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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 8.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Amtmanns Magd.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

In stummer Qual ballte das Mädchen die Hände und drückte sie gegen die Brust, und doch sagte sie gleich darauf gefaßt, mit großer Bestimmtheit: „Die Frau wird mir diese Härte später abbitten. Sie ist übrigens nicht die Gebietende auf dem Gute; die Entscheidung hängt von Ihnen ab, und Sie werden mir die Thür nicht verschließen –“

„So – meinen Sie?“ unterbrach er sie mit zornigem Lächeln. „Wofür halten Sie mich denn?“

„Wofür ich Sie halte?“ wiederholte sie und schlug die Augen langsam zu ihm auf. „Ich halte Sie für einen edlen Mann, für die Großmuth selbst. Wenn Sie können, so vergessen Sie die bösen Worte, die ich Ihnen in meiner Verblendung zu sagen gewagt habe! Wie mußte ich mich schämen, als ich erfuhr, in welcher Absicht Sie auf das Vorwerk gekommen waren! Sie haben die alten Leute aus Noth und Sorgen errettet. Sie sollten sehen wie die arme Kranke neu auflebt, seit sie sich unter Ihrem Schutze weiß; schon dafür allein möchte ich Ihnen danken –“ sie brach ab und streckte ihm schüchtern die Hand hin.

Aber sein verdüstertes Gesicht hellte sich nicht auf.

„Lassen Sie das!“ ließ er sie hart an und wies mit einer heftig schüttelnden Handbewegung ihre Rechte zurück. „Wofür danken denn Sie? Ich frage, was geht es die Magd an, wenn ich mit meinem Pächter eine Vereinbarung treffe? Davon verstehen Sie nichts und sollten sich doch ja nicht hineinmischen.“ – Groll und Verdruß preßten ihm hörbar die Kehle zusammen. – „Und Ihre Beschuldigungen halten Sie nur immerhin aufrecht! Ich bin nicht gut, ganz und gar nicht, und in diesem Augenblicke am allerwenigsten – alles Böse ist lebendig in mir, alle Bosheit und Schadenfreude. Wenn ich Ihnen einen Schmerz zufügen könnte, ich thät’ es mit Genuß –“

Das Mädchen streifte ihn mit einem scheuen Seitenblick – er sprach so laut und heftig.

„Und dann, bleiben Sie doch bei der Wahrheit!“ fuhr er beherrschter, aber um so anzüglicher fort. „Für die alte Frau danken Sie, und die verwöhnte Prinzessin in der Mansarde ist gemeint. Ach ja, Sie denken, die Beletage im Gutshause sei immerhin ein Aequivalent für die Guseck’schen Salons, eine Art Erholungs- und Verschönerungsstation, in welcher dem Vogel die verschnittenen Flügel wieder wachsen sollen. Fräulein Gouvernante ist selbstverständlich wieder einmal die Hauptperson; wir werden wohl das Gutshaus feierlich bekränzen müssen, wenn sie einzieht.“

Sie sah niedergeschlagen aus und schüttelte den Kopf.

„Die armen Gouvernanten! Wenn es auf Sie ankäme, thäten sie jedenfalls besser, ihre Lehrbücher zuzuschlagen und für Andere zu scheuern und zu waschen.“ – Sie seufzte leise auf. „Nach Ihrer vorgefaßten Meinung ist Agnes Franz eine eitle, arbeitsscheue Zierpuppe“ – ein melancholisches Lächeln flog um ihren Mund, als er spöttisch eifrig mit einer ironischen Verbeugung bejahte – „aber wäre sie es auch je gewesen, die Ziererei hätte ihr vergehen müssen bei ihrer Heimkehr. … Ich will ja nicht leugnen, daß sie anfangs nahe daran gewesen ist, die Flinte in’s Korn zu werfen und ihren schweren Pflichten in voller Verzweiflung davonzulaufen. Bis ein zwanzigjähriger Mädchenkopf dem strengen Schicksal gegenüber mit sich selber fertig wird, dazu gehört viel, unaussprechlich viel. Aber sie hat sich ja doch hineingefunden.“ Einen Moment schwieg sie, als überwältige sie die Erinnerung an das Elend, in welches auch sie von fernher mit hineingerathen war – dann athmete sie erleichtert auf. „Und nun wird ja Alles gut. Die lieben, alten Leute sind wohl versorgt für ihren Lebensrest; nun kann sie getrost ihren Beruf wieder aufnehmen. Sie wird freilich so lange Ihre Gastfreundschaft annehmen müssen, als die Kranke ihre Pflege braucht –“

