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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[105]

No. 7.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Zum hundertjährigen Todestage Lessing’s.
(15. Februar.)

Ein Angedenken gilt es heut zu feiern,
Das unvergleichbar andern Namen ist:
Dir gilt es, Lessing, Rufer in dem Streit.

Nicht Goethe’s schönheitssel’ger Genius,

5
Nicht Schiller’s Adlerflug zum Ideal

War dir, du mühvoll Kämpfender, verliehen;
Jedoch ein Ritter ohne Furcht und Tadel,
Zugleich ein Sänger warst du und ein Held
Ein Kampf dein ganzes Leben - und ein Sieg.

10
Nicht Rosen schmückten diese klare Stirn

Jedoch ein Kranz von Eichlaub und von Lorbeer
Ziert unverwelklich dir den eh’rnen Helm,
Den nie du abgelegt vom hohen Haupt.

Du hast von deutscher Bühne weggefegt

15
Wie Sturm die Schmach der wälschen Fremdherrschaft, –

Mit blankem, immer scharf geschliffnem Schwert
Hast du die Götzen jeder Art geschlagen.

„Der Freiheit eine Gasse!“ war dein Ruf,
„Freiheit denn deutschen Dichten, deutschen Denken!

20
Wohlthätig, nicht gefährlich ist das Licht,

Das milde Licht der Duldung und der Wahrheit.“

Der Ring, der in der Fabel ging verloren, –
Der Wahrheit bester Theil, ihr Unterpfand,
Das ew’ge Suchen nach der Wahrheit. – – Du,

25
Ein deutscher Nathan, hast den Ring gefunden – –


O daß dein Geist, der echte deutsche Geist,
Der Alles was da menschlich ist umschließt,
0 daß der Geist der Freiheit und der Wahrheit,
Des Forschermuthes und der Mannespflicht,

30
Daß Lessing’s Geist die starken Schwingen schlage,

Wo immer deutsche Sprache tönt!

Felix Dahn.





Amtmanns Magd.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Mit Pachter Griebel hatte sich Herr Markus rasch verständigt. Der Wackere hatte sich sofort bereit erklärt, den Gutsherrn bei seinem Samariterwerk zu unterstützen, und seine brave Ehehälfte hatte mit dem Bemerken acceptirt, was ihr Peter einmal wolle, das geschehe ja doch, und wenn er zehnmal seine duckmäuserische stille Miene aufstecke – er habe es eben faustdick hinter den Ohren, und da sage sie denn in Gottes Namen: Ja und Amen. Aber verwehren könne es ihr doch Niemand, wenn sie den Kopf schüttele und die Hände zusammenschlage über den jungen Herrn, dem es jedenfalls zu wohl sei, denn sonst ginge er doch wohl nicht so tanzlustig auf’s Eis. Mit der Frau Amtmann und allenfalls auch mit Fräulein Gouvernante würde sich’s ja vielleicht leben lassen; es käme ihr nicht darauf an, die alte Frau zu heben und zu tragen und des Nachts bei ihr zu wachen, das thäte sie recht gerne, und die stolzen Mucken der Gouvernante, na, die brauche man ja nicht zu sehen. Aber mit dem Amtmann, dem Faulpelz, dem Schlecker und Besserwisser, da gäb’s Krieg, das wolle sie nur gleich von vornherein sagen – und wenn sie seine Kuh mit Butterbrod und die paar abgelebten Hühner mit Eierkuchen füttere, er habe doch zu nörgeln, das wisse sie. Und die Magd in ihrem abgetakelten Stadtfähnchen und mit dem städtischen Gethue passe auch nicht auf’s Gut, wo im groben Bauernrock und ohne Scheuleder gearbeitet würde, das aparte Ding mache nur das Gesinde rebellisch, und ihr sei sie geradezu unleidlich. Wie der Zufall diese Abneigung auch noch motiviren half, das sollte der Gutsherr heute bis zur Evidenz erfahren.

Er hatte einen umfangreichen Bericht seines Buchhalters erhalten und war genöthigt, verschiedene dringliche Punkte sofort zu erledigen. Deshalb saß er schon seit Stunden am Schreibtisch im Erker, so angestrengt arbeitend, daß er der Außenwelt vollkommen entrückt war. Von der Pächterfamilie war heute noch Niemand heraufgekommen. Er hatte das durch eine Magd servierte Mittagessen allein eingenommen, und nach ihrem Weggang war das Kritzeln seiner Feder das einzige Geräusch gewesen, das die tiefe Stille des Erkerzimmers unterbrochen. Nun aber wurde die Thür resolut geöffnet und Frau Griebel’s Lederschuhe knarrten – sie brachte wie immer den Nachmittagskaffee eigenhändig.

„’s ist wahr, ein hübsch kühles Eckchen ist unser Gutshaus doch!“ sagte sie, nachdem ihr Herr Markus von seinem Platze aus begrüßend die Hand gereicht hatte. „Draußen ist’s schwül, [106] Herr Markus, kochheiß wie in einem Backofen.“ Sie fuhr sich mit dem kühlen Schürzenzipfel über Gesicht und Hals. „Ich war heute schon mit meiner Luise in den Morcheln, und einen Korb voll Erdbeeren haben wir auch zusammengelesen. Um vier Uhr in der Frühe sind wir schon aus den Federn und haben uns auf den Weg gemacht; wir müssen gar weit laufen – bei uns giebt’s keine Morcheln. Aber drüben im Grafenholz, da schießen sie massenhaft – ich sage Ihnen, Kerle, halb so groß wie meine Faust – aus der Erde; da wachsen sie auf den alten Meilerstätten. Ja, wär’ das nicht, da brächten mich nicht zehn Pferde in das Grafenholz. Ich kann den Forstwärter dort nicht leiden; der thut gerade so dick und protzig, wie die auf dem Vorwerk. Und dabei muß ich Ihnen nur gleich sagen, daß ich für künftig mit der fremden Magd bei Amtmanns nicht unter einem Dache Hause – das geht ein für allemal nicht, schon meiner Luise wegen, wenn die in die Ferien kommt. Ich habe heute mein blaues Wunder gesehen. Ja, was meinen Sie denn – kommt uns doch das Mädchen in aller Frühe, sage halb fünf, aus dem Forstwärterhaus entgegen – hui, was Ihnen für ’ne Feuerfahne über’s Gesicht fährt! Ja, nicht wahr, in’s Herz hinein muß man sich schämen, wie es die Frauenzimmer heutzutage treiben!?“

Sie stellte ihm die gefüllte Tasse neben seine Schreibereien auf den Tisch. „So, nun wissen Sie den Skandal und dürfen sich nicht wundern, wenn die Griebel auch ’mal ihren Kopf aufsetzt. Müssen Amtmanns durchaus noch ein Dienstmädchen haben, dann will ich schon für ein braves sorgen, die Jetzige aber kömmt mir nicht herein. Sie werden gewiß ein Einsehen haben und das nicht verlangen, Herr Markus. Bei Griebel’s stehen Zucht und Ehrbarkeit allezeit obenan… . Und nun lassen Sie Ihren Kaffee nicht kalt werden, und schreiben Sie sich nicht krank! Ihr Kopf glüht ja wie eine Feueresse.“

Kaum war die Thür hinter ihr zugefallen, als Herr Markus aufsprang, wie wenn er gewaltsam Fesseln zerrisse, die ihn auf seinem Platz im Erker festgehalten. Die gute Frau Griebel war ein Klatschmaul, wie andere alte Weiber auch; er hatte Mühe gehabt, sie nicht bei den Schultern zu nehmen und empört zu schütteln. Es ließ sich ja nicht leugnen, die Verlästerte that apart und strebte in Sein und Wesen weit über ihren Stand hinaus, und das machte es nur zu begreiflich, daß sie angefeindet wurde, aber ihr Wandel war rein, und mochte sie zu allen Stunden aus dem Waldhüterhaus kommen. Ihm verursachte es nur stets eine Art von schmerzhaftem Schrecken, wenn vor seinen Ohren das Mädchen in Verbindung mit dem Grünrock genannt wurde. Und jetzt ging ihm ein grelles Licht auf – sein Samariterwerk, wie Pachter Griebel sein Vorhaben nannte, nahm einen ganz anderen Verlauf, als er gemeint hatte. Wohl konnte er sich mit gutem Gewissen sagen, daß er vom Anfang an beabsichtigt hatte, das Vermächtniß seiner Tante möglichst günstig für die Betreffenden in Kraft treten zu lassen, aber sein schleuniges, fast überstürztes Handeln war nicht dem edelsten Motiv entsprungen – er hatte dem Grünrock den Humanitäts-Nimbus nicht gegönnt; er hatte ihm zuvorkommen wollen und damit das Gegentheil von dem erreicht, was er im glühenden Eifer angestrebt. Die aufopferungsvolle Fürsorge des Mädchens wurde durch seine Anordnungen der Herrschaft nunmehr entbehrlich, und da konnte ja schleunigst Hochzeit gemacht werden. …

Frau Griebel hatte Recht, sein Kopf glühte, und das Blut hämmerte ihm fieberhaft in den Schläfen. Er durch maß unausgesetzt das Zimmer, und da wurde er sich plötzlich vollkommen klar über das, was in ihm vorging.

Wie, war es nicht, als sähe der Herr Oberforstmeister mit höhnischem Lächeln auf den „Schlosserssohn“ nieder, in welchem das Arbeiterblut mit richtigem Instinct „Gleich und Gleich“ erstrebte? Es wallte auf für Eine, die das Brod der Dienstbarkeit aß, für ein Mädchen im Arbeitskittel mit hartgearbeiteten Händen. Aber stand es der, welche da neben dem Hochmüthigen im bräutlichen Liebreize lächelte, auf der weißen Stirn geschrieben, daß sie adeligen Blutes gewesen war? – Durfte sich das Mädchen mit dem dunklen Haargewoge nicht kühnlich an die Seite dieser Blonden stellen? War sie nicht ebenso schön, und hatte sie nicht auch diesen seelenvollen, bezwingenden Blick, der hier im Bilde und dort unter dem verhüllenden Tuch hervor, das er mit kecker Hand zurückgestreift, so sonderbar an sein Herz gerührt? –

Mochte es draußen noch so schwül sein, es breiteten sich doch weite Wiesenflächen hin, über denen der hohe, blaue Himmel stand, und lange Weglinien schafften den wandernden Füßen Raum im Walde – hier erdrückte ihn der niedere Plafond auf den engen vier Wänden.

Er griff nach seinem Hute. Die hingeschleuderte Feder lag in einer Tintenlache auf einem halbbeschriebenen, sauberen Briefbogen, und verschiedene leichte Zettel waren bei seinem hastigen Aufspringen von der Tischplatte herab auf den Boden geflogen. Er hatte keinen Blick für diese Unordnung. Mochte der Buchhalter daheim noch so dringend der erbetenen Weisungen bedürfen, der Chef der großen Firma Markus, sonst der strengste und gewissenhafteste Arbeiter seines Comptoirs, stürmte hinaus, achtlos die geschäftlichen Interessen hinter sich lassend.


10.

Er schlug ohne Weiteres den am Fichtengehölze hinlaufenden Weg ein. Seine Vorsätze, aus eigenem Antriebe das Vorwerk nicht wieder aufzusuchen, waren verweht wie die leichten Staubwölkchen, welche die dicke, heiße, träge dahin streichende Nachmittagsluft von dein ausgedörrten Feldweg aufnahm und vor seinen Augen zerblies. – Er scheute sich auch nicht, nachdem er die linke Flanke des Gehöftes umschritten, vor den geschlossenen Thorflügeln Halt zu machen und in den Hof durch dieselben Breterspälten zu sehen, vor welchen zwei Tage früher der Bettler gekauert, dem die Armuth ein paar Zehrpfennige hingeworfen hatte.

Ueber dem weißgebleichten Pflaster des öden Hofes, das seit vielen Tagen kein fallender Regentropfen benetzt, flimmerte die brütende Sonnengluth. Das Federvieh mochte sich von den glühenden Steinen in dunkle Stallecken zurückgezogen haben, und der angekettete Hund, der jenseits der Mauer bei den nähenden Schritten des Gutsherrn einen schwachen Kläffversuch gemacht, hatte es auch wieder aufgegeben, bei der Hitze zu rebelliren. In dem Zimmer der alten Leute dagegen, die das kalte, feuchte Gemäuer des niederen Wohnhauses Tag und Nacht anfröstelte, schien der heiße Brodem willkommen zu sein – zwei Fenster standen weit offen. An dem einen saß lesend der Amtmann, und durch das andere sah Herr Markus die Kranke mit gefalteten Händen still in ihren Kissen liegen. Die beiden Alten waren allein; hinter den gardinenlosen Fenstern zur Rechten der geschlossenen Hausthür rührte und regte sich nichts, und das Mansardenfenster streifte der Blick des Suchenden nur flüchtig; es war ihm sehr gleichgültig, ob Fräulein Gouvernante hinter den Rasenstücken sitze oder nicht; er hatte nur den einen Gedanken – nur den einen! Und der trieb ihn an, nun auch nach rechts das Gehöft zu umgehen und das Küchenfenster zu inspiciren. Aber auch hier war es still und einsam, wie im Garten, den er gleich darauf durchschritt, wie auf dem ganzen zum Vorwerke gehörenden Gelände, das er über den Weißdornzaun hinweg übersehen konnte.

Er nagte zornig an der Unterlippe. Sollte er wirklich nach dem Grafenholze gehen, um zu erfahren, daß er ein Narr sei, daß er demüthigender Weise das Nachsehen habe? Wenn sie das zu Hause gewußt hätten! Das Triumphgeschrei seiner Bekannten, die er so oft mit ihrem „Liebesfieber“ gehänselt, die Entrüstung seiner Stiefmutter, die eine Geheimrathstochter war, das boshafte Gekicher der jungen Damen, denen gegenüber er oft genug den ganzen Uebermuth eines Unbesiegten geltend gemacht – er malte sich das Alles in den lebhaftesten Farben, aber dabei durcheilte er immer hastiger sein eigenes Waldrevier und arbeitete sich schließlich durch das Gestrüppe nach dem Schlupfwinkel hinter der Buche, von welchem aus er das Forstwärterhaus beobachten konnte. Er begriff, daß es stets wie eine Art Rettung des Leibes und der Seele empfunden werden müsse, das wüste, staubumwirbelte Gehöft am Fichtenhölzchen mit dem rothen Hause da, wenn auch nur für Stunden, zu vertauschen. Wie ein schmucker, rothglänzender Würfel lag es auf grüner Rasendecke, die kein sonnversengtes Hälmchen entstellte, mitten im dunkelnden Buchengrün, hinter sich die himmelhohe, steile, guellenreiche Waldwand, die strotzendes Leben in riefelnden Wasseradern in’s Thal schickte.

Heute hatte es seine Physiognomie in Etwas verändert; die Vogelkäfige mit ihren lärmenden Insassen hingen nicht am oberen Giebelfenster, und alle Fenster der Eckstube, welche der Forstwärter für die Kranke auf dem Vorwerke reserviren wollte, waren durch niedergelassene Rouleaux verdunkelt – eine tiefe Ruhe webte [107] um das Haus, eine so behütete Stille, daß man hätte meinen können, die nervenleidende alte Dame sei bereits hierher übergesiedelt. Jedenfalls lag die Wohnung unter festem Verschlusse – es war Niemand daheim, und deshalb verließ der Gutsherr nach kurzem Verweilen seinen Observationsposten, um zurückzukehren in diesem Augenblicke machte ein plötzliches, schallendes Gelächter seinen Fuß stocken. Es kam von der Hausecke mit den verhüllten Fenstern her – ein anhaltendes, tolles, ausgelassenes Lachen, das, in die tiefe Waldruhe hineinklingend, roh und verletzend das Ohr berührte. Darauf folgte erregtes Stimmengemurmel, und der eine Rollvorhang flog ein wenig auf, als bewege ihn ein unruhiges Treiben im Innen: der Stube. … Der Herr Forstwärter hatte Besuch, eine Gesellschaft guter Freunde, die es sich im kühlen Zimmer wohl sein ließen. Wie Herr Markus meinte, mochten da drüben in der traulichen Ecke Tabaksqualm und Bierdunst die Luft erfüllen, und über dem Kartenspiele wurden die lachenerregenden Späße nicht vergessen.

Nein, es war ihm unmöglich, sich das Mädchen in einer solchen Umgebung zu denken – hier war sie nicht. Ihrem stolzen Blicke gegenüber wagte sich gewiß kein solch brutales Männerlachen hervor, und doch gerade in diesem Momente wurde die Hausthür geöffnet, und die Magd trat heraus.

Sie hatte einen irdenen Krug in der Hand und stieg die Stufen herab, die Arme lässig am Leibe niederhängend, mit gesenkten Augen und die Brauen schmerzhaft zusammengezogen – das Bild eines traurigen Insichgekehrtseins.

Der junge Mann hinter der Buche hatte in seiner Empörung auf sie zustürzen wollen, allein er blieb unwillkürlich stehen, als gehe von dieser still herabschreitenden Mädchengestalt ein Schein aus, der die herandrängende dunkle Leidenschaft abwehre. … Sie schritt um die Hausecke nach der Quelle am Abhang, welche, in die primitivste Holzrinne gefaßt, ihr krystallhelles Wasser in einen Brunnentrog goß.

Herr Markus ging dem Mädchen nach, und als sie seine Schritte hinter sich hörte, wandte sie sich nach ihm um. Er war ihr bereits so nahe, daß er sehen konnte, wie sie sich verfärbte, wobei aber auch die Schmerzensfalte zwischen den Brauen so plötzlich verschwand, als sei sie weggewischt.

„Wollen Sie sich mit einem frischen Trunke erquicken?“ fragte sie, den Krug auf ein Brett unter den rauschenden Wasserstrahl haltend. „Ich werde Ihnen ein Trinkglas aus dem Hause holen –“

„In der Bibel steht: ,Und eilend ließ sie den Krug hernieder auf ihre Hand und gab ihm zu trinken,‘“ versetzte er sarkastisch, indem er ihr den Weg nach dem Hause vertrat. „Wenn Sie Rebecca sein wollen, dann müssen Sie sich auch bibelfest zeigen. Aber ich danke Ihnen, ich mag auch aus dem Kruge nicht trinken. Klares Brunnenwasser!“ höhnte er. „Sollte es wirklich nur dieser ‚frische Trunk‘ sein, den Sie auch da drüben in der Eckstube der lachenden Gesellschaft kredenzen?“

Sie erschrak heftig; das sah er mit grimmiger Schadenfreude.

„Hört man den Lärm draußen?“ fragte sie stockend.

„Ei, wundert Sie das? – Ich sollte doch meinen, es wären recht ausgiebige Stimmen, die sich dort vergnügten. Ich hoffte schon, die Herren sollten nun auch ein fröhliches Trinklied anstimmen –“

„Sie irren sich,“ warf sie mit erblaßten Lippen ein – ein feuchter Glanz verschleierte den Blick, der ihn unsicher streifte.

„Nun denn, ich irre mich. Es sind vielleicht Betbrüder, die dort in der Eckstube zusammenkommen – möglich ist’s ja.“ Er zuckte die Achseln. „Was geht es im Grunde auch mich an? Aber Eines möchte ich Sie doch fragen: Weiß Ihre Herrschaft um diesen Ihren Verkehr in dem Forstwärterhause?“

Sie hob ängstlich abwehrend die Hände.

„O nein, nein, die alten Leute haben keine Ahnung davon, und sie dürfen es auch nicht erfahren.“

„So – damit wollen Sie wohl auch mir ein Schloß vor den Mund legen?“ fragte er, an sich haltend, scheinbar gleichmüthig.

„Ich muß Sie allerdings inständigst bitten, falls Sie noch einmal vor Ihrer Abreise auf das Vorwerk kommen sollten, nicht davon zu sprechen. Ich bitte Sie, Herr –“

„Mein Gott, ja, wenn es denn durchaus sein muß. Ich kann auch schweigen, obschon ich mich sonst nicht zum Beschützer unlauterer Geheimnisse qualificire –“

„Unlauter?!“

Sie trat von ihm weg, und er mußte sich fragen, ob dieses Mädchen, das mit einem einzigen Wort, einer einzigen Bewegung eine ganze Scala aufgestürmter Empfindungen zum Ausdrucke brachte, entweder eine vollendete Komödiantin oder eine durchaus reine, unter der Herrschaft hoher Bildung stehende Seele sei.

Er bejahte sich tief erbittert das Erstere. War denn da ein Zweifel? War die übertriebene Prüderie, mit welcher sie neulich seinen Blick auf ihr verhülltes Gesicht abgewehrt, nicht die schnödeste Komödie gewesen, angesichts der Thatsache, daß sie hier vor den Augen der lärmenden Männer ohne die entstellende Hülle des „Scheuleders“ und des plumpen, dicken Busentuches ungenirt verkehrte? Und nun hatte sie auch noch die Stirn, ihn mit sanfter, beweglicher Stimme um Diskretion zu bitten. Und dabei der bezwingende Liebreiz ihrer Erscheinung, dieses beseelte Gesicht unter dem dicken nach dem Nacken zurückwogenden Dunkelhaar! Ihm war, als ringle sich eine buntschillernde Natter sanft schmeichelnd nach seinem Herzen, der er in Zorn und Schmerz den Kopf zertreten müsse.

„Aergert Sie das häßliche Wort?“ fragte er schneidend. „Nun denn, sagen wir ‚interessant‘, das interessante Geheimniß! Mit den alten Leuten werden Sie leichtes Spiel haben; sie kommen Beide nicht über die Schwelle der Hausthür und können Ihren Spuren nicht nachgehen, und ich, nun, ich habe Ihnen ja mein Wort gegeben, daß ich schweigen will, ja wohl, schweigen, als wenn mir eine mörderische Hand die Kehle zuschnürte. Aber wie steht es mit Dame Blaustrumpf? Sie ist nicht an ihre Mansardenstube gefesselt und hat flinke Füße, wie ich mich gestern Abend überzeugen durfte. Sie schwebt wie eine Fee und macht es möglich, urplötzlich wie ein Sommerwölkchen zu verschwinden, das der Wind in den Lüften zerbläst; so kann sie auch jeden Augenblick in ihrem grauen Spinnwebenschleier aus jeder beliebigen Waldecke hergeflattert kommen was dann?“

Ein kaum merkliches Lächeln schlüpfte um ihre Lippen; sie bog sich über den Brunnen und rückte das Brett mit dem überströmenden Krug aus dem Bereich der Rinne.

„Ich glaube, Ihnen schon gesagt zu haben, daß ich gar nicht im Stande bin, irgend etwas ohne ihr Mitwissen zu thun,“ antwortete sie, ihrer augenblicklichen Beschäftigung zugewendet.

„Ja, das haben Sie gesagt,“ bestätigte er. „Und es ist ja auch ganz natürlich, daß Ihr Fräulein ein solches Geheimniß patronisirt. Ist doch die Intrigue das Lieblingsspiel dieser Damen, und kann es einmal nicht in herrschaftlichen Salons sein, nun, dann nimmt man auch mit einer niedrigeren Sphäre vorlieb, lediglich aus Lust an der Sache. Ich kenne diese stille Maulwurfsarbeit im Schooße der Familie – ich kenne sie. Natürlich arbeiten sie am liebsten für sich selbst. Sie scheinen nichts zu hören, nichts zu sehen, saugen aber förmlich mit allen Poren die kleinen und großen Familiengeheimnisse in sich ein. Man hört nicht, wie und wo sie den Fuß aufsetzen, aber sie setzen ihn auf – das steht fest – und erklimmen meisterhaft Staffel um Staffel, bis sie plötzlich obenauf sitzen, die Demüthigen, die Uebersehenen, und vor den Augen einer verrathenen Braut oder denen der Töchter eines verwittweten Vaters den Rahm abschöpfen. Sollte die Kammerjungfer, die Vertraute der Gouvernante im Hause des Generals von Guseck gar nichts davon zu erzählen wissen?“

Das Mädchen stand noch halb abgewendet am Brunnen. Sie hatte einmal die Hände gehoben, um sie dann gefaltet wieder sinken zu lassen, und nun sah sie zurück, aber nicht mit dem erregten Blick des Verletztseins, den er an ihr kannte; es sprachen nur schmerzliches Erstaunen und schwerer Vorwurf aus den braunen Augen, die sie langsam zu ihm aufschlug, während sie gepreßt sagte: „Der verwittwete General von Guseck hatte einen erwachsenen Sohn und eine siebenzehnjährige Tochter, die Braut war. Sie Alle haben zu der Gouvernante der jüngeren Kinder vertrauend und hochachtungsvoll gestanden, als gehöre sie zu ihnen. Und ich weiß, daß die Gouvernante dieses Vertrauen nie, auch nicht mit dem leisestein selbstsüchtigen Gedanken gemißbraucht hat. Ich weiß es am besten; ich will die Hand darauf in’s Feuer legen.“

„Ei ja, das fehlte noch,“ unterbrach er sie herb auflachend.

„Die arme, hartgearbeitete Hand da auch noch in’s Feuer legen für diese geborene Selbstsucht! … Sind Sie nicht mitgeschleppt [108] worden in die Einöde, in Noth und Mangel hinein, damit der Verwöhnten die Pflege und Bedienung nicht fehle? Die alte Frau auf dem Vorwerk sagt selbst, daß Sie zu der harten Feldarbeit nicht erzogen sind, und nun sind Sie gezwungen, sich diesen schweren Dienstleistungen zu unterziehen, weil Ihre vergötterte Dame sonst schwerlich – Etwas zu essen haben würde.“

Sie schüttelte lebhaft den Kopf und biß sich mit den kleinen weißen Zähnen auf die Unterlippe. Es war, als kämpfe sie mit Gewalt eine Entgegnung nieder, während ihre Augen einen Moment in unbezwinglichem Humor aufleuchteten.

„Bemühen Sie sich nicht weiter!“ wehrte er spöttisch jede Entgegnung ab. „Die Ehrenrettung gelingt Ihnen doch nicht – ich weiß das wirklich besser. - Haben diese Damen einmal vom berauschenden Becher des Reichthums gekostet, dann sind sie verloren und verdorben für das häusliche Leben. Sie träumen und denken dann nichts Anderes mehr, als sich die Position inmitten des himmlischen Wohllebens für immer zu befestigen, und dazu soll und muß ihnen nun solch ein armer, unglücklicher reicher Mann helfen, gleichviel ob er grauhaarig und altersmürrisch, oder jung und simpel ist, ob er überhaupt will oder nicht. Vielleicht wußten die im Hause des Herrn von Guseck das recht gut und waren auf ihrer Hut, wie ich ja auch lieber zeitlebens einsam bleiben, als eine ehemalige Gouvernante zur Herrin meines Hauses machen würden – lieber das erste, beste Bauernkind vom Walde, wenn es nur die Ehrlichkeit auf dem Gesicht und die Wahrheit im Herzen hat!“

Er sah, wie ihr alles Blut aus den Wangen wich, aber sie erwiderte nichts mehr. Sie ergriff den Krug, um ihn von dem Brett zu heben und sich zu entfernen.

„Nun, gehen Sie wirklich wieder dort hinein?“ – Er zeigte nach dem Forstwärterhaus. – „Hat denn das wüste Lärmen gar nichts Zurückschreckendes für Sie?“

Sie sah seitwärts, unter halbgesenkten Wimpern hervor, nach ihm hin.

„Ich habe starke Nerven, fast wie ein robustes Bauernkind vom Walde, das ja vor dem Sonntagslärm in der Schenke auch nicht zurückschrickt,“ entgegnete sie mit großer Schärfe. „In diesem Falle wird übrigens gar nicht gefragt, ob ich mich entsetze oder nicht; ich habe mich einfach dem ‚Muß‘ zu fügen –“

„Damit wollen Sie sagen, daß Sie bereits durch Pflichten an das Haus gebunden sind,“ fiel er tonlos ein. „Aber welcher Art diese Pflichten sind, darüber mögen sich die Leute ebenso den Kopf zerbrechen, wie über Fräulein Gonvernante, die wie ein Götterbild hinter geheimnißvollen Schleierwolken steckt.“. – Sein Ton wurde spitz und satirisch. – „Mein Gott, ja, es mag schon lustig sein, die Welt an der Nase herumzuführen, sehr amüsant sogar, und ich verdenke Ihnen diesen Zeitvertreib keinen Augenblick. Die ansässigen Leute im Hirschwinkel freilich sind nicht so harmlos, wie ihr neuer Herr; sie lösen die Räthsel auf ihre Weise und finden kein entschuldigendes Wort für Amtmanns Magd, die zu allen Tageszeiten in das Wäldhüterhaus geht – der Mann haust allein –“

Er verstummte. Es war ihm selbst peinlich, zu sehen, wie ihre Hand kraftlos vom Krughenkel niedersank, wie ihr das heiße Roth aufstieg bis unter das Haar an Stirn und Nacken. Den Blick schamvoll weggewendet, stand sie einen Moment unbeweglich, und zum ersten Mal sah er die Umrisse ihres Profils, die sich daran schließende feine Linie des Halses so regungslos vor sich, wie ein auf dem dunklen Hintergrund des Buchengrüns fixirtes Bild.

Ueber die obere Halspartie lief ein Sammetbändchen, wie ein dünner, mit dem Tuschpinsel ausgeführter, trennender Strich. Unwillkürlich kamen dem jungen Mann die Worte Faust’s: „Wie sonderbar muß diesen schönen Hals – ein einzig rothes Schnürchen schmücken“ – zu Sinne, und der herrliche Thalgrund wandelte und verengte sich ihm zur düsteren Schlucht; das Waldhüterhaus mit seinen verhangenen Fenstern und dem wilden Treiben dahinter, von welchem das Mädchen in sichtlicher Angst wünschte, daß es draußen nicht gehört werden möge, sah plötzlich aus, als dürfe sich das Verbrechen hineinschleichen und darin herbergen. …

Und hierher ging sie heimlich, Zeit und Muße dazu förmlich stehlend, wie magnetisch in einen unheimlichen Strudel hineingerissen. Ein wilder Schmerz durchfuhr ihn bei der Befürchtung, daß sie bereits hinabgestürzt sein könne. Aber stand sie nicht da wie eine aus dem Nachtwandeln Aufgeschreckte, entsetzt, die flammenden Zeugen einer namenlosen Bestürzung auf dem Gesicht? Vielleicht verscheuchte sie dieser eine bittere Moment für immer aus dem Grafenholz. Er hoffte es, in unbeschreiblicher Spannung keinen Blick von ihr wendend, aber gerade jetzt sah sie wieder auf; eine finstere Entschlossenheit sprach aus ihren Zügen.

„Ich frage nichts nach den Lästerzungen,“ sagte sie kurz und warf den Kopf auf.

„Auch nicht, wenn Ihnen respectable Leute ihre Thür verschließen?“ rief er heftig. „Frau Griebel protestirt energisch gegen Ihre Uebersiedelung in das Gutshaus, um ihrer unschuldigen Tochter willen,“ fügte er in grausamer Deutlichkeit hinzu.

Das schien sie in das Herz zu treffen.

(Fortsetzung folgt.)




Die „frommen“ Landsknechte.
Ein kriegerisches Culturbild aus der Reformationszeit.
dargestellt von Karl Ueberhorst.

Es ist eines der merkwürdigsten Zeitalter deutscher Geschichte, in welches ich den Leser an der Hand obiger Kriegsgesellen einzuführen gedenke. Zu seinem vollen Verständnisse dürfte eine kurze Darstellung der größeren Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts zweckdienlich erscheinen; denn gerade diese Jahre leiten auf fast allen Gebieten die Neugestaltung der Verhältnisse ein, und wie jede große Umwälzung sich nur allmählich vollziehen kann, so sehen wir auch schon lange vor dem Jahre 1500 bei allen Culturvölkern die besten Geister jenen großen Kampf beginnen, der bis auf den heutigen Tag noch nicht ausgefochten, dessen Ende nicht abzusehen ist. Gerade diese Vorkämpfer der gewaltigen Bewegung sind es gewesen, welche der Menschheit unendlichen Segen gebracht haben. Ich muß hier des Verständnisses halber oft Gesagtes kurz wiederholen: Wiklef und Huß bereiten auf religiösem Felde den Boden für die Reformation vor; Columbus eröffnet durch die Entdeckung der neuen Welt dem Handel neue, ungeahnte Bahnen; Guttenberg’s Erfindung, die gewaltigste und segensreichste aller Zeiten, bemächtigt sich des geistigen Lebens der Völker und zeugt in erster Linie als unerschrockenen Vorkämpfer der wissenschaftlichen und religiösen Reformation den Humanismus. Ob eine der durchgreifendsten Erfindungen früherer Jahre – das Schießpulver, in seiner Verwendung zu Kriegszwecken der Menschheit ebenfalls Segen gebracht, wollen wir dahingestellt sein lassen, jedenfalls aber hat es im fünfzehnten Jahrhundert, wenn auch langsamer, als heutzutage, doch ebenso reformirend in das Kriegswesen aller Nationen eingegriffen.

Und dennoch ist es wieder nicht, wie vielfach angenommen wird, die verbesserte Anwendung dieser zerstörenden Erfindung allein gewesen, welche auf die kriegerischen Verhältnisse auch unserer Nation eingewirkt hat; einen Hauptgrund derselben müssen wir vielmehr in der damals sich geltend machenden Zerrissenheit des Reichsverbandes, in dem lahm gewordenen Triebwerke seiner Verfassung suchen.

Mit den Römerzügen der alten Heldenkaiser, wo der niedere Adel – vor dem Emporblühen des Bürgerthums unzweifelhaft der Kern der Nation – ohne andern Lohn, als um Aussicht auf Beute, dem Reichsoberhaupte zu Roß über die Alpen folgte, war es längst vorbei. Das Lehnssystem, bis dahin Wehr und Schild sowohl des deutschen Königs, wie des Volkes, war gelockert, sein Organismus gelähmt, und für freie Lehnsfolge wählte der niedere Adel, so weit er sich nicht in Wegelagerei verzehrte, den Reiterdienst um Sold, ohne allzu großen Ruhm dabei zu erwerben.

[109]

Auch einer von den „frommen“ Landsknechten.
Nach dem Oelgemälde von E. Stammel.

Die Bewaffnung dieser Reiterheere blieb auch nach Einführung der Schußwaffen dieselbe ungelenke, ja wurde womöglich insofern noch ungefügiger, als der Reiter nicht nur sein Streitroß mit ganzer Eisenrüstung bedeckte, sondern auch den eigenen Harnisch schußfester, das heißt schwerer, anfertigen ließ, als dies zuvor geschehen war. Die vorzüglich gearbeiteten spanischen, wie mailändischen Rüstungen hielten denn auch manche Kugel ab. Franz der Erste verdankte bei Pavia lediglich seinem mailänder Harnische das Leben; denn die vielen an- und abgeprallten Kugeln hatten denselben wohl einzubiegen, nicht aber zu durchbohren vermocht. Deutsche Harnische hingegen hatten bis zu den Zeiten Maximilian’s bei den damaligen Kriegszeiten nur geringen Credit, und derselbe hob sich erst, als Max, mit der Kunst der Harnischschmiede wohl vertraut, durch nürnberger Plattner mailänder Plattenharnische und zwar in vorzüglicher Güte nachbilden ließ. Zu allen Zeiten aber hochangesehen und vielbegehrt waren deutsche Ketten- und Panzerhemden. Das kleine westfälische Iserlohn (in Rechnungen der nürnberger Stadtkämmerei „Eyserlohn“ genannt) versorgte damals fast ganz Europa mit seinen undurchdringlichen, stählernen Geflechten, und auf den Märkten von Brügge und Antwerpen, in den Gewölben der [110] nürnberger und mailänder Waffenschmiede wurden Panzerhemden feilgeboten, die zwar die Marke mailänder Meister trugen, in der kleinen westfälischen Bergstadt aber das Licht der Welt erblickt hatten.

Als Angriffswaffe galten immer noch die schwere Ritterlanze, der Streitkolben, sowie Schwert und Dolch. Die Hauptwirkung derartiger reisigen Geschwader beruhte auf der Wucht des ersten Anpralls, weshalb denn auch der eigentliche Angriff mit gesenkter Lanze erst in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten vom Gegner erfolgte. Des regellos einherlaufenden, mit Armbrust oder kurzem Spieß bewaffneten Fußvolkes wurde dabei nicht geachtet, und so blieben denn diese Ritterschlachten mehr oder weniger große Turniere, deren Erfolg meistens von der Wucht des ersten Zusammenstoßes abhing.

Da plötzlich trat ein fast ganz neues Element in den Vordergrund der Schlachten. Die tapfern dithmarscher Bauern, Ziska mit seinen unüberwindlichen Hussiten und endlich die Eidgenossen in ihren siegreichen Kämpfen gegen Habsburg und den mächtigen Burgunderherzog brachten das bis dahin mißachtete Fußvolk zu hohen Ehren. Noch um 1450 galten die Hussiten für das beste Kriegsvolk Europas, und vielfach dienten hussitische Söldner auch unter fremden Fahnen, vor den Mauern Soests aber und unter den siedenden Breitöpfen seiner die Wälle tapfer vertheidigenden Weiber sollte ihr lang bewährter Kriegsruhm erbleichen. Ihnen folgten die Schweizer und behaupteten lange Zeit hindurch den Ruf des besten Fußvolks, bis Kaiser Max auch diesem allmählich ein Ende machte.

Ein Fürst, der auf wunderbare Weise die alte wie die neu aufkeimende Zeit in seiner Person vermittelte, ein Kriegsmann, der sowohl im Scharfrennen, wie als Büchsenmeister von Keinem übertroffen worden erkannte er mit richtigem Blicke das Bedürfniß seiner Zeit und schuf sicheren Griffes die „frommen deutschen Landsknechte“, indem er aus Bauern seiner österreichischen Erblande Fußtruppen zu bilden begann, welche schon nach einem Jahrzehnt die furchtbarsten Gegner der Schweizer werden sollten. Bewaffnet mit achtzehn Fuß langen Spießen, mit Hellebarden und Schlachtschwertern, später verstärkt durch Hakenschützen, lehrte Held Teuerdank diese compacten Massen in gegliederter Ordnung fechten, durch den sogenannten „Igel“ einen von Spießen starrenden, undurchbrechbaren Wall gegen die anstürmenden Reitergeschwader bilden und durch unaufhaltsames geschlossenes Vorwärtsschieben der wuchtigen Phalanx den endlichen Sieg gewinnen.

Lange schwankte der Ruf zwischen schweizer und deutscher Kriegstüchtigkeit; auf allen Schlachtfeldern sehen wir die Söhne Schwyz’ und Unterwaldens den deutschen Landsknechten als grimme Gegner gegenüberstehen; manch blutiges Lehrgeld mußten die Deutschen ihren Meistern zahlen aber nicht allzu lange mehr sollten letztere ihre Ueberlegenheit behaupten. Das alte Horn von Uri, welches bei Nancy mit so grauenvollem Klange Karl’s des Kühnen Grabgesang geblasen, geht auf den Feldern Marignanos verloren – mit ihm aber auch zugleich der Ruf eidgenössischer Unwiderstehlichkeit; denn schon in dem Treffen bei Bicocco von deutschen Fürsten, trotz stürmischer Tapferkeit, völlig auf’s Haupt geschlagen, werden sie endlich bei Pavia durch Frundsberg und seine Landsknechte derart heimgeschickt, daß von jetzt an das Vertrauen in ihre Zuverlässigkeit immer schneller schwindet und sie sich zuletzt mit dem zweifelhaften Ruhm päpstlicher Trabanten und Hüter fürstlicher Paläste begnügen müssen.

Die Blüthezeit der deutschen Landsknechte fällt in die Regierungsperiode Karl’s des Fünften. Unter Max anfänglich aus Volk vom Lande zusammengesetzt – woher die Benennung – ergänzen sich ihre Führer von vorneherein aus beutesuchenden und waffenkundigen Edelleuten. Aber auch allerhand abenteuerlustige Gesellen aus den Städten, sowohl junge Patricier, wie Handwerker, leidet es nicht mehr in den engen heimatlichen Mauern. Zu verlockend, freiheit- und beuteverheißend winken ihnen die blauen Berge zu, und abermals, wie zu den Zeiten der Hohenstaufen, sind es Lombardiens sonnige Ebenen, welche die Kernkraft deutscher Nation so unwiderstehlich anziehen, welche mit dem Blute so manches tapferen Gesellen gedüngt werden sollen. Obschon um Sold fechtend und deshalb lediglich demjenigen Fürsten zueilend, unter dessen Fahnen die reichste Beute zu gewinnen, sehen wir doch schon früh den Geist evangelischer Freiheit ihre Reihen durchdringen. Die unglücklichen Bauernkriege haben den Landsknechtsheeren das größte Contingent geliefert.

Aus dem großen Massacre, welches die Fürsten unter dem armen, niedergetretenen Volke anrichteten, hatten sich nicht nur allerhand verzweifelte Kerle, die schon von vornherein nichts zu verlieren gehabt, unter die schirmenden Fahnen geflüchtet – nicht nur mancherlei catilinarische Existenzen der in den Aufruhr mitverflochtenen Städte zogen, den Reitern des blutgierigen Truchseß glücklich entronnen, über die Alpen dem Doppeladler oder Frankreichs Lilien zu, auch mancher brave Mann, der im festen Glauben an das „reine, die Unterdrückung verdammende Evangelium“ Gut und Blut an die zwölf Artikel gesetzt und mit dem nackten Leben vielleicht nichts als die Blechhaube und den Knebelspieß, die Hellebarde aus der Väterzeit gerettet, schließt sich der enggegliederten Gemeinde von Männern an, deren Freiheit und Glauben durch selbstgegebene Gesetze unverbrüchlich festgestellt sind. Luther’s Worte finden lebendigen Wiederhall auch in den Herzen dieser wilden Kriegsgesellen, und gerne dienen sie einem Kaiser, der zwar durch und durch katholisch ist, demungeachtet aber mit dem Antichristen in Rom den Krieg bis auf’s Messer führt und seinen frommen Landsknechten dabei nach Erstürmung der heiligen Stadt die reiche Beute gönnt.

Dieser religiöse Zug, lediglich dem Anringen des deutschen Geistes gegen die Knechtschaft des Papstes entsprungen, tritt bei Georg von Frundsberg, dem „Vater der Landsknechte“, am lebendigsten hervor. Als während der Belagerung Pavias die kaiserliche Sache schlecht stand, ging man Frundsberg lange vergeblich um Hülfe an. Der kampfesmüde Held, aus Erfahrung wissend, daß „Dank vom Hause Oesterreich“ nicht zu erwarten, blieb unerbittlich, und lediglich der in seinem Herzen tief eingewurzelte Haß gegen den Feind deutschen Namens und deutscher Geistesfreiheit, gegen den Papst, bewog ihn, nochmals in Person über die Alpen zu ziehen.

Daß die deutschen Landsknechte so oft ihre Waffen gegen die eigene Mutter gewandt, daß sie ihr Blut meist für fremde Interessen hingegeben, wer will es den rohen, leichtlebigen Gesellen, denen noch dazu so manches Beispiel fürstlichen Landesverrathes und feiler Bestechlichkeit vor Augen schwebte, verdenken? Aber von dieser Zeit an beginnt bei den fremden Nationen die Verachtung deutschen Namens und Wesens. Der infamen Bestechlichkeit verdanken wir nicht nur, daß dem Reichsverbande ein Stück nach dem andern entfremdet wurde, lediglich ihr ist es zuzuschreiben, daß die talentvollsten deutschen Krieger von Schärtlin’s Tagen an bis auf Bernhard von Weimar sich französischem Golde, französischer Hinterlist verkauften, und, was ein gutes, deutsches Herz nicht minder schwer verwinden kann, daß die Arsenale Frankreichs sich mit Trophäen schmückten, welche deutsches Blut dem deutschen Blute abgerungen hatte.

Wir erinnern nur an das Feilschen um die deutsche Kaiserkrone von Seiten der Häuser Habsburg und Valois, an die kolossalen Summen, welche vom spanischen Karl durch die Vermittelung der Fugger, an die ebenso enormen Jahresrenten, welche vom französischen Könige zur Bestechung an die deutschen Wahlfürsten ausbezahlt wurden. Konnte unter zwei fremdländischen Kronbewerbern, welche nicht einmal der deutschen Sprache mächtig waren, von deutschem Namen, deutschen Interessen die Rede sein? Selbst Franz von Sickingen ist von dieser fast krebsartig wuchernden Bestechlichkeit nicht ganz freizusprechen, obschon er auf Zureden des ihm wohlgewogenen Max später seiner französischen Bestallung entsagte und dann allerdings unter Karl dem Fünften niemals seine dem jungen Kaiser geleisteten enormen Vorschüsse wiederzuerlangen vermochte.

Mit dem Anfange des sechszehnten Jahrhunderts beginnt eine glänzende Periode deutscher Kriegstüchtigkeit. Max brachte seine Schöpfung zu hohen Ehren. Er verstand es, dieselbe zu einer Art verbrüderte Gemeinde mit streng normirten Gebräuchen und Gesetzen zu formen, und hielt es, wie uns Thomas Hubert in seinen Annalen über das Leben des Kurfürsten Friedrich des Zweiten von der Pfalz sehr anschaulich erzählt, nicht unter seiner Würde, in Begleitung vieler fürstlichen Herren als Landsknecht mit dem Spieß auf der Schulter, das breite, kurze Schwert vor den Leib geschnallt, in das heilige Köln einzuziehen. Daß solch Beispiel, noch dazu von einem Fürsten gegeben, der mit der Kaiserwürde zugleich den Ruf des besten deutschen Ritters verband, das alte Vorurtheil adeliger Rüstung bald durchbrechen mußte, ist selbstverständlich, und so sehen wir denn auch immer häufiger deutsche Edelleute als Doppelsöldner in den Reihen der Landsknechte fechten.

[111] Alle Stände der Nation, die heterogensten Elemente aus Burg, Stadt und offenem Lande vereinigen sich unter dem Fähnlein zum fröhlichen Kriegshandwerke; schier nicht zu zählen sind die kampf- und beutelustigen Gesellen, welche über Deutschland–s Grenzen hinaus in die fremden, kampfdurchtobten Länder ziehen, und überall sind es deutsche Landsknechte, welche das Loos der Schlachten entscheiden. Sie waren es, so erzählt uns Ranke, welche Schweden der Union unterwarfen, welche in England gegen die Sache der Yorks fochten und starben. Deutsche Landsknechte, zugleich die Vertheidiger wie die Besieger Neapels, waren ebenso die Ueberwinder Ungarns, so lange sie wollten, und retteten dasselbe, da sie mit der Beute nach Hause zogen.

Daß sowohl Max wie Karl der Fünfte durch strenge Mandate die deutschen Hauptleute und Knechte vom Dienste gegen das Reich abzuhalten suchten, hat anfangs wenig gefruchtet. Erst als Karl blutigen Ernst zeigte und während des Augsburger Reichstages 1548 Sebastian Vogelberger, der nicht nur einer der tüchtigsten Kriegsobristen, sondern auch einer der schönsten Männer seiner Zeit war, von dem der Augenzeuge Sastrow, Greifswalds Bürgermeister, in seinem Lebenslaufe erzählt, daß „er nit wüßte, ob ein Maler einen Mann ansehnlicher malen könnt’“ – wegen Uebertretung des Mandats enthaupten ließ, versuchten viele in französischen Solde stehende Hauptleute sich die sogenannte „Restitutionsfama“ zu erwirken. Nach Erlangung derselben stand ihnen die Heimath straflos offen, nicht allzu Vielen aber mag sie ertheilt worden sein, denn Carolus Quintus war ein scharfer Herr, der sicher Herrn Sebastian Schärtlin’s, Augsburgs und des schmalkaldischen Bundes Kriegsobristen, nicht geschont hätte. Der speculative Schorndorfer Landsknechtsführer aber salvirte seine Haut wohlweislich nach Frankreich und kehrte erst heim, als man an hoher Stelle seiner Unentbehrlichkeit halber die Vergangenheit zu vergessen gezwungen war.

Dem deutschen Nationalwohlstande wurden durch das Landsknechtswesen um so tiefere Wunden geschlagen, als der an wildes, regelloses Leben gewöhnte Gesell für jedes friedliche Gewerbe untauglich geworden war. Sobald er den letzten Sold, die letzte Beute verzehrt hatte und kein Krieg in Aussicht stand, begann das sogenannte „Garten“, das heißt Herumstreunen und Betteln. Gartende Landsknechte wurden zur grimmigsten Geißel des Landvolkes, und die fast alljährlich erlassenen Reichsmandate, welche das Garten sogar mit dem Gevatter Dreibein bedrohten, konnten nur in den Gebieten größerer Reichsstädte aufrecht erhalten werden.


(Schluß folgt.)




Die irische Frage.
Eine culturgeschichtliche Skizze.

In der ältesten Colonie Englands, die nur durch den schmalen Georg-Canal von dem Gestade Albions getrennt wird, in dem sagenumwobenen Lande Erin’s, wird, wie in allen übrigen Colonien des mächtigen englischen Handelsstaates, das Ansehen der britischen Regierung bekanntlich nur durch Waffengewalt aufrecht erhalten. Auch dort glüht in der Urbevölkerung ein unversöhnlicher Haß gegen den fremden Eroberer und lodert von Zeit zu Zeit zu hellen Flammen des Aufstandes empor. Der wilde Schlachtruf erschallt heute wiederum auf der grünen Insel; wiederum stehen wir vor dem Beginn einer jener blutigen Metzeleien, in welchen im Laufe der Jahrhunderte Irland so schwer gelitten und England so oft seinen Namen mit fraglichem Ruhme bedeckt hat. In solchen Momenten des nahenden Kampfes ist es selbst für den kalten Zuschauer ungemein schwierig, über zwei Nationen zu Gerichte zu sitzen und gerecht abzuwägen, ob und inwieweit das geistig höher stehende Volk in vermeintlichen Culturinteressen die Freiheit des weniger civilisirten antasten darf. Das freie, gebildete, reiche England pocht heute dem abergläubischen, von Priestern beherrschten, wirthschaftlich herabgekommenen irischen Volke gegenüber auf seine culturelle Mission, und hat sich so die Sympathien derjenigen erobert, die nur mit der klingenden Münze der bestehenden Machtverhältnisse rechnen. Aber die Weligeschiche, welche die auf den Schlachtfeldern entstandenen Gesetze nur dann als Recht anerkennt, wenn sie der allgemeinen Gerechtigkeit entsprechen, wird vermutlich ein von dieser Anschauung weit abweichendes Urtheil über die englischen Ansprüche fällen.

Klingt es nicht wie eine bittere Ironie des Schicksals, wenn wir in Anbetracht der Klagen über die Verfolgung der katholischen Iren durch die anglikanische Kirche mit der wohlbeglaubigten geschichtlicher Thatsache beginnen müssen, daß der erste Rechtstitel auf den Besitz Irlands den englischen Königen von dem heiligen Stuhle zu Rom verliehen wurde? Papst Hadrian der Vierte, von Geburt ein Engländer, hat Irland an Heinrich den Zweiten von England für so viele Pfennige jährlicher Abgaben überlassen, wie Häuser auf der Insel standen. Dieser seelenverkäuferische, im Jahre 1156 abgeschlossene Contract wurde selbstverständlich von dem keltischen Volke der grünen Insel niemals anerkannt, aber für die Engländer bildete er das gute Recht, auf Grund dessen sie schon im Jahre 1170 mit bewaffneter Macht in Irland landeten und die Unterjochung des Nachbarvolkes begannen. In einer Reihe blutiger Expeditionen blieb der Sieg an die englischen Fahnen gekettet, und bald nannte sich der König von England auch „Herr von Irland“.

Diese langwierigen Kämpfe um die nationale Unabhängigkeit wurden noch durch den religiöser Gegensatz verschärft, als England eine eigene Staatskirche begründete, das irische Volk dagegen beim katholischen Glauben beharrte. Wie intolerant die anglikanische Kirche gegen Andersgläubige verfuhr, das haben wir bei einer anderen Gelegenheit erst vor Kurzem dargelegt (vergl. „Die Civilehe“, „Gartenlaube“, Jahrg. 1880, Nr. 47). In Irland aber feierte dieser hierarchische Fanatismus seine blutigsten Orgien, und so konnte Lord Deputy Montjoy der Königin Elisabeth berichten: „Majestät, Sie haben in Irland über nichts, als über todte Leiber und Asche zu gebieten.“

Aber die Lage der Besiegten verschlechterte sich noch, als das englische Volk unter Cromwell der Krone politische Freiheiten abtrotzte. Die Republik verfuhr gegen die Rebellen mit geradezu barbarischer Grausamkeit, und als im Jahre 1653 das Land in Friedenszustand versetzt wurde, befand sich kein Rebell mehr unter den Waffen. Da wurde ein hoher Gerichtshof eingesetzt, der über die im Bürgerkriege von den Katholiken an Protestanten verübten Frevelthaten aburtheilen sollte, und er ließ 200 der angesehensten Iren hinrichten, während 30,000 bis 40,000 Männer zur freiwilligen Auswanderung veranlaßt wurden. Alle Kriegsgefangene hatte man schon früher als Sclaven nach Westindien verkauft, aber auch das genügte nicht der Ausrottungspolitik des Parlaments. Man ließ nunmehr 20,000 Jünglinge, Weiber und Kinder aufgreifen und sie nach Jamaika und anderen fernen Inseln hinüberführen. Nachdem auf diese Weise das nationale Element genügend geschwächt worden war, suchte man mit anderen Maßregeln brutalster Art den Rest des Volkes zu vernichten. Alle geborenen Iren wurden über den Shannon nach Connaught vertrieben, und man erließ die Verordnung, daß jeder Verpflanzte, der das linke Ufer dieses Flusses beträte, von Jedem, der ihm begegne, niedergestoßen werden dürfe, während das irische Land an englische und schottische Soldaten und Colonisten vertheilt wurde.

Außerdem ward die Ausübung des katholischen Cultus untersagt, kein Katholik durfte ohne Paß sein; alle katholischen Pfarrer mußten bei Strafe des Hochverraths Irland innerhalb zwanzig Tagen verlassen und die Ortsbehörden erhielten die Ermächtigung, den Katholiken ihre Kinder wegzunehmen und sie zur Erziehung nach England zu senden. Aber wohl gemerkt! England wollte nicht die Besiegten von der tiefen Culturstufe der römischen Finsterniß zu der Morgendämmerung der religiösen Freiheit emporheben - es wollte nur mit Schwert und Feuer erobern. Und England selbst hat es durch den Druck verschuldet, daß Derjenige, der die Seelen der grünen Insel an den Bedrücker verkaufte, dennoch die geistige Oberherrschaft über die Verkauften bis heute besitzt - der Papst zu Rom. Das war in allgemeinen Zügen die trostlose Lage, in welcher das irische Volk Jahrhunderte hindurch unter englischer Herrschaft seufzte. In politischer Beziehung geknechtet, in religiöser verfolgt und wirthschaftlich, wie wir es später sehen [112] werden, förmlich geplündert, fristete es ein Leben der Sclaven in dem freien britischen Reiche. Erst die große politische Umwälzung am Ende des vorigen Jahrhunderts, welche die despotischen Regierungsformen fortspülte und der Freiheit fast in der gesammten civilisirten Welt zum Siege verhalf, sollte auch ihm eine Besserung seiner unerträglichen Lage bringen. Im Jahre 1798 erfolgte eine neue Erhebung, die umsomehr Aussicht auf Sieg hatte, als sie von der ersten französischen Republik unterstützt wurde. Aber auch diesmal wurde die Hoffnung getäuscht, der Aufstand niedergeworfen und das Standrecht verkündet. Das irische Parlament wurde gedrängt, sich aufzulösen und die Union Irlands mit England gutzuheißen, die Stimmen der Abgeordneten aber kaufte man hierzu mit englischem Golde. Niemals war Irlands Stern so tief gesunken wie damals. Jedoch bald sollte die Welt das wunderbare Schauspiel erleben, daß dasselbe Volk, welches auf den blutigen Schlachtfeldern stets unterlegen war, in den Parlamentssälen seines Gegners mit den friedlichen Waffen des lebendigen Wortes und der Ueberzeugung den größten Theil der ihm entrissenen Freiheiten wieder eroberte. Der Lenker dieses denkwürdigen, in der Geschichte einzig dastehenden Befreiungskrieges war ein schlichter Privatmann, Daniel O’Connel, der Befreier der Iren, von dem unser Bluntschli sagt: „es hat wohl größere Staatsmänner, aber es hat keinen größeren und reineren Volkstribun gegeben, als ihn.“ Fast durch ein halbes Jahrhundert blieb die Geschichte des irischen Volkes an seinen Namen gekettet.

Der fühlbarste Druck, welcher damals auf Irland lastete, ging von der anglikanischen Staatskirche aus. Schon seit Elisabeth’s Zeiten hatte diese Staatskirche alles katholische Kirchengut in Irland, von den Bisthümern bis zu der kleinsten Pfarrei hinab, an sich gerissen; außerdem waren die katholischen Einwohner zur Unterhaltung der anglikanischen Pfarrer genöthigt. Doch müssen wir hier mit Nachdruck hervorheben, daß dieser Makel dem freien Geiste der Reformation, aus welchem auch die anglikanische Kirche hervorgegangen, niemals angehängt werden darf. Es wiederholte sich nur das oft Erlebte, daß, sobald die lebendige Lehre der Reformatoren durch hierarchische Institutionen zu einer todten Formel gemacht wurde, die Freiheit und die Toleranz in derselben sofort verloren gingen. Die Conservativen Englands, die ihren Söhnen und Vettern die irischen Pfarreien übertrugen, sträubten sich aus leicht erklärlichen Gründen gegen die Emancipation der Katholiken, die für sie den Verlust jener kirchlichen Einkünfte bedeutet hätte, während die liberalen Protestanten diese Staatskirche im Verein mit den Iren bekämpften und schließlich ihre Auswüchse beseitigten. Es war also kein Kampf um Glaubensgrundsätze, sondern ein Kampf um rein weltliche Dinge, in welchen jetzt Irland eintreten sollte. Außerdem war die Bezeichnung katholisch gleichbedeutend mit irisch, und während es scheinen konnte, daß man um kirchliche Freiheit stritt, stritt man thatsächlich um nationale Unabhängigkeit.

Gegen die Staatskirche war die Hauptagitation O’Connel’s gerichtet, da er wohl wußte, daß das ungebildete Volk, welches sich nur schwer für rein politische Ziele begeistern läßt, für den Glauben Gut und Blut geben würde. Er selbst war keineswegs vom blinden Glaubenswahne gefesselt; wo es für seine patriotischen Ziele nutzbringend war, da scheute er vor einer Allianz mit liberalen Protestanten niemals zurück.

Zu diesem Zwecke rief er im Jahre 1823 die katholische Association wieder in’s Leben, die anfangs nur zehn Mitglieder zählte, später aber so anwuchs, daß sie von der Regierung schon im Jahre 1825 aufgelöst wurde. Er fügte sich der Verordnung, aber mit dem wachsenden Drucke wurde auch seine Rede zum Volke kühner.

„Mit der tiefsten Demuth,“ sprach er bei dieser Gelegenheit, „haben wir vor einem Jahre vom englischen Senat die Wiederherstellung unserer Gesetze erfleht; er hat unsere Bitte zurückgewiesen; heute verlangen wir die vollständige Emancipation unbedingt und ohne Rückhalt. Wir flehen nicht mehr – wir fordern. Man sagt uns, daß dies nicht das Mittel sei zur Erlangung unserer Zwecke, ich aber sage Euch, daß es ein gutes und daß es das einzige Mittel ist. In den Tagen des Glückes hat England unsere gerechtesten, bescheidensten Bitten mit Verachtung zurückgewiesen, und nur in den Tagen der Gefahr hat es sich herabgelassen, uns anzuhören. So faßt Muth; denn es leidet!“

Sofort begründete er einen neuen Verein, der bereits im Jahre 1826 bei der Wahl zum Parlamente seinen eigenen Candidaten durchsetzte, und im Jahre 1828 siegte O’Connel selbst in der Urwahl gegen den Magnaten Lord Fitzgerald. Aber diese Wahl wurde cassirt und der Verein aufgelöst. O’Connel nun gründete sofort einen neuen Verein und wurde mit noch größerem Triumphe wiedergewählt. Inzwischen hatte man sich in London überzeugt, daß ein fernerer Widerstand fruchtlos wäre, und eine Emancipationsbill für die Katholiken durchgesetzt, durch welche O’Connel’s Eintritt in das Parlament möglich wurde. Natürlich begnügte er sich nicht mit dem kargen Maß der gewährten Gerechtigkeit – er forderte mehr. Und als die Regierung sich weigerte, auf dem Wege der Reform weiter zu schreiten, schleuderte er ihr die Drohung entgegen: Entweder Gerechtigkeit oder Lösung der Union! Im Jahre 1840 rief er auch die Nation auf, die Repealassociation zu gründen, vor der er sein politisches Programm in folgenden vier Hauptpunkten zusammenfaßte: 1) die kirchlichen Staatsrevenuen in England und Schottland werden nicht für die Minderheit des englischen und schottischen Volkes, aber die kirchlichen Staatsrevenuen Irlands werden für eine kleine Minderheit des irischen Volkes verwendet. 2) In Irland kommt nur ein Zwanzigstel der männlichen Bevölkerung zur Ausübung der parlamentarischen Freiheit, in England ein Fünftel. 3) England hat über fünfhundert Mitglieder im Parlamente, Irland nur Hundertfünf, während die Bevölkerung Irlands mehr als zwei Drittel der englischen Bevölkerung beträgt. 4) Die englischen Gemeinden hat man seit Langem reformirt, und selbst die Minister, die Irland gewogen sind, wagen nicht, auch Irland ein reformirtes Gemeindegesetz zu geben.

Das englische Parlament sollte vor Allem diesen Uebelständen abhelfen, oder, drohte O’Connel, er würde das irische Volk zum Abfall von England bewegen. Um dieser Drohung auch Nachdruck zu verschaffen, griff er zu einem bis dahin unbekannten Agitationsmittel, zu den monstre-meetings.

Diese Massenversammlungen wurden im Freien abgehalten, zumeist auf einem Hügel, von dem man historisch denkwürdige Orte übersehen konnte, Orte, die im Volke durch die Erinnerung an frühere Kämpfe der keltischen Urväter mit den anglosächsischen Eindringlingen in besonderem Ansehen standen, Orte, welche durch Sage und Geschichte geheiligt waren. Diese Art der localen Staffage war ein Meistergriff des berühmten Volkstribunen, der also unter freiem Himmel und doch in der Walhalla des irischen Ruhms und des irischen Leids zum Volke sprach. Auch wurde durch andere äußere Mittel für die Anregung der leicht entzündlichen Phantasie des irischen Paddy gesorgt; Fahnen und hölzerne Piken wurden hervorgeholt als Symbole der Kriegsstandarten und wirklicher Waffen. Man erzählt auch, daß einmal ein Sarg gebracht wurde, in dem der verhaßte Zehnte lag, den man unter dem Fluchen der angesammelten Menge begrub.

Heute wiederholen Parnell und Genossen dasselbe Spiel, und wir wollen nicht entscheiden, ob die Epigonen des Meisters würdig sind. Strenge Ordnung und friedliches Verhalten charakterisirten die Meetings, welche O’Connel leitete; denn er verstand die Kunst, „nahe an den Abgründen des Hochverraths und des Aufruhrs vorüberzugehen, ohne schwindlig zu werden“, denn „niemals,“ wie er von sich sagen durfte, „fand ein General in seiner Armee den Gehorsam, welchen das irische Volk den Wünschen eines einfachen Privatmannes leistete“.

Am 8. October 1843 sollte ein Monstre-Meeting zu Clontaiff abgehalten werden, zu dem man eine Million Menschen erwartete. Da erließ die Regierung am Tage zuvor eine Proclamation, durch welche die Volksversammlung untersagt wurde, und schickte Truppen an Ort und Stelle. O’Connel protestirte gegen diesen gesetzwidrigen Schritt, vermied aber jeden Conflict mit der bewaffneten Macht. Seine Eilboten sprengten nach allen Richtungen hin, und die Haufen und Banderien, die schon gegen Clontaiff zogen, kehrten auf seine Anordnung ruhig um. Die Regierung aber glaubte nunmehr schärfere Maßregeln ergreifen zu müssen, und erhob gegen O’Connel Anklage wegen Aufreizung zum Aufruhr. Am 12. Februar 1844 wurde der Volkstribun in Irland von den Geschworenen für schuldig befunden und ging nunmehr nach London, um von dem Parlamente die Cassation dieses „gesetzwidrigen“ Urtheils zu erwirken. Zuvor aber richtete er an seine Parteigenossen die Mahnung: „Wenn Ihr Eure Freunde achtet und Euren Feinden eine bittere Täuschung bereiten wollt, so bleibt ruhig und enthaltet Euch jeder Gewaltthat.“ Am 29. Mai 1844

[113]

Liszt-Medaille von H. Wittig.
Auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann



verlas der Richter unter Thränen das Urtheil: O’Connel wurde zu ein Jahr Gefängniß und zweitausend Pfund Sterling Buße verurtheilt und genöthigt, Bürgschaft zu stellen, daß er sieben Jahre Frieden halten wolle. – Wie mit einer souveränen Macht, verhandelte England mit dem einfachen Tribun. Inzwischen wurde in Folge seiner bereits oben erwähnten Einsprache beim Parlamente am 4. September das Urtheil von dem Oberhause aufgehoben, und eine zahllose Menge – man erzählt von einer halben Million – holte O’Connel in einem Triumphwagen von dem Richmond-Gefängnisse ab. Das war ein sonniger Tag in der düsteren Geschichte der Iren, ein glorreicher Tag des moralischen Sieges.

O’Connel starb im Jahre 1847 auf einer Reise nach Italien in dem Bewußtsein, seinen; Volk ein Retter gewesen zu sein; denn er hat für dasselbe nicht allein gewisse Freiheiten errungen, sondern ihm auch den Weg zu religiöser und bürgerlich politischer Gleichberechtigung mit dem englischen Volke gezeigt. Wohl durfte er von sich sagen: „Wir waren die Ersten in der Schule der modernen Politik, welche lehrten, daß die höchsten politischen Vortheile nur durch moralische Mittel, durch friedlichen, aber unablässigen Widerstand gegen Unterdrückung erreicht werden müssen und daß ein einziger Tropfen Menschenbluts die edelste Sache entehre und verderbe; das Blut ist nicht, wie man gesagt, der Kitt für den Altar der Freiheit, es ist nur das zerstörende und auflösende Element in dem dem freien Geiste errichteten Tempel; denn dieser kann nicht lange aufrecht stehen, wenn Blut zu seinem Aufbau nothwendig war.“

Konnten wir im Vorstehenden den Mitteln, welche O’Connel sich zur Realisierung seiner Idee bediente, nur zustimmen und die Klugheit bewundern, welche sie ihm dictirte, so müssen wir doch auch seinen Gegnern, der damaligen englischen Regierung, die vollste Anerkennung zollen. Auch sie hielt sich streng an die verfassungsmäßige Grenze ihrer Gewalten, und wahrlich durch ihre echt liberale Haltung hat sie ungemein viel zur friedlichen Lösung der Frage beigetragen. Denken wir uns diesen Mann mit seinen immer neu gestifteten Vereinen, denken wir uns diese Monstremeetings auf dem alten Continent Europas! Aus einander jagen würde man diese Volkshaufen, und so ein Volkstribun, wäre er nicht in einem Burgverließe vermodert? Darum liegt für uns eine tiefe Lehre in der ersten Entwickelungsphase der irischen Frage. Die freiheitliche Verfassung ist das theuerste Gut der Völker; denn sie schützt nicht allein vor neuem Unrecht, sondern giebt uns auch Mittel an die Hand, das, was unsere Vater verbrochen, auf friedlichem Wege wieder gut zu machen. Nur durch sie ist es möglich geworden, das Unrecht, welches englische Könige und die englische Republik dem irischen Volke zugefügt, auf politischem und religiösem Gebiete durch das englische Parlament zu sühnen.

Wie kommt es aber, daß trotz dieser Reformen heute der Kampf auf’s Neue tobt, daß die Leidenschaften bereits zu verwerflichen Mitteln greifen; und die Nachfolger O’Connel’s mit roher Gewalt England bedrohen? Nun, die irische Frage spielt noch auf einem dritten bisher noch nicht von uns berührten Felde – sie ist noch eine sociale Frage.

O’Connel sollte es noch erleben, daß sich plötzlich die kaum vernarbten Wunden Irlands öffneten und es nun klar zu Tage trat, daß das Uebel viel tiefer liege und zu seiner Aufhebung viel radicalerer Mittel bedürfe. In den Jahren 1846 und 1847 wurde die grüne Insel von einer furchtbaren Hungersnoth heimgesucht, der Tausende von Iren erlagen und während welcher Tausende ihr Vaterland verließen, um in Amerika, England und Frankreich Arbeit und Brod zu finden. Die religiösen und politischen Angelegenheiten traten immer mehr in den Hintergrund, während die sociale Frage die Gemüther zu beschäftigen anfing. In ihrer furchtbaren Noth schrieben die Iren die Schuld alles Unheils den Engländern zu und brachten gegen ihre Herrscher eine lange furchtbare Anklageacte vor.

So lange Irland unter eigenen nationalen Herrschern stand, waren seine Grundbesitzverhältnisse von den englischen verschieden. Das Land war nicht Eigenthum einzelner Personen, sondern Gemeindeland, Eigenthum der Gemeinde, welche es an Einzelne gegen eine Abgabe überließ. Schon der oben erwähnte Heinrich der Zweite nahm nach seinen ersten Erfolgen den Iren große Länderstrecken und verschenkte sie an englische Barone. Hierdurch aber wurden die Rechtsverhältnisse in der Art verändert, daß, während früher die Iren an ihre Häuptlinge einen Tribut entrichteten und dabei auf Grund und Boden Anspruch erheben durften, sie nunmehr nach englischem Rechte von ihren neuen Herren auf dem Grund und Boden nur geduldet wurden und jeden Augenblick von demselben fortgetrieben werden konnten. Diese famosen Confiscationen wurden unter Heinrich denn Achten, Elisabeth, Jacob den Ersten, Cromwell und Anderen wiederholt, und schließlich gehörte alles irische Volk, mochte es früher freies Eigenthum besessen haben oder nicht, zum neuen Lehen. Die englischen Lords, denen das Land geschenkt wurde, blieben größtentheils in London und schickten auf die neuen Besitzungen ihren Agenten, dessen Aufgabe es war, seinem Herrn möglichst viel Geld in die englische Metropole zu senden. Da nun englische Arbeiter in Irland nicht aufzutreiben waren, so sah man sich genöthigt, das Land an die vertriebenen Iren pachtweise abzugeben. Man fand aber auch bald, daß der Ertrag des Gutes desto größer wurde, je mehr Pächter auf demselben saßen, und so wurde Grund und Boden parcellirt und immer zahlreicheren irischen Pächtern zur Bebauung übergeben.

Diese baueten nun auf die von ihnen übernommenen Landstreifen [114] ihre kleinen Häuser und entrichteten den immer höher und höher steigenden Pachtzins, ohne einen Contract abgeschlossen zu haben, einzig und allein auf die Gnade des Agenten angewiesen. Sie wurden daher Tenants-at-will (Pächter aus Gnade) genannt. So lange sie nun politisch geknechtet und England gegenüber machtlos waren, mußten sie sich diese Gnade gefallen lassen, mußten froh sein, durch diese Gnade in ihrem schönen Vaterlande ein elendes Leben fristen zu können. Aber tief im Herzen des Volkes glühte der Haß gegen den fremden Landlord, genährt von der geschichtlichen Ueberlieferung, daß dieses gepachtete Land einst Eigenthum des Vorfahren des Tenants gewesen und ihm von dem Eroberer geraubt wurde. Auch bildete sich im Lause der Zeit ein eigenthümlicher Rechtsbegriff über die gegenseitigen Verpflichtungen des Landlords und des Tenant.

Die Agenten vertheilten mit der zunehmenden Parcellirung der Fluren ein ödes unbebautes Land an die Bauern. Dieses wurde von ihnen urbar gemacht; auf ihm errichteten sie aus eigenen Mitteln die nöthigen wirthschaftlichen Gebäude. Dadurch aber erwarben sie sich in der Meinung des irischen Volkes ein gewisses Recht auf das Land, das Recht des Pächters, das Tenant-right, welches, da es in der Provinz Ulster zuerst aufgestellt und behauptet wurde, das Ulster-right genannt wird. Nach diesem Rechte durfte der Landlord nicht ohne Weiteres den Pächter, wenn er seinen Zins nicht bezahlen konnte, aus dem Hof vertreiben, sondern er mußte ihm gestatten, daß ihn ein anderer Pächter ablöse, der ihm für die Meliorationen des Bodens und für die errichteten Bauten eine Entschädigungssumme zahlte. Und dieses Recht, welches in keinem damaligen Gesetzbuche stand, vertheidigten die Tenants mit Waffen in der Hand, und es wurde um dasselbe Blut auf Blut vergossen, bis es in gewissen Landestheilen wirklich anerkannt wurde.

Daß unter diesen wirthschaftlichen Verhältnissen der Ackerbau in Irland zurückgehen mußte, liegt wohl klar auf der Hand. Dazu baute der Ire, da in dem feuchten Klima Weizen und Roggen nicht immer gut gediehen, vorzüglich Kartoffeln, bei deren Mißwachs das Land regelmäßig von einer Hungersnoth bedroht wurde. Wohl eignete sich der Boden Irlands zur Anlage von Weiden und zur Cultur der Futtergewächse, aber diese Art Bodenwirthschaft konnte nicht auf den kleinen Parcellen, sondern nur auf großen Farmen mit Erfolg betrieben werden. Das erkannten die Landlords, und vornehmlich seit den Hungerjahren 1846 und 1847 gingen sie mit der praktischen Rücksichtslosigkeit eines englischen Kaufmanns an das „Bauernlegen“. Ueber die Erfolge dieser neuesten Expropriationspolitik erzählt uns ein Augenzeuge: [1]

„In den östlichen Counties Meath, Kildare etc. ist der typische irische Bauer gar nicht mehr anzutreffen. Er wurde nach dem Süden und Westen bis zum Ocean hin zurückgedrängt, und die Stelle, die er früher bearbeitete und bewohnte, wird jetzt vom Dampfpfluge befahren, oder ist in eine sich auf mehrere englische Meilen erstreckende Graswirthschaft umgewandelt. Da finden die vielen ‚Unions’ des sportlustigen Hochadels noch Jagdgründe, während deren in England immer weniger und weniger werden. Jeder fußbreite Streifen dieses Bodens ist ein Zeuge besonderen Menschenelends und besonderer menschlicher Grausamkeit; denn von hier wurden jene Tenants gewaltsam ausgetrieben, die nicht der Hungertyphus und die Cholera hinweggerafft haben. Von da stammen die meisten irischen Emigranten, die in Amerika, in Australien, in England eine neue Heimath fanden. Das ,Consolidirungswerk‘ wurde von hier aus westlich und südlich fortgesetzt, und wie weit es gelungen ist, das konnte ich während eines mehrmonatlichen Aufenthaltes in Irland an einem bestimmten Merkmale erkennen. Wo ich auf Fußwanderungen durch die Grafschaften verlassene steinerne Häuschen mitten in Feldern stehen sah, auf denen keine menschliche Seele zu erblicken war, da hatte vor Jahren der Zinseintreiber das unmenschliche Werk gethan, Leute, deren Väter und Urgroßväter sich hier zu Hause fühlten, unter Assistenz der Polizei und selbst gegen den Widerstand ganzer Dörfer, gewaltsam auszutreiben. Zuerst wurde das Dach abgehoben, wenn eben die Thür verrammelt war; dann wurden bei fortdauerndem Widerstände Steine in den offenen Wohnraum geworfen, und man erzählt, daß sogar in denselben hineingeschossen wurde, wahrscheinlich aber auch aus dem Häuschen hinaus, denn eine Waffe findet man in der ärmsten Hütte in Irland. Je weiter westlich ich kam, desto häufiger fand ich diese melancholischen entdachten Häuser, ein Zeichen dessen, daß hier die Ejections (Austreibungen) später stattfanden, sodaß die Spuren der Gewaltthat noch sichtbar waren, und in der Grafschaft Mayo fand ich einmal eine ganze Reihe verlassener menschlicher Wohnungen, alle ohne Dach, alle aus Stein, die Mauern ganz kahl, nicht einmal von etwas wohlthätigem Moos überzogen, das die Stätte des Elends verkleidet und dem Auge entrückt hätte. Keine Todtenstadt, kein von Wasser oder Feuer zerstörter Ort macht einen fürchterlicheren Eindruck als diese weithin sich erstreckende Reihe von Ruinen, deren jede ein agrarisches Verbrechen, bald vorn Agenten des Landlords, bald vom Tenant begangen, gesehen hat. Die von einem solchen Häuschen vertriebene Familie ist vielleicht auf einer Landstraße verhungert, oder sie ist auf dem Wege nach Amerika zu Grunde gegangen, und der Agent, der die Vertreibung anordnete, oder der Bailiff, der sie durchführte, wurden vielleicht, noch ehe sie den Ort verlassen konnten, durch einen von irgend welcher Seite kommenden Schuß niedergestreckt. Darum gelten aber auch diese Häuschen bei den Bauern für verflucht, und wehe Dem, der wieder auf eines derselben das Dach aufsetzen und es bewohnen wollte! Sie alle müssen stehen bleiben, so wie sie verlassen wurden, bis einmal der Wind sie niederbläst. Ringsumher ist aber an Stelle der vielen kleinen Bauernwirthschaften eine große englische Farm entstanden, auf der überhaupt nichts angebaut wird, sondern die ansehnlichen Heerden als Weideplatz dient.“

Das war das tiefliegende Uebel, welches beseitigt werden mußte, wenn in Irland ein wahrer Friede jemals herrschen sollte. Und als auch die nach O’Connel’s Tode so furchtbar gewordene fenische Verschwörung trotz der in Canada und England versuchten Putsche schließlich der eisernen Organisation der englischen Macht unterlag, als die politischen und religiösen Gegensätze zwischen den Iren und Anglosachsen durch Toleranz und Freiheit beseitigt waren, da verschmolz die irische Frage mit den Interessen der Tenants, die bei Weitem die Mehrzahl des Volkes bildeten, und sie wurde zu der gegenwärtig sich drohend erhebenden Landfrage in Irland. Weittragende Weltereignisse jüngster Tage haben ihr die schneidige Schärfe verliehen, mit der sie heute das feste Band englischer Rechte zu zerschneiden droht. Es ist bekannt, daß seit wenigen Jahren Amerika zu einer unerschöpflichen Kornkammer der alten Welt geworden, daß dank der Anwendung der Maschinen in der überseeischen Landwirthschaft, dank der Fruchtbarkeit des jungfräulichen Bodens der Westamerikanischen Staaten und dank den wunderbar hoch entwickelten Transportverhältnissen der merkantilen Flotten die neue Republik unsere Märkte mit Brodfrüchten überschüttet und trotzig selbst dem kornreichen Rußland eine gefährliche Concurrenz macht. Bekannt ist es auch, daß das plötzliche Auftreten des amerikanischen rothen Winterweizens auf dem Weltmärkte in den Jahren geschah, in welchen vor Kurzem Europa fast allgemein unter einem schweren Mißwachs litt und in denen Großbritannien und Frankreich von der transatlantischen Republik förmlich genährt wurden. Bei dieser Umwälzung des Getreidehandels, welche die Gegenwart beherrscht und welcher die Zukunft angehört, hat die englische Landwirthschaft am meisten gelitten. Es liegt eine tiefe Berechtigung in dem Bestreben der Landlords, den unrentablen Anbau der Brodfrüchte zu beschränken und in der Viehproduction ihr Heil zu suchen.

Wie unvorbereitet trat aber Irland in den ihm aufgedrungenen wirthschaftlichen Wettkampf ein! Von den 680,000 irischen Pächtern sind 230,000, das heißt über eine Million Individuen am Rande des Bankerotts – nein, im Bankerotte selbst! Sie können kaum in guten Jahren ihre Ausgaben bestreiten und sind in schlechten Erntejahren auf das Almosen ihrer amerikanischen Brüder angewiesen. Denken wir uns ferner, daß 526,628 dieser Pächter als Tenants-at-will nach einjähriger Kündigung aus ihrem Hof vertrieben werden können, daß also 2,600,000 Menschen sich in einer Art Sclaverei befinden, daß 227,370 solcher Familien in elenden einräumigen Hütten ohne Fenster und ohne Rauchfang ihr Leben fristen, und wir werden von der verzweifelt trostlosen Läge dieser Leute uns einen Begriff machen können. Nur der Wohlthätigkeit der civilisirten Welt und den Regierungs-Unterstützungen ist es zu verdanken, daß in den letzten Jahren der Hungertyphus Irland verschonte.

Da ist es wohl erklärlich, warum die Zahl der kleinen Pächter, die auf ein bis fünf Acker Boden sitzen, von 310,000 im Jahre 1841 auf 66,359 im Jahre 1878 gesunken war. Der unparteiische [115] Volkswirth, der den unaufhaltsamen Lauf der modernen Cultur beobachtet, muß ihnen kalt erklären: Eure Stunde hat geschlagen; mit eurem armseligen Kartoffelbau paßt ihr nicht mehr in den Rahmen der neuen Wirthschaft, die mit dem Dampfpflug ackert; wie die kleinen selbständigen Handweber seid auch ihr dem Untergange geweiht. Gebt eure elende Pachten auf und werdet Lohnarbeiter auf großen Farmen – dadurch wird eure Lage gebessert.

Aber kein Volk der Erde wird sich je freiwillig solchem Rollenwechsel unterwerfen. In dem verhaßten Pachtzins findet der Ire den Grund seines Unglücks; wäre die Scholle, auf der er sitzt, sein Eigenthum, könnte er sich dann nicht mit seiner Familie eines angemessenen Wohlstandes erfreuen? Und das Land gehörte seinen Vorfahren; es wurde ihnen nicht abgekauft, sondern gewaltsam entrissen. Darum schlägt er eine andere Lösung der Landfrage vor; er erhebt Anspruch auf sein Land, sein gutes Eigenthum und bietet dem Landlord, dem „Landdiebe“, und seinen elenden Agenten anstatt des Pachtzinses eine „Unze Blei“ an.

Das war die lange Kette der Ereignisse und Anschauungen, aus denen als letztes Glied eine Art Organisation, Verschwörung oder geheimer Regierung erwuchs, die irische Landliga, welche heute die Situation beherrscht und die im Grunde die Forderung stellt: das irische Land soll den Iren zurückgegeben werden. Das Parlament soll das nöthige Geld bewilligen und mit ihm den englischen Lord bezahlen, den Pächter dagegen als Eigenthümer einsetzen. Das ist das Endziel ihrer Bestrebungen, und um sie zu erreichen, bedroht sie England mit Einäscherung Londons, mit rücksichtsloser Verfolgung der Landbesitzer, ihrer Agenten und aller Derjenigen, die diesen Verhaßten irgend einen Dienst erweisen; sie droht mit neuem bewaffnetem Aufstand. Es wäre voreilig, wenn nur über diese gährenden Zustände, welche unseren Lesern aus den Zeitungen bekannt sind, ein entschiedenes Urtheil fällen wollten. Noch ist es möglich, daß Irland sich mäßigt und England – es scheint ja so – den Weg ernster Reformen betritt; dann würde auch die irisch-agrarische Frage auf friedlichem Wege gelöst werden. Irische Pächter, wir wünschen euch von Herzen diese friedliche Lösung, aber in diesem Kampfe rufen wir euch die Worte eures großen O’Connel’s zu: „Wenn ihr eure Freunde achtet und euren Feinden eine bittere Täuschung bereiten wollt, so bleibt ruhig und enthaltet euch jeder Gewaltthat!“

Valerius.





Gotthold Ephraim Lessing in Wolfenbüttel.

Archivarische Enthüllungen.
(Zur Erinnerung an den 15. Februar 1781.)


Auf der Ostseite der Stadt Braunschweig erstreckt sich in mäßiger Entfernung von den ehemaligen Stadtwällen ein weiter, grüner Anger; er ist abgelegen von dem lauten Leben des Tages; die Jugend der höheren Schulen hat ihn zu ihren Spielen ausersehen. Kein Ort aber in der altersgrauen Stadt und ihrer Umgebung kommt an Bedeutung diesem stillen Platze gleich: an seiner einen Seite erhebt sich inmitten schattiger Bäume das Denkmal der tapfern Schill’schen Officiere, welche im Jahre 1809 an dieser Stelle von französischen Kugeln hingestreckt wurden und hier ihre gemeinsame letzte Ruhe gefunden haben, diesem Kriegerdenkmale gegenüber aber, an der anderen Seite des Angers, zieht sich der Friedhof der Gemeinde zu St. Magni hin, und in seinen Gräberreihen ist ein kleiner Fleck Erde, bei welchem am 15. Februar 1881 die Gedanken der Gebildeten aller Völker verweilen werden: es ist das Grab Lessing’s, und an jenem Tage sind es hundert Jahre, seit man den großen Mann, der als einer der ersten in der Reihe der weltumgestaltenden Geister stand, in diese abgelegene Gruft bettete. Kein Denkmal, nicht einmal ein Grabstein, bezeichnete damals diese heilige Stätte, und nur dem Umstände, daß eines Freundes Hand eine Pappel und eine Akazie neben den Grabhügel pflanzte, war es zu danken, daß man später mit Sicherheit diese Stelle als das Grab Lessing’s bezeichnen konnte. Jetzt ist sie bekanntlich in würdiger Weise durch ein schönes Denkmal geschmückt, welches die Mitglieder des herzoglich braunschweigischen Hoftheaters hier errichten ließen; über die näheren Umstände aber von Lessing’s Tod und Bestattung, sowie von seinen gesammten Verhältnissen in Wolfenbüttel und am Hofe des Herzogs von Braunschweig sind so manche ungenaue, ja trotz aller fleißigen Forschungen geradezu unrichtige Nachrichten immer noch so verbreitet, daß eine Berichtigung dieser selbst bei Adolf Stahr, und bei Danzel-Guhrauer falschen Angaben wünschenswerth erscheint. Die Nachweise, welche hier gegeben werden sollen, sind meist den noch erhaltenen Originalacten der herzoglichen Kammer zu Braunschweig entnommen und werden an dieser Stelle zum ersten Mal veröffentlicht; was des Zusammenhanges Wegen aus schon veröffentlichten Berichten entlehnt wurde, wird dem kundigen Auge leicht erkenntlich sein.

Als die neubegründete Hamburger Nationalbühne, bei welcher Lessing bekanntlich als Dramaturg engagirt war, durch die Gleichgültigkeit der Hamburger im November 1768 zu Grabe getragen worden war, hatte Lessing seine Hoffnung auf eine sorgenfreie Existenz, auf die Druckerei gesetzt, welche er gemeinschaftlich mit seinem Freunde Bode angelegt hatte. Doch auch dieses Unternehmen mißglückte, und der vielbedrängte Mann war jetzt fest entschlossen, Deutschland zu verlassen und in Rom ein Unterkommen zu suchen. Selbst einen Ruf nach Wien als Dramaturg und Theaterdichter, der im April 1769 an ihn erging, wies er zurück. Sein Wille stand fest: er wollte seinem Vaterlande den Rücken kehren. Daß er diesen Vorsatz nicht ausführte, war dem Anerbieten zu danken, das von Braunschweig aus an ihn erging, die Stelle des Bibliothekars an der berühmten Wolfenbüttler Bibliothek zu übernehmen. Lessing fand diese Stelle seinen Wünschen ganz entsprechend, und im April 1770 siedelte er von Hamburg nach Braunschweig, am 7. Mai nach Wolfenbüttel über.

Es ist nun eine landläufige, von fast allen Biographen des großen Mannes vertretene Ansicht, daß Lessing’s Einkommen in Wolfenbüttel so gering gewesen sei, daß es ihn kaum habe vor Mangel schützen können. Man hat dabei aber, abgesehen davon, daß die angegebenen Zahlen zum Theil unrichtig sind, stets den Maßstab der heutigen Zeit angelegt und ist so zu durchaus schiefen Urtheilen gelangt. Lessing wurde mit einem Anfangsgehalte von 600 Thaler und freier Wohnung im Schlosse zu Wolfenbüttel angestellt; dieses Gehalt steigerte sich allmählich auf die Summe nicht von 800, wie irrthümlich angegeben worden, sondern von 957 Thaler und freier Familienwohnung. Was diese Summe aber in jener Zeit zu bedeuten hatte, das ergiebt sich, wenn man andere Besoldungen daneben hält. Ich setze aus der herzoglichen Kammerrechnung nur einige Gehaltssätze hierher. Es bezogen: „Cammerherr Graf Marschall 500 Thaler, Forstmeister von Löhneisen 600 Thaler, Canzley-Director von Hoym 700 Thaler, Vice-Oberstallmeister von Bothmer 750 Thaler.“ Neben diesen Summen erscheint Lessing’s Einkommen als ein recht ansehnliches.

Einen Fingerzeig für die Anwendung der oben genannten Zahlen auf heutige Verhältnisse giebt eine Angabe im Gehalt Lessing’s selber; als ein Theil desselben erscheinen „16 Klafter 6füßig büchen Brennholz à 3 Thaler.“ Dieses Holz hat nach den heutigen Forsttaxpreisen einen Werth von etwa 34 Mark pro Klafter. Legen nur diesen Maßstab auch im übrigen an, so erscheint in heutigem Gelde das Einkommen Lessing’s mindestens in einer Höhe von 3000 Thaler, die geräumige Wohnung nicht eingerechnet. Aus den Tagebüchern von Leisewitz, der mit Lessing sowie mit den oben genannten Personen verkehrte, und aus andern zeitgenössischen Aufzeichnungen geht hervor, daß die angegebenen Gehälter sehr wohl ausreichten, auch eine ziemlich ausgedehnte Gastfreundschaft zu pflegen, und von diesen Gehältern erreicht doch keins das Einkommen Lessing’s.

Wie richtig aber der Herzog Karl und dessen Nachfolger Karl Wilhelm Ferdinand den Werth des Mannes, der ihren Hof schmückte, zu schätzen wußten, wie sehr sie von der Erkenntniß der Pflicht durchdrungen waren, weltliche Macht habe geistiger Größe einen beide Theile ehrenden Tribut zu entrichten, davon legen abermals die Kammerrechnungen Zeugniß ab. Wiederholt erhielt Lessing bedeutende Vorschüsse, selbst bis zur Höhe von 1000 Thaler. Der letzte Posten, den die Rechnungen nennen, ist eingetragen am 9. Januar 1781: „Dem Hoff-Raht Lessing zum Vorschuß [116] 600 Thaler. Nach Seren. gndst. Rescripto vom 29. Dec, 1780 die wieder Bezahlung gesichert 1/4 Jährig mit 50 Thaler.“ Von diesen vierteljährigen Ratenzahlungen ist aber nur die erste, „den 1. Maji. 1781“ wirklich geleistet worden, als den Erben Lessing’s der Gehaltsbetrag für das sogenannte Gnadenquartal ausgezahlt wurde.

So oft Lessing von Wolfenbüttel nach Braunschweig kam und bei Hofe erschien, wurde er, wie es seiner Stellung zukam, mit Auszeichnung aufgenommen, und alle Mitglieder des herzoglichen Hauses zeigten, daß sie die hohe Bedeutung ihres Gastes zu würdigen wußten; an Einladungen zur Tafel fehlte es niemals, selbst zu der Zeit nicht, wo bereits die Wolfenbüttler Fragmente[2] in den Kreisen des Hofes und der obersten Behörden so viel böses Blut gemacht hatten.

Noch am 12. Februar 1781 speiste Lessing an der Tafel des regierenden Herzogs, und den Abend des 13. Februars brachte er bei der verwittweten Herzogin zu, und schon zwei Tage darauf erlag er hier in Braunschweig einem plötzlichen Anfalle eines Brustleidens, an dem er schon seit einiger Zeit gelitten hatte. In dieser seiner letzten Krankheit waren die Erkundigungen nach seinem Befinden von Seiten des Hofes unablässig, besondere Theilnahme aber zeigte Herzog Ferdinand, der berühmte Feldherr des siebenjährigen Krieges.

In fürstlicher Weise wurde Lessing auch noch im Tode geehrt. Karl Wilhelm Ferdinand gab sofort Befehl, die Hofstaatscasse solle die Kosten der Beerdigung trugen. Diese Kosten aber sind in den Kammerrechnungen mit 154 Thalern 30 Mariengroschen = 466,50 Mark angegeben, eine Summe, die damals ein sogenanntes „Begräbniß erster Classe“ erforderte, wie es ja einem Manne von Lessing’s Bedeutung ohne Zweifel zukam. Der Tag der Bestattung war der 20. Februar. Im Sterbehause wurde der eichene Sarg, von Wachskerzen umgeben, feierlich aufgestellt, und unter dem Geläute sämmtlicher Glocken von St. Magni setzte der Zug sich in Bewegung. Vorauf schritt der Cantor der Magni-Schule mit sämmtlichen Schülern; den Leichenwagen zogen vier Pferde, von vier Dienern geführt, und der Sarg war während der Fahrt mit schwarzem Tuch behangen. Im Trauergefolge befanden sich der Vertreter des Hofes und viele der angesehensten Personen der Stadt. Ein eigenes Grab – wie es sich geziemte – nahm die Leiche auf. Diese ehrenvolle Bestattung Lessing’s fordert in unabweisbarer Gedankenverbindung zu einem Vergleiche mit der unwürdigen Beisetzung Schiller’s auf, den man mit vielen Anderen in eine gemeinsame Todtengruft einsenkte, und zwar ohne Sang und Klang.

Wie ist nun aber die Bedrängniß zu erklären, in welcher Lessing sich nach seinem eigenen Zeugnisse in Wolfenbüttel so oft befand? Sie hatte drei triftige Gründe. Lessing war mit einer – bedeutenden Schuldenlast von Hamburg herübergekommen; er mußte diese von Wolfenbüttel aus tilgen, und er hat sie getilgt. Der zweite Grund war der Umstand, daß er von seiner Familie, besonders von seiner ältesten Schwester, deren Charakter nicht im hellsten Lichte erscheint, stark in Anspruch genommen wurde. Endlich kommt noch hinzu, daß Lessing selber nicht das kleinste wirthschaftliche Talent besaß. Bettlern gab er zuweilen einen Louisd’or, und Fremde, die sein Interesse zu erregen wußten, behielt er monatelang in seinem Hause und versah sie sogar mit Taschengeld; in seinem Nachlasse fanden sich mehr als ein Dutzend vollständige, zum Theil sehr kostbare Anzüge, 41 feine Oberhemden, 69 Paar Strümpfe, darunter 28 Paar seidene, und die übrigen Sachen in gleichem Verhältniß.

Bei diesen wenigen Angaben, denen sich ähnliche leicht hinzufügen ließen, lasse ich es bewenden. Sie ergeben zur Genüge, daß Lessing in Wolfenbüttel nicht hat zu darben brauchen.

Schlimmer aber drückte ihn ein anderes Uebel. Wolfenbüttel war gesellschaftlich ein für Lessing vollkommen todter Ort. Eine verhältnißmäßig große Anzahl von höchst ehrenwerthen Beamten, deren geistiger Horizont von den Anforderungen ihres Berufes eng umschlossen war, konnte einem Lessing nicht den Verkehr bieten, der ihm Zeit seines Lebens unabweisliches Bedürfniß war. Sein fleißiger Nachfolger, Langer, klagt in einem Briefe an Eschenburg: „Schon im zweiten Jahre seines hiesigen Aufenthaltes war der arme Lessing desselben so überdrüssig. Geschah dies am grünen Holz, was soll am dürren werden?“

An einer andern Stelle. „Vielleicht steckt der Knoten darin, daß der ehrliche Mann (Lessing) die Menschen weder zu brauchen, noch zu entbehren verstand. Das Erstere habe ich vierzig Jahre hindurch leider! wohl lernen müssen, und daß das Letztere für mich Nothwendigkeit sein würde, habe ich sogleich bei meinem Eintritt in Wolfenbüttel bis auf’s Mark gefühlt.“

Was Lessing selber von Wolfenbüttel erwartete, das zeigen die Worte, welche er am Tage seiner Einführung (7. Mai 1770) an Ebert in Braunschweig schrieb. „Ich bin Ihnen unter den Händen weggekommen. Aber es verlohnt auch wohl der Mühe, daß man Abschied nimmt, wenn man stirbt – oder von Braunschweig nach Wolfenbüttel reist!“ – Sich selber erschien Lessing in dem öden Städtchen wie ein lebendig Begrabener, und als später der endlose Verdruß hinzukam, den ihm die Herausgabe der Reimarus’schen Fragmente bereitete, als der bittere Schmerz um den Tod seiner so innig geliebten Gattin ihn traf, da erzeugte sich in ihm jener herbe Lebensüberdruß, der ihm in einem Briefe an Elise Reimarus in Hamburg die leidesschweren Worte erpreßte. „Ich bin zu stolz, mich unglücklich zu denken, knirsche eins mit den Zähnen und lasse den Kahn gehen, wie Wind und Wellen wollen. Genug, daß ich ihn nicht selbst umstürzen will!“ –

Lessing war – um ein Wort Gleim’s zu gebrauchen – wie Friedrich der König, ein Einziger. Heute sind die Früchte seines großen Geistes längst Gemeingut der Welt geworden. Könnte er jetzt, nach einem Jahrhundert, die Stätte seines letzten Wirkens wieder sehen, so würde ein anderes Bild sich ihm zeigen, als in jenen dunklen Tagen. Außer dem herrlichen Denkmale von Rietschel’s Meisterhand, das ihm das deutsche Volk auf dem Lessing-Platze errichtete, würde er ein anderes, mit nicht geringerer Liebe und Verehrung gepflegtes Denkmal in den Herzen Derer finden welche heute die Stätte bewohnen, die ihm damals ein Ort der Anfeindung und des Leides wurde.

Ferdinand Sonnenburg.





Zur Entwickelung der Arbeiterversicherung.

Jedem redlichen Menschen wohnt das Bestreben inne, über den Erwerb des täglichen Brodes hinaus sich und den Seinen für den Lebensabend eine gesicherte Zukunft, frei von Sorge und Plage, zu bereiten. Für seine Beamten hat der Staat nach dieser Richtung durch Zusicherung von Ruhegehalten sorgen müssen, schon um tüchtige Kräfte in seinen Dienst zu ziehen, während die Angehörigen anderer Berufsstände, wie der Landwirtschaft, des Handels, der Gewerbe, auf die Früchte ihrer Thätigkeit angewiesen, in der Regel im Stande sind, Ersparnisse zurück zu legen oder Lebens- und Sterbeversicherungen abzuschließen. Dagegen leidet der sogenannte kleine Mann, hauptsächlich der unbemittelte Arbeiter, allenthalben wo die moderne Productionsweise das industrielle Leben beherrscht, unter einer gewissen Unsicherheit des Daseins.

Seine Bedürfnisse sind gegenwärtig auf ein Maß zurückgedrängt, das vielfach schon unter der Grenze des zum nothwendigen Lebensunterhalte Ausreichenden liegt. Kommen hierzu noch Krankheit oder Unglücksfälle in der Familie des Arbeiters, so muß er mit wachsender Angst jedem neuen Monat und Jahr entgegen sehen, weiß er doch nicht, in welche Ecke ihn das Schicksal einst werfen wird. Der gemeinsame Grund der Unzufriedenheit eines großen Theiles des Arbeiterstandes und der Verbreitung der socialdemokratischen Anschauungen liegt unstreitig

[117]

Im Kreuzgang. Oelgemälde von B. Vautier.
Nach einer Photographie im Verlage der „Photographischen Gesellschaft“ zu Berlin.

[118] in der Unsicherheit der Gegenwart und Zukunft des Arbeiters, in dem mangelnden Schutze gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. Unter allen Mitteln, die Lage der arbeitenden Classen zu heben und den Gefahren der sogenannten socialen Frage zu begegnen, verdient deshalb wohl keines größere Beachtung, als die Versuche, Versicherungscassen für Arbeiter und deren Wittwen und Waisen zu errichten, und so den Arbeiter über seine eigene Zukunft, wie über diejenige seiner Hinterbliebenen zu beruhigen. Dürfen wir es thatenlos mit ansehen, daß Tausende von Invaliden der Arbeit, denen es nicht gelang, mehr zu erringen, als zum täglichen Lebensunterhalt nothwendig war, am Ende ihrer Tage der öffentlichen Unterstützung anheimfallen? Liegt es nicht im Interesse der Harmonie der bürgerlichen Gesellschaft, erscheint es nicht als eine offensichtige Aufgabe des Volkes, hier einzugreifen? Manche Haushaltung wird bereits durch eine vorübergehende Krankheit ihres Hauptes aus dem Gleichgewicht gebracht und dadurch für alle Zukunft gefährdet, wogegen 1876 die Reichsgesetzgebung durch Regelung des Krankencassenwesens für Arbeiter schützend eintrat. (Vergl. „Gartenlaube“, 1878, S. 556)

Weit wichtiger aber erscheint aus den oben betonten Gründen die Fürsorge für die Zeit der Erwerbsunfähigkeit in Folge von Alter und Gebrechen; sicherlich kann den Arbeiter nichts mehr Herabdrücken als der Genuß von Almosen, und umgekehrt hebt ihn nichts höher als das Bewußtsein, daß er Alles sich und seiner eigenen Kraft verdanke und als vollberechtigtes Glied des Staats- und Gemeindewesens erscheine. Die Bedeutung der Errichtung von Hülfscassen für Arbeiter hat in einem Artikel der „Gartenlaube“ von 1878 (S. 655) ein bewährter Fachmann bereits kurz und schlagend nachgewiesen, und herrscht heute kaum noch ein Zweifel über die Nothwendigkeit, dem Versicherungswesen der arbeitenden Classen mit Hülfe der Gesetzgebung zur weiteren Entwickelung zu verhelfen. Dagegen stehen sich die Ansichten über die Wahl der Mittel zur Erreichung des gewünschten Zieles scharf gegenüber. Die Einen halten die Errichtung der Alters und Invaliden, Wittwen und Waisencassen für Arbeiter nur auf Grund einer gesetzlich einzuführenden allgemeinen Beitritts- und Beitragspflicht der Betheiligten für möglich, während die Gegner dieses sogenannten Cassenzwanges das Zustandekommen aus dem Wege der freiwilligen genossenschaftlichen Vereinigungen der Arbeiter erstreben, deren Bildung die Gesetzgebung nur zu fördern und zu erleichtern hätte.

Seit der Reichskanzler mit Antritt seines neuen Amtes als preußischer Handelsminister die endliche Lösung der Streitfrage in Aussicht gestellt hat, ist der Kampf der Vertreter des Cassenzwangs und der Verfechter der Cassenfreiheit immer heftiger entbrannt, weshalb wir unseren Lesern ein übersichtliches Bild darüber geben wollen, wie das wichtige Problem in den einzelnen Ländern gelöst wurde und was auf dem Wege des Cassenzwangs oder der Cassenfreiheit erreicht werden konnte.

Wie bei allen hervorragenden Erscheinungen auf dem Gebiete des gewerblichen Lebens und der socialen Stellung der Arbeiter richten sich unsere Blicke mich in diesem Falle zunächst auf England, wo besondere wirthschaftliche Verhältnisse den Arbeiterstand zuerst zur Erreichung einer ökonomischen Selbstständigkeit in allen Lebenslagen durch Vereinigungen drängten, welche auf dem echt germanischen Grundsatze der Selbsthülfe beruhten. Solange die Zünfte bestanden und Schutzverbrüderungen für alle Lebensverhältnisse bildeten, fand der Arbeiter in Krankheit und Noth bei der Gesellenverbindung, der er angehören mußte und zu deren Casse er Beiträge zahlte, Hülfe. Als die Gilden mit Ende des achtzehnten Jahrhunderts ihre Bedeutung verloren, die Beschränkungen der Coalitionsfreiheit und Freizügigkeit zusammenbrachen, entstanden, nach einem vergeblichen Versuche den Cassenzwang einzuführen, überall, durch die Gesetzgebung gefördert, freiwillige Hülfscassen der Arbeiter zur Unterstützung in Krankheitsfällen, für die Zeit eingetretener Arbeitsunfähigkeit etc. und wurden zu einem Institut von wahrhaft nationaler Bedeutung.

Als ferner in der Armenpflege der strenge Grundsatz Annahme fand, alle arbeitsfähigen Hilfsbedürftigen auf Kosten der Gemeinde in Arbeitshäusern zu beschäftigen, mußten die Arbeiter auf’s Aeußerste angespornt werden, aus eigener Kraft sich gegen Unglücksfälle zu sichern. Seitdem gewann das englische Hülfscassenwesen eine noch größere Verbreitung, da auch die Gesetzgebung den Unterstützungscassen der Arbeiter alle Vortheile öffentlicher Verbände und Gesellschaften gewährte, namentlich das Recht Eigenthum zu erwerben, Rechtsgeschäfte aller Art durch ihre Vorstände abzuschließen und klagend aufzutreten.

In allen gewerblichen Hülfscassen Englands besteht vollständige Cassenfreiheit mit Selbstverwaltung; die Arbeiter beschaffen die nöthigen Mittel durch Eintrittsgelder und Wochenbeiträge, und nirgends sind die Arbeitgeber verpflichtet, Beiträge zur Gründung oder Unterhaltung der Cassen zu leisten. Charakteristisch für das englische Arbeiterversicherungswesen aber ist die Unabhängigkeit von jeder staatlichen Einmischung, welche der Rechtsanschauung der Engländer fremd ist. Nach amtlichen Erhebungen soll je eine von drei Seelen in Großbritannien und Irland an je einer Hülfscasse betheiligt sein.

Neben diesen Hülfscassen haben die in den letzten dreißig Jahren von den Gewerkvereinen für ihre Mitglieder errichteten Kranken und Altersunterstützungscassen große Bedeutung gewonnen. Die englischen Gewerkvereine sind nach ihrem wesentlichen Grundzug Verbindungen von Lohnarbeitern derselben Beschäftigung zum Schutze und zur Förderung ihrer Rechte und Interessen. Sie entfalteten sich zur wirklichen Bedeutung in der Zeit, als der kolossale Aufschwung der englischen Industrie dem Capitale ein immer größeres Uebergewicht über die Arbeit verschaffte und die allgemein anerkannten Mißbräuche, wie übermäßige Arbeitszeit, die Frauen- und Kinderausbeutung, Lohnherabsetzungen etc. herbeiführte, Ursprünglich suchten die Gewerkvereine ein Gegengewicht gegen die Uebermacht der Arbeitgeber zu Gunsten ihrer Mitglieder auszuüben und benutzten die Strikes als Hauptmittel zur Durchführung aller Forderungen. In neuerer Zeit ist die Thätigkeit der Gewerkvereine eine friedlichere geworden; an Stelle der Strikes ist die Ausgleichung der Streitigkeiten durch gemeinsame Schiedsgerichte zur Regel geworden, und tritt als hauptsächlicher Zweck der Vereine die Sicherung der Arbeiter in allen Lebenslagen hervor, weshalb auf die Regelung der Krankenunterstützung, Versorgung der Arbeitsunfähigen, Wittwen und Waisen der Mitglieder besondere Sorgfalt verwendet wird.

Den Glanzpunkt der englischen Gewerkvereinsbewegung bilden die „Vereinigte Gesellschaft der Bergleute“ in Manchester und der „Verein der Maschinenbauer“, welch letzterer 1851 seine Thätigkeit mit 5000 Mitgliedern begann und jetzt 390 Ortsvereine mit über 40,000 Genossen umfaßt. Die Einnahmen, welche in die Casse der Centralstelle in London fließen, bestehen aus den Eintrittsgeldern, regelmäßigen Wochenbeiträgen und außerordentlichen Erhebungen, falls für besondere Ausgaben die laufenden Mittel nicht hinreichen. Gehört ein Arbeiter dem Gewerkverein 12 Monate an, so erwirbt er das Anrecht auf eine Reihe von Unterstützungen, welche z. B. bei Krankheit 10 Schillinge wöchentlich, bei unverschuldeter dauernder Arbeitsunfähigkeit 100 Pfund Sterling = 2000 Mark Capitalzahlung, bei einem Alter über 50 Jahre 7 bis 10 Schillinge wöchentlich, je nach der Dauer der Mitgliedschaft, betragen.

Die Beiträge sind mäßig, jedes Mitglied hat verschieden nach dem Alter 15 Schillinge bis 2 Pfund 10 Schilling Eintrittsgeld zu zahlen und als regelmäßigen Beitrag 1 Schilling (= 1 Mark) die Woche, demnach für das ganze Jahr 2 Pfund 12 Schillinge – 52 Mark. Die Leistungen des Vereins sind ganz enorme: es wurden z. B. während der Jahre 1851 bis 1875 bezahlt für Krankenunterstützung 294,950, Altersunterstützung 111,395, Unfallunterstützung 25,900, Begräbnißunterstützung 92260, Wohlthätigkeitszwecke 25197 Pfund Sterling.

Neben den freiwilligen Vereinigungen und Unterstützungscassen der Gewerkvereine giebt es in England noch Hülfscassen, die von Eisenbahngesellschaften für ihre Arbeiter und Beamten, ähnlich wie die deutschen Fabrikcassen, errichtet sind, und welchen die Arbeiter beim Eintritt in den Dienst beitreten müssen. Da neben bestehen Sparcassen und Vereine zur Unterstützung bedrängter Arbeiter, während die Lebens- und Rentenversicherungsanstalten meistens den höheren Schichten der Gesellschaft dienen, wenn auch einzelne derselben in neuerer Zeit die Versicherung der arbeitenden Classe in den Kreis ihrer Geschäfte ziehen.

In der gewaltig aufstrebenden Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika genießt die arbeitende Classe zwar die volle Freiheit der Bewegung, wofür sie aber ausschließlich für ihr Fortkommen und Wohl Sorge tragen muß. Gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Arbeiter gegen Unfälle, Krankheit, [119] Erwerbslosigkeit und Invalidität fehlen; auch Fabrikcassen kommen nur hier und da vor. Der Arbeiter sorgt im Wesentlichen aus eigenen Mitteln für die Zeit der Noth, was ihm leichter als in anderen Ländern, da seine Lage eine bessere, die Löhne höher und die Lebensmittelpreise niedriger sind. Die englischen Hülfscassen fanden in Amerika nur vereinzelt Nachahmung, dagegen bestehen eine Menge von Privatunterstützungsvereinen im Anschlusse an die stark verbreiteten Logen und wohlthätigen Gesellschaften.

In Frankreich gelangte das Genossenschaftswesen nicht zu der hohen Blüthe wie in England. Die ältesten Anstalten zur Fürsorge für Zeiten der Noth sind jene über ganz Frankreich verbreiteten Cassen zur verzinslichen Anlage von Ersparnissen, welche den Unbemittelten in den Stand setzen, sich in dem hochentwickelten von der Natur gesegneten Lande nach und nach zum Capitalisten aufzuschwingen und im Alter die Früchte seines Fleißes zu genießen. Daneben gingen aus den mittelalterlichen Zünften und religiösen Bruderschaften freiwillige, hauptsächlich für die arbeitende Classe bestimmte Hülfsgesellschaften zur gegenseitigen Unterstützung hervor, deren Mittel aus Eintrittsgeldern und Wochenbeiträgen bestehen, und deren Zweck der gleiche ist wie derjenige der englischen Hülfsvereine. Alle diese Gesellschaften entstanden ohne staatliche Mitwirkung als rühmliches Zeugnis eigener Thätigkeit, und wurde das Unternehmen des Einzelnen durch die Wohlthätigkeitsanstalten der verschiedenen Städte unterstützt. Die steigende Bedeutung dieser Gesellschaften erregte selbstverständlich die Aufmerksamkeit der Regierung, und schon im Jahre 1848 befaßte sich die Nationalversammlung mit dem Studium dieser Mittel zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen. Unter den verschiedenen Vorschlägen finden wir hier: Verbindung der Alterspensionscassen mit den Kranken- und sonstigen Unterstützungscassen, obligatorische Beitragspflicht der Gemeinden, Provinzen und des Staates zu den Einkünften der Cassen, Beitragspflicht der Arbeiter und Arbeitgeber. Allein die Idee, dem Staate eine bedeutende Mitwirkung an dem wirthschaftlichen Wohle des Einzelnen zur Pflicht zu machen, fand wenig Anklang, und schließlich drang die Anschauung durch, daß man von der Regierung nicht mehr als Schutz und Aufsicht für die Hülfsgesellschaft fordern dürfe. Die Verhandlungen endeten mit der Gründung einer von dem Staate garantirten nationalen Altersversorgungscasse, bei welcher der Grundsatz festgehalten wurde, das Capital der Leibrenten und Pensionen durch freiwillige Beiträge zu bilden. Im Anfange der 1850er Jahre bemühte sich die Gesetzgebung, die Verbreitung der freiwilligen Hülfsgesellschaften zu fördern, und sicherte allen Vereinigungen, welche gewisse Normativvorschriften erfüllten, neben einer Reihe von Rechten und Vortheilen einen gewissen Zuschuss aus Staatsmitteln zu. Hierbei wurde von jedem Gründungszwange abgesehen; nur wo das Bedürniß nach einer Hülfscasse sich herausgestellt hat, soll der Maire und Gemeinderath die Bewohner des Ortes zu eigenem Vorgehen anregen und belehrend wirken, wobei der Staat bereit ist, allen Cassen, welche um ihre Anerkennung bei der Regierung einkommen, zu Begründung einen Beitrag zu gewähren.

Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens mag an die Gleichgültigkeit und an die Vorurtheile erinnert werden, welche erfahrungsmäßig den Arbeiter davon abhalten, einer Casse beizutreten, die sich noch nicht bewährt, oder gar eine neue Casse gründen zu helfen. Diesem Uebelstande hilft die staatliche einmalige Unterstützung jedenfalls ab, und hat auch die französische Gesetzgebung das Wachsthum der anerkannten Gesellschaften gefördert, ohne die freien Cassen zu verdrängen. Ein innerer Unterschied zwischen beiden Arten besteht eigentlich nicht; die Verschiedenheiten einzelner Einrichtungen werden allmählich verschwinden und die freien Cassen sich Vortheile der anerkannten Gesellschaften sichern.

Wie oben erwähnt, genießt die 1850 errichtete Altersversorgungscasse zu Paris die Garantie des Staates; sie steht unter Verwaltung der Staatscasse für Depositen und Pfanddarlehen und versichert Leibrenten für ein bestimmtes Alter, daneben Pensionszahlungen im Falle vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit durch Verwundung oder Gebrechlichkeit. Die bis heute gewonnenen Resultate beweisen, daß die Versicherungen durch eigne Initiative gering sind im Vergleich zur Zahl der durch die arbeitgebenden Institute vermittelten. Insbesondere sind es die Eisenbahncompagnien, Brücken- und Straßenverwaltungen, die Staatsmanufacturen, welche zu Gunsten ihrer Arbeiter und Beamten die Versicherungscasse benutzen. Die Zahl der jährlichen Einzahlungen beweist eine geringere Betheiligung als bei der staatlichen Sparcasse, welche sechsmal mehr Einlagen empfängt. Der französische Arbeiter legt seine Ersparnisse lieber in den Sparcassen an, von denen er sie in jedem Augenblicke der Bedürftigkeit zurückziehen kann, und diese Erfahrung verwerthen deshalb Manche in Frankreich dadurch, daß sie bei der neuerdings geplanten Errichtung einer allgemeinen Arbeiter-, Alters- und Invaliden-Versorgungscasse an Stelle der Freiwilligkeit nunmehr den Cassenzwang fordern.

In Deutschland sind nur die Cassen, welche ihren Mitgliedern in Krankheitsfällen Unterstützung und ärztliche Hülfe gewähren, zu ausgedehnter Verbreitung gelangt. Das Reichshülfscassengesetz von 1876, welches auf dem Grundsatze des Cassenzwanges beruht, hat es den Gemeinden überlassen, Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter zum Eintritt in Krankencassen anzuhalten, beziehentlich solche Zwangscassen für Arbeiter zu errichten, und Normativvorschriften für die Einrichtungen jener Hülfscassen gegeben, durch deren Annahme jede freiwillig errichtete Krankencasse sich die Vortheile der auf Anordnung der Gemeinde entstandenen Casse sichern kann. Hierher gehört namentlich die Befreiung der Mitglieder der Cassenvereine von der Verpflichtung zum Eintritt in eine Zwangscasse. Die Entwicklung der Alters- und Invaliditätsversorgung, der Unterstützung der Wittwen und Waisen der Arbeiter ist fast noch in den ersten Anfängen begriffen, und gingen die einzelnen Versuche von den Arbeitervereinen und ihren Vertretern aus, welche durch Zuhülfenahme privater Versicherungsgesellschaften und Rentenbanken die Zukunft der Arbeiter zu sichern begannen. Die Erfolge sind keine nennenswerthen. Desto größere Beachtung verdienen die Bestrebungen der nach englischem Vorbilde 1869 von Max Hirsch, Franz Duncker und Schulze Delitzsch in's Leben gerufenen, auf dem Boden der Selbsthülfe organisirten Gewerkvereine. Der Zweck dieser Arbeitervereinigungen geht auf Verstärkung der Selbstständigkeit des ganzen Standes, Verbesserung der materiellen und socialen Stellung und läßt sich in dem treffenden Ausspruche zusammenfassen: „Sie wollen den Arbeiter aus Unsicherheit, Abhängigkeit und Verkümmerung emporheben zur Sicherheit, Selbstständigkeit und zur Theilnahme an den Arbeiten, wie an den Segnungen der Cultur: sie wollen dies erreichen nicht durch Gnade von oben, noch durch Revolution von unten, sondern durch das selbstthätige gesetzliche Zusammenwirken der Betheiligten innerhalb ihrer gewerblichen Berufskreise."

Die Mittel zur Erreichung dieser Zwecke sind im Wesentlichen: Regelung der Arbeitsbedingungen, insbesondere Festsetzung eines angemessenen Lohnes, Errichtung freier Kranken-, Begräbniß-, Altersversorgungs- und Invalidencassen, Organisation der Hülfscassen, Unterstützung arbeitsloser Mitglieder, Vermittelung der Arbeit, Gewährung unentgeltlichen Rechtsschutzes durch Führung der Processe auf Vereinskosten, Förderung der allgemeinen und gewerblichen Bildung durch Volksbibliotheken und Schriften, Vertretung der Mitglieder gegenüber den Arbeitgebern, dem Publicum und den Behörden etc. Auf diesem Felde segensreicher Thätigkeit sind für uns die Hülfscassen der Gewerkvereine, die bereits 1874 — fünf Jahre nach ihrer Gründung — in mehr als 800 Ortscassen (Kranken-, Begräbniß- und Invalidencasse) bei 42,000 Mitgliedern eine Einnahme von 347,671 Mark, eine Ausgabe von 239,677 Mark und einen Vermögensbestand von 296,627 Mark nachweisen, von besonderem Interesse. Trotz aller Schwierigkeiten gelang es den Gewerkvereinen, neben der Krankenunterstützung nationale Invalidencassen in's Leben zu rufen, und es entstanden die „Verbandscasse der Invaliden der Arbeit“ und die „Invalidencasse des Gewerkvereins der Maschinenbauer und Metallarbeiter“, welche zusammen gegenwärtig circa 12,000 Mitglieder zählen und gegen monatliche Beiträge von 40, 60, 80 und 120 Pfennig Invaliden- und Alterspensionen von monatlich 18 bis 27 Mark an ihre Mitglieder entrichten.

Verglichen mit den englischen Gewerkvereinen und deren Erfolgen, ist die Ausdehnung der deutschen Vereine allerdings eine geringe, jedoch macht sich in ihnen eine stets fortschreitende Bewegung wahrnehmbar, welche den Beweis liefert, daß auch in Deutschland denkende Arbeiter im Stande sind, aus eigner Kraft ihre Zukunft zu sichern. In den letzten Wochen hat die Thätigkeit der Vorstände eine neue Blüthe zum Wohle des Arbeiterstandes gezeitigt und der [120] Centralrath das Statut der „deutschen Verbandscasse für Reisende und Arbeitslose“ angenommen, welche gegen Wochenbeiträge von 10 beziehungsweise 20 Pfennig ihren Mitgliedern Reisegelder und Unterstützungen bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit bezahlt. Daß selbst in der Zeit des allgemeinen industriellen Rückgangs kein Stillstand in der Weiterentwicklung der auf dem Grundsatze der Cassenfreiheit ruhenden Gewerkvereine eingetreten, berechtigt einen Schluß auf deren Lebensfähigkeit.

Dieser kurze geschichtliche Abriß der Entstehung der Alters- und Invalidenversorgung für Arbeiter in Deutschland liefert den Nachweis, daß – von der Krankenunterstützung abgesehen – bei uns das Versicherungswesen ursprünglich auf dem Principe der Selbsthülfe beruhte; nur bei den Bergleuten machte die Gesetzgebung mit Rücksicht auf die Gefahren der Montanindustrie und häufigen Massenverunglückungen eine Ausnahme. Die Berggesetze zwangen die Arbeiter jenes gewerblichen Zweiges, sogenannten Knappschaftscassen beizutreten. Diesen äußeren Zwang will ein Antrag des freiconservativen Abgeordneten Stumm auf die Arbeiter aller Industrien ausgedehnt wissen, und der Plan des Reichskanzlers zielt auf Errichtung eines allgemeinen staatlichen oder Reichsversicherungs-Unternehmens hin, dessen Mittel durch Beiträge der Arbeiter, Arbeitgeber und Gemeinden beschafft werden sollen. Hoffen wir, daß in dem parlamentarischen Kampfe, der nunmehr bald im deutschen Reichstage über das „Unfall-Versicherungsgesetz für Arbeiter“ entbrennen wird, die wichtige Frage im freiheitlichen Sinne zum Wohle des Vaterlandes gelöst wird!

Dr. Zeller.




Blätter und Blüthen


Liszt-Medaille von H. Wittig. (Mit Abbildung S. 113.) Den Freunden des Meisters Liszt wird es nicht unlieb sein, zu erfahren, daß demselben an seinem siebenzigsten Geburtstage, am 22. October vorigen Jahres, im Freundeskreise zu Rom ein Erinnerungszeichen überreicht worden, dessen künstlerischer Werth seine Erwähnung in diesen Blättern rechtfertigen wird. Es ist eine silberne Medaille mit dem Bildniß Liszt’s, angefertigt von dem begabten und verdienstvollen Medailleur Hermann Wittig in Rom. Die Denkmünze ist ein kleines Meisterstück. Das Portrait des großen Componisten, im Profil aufgefaßt, ist so gelungen, daß man es neben die besten Bildnisse Liszt’s setzen kann. Das bekannte classische Profil tritt in voller Reinheit hervor, und die geistvollen Züge sind von idealem Hauche belebt und doch vollkommen naturgetreu und ähnlich. Die Inschrift lautet einfach: „Franz von Liszt. Ad viv(um) H(ermann) W(ittig) 1880 Dec(it)“ (Nach dem Leben von Hermann Wittig). – Der Revers zeigt eine sinnvolle allegorische Darstellung der Kunstrichtung und zugleich der Erfolge des Meisters: Als Sinnbild der romantischen Musik entschwebt einer mit Saiten bespannten geschwellten Muschel ein geflügelter Genius, welcher in der rechten Hand den Lorbeerzweig, das Zeichen der Triumphe trägt, deren Liszt, wie wenige Sterbliche, sich hat erfreuen dürfen, während die Linke einen Palmzweig als Sinnbild des erlangten Friedens trägt, den der große Künstler, wie man weiß, als seinen höchsten Triumph erstrebt hat. Ein Stern über dem Haupte des Genius mag die überirdische Richtung in der Kunst Liszt’s andeuten.

R. S.





Wir Deutsche und unser Deutsch. Wir haben so oft unseren berechtigten Stolz auf unsere Literatur ausgesprochen, daß wir dieser Wahrheit wohl einmal eine andere entgegenstellen dürfen, nämlich die: daß die Behandlung der von unseren Dichtern und anderen Literaturgrößen so hoch ausgebildeten deutschen Sprache von Seiten der Nation noch viel zu wünschen übrig läßt. Jeder Deutsche müßte vor Allem auf möglichste Wahrung der Reinheit und Richtigkeit der Sprache halten, deren Geistesschätze ihm eine so hohe Stelle unter den Culturnationen einräumen. Leider ist es damit aber gerade bei uns schlechter bestellt, als bei irgend einem andern Volke.

Den schlimmsten Einfluß auf unsere Sprache üben unsere Dialekte aus. So groß der Werth derselben als einer Quelle immer neuer Erfrischung und Bereicherung unserer Schriftsprache auch anzuschlagen ist, so beklagenswerth ist doch die Ueberherrschaft, die sie besonders in Mittel- und Süddeutschland über die Aussprache des Schriftdeutschen üben. Aber diese Lässigkeit bleibt nicht beim Sprechen stehen, sondern dehnt sich auch über die schriftlichen Aeußerungen aus, und zwar nicht blos in den Kreisen, welche gar keine Orthographie haben, sondern auch in denen der Gebildeten, ja selbst mitunter der Gelehrten.

Der Berechtigung dieser Klage wird schwerlich widersprochen werden können, aber dennoch ist die Zahl Derer, welche dies einsehen und bereit sind, dem selbstgefühlten Mangel an voller Kenntniß und Beherrschung der Muttersprache durch nachträgliche Studien abzuhelfen, nicht eben groß. Je mehr aber die Entwickelung unseres nationalen Lebens jeden Einzelnen in die Öffentlichkeit drängt, je mächtiger und wichtiger der Werth des öffentlichen Wortes wird, desto mehr werden wir darauf hingewiesen, im Punkte der Sprache das Versäumte nachzuholen. Und dieses Bedürfniß, welches sich ohne Zweifel sehr bald mit Macht fühlbar machen wird, ist es, welchem einer unserer hervorragendsten deutschen Sprachkenner und zwar in der jetzt bewährtesten Methode vorgearbeitet hat. Vor uns liegen: „Deutsche Sprachbriefe von Professor Dr. Daniel Sanders“ (Langenscheidt’sche Verlagshandlung in Berlin).

Wem es ehrlich darum zu thun ist, die deutsche Sprache in ihrem Reichthume und ihrer Schönheit ganz kennen zu lernen, sie sich völlig zu eigen zu machen und dabei in die Entwickelungsgeschichte unserer Literatur eingeführt zu werden, der wird Sanders’ Sprachbriefe bald zu den besten Kleinodien seiner Hausbibliothek zählen. Freilich verlangt dieses Schriftwerk gewissenhaften Fleiß, wenn es seinen Werth erweisen soll.





Im Kloster-Kreuzgang. (Mit Abbildung Seite 117.) Ein Bild von Kindergruppen, wie nur ein Künstlerauge sie dem Leben ablauschen, nur die Meisterhand Vautier’s sie darstellen kann! Wir befinden uns in einer Klostermädchenschule während der Erholungs- oder Spielstunde. Das Leben der Kindheit spricht zu uns aus allen Gruppen.

Warum ruhen unsere Blicke so gern auf spielenden Kindern? Vor den immer mächtiger anwachsenden Ansprüchen, welche die Gegenwart an uns stellt, flüchten wir so gern zu der kleinen Welt, die so anspruchslos, so leicht zu beglücken ist. Es giebt kein schöneres Ausruhen für die vom Sturme des Tages bedrängte Seele, als im Kreise spielender Kinder, sei’s im Kindergarten, sei’s daheim im trauten Kinderstübchen, den reinsten Freuden zu lauschen. Glücklich, wer Beides kann: an Kinderfreuden sich laben und Kinderfreuden bereiten! Daß letzteres nicht schwer ist, dafür steht uns der alte herzige Spruch: „Kinderhändchen sind bald gefüllt – sie sind ja so klein.“





Verschwunden. Der Besitzer des Hauses Teltowerstraße 6, Berlin, Herr August Alex, ist seit dem 18. vorigen Monats verschwunden. Da zur Zeit jede Spur verloren ist, glaubt man, daß derselbe in der südlichen Umgegend von Berlin, wo er zuletzt gesehen wurde, krank liegt, vielleicht ohne seinen Namen angeben zu können. Der Vermißte ist Anfangs der fünfziger Jahre, mittlerer Figur, hager, gelblicher Gesichtsfarbe; er hat einen abgestutzten grauen Vollbart, ist bekleidet mit einem schwarzen, flockigen Ueberzieher, grauem Jaquet, dunkler Hose und trägt einen grau-braunen Filzhut, goldene Uhr mit langer Kette und einen Trauring, gezeichnet S. K. Wer Angaben machen kann, die zur Ermittelung des Vermißten führen, wende sich gütigst an das Comptoir von A. Alex u. Comp., Berlin, Wallstraße 70, 2 Tr.





Kinderlose Eheleute, die eine Waise annehmen und erziehen wollen, fragen, unserer Erfahrung gemäß, stets zuerst nach Mädchen. Die armen Jungen bleiben meistens unversorgt. Und doch mehrt sich die Schaar dieser Waisen fort und fort. Soeben meldet man wieder einen siebenjährigen Knaben, der in Ostpreußen zum zweiten Male verwaist ist. Als Mutter und Vater ihm gestorben waren, hatte ihn ein Verwandter zu seinem Kinderhäuflein genommen: jetzt drückt den guten Mann selbst die Noth, und er bittet dringend, den frischen und begabten Knaben, für den er selbst nicht mehr sorgen kann, nicht in der Armenpflege seiner Heimathgemeinde zu Grunde gehen zu lassen. Wird der arme Junge eine Vaterhand und ein Mutterherz finden?




Kleiner Briefkasten.



St. v. J. in L. Das Victoria-Stift des Lette-Vereins in Berlin SW Königgrätzerstraße 90 gewährt Damen, welche sich zum Zweck ihrer Ausbildung oder behufs der Erlangung einer Stelle für längere oder kürzere Zeit in Berlin aufhalten wollen, ein angenehmes, gesichertes Heim und volle Verpflegung für den mäßigen Preis von 15 Mark 50 Pfennig pro Woche. Durch die im Hause befindliche Handels, Gewerbe-, Zeichen-, Modellir-, Koch-, Plätt- und Waschschule des Lette-Vereins ist Gelegenheit für eine praktische Ausbildung nach den verschiedenen Richtungen ebenfalls zu mäßigen Preisen geboten; das Arbeitsnachweisungsbureau – gleichfalls im Hause – vermittelt unentgeltlich Stellen und Beschäftigung. Nähere Auskunft über die Bedingungen für die Aufnahme ertheilt die Hausmutter des Stifts, Fräulein Julie Helmholtz, Berlin SW Königgrätzerstraße 90, an welche auch die Anmeldungen zu richten sind.

Fabrikant in Lodz. Die Thatsache, daß in der Schafwolle zahlreiche kleine Insecten und Ueberreste von Insecten gefunden werden, war längst bekannt. Ein gewisser Herr Levoiturier hat in neuester Zeit Rohwollen aus aller Herren Ländern auf diese Eigenschaft hin untersucht und die verschiedenartigen in den Vließen lebenden Insecten näher beschrieben. Dabei stellte es sich heraus, daß die Arten derselben je nach dem Heimathslande der Schafe verschieden sind. Die Wolle vom Cap der guten Hoffnung enthält 52 Arten solcher „Parasiten“, die australische Wolle 47, die von Buenos Aires 30, spanische Wolle 16 und russische 6 Arten. Wird Ihnen also angeblich australische Wolle geliefert, die thatsächlich Insectenarten vom Cap der guten Hoffnung enthält, so sind Sie zu der Meinung berechtigt, daß Sie „hineingefallen“ sind. So meint wenigstens der genannte Entdecker. Eine bessere Aufklärung können wir Ihnen über diesen Gegenstand nicht geben.

L. S. S. B. Beide Novellen sind als Buch nicht erschienen.

Ein Unwissender in Marburg. Laut eingezogener Erkundigungen leben von Ernst Moritz Arndt’s nächsten Verwandten noch die folgenden: ein Sohn des Dichters, welcher Oberbergrath in Trier ist, zwei Söhne in Bonn und einige Neffen in Greifswald und Stralsund. Wir übernehmen übrigens keine Garantie für die Authenticität dieser Mittheilungen.

M. M. S. Nein!

Florenz 1849. Den Artikel Der König von Sardinien und seine Bersaglieri finden Sie im Jahrgang 1855, Nr. 50, die treffliche Ballade „Des Hochländers Rache“ von Wilhelm Schröder im Jahrgang 1855, Nr. 44.

F. St. in Riga. Erhalten und an C. St. gesandt.


  1. Vergl. „Jahrbücher für Gesetzgebung“. Heft 3 und 4. 1880.
  2. Die Entstehung dieser Fragmente ist bekannt. Die geistvolle Freundin Lessing’s, Elise Reimarus, übergab ihm bei der Abreise von Hamburg nach Wolfenbüttel das Bruchstück eines Werkes, das ihr Vater, der Professor Samuel Reimarus, unter dem Titel „Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ niedergeschrieben hatte. Lessing gab im Jahre 1774 als einen Theil seiner bibliothekarischen Beiträge dieses Manuscript, betitelt. „Von Duldung der Deisten. Fragment eines Ungenannten“, heraus. In diesem Werke wurden freisinnige religiöse Anschauungen verfochten.
    D. Red.