiger kam, der aus dieser Lage Erlösung zu verschaffen fähig gewesen wäre. Endlich faßte ich den Entschluß, ruhig zu werden und die Entwickelung der Geschichte geduldig abzuwarten – blieb doch nichts anderes übrig.

Des Wanderns müde, setzte ich mich auf meinen Strohsack - einen anderen Sitz gab es nicht - und fing an die Zelle und deren Insassen zu studiren. Der eine derselben, ein jüngerer Mann, lief fortwährend von einer Ecke zur anderen und gab sich anscheinend alle Mühe, mir die vortheilhafteste Meinung von seinem Tenor beizubringen, denn unaufhörlich tremolirte er:

„O cara mia
Bella donna“
etc.

wobei er die Endvokale lang verklingen ließ. Jedenfalls ein Opernsänger, den man hier gewaltsam seinem eigentlichen Berufe fern hielt zum Bedauern des Publicums, das ihn schmerzlich vermißte. Der Andere, ein älterer Mann in grauem Haar, stand stumm und in sich versunken da.

Die Nacht kam. Licht gab es natürlich nicht. Um zehn Uhr erschien die Wache mit einer Fackel und untersuchte die Zelle genau, ob nicht etwa ein Ausbruch vorbereitet werde. Doch der Opernsänger und sein stummer Genosse, letzterer in Adam’s Costüm, lagen und schliefen fest. Ich schlief nicht und war in meinen Kleidern geblieben. Man bedeutete mir, daß ich mich zu entkleiden habe, was ich aber ablehnte, obgleich man drohte, Gewalt anwenden zu wollen. Nach Entfernung der Wächter starrte ich wieder schlaflos in die Dunkelheit. Die Mosquitos umschwärmten mich in Schaaren und zerstachen mir Hände und Gesicht. Von halber Stunde zu halber Stunde ertönte der langgezogene Zuruf der Wachen auf den Wällen der Festung. Aus der Ferne schallte der mehrstimmige Gesang von männlichen und weiblichen Stimmen im Chor bis gegen Morgen. Die beiden gegenüberliegenden Fensterlöcher ließen nach Mitternacht eine kalte Nachtluft hereinströmen, die zwar die Mosquitos, wie es schien, verjagte, mich aber, der ich am Tage stark transpirirt hatte, frösteln machte. Endlich kam der Morgen, mit ihm aber auch ein bis dahin mir unbekannter Schmerz in meiner rechten Körperhälfte und Athmungsbeschwerden. Ich fürchtete, als die Schmerzen größer wurden und bestimmter in der Gegend der Lungen auftraten, eine Entzündung. Im Laufe des Vormittags kam Bruder Meiniges.

„Komm mit!“ sagte er zutraulich, und bald befand ich mich in einem Zimmer vor dem allgewaltigen Staatsanwalt. Ihm zur Seite saß ein Herr, in welchem ich den Deutschen erkannte, der, wie sich bald herausstellte, als Dolmetscher fungiren sollte.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Der tausendjährige Rosenstock am Dom zu Hildesheim. (Mit Abbildung S. 700.) Der tausendjährige Rosenstock auf dem Friedhofe des Domes zu Hildesheim wächst und blüht, ringsum gegen starke Winde geschützt, inmitten der Mauern des ehrwürdigen Domes, emporgerankt an der Ostseite der halbrunden Gruftzelle heute noch wie zur Zeit Ludwig’s des Frommen.

Wäre es nicht eine bekannte Thatsache, daß die wilde Rose an vielen alten Gemäuern und Steinwänden von Geschlecht zu Geschlecht weiter wuchert, so müßte das Bestehen dieses merkwürdigen Strauches dem Wunderglauben reiche Nahrung zuführen. Aber wo die Verhältnisse so günstig sind wie hier, wo die Wurzeln sich tief in die Steinklüfte einbohren können und wo von ihnen äußere vernichtende Einflüsse abgehalten werden, da treibt diese wundervolle Pflanze ihre Blüten gewissermaßen in die Ewigkeit hinein.

Es bestehen über das Alter dieses Strauches unantastbare geschichtliche Ueberlieferungen seit dem elften Jahrhundert. Bischof Hezilo (gestorben 1079), der den durch Feuer zerstörten Dom neu aufbauen ließ, befahl, dem verschont gebliebenen Rosenstock „als einem merkwürdigen Denkmal der Vorzeit die sorgfältigste Pflege angedeihen zu lassen“.

Zweige und Wurzeln wurden während des Baues durch einen gemauerten Canal gedeckt, der gleichwohl den vergrabenen Wurzeln und einigen Ausschüssen so viel Luft und Licht ließ, daß sie bestehen konnten; und nachdem im Jahre 1120 der Rundbau, die Apsis, vollendet worden war, ward der Rosenstrauch an dem Mauerwerk emporgeführt.

Als vor 800 Jahren der Rosenstock bereits ein merkwürdiges Denkmal der Vorzeit genannt wurde, war er zweifelsohne schon von bedeutender Größe, denn seit unvordenklichen Zeiten hat er sich nicht verändert. Seine Wurzeln liegen unter dem mittleren Altar der Domgruft und der Stamm ist durch die zwei Meter dicke Mauer gewachsen. Hiernach ist die Ueberlieferung von der Entstehung des Domes an der Wurzelstätte des Rosenstockes nicht wohl anzuzweifeln, ebenso sind die skeptischen Aeußerungen mancher Besucher des Platzes, es würden von Seiten der Domgeistlichkeit, um das Wunder zu erhalten, von Zeit zu Zeit neue Setzlinge eingegraben, hinfällig.

Die ganz neuen ausgeschlagenen Triebe aus den alten Stämmen reden deutlich.

Die Geschichte des uralten Rosenstammes ist folgende. Ludwig der Fromme war in der Waldgegend, wo jetzt Hildesheim steht, „zu jagen den weißen Hirsch“. Er verlor beim Ueberschreiten des Flüßchens Innerste Pferd und Hunde und kam von seinem Jagdgefolge ab.

Als er vergeblich in sein Histhorn geblasen und, ganz verlassen, in der Einsamkeit knieend gebetet, sank er in tiefen Schlaf. Ein heiliges Gefäß, das er bei sich trug, hatte er über einen Rosenstock gehängt. Erwachend, sah er die Gegend weit und breit mit Schnee bedeckt, aber der Rosenstock leuchtete mit frischen Blüthen. Die Sache ist, wenn es etwa im Mai oder im Spätherbst gewesen, ganz erklärlich.

Dem vom Schlafe Erwachten kam die Erscheinung wie ein Wunder vor, und als auf erneutes Ansetzen seines Hornes die Jagdgesellschaft sich wieder einfand, beschloß Ludwig an der Stelle des Rosenstockes eine Capelle zu bauen.

Das wird schon damals ein alter, kräftiger Strauch gewesen sein, denn seine Wurzelfasern wurden durch den Bau nicht zerstört.

Und seine Rosen lachen noch heute dem stillen Beobachter entgegen und predigen von der Ewigkeit der vielgestaltigen Liebe, deren unvergängliches Bildniß die Rose ist.

Robert Geißler.



Inhalt: Die Braut in Trauer. Von Ernst Wichert (Fortsetzung). S. 693. – Die elektrische Kraftübertragung. Ein Bild aus der elektrischen Ausstellung in Wien. Von Alfred Birk. S. 696. Mit Abbildungen. S. 697. – Wie verpflegen wir unsere gefiederten Hausfreunde? Rathschläge für eine verständige und ersprießliche Stubenvogelpflege. Von Dr. Karl Ruß. S. 699. – Kleine Bilder aus der Gegenwart. Nr. 7. Bei J. Wickersheimer. S. 701. Mit Illustration. S. 701. – Der Ablaßstreit im Jahre 1517. Von Paul Zittel. S. 702. Mit Illustration. S. 704 und 705. – Unter Spitzßbuben. Ergötzliche und lehrreiche Geschichte aus dem schönen Italien. S. 706. – Blätter und Blüthen: Der tausendjährige Rosenstock am Dom zu Hildesheim. S. 708. Mit Abbildung. S. 700.


Für die Redaction bestimmte Sendungen sind nur zu adressiren: „An die Redaction der Gartenlaube, Verlagsbuchhandlung Ernst Keil in Leipzig“.

Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es sei uns gestattet, bei dieser Gelegenheit auf die Werke des Verfassers, Dr. Karl Ruß, „Die fremdländischen Stubenvögel“, „Handbuch für Vogelliebhaber“, „Die sprechenden Papageien“, „Die Prachtfinken“, „Der Wellensittich“, „Der Kanarienvogel“ und „Bilder aus der Vogelstube“ hinzuweisen. Der „Kanarienvogel“ ist bereits in der vierten Auflage erschienen, beide Theile des „Handbuches“ in der zweiten Auflage, und das letztere sowie „Die sprechenden Papageien“ sind mehrfach in andere Sprachen übersetzt. Selbstverständlich müssen wir aber auch die Werke von Bechstein, Lenz, Brehm, Gebrüder Müller, Friderich, Martin u. a. m. als vorzügliche Belehrungsquellen bezeichnen, namentlich soweit dieselben kürzlich neue Bearbeitungen gefunden haben und den Ergebnissen, welche eifrige Vogelpflege und -Züchtung in der letzten Zeit gebracht, Rechnung tragen. Das hervorragendste unter allen Werken über einheimische Vögel, welches trotz seines Alters doch vollen Werth dauernd behält, Naumann’s „Naturgeschichte“, steht leider so hoch im Preise, daß es nur wenige wohlhabende Liebhaber zu benutzen vermögen. Vor den kleinen Machwerken, welche seit Kurzem förmlich wie Pilze hervorschießen und die meistens kenntniß- und verständnißlos aus den Schriften der genannten Autoren abgeschrieben sind, müssen wir warnen. D. Red.