„Mein Gott, was kümmert mich das? Wir werden uns nicht in den Weg kommen. Ich reise in den nächsten Tagen ab. Mag sie so lange im Gutshause bleiben, wie sie Lust hat! Aber Sie?!“

„Ich?“ Sie legte die Hände auf die Brust und sah vor sich nieder. Er war empört über den Anflug eines reizenden Lächelns, das ihr Antlitz unbeschreiblich verschönte – in diesem Augenblicke zu lächeln! Sie war doch genau so frivol und weltverdorben wie ihre Dame. „Nun, ich werde auch bleiben,“ sagte sie, ohne aufzublicken. „Wenn Sie das Eine wollen, werden Sie das Andere müssen.“

„Ei, was Sie da sagen! Darin irren Sie sich aber gründlich; denn ich werde nicht müssen, es sei denn“ – er hielt inne und fixirte ihr Gesicht in athemloser Spannung – „es sei denn, daß Sie die Scrupel meiner braven Griebel beseitigen, indem Sie mir versprechen, das Haus dort von dieser Stunde an nicht mehr betreten zu wollen.“

„Nein – das kann ich nicht,“ entgegnete sie ohne Zögern, ernst und bestimmt.

Er trat von ihr weg, die Augen voll Haß und Grimm.

„So gehen Sie Ihres Weges! Ich verliere kein Wort mehr,“ rief er. „Nur Eines sollen Sie noch wissen,“ – er bog sich wieder hinüber und sagte verbissen: „Sie sollen erfahren, daß ich Sie vom Grunde meines Herzens verachte.“

[122] Sie fuhr empört auf. Einen Augenblick maßen sich diese beiden Menschen mit Zornesblicken, aber wenn er die Thränen, die ihr an den Wimpern zitterten, für Zeugen mädchenhafter Schwäche und Hülflosigkeit hielt, so irrte er sich. Sie wandte ihm plötzlich mit einer stolzen Wendung den Rücken und hob den Krug vom Brunnenbrett.

„Wissen Sie darauf gar nichts zu sagen?“ rief er zürnend.

„Nichts! Was liegt daran, ob Sie die arme Magd des Amtmanns verachten oder nicht? Sie will nur für ein Paar Menschen da sein – für sie ist die Beachtung von Seiten Anderer nur eine Pein.“

Damit schritt sie vom Brunnen weg, direct nach dem Forstwärterhaus.

„Grüßen Sie mir Ihre lustigen Freunde da drüben!“ rief er ihr in beißendem Tone nach. Die weiche Luft schien die Laute zu verwehen, noch ehe sie das Ohr des Mädchens erreichten.

Nicht die geringste Bewegung verrieth, daß sie seinen impertinenten Zuruf gehört habe. Sie ging festen Schrittes weiter und war im nächsten Augenblicke hinter der Hausecke verschwunden.


11.

Noch an demselben Abend machte sich Herr Markus reisefertig. … Das war ja nicht zu ertragen. Was zwang ihn denn, sich selbst auf der Folterbank in diesem Thüringen festzuschmieden? Die ganze Welt stand ihm offen, und wenn er erst draußen war, und das frische, fröhliche Leben wehte ihn wieder an und zerblies die dumpfe, dicke Nebelkappe, die seinen sonst so klaren Kopf umhüllte und alle seine Gedanken gewaltsam auf den einen gehaßten, verwünschten Punkt concentrirte, dann lachte er gewiß und schämte sich der Othello-Gefühle, die ihn immer wieder antrieben, nein, hetzten, dieses Waldhüternest zu umschleichen, wie der Marder das Taubenhaus – ein schönes Taubenhaus! Eine Waldschenke war’s, voll zechender, johlender Gäste. … Ja, eine Taube flog wohl aus und ein – eine schöne, weiße mit täuschend unschuldsvollen Augen – aber sie fragte viel danach, ob ihr helles Gefieder in dieser schwülen, wüsten Atmosphäre befleckt wurde, wenn nur ihr Kommen und Gehen wohlbehütet unter dem Schleier des Geheimnisses blieb! Lug und Trug gaukelten auch durch diesen abgeschiedenen stillen Weltwinkel – und warum nicht? Belladonna und der verderbliche, schönglockige Fingerhut mischten sich ja auch unter Kraut und Strauch, unter die erquickenden Frucht- und Blumenspenden des edlen Waldes, und die Kreuzotter zischte aus dem Wurzelgeflecht der majestätischen Baumsäulen. …

Er ordnete die Papiere für seinen Buchhalter und schickte sie heim, und dabei schrieb er, daß es mit seiner Vergnügungstour nicht allein bei Nürnberg und München bleibe; er wolle viel, viel weiter – wieder einmal nach Rom und Neapel – und käme deshalb nicht so bald in seine vier Pfähle zurück. Und dabei meinte er, grimmig vor sich hinlachend, daß er gegenüber der erhabenen Marmorschönheit in den Sälen und Museen Roms, unter den Pinien am Golf von Neapel kaum noch verächtlich des Mädchens im Arbeitskittel und der herben Luft, der engen, grünen, einsamen Thäler des Thüringerwaldes gedenken, ja, daß er seinen jetzigen Wahnwitz dann nicht einmal mehr begreifen werde. …

Aber als er am anderen Morgen die Vorhänge aus einander schlug und das Fenster öffnete und ihm die geschmähte herbe Luft als würziger, erdbeerdurchdufteter Kraftodem entgegenschlug, die wogenden Kornbreiten des Thalgeländes morgensonnentrunken zu ihm aufleuchteten, und hart daneben der Buchenschatten dämmerte, wohlige Nachtkühle über die tief in sein Herz hineinlaufenden Waldwege breitend, da überkam ein unerklärliches Trennungsweh den tieferbitterten, zornigen Mann, und heiße Sehnsucht, die mit den todten Augen der Marmorbilder und dem weichen Wehen südlicher Lüfte nichts zu schaffen hatte, wallte übermächtig in ihm auf.

Er räumte Plaid und Reisetasche schleunigst bei Seite und quartierte sich wie fast immer für den ganzen Tag im Gartenhäuschen ein. Das Weichbild jenseits der Mauer jedoch betrat er nicht. Er erging sich im Lindenschatten des Gartens, las und schrieb, ließ die Rouleaux nieder vor den Gartenhausfenstern, die nach dem Fichtengehölz hinausgingen, und schloß die auf Altan und Holztreppchen führende Thür so fest zu, als solle nie wieder ein Menschenfuß da aus- und eingehen.

Und diesen einen Tag blieb er auch übermenschlich standhaft in seiner selbstgewählten Gefangenschaft; ja, er hörte scheinbar äußerst gleichmüthig zu, als Frau Griebel Nachmittags kam und erzählte, daß sie bereits eine neue Magd für Amtmanns gemiethet habe. Die stramme Person werde schon in diesen Tagen die Stelle antreten, und da sei sie, die alte Griebel, lieber gleich selbst nach dem Vorwerk gegangen, um den Leuten die Nachricht zu bringen. … Die Hände habe sie zusammengeschlagen über die Frau Amtmann, die jahraus, jahrein im Bette campiren müsse; und dabei sei die arme Kreuzträgerin so lieb, so sanft und freundschaftlich gewesen, daß sie kaum die Zeit erwarten könne, wo sie selbst das elende, ganz zusammengezogene Weibchen heben und tragen werde – denn daß sie die Pflege in die Hände nehmen müsse, das stehe bombenfest, nach Allem, was sie heute in den paar Augenblicken beobachtet habe. … Die Amtmannsleute seien mutterseelenallein gewesen – der alte Krüppel, der kaum noch über die Stubendielen kriechen könne, habe ihr die Hausthür ausschließen müssen, und in der Küche sei mit keinem Auge Feuer noch Rauch zu sehen gewesen, und das gerade um das Kaffeestündchen, wo doch der Aermste ein Töpfchen voll Cichorienwasser an’s Feuer rücke. Ein wahrer Spectakel sei es da drüben. Das vornehme Gouvernantenfräulein habe jedenfalls ihr Nachmittagsschläfchen gemacht, und die Andere – na, von der wisse man ja, wo sie zu suchen sei. – Die könne aber nun abkommen und sich mit Sack und Pack zu ihrem Forstwärter trollen; denn die „Neue“ sei ein wahrer Dragoner, ein Arbeitsbär, mit Händen, an denen jede rechtschaffene Oekonomenfrau ihre Freude haben müsse. Die bringe das Bischen Kram im Haushalt und die Arbeit auf dem ausgehungerten Felde spielend fertig und gehe in Nägelschuhen und Flanellrock, wie es sich für eine ordentliche Magd auf dem Dorfe schicke – kurz und gut, es sei Zeit, daß drüben gründlich ausgefegt und reiner Tisch gemacht werde, und damit habe dann auch der Skandal im Grafenholz ein Ende.

Bei dieser Rede hatte die brave kleine Dicke scharf mit ihren schmalgeschlitzten Aeuglein an dem Gutsherrn hinaufgesehen; denn seit gestern, wo sie die Gottesgabe, den Griebel’schen Musterkaffee, unangerührt und eiskalt auf dem Schreibtisch vorgefunden und die auf dem Fußboden verstreuten Geschäftspapiere zusammengelesen hatte, war ihr der neue Besitzer des Hirschwinkels sehr befremdlich, und eben hatte er ja so verdächtig aufgezuckt, als wolle er ihr mit allen seinen schlanken Fingern in die saubergebürsteten, spärlichen weißblonden Haare fahren. Natürlich war sie nicht die Frau, die so etwas bemerkte. Sie hatte nun erst recht „von der Leber weg gesprochen“ und war nachher mit dem Bemerken fortgegangen, daß sie heute noch die Mägdekammer auf dem Hausboden für „die Neue“ ausräumen und Herrichten müsse.

Und dann, nachdem die Sonne untergegangen, war es wirklich geschehen, daß eine hastige Hand an der Altanthür leise den Schlüssel umgedreht und den Riegel zurückgeschoben hatte, und gleich darauf war der Gutsherr das Holztreppchen herabgestiegen und zwischen dem Kornfeld und der Gartenmauer hingeschritten; der Weg lief an den Hintergebäuden des Gutes hin und über ein Wiesenstück weg direct in den Wald hinein. Der Wandelnde hatte den Hut tief in die Augen gedrückt gehabt, als schäme er sich vor dem wispernden Halmengewoge und den dunkelnden Waldwipfeln, die in ernster Majestät auf eine neue Thorheit niedergesehen. Es hatte aber auch jedes Geräusch, das der eigenen Schritte, das ferne Durchbrechen eines Wildrudels im Unterholz, das Huschen der Eichhörnchen droben durch’s Geäst, doppelt scharf und nervenberührend geklungen – ein polizeiliches „Halt!“ vor diesem Wege hätte dem Dahingehenden weit weniger zu schaffen gemacht, als der Gedanke, daß Herr Markus, der Gestrenge, unentwegt Rechtliche daheim, hier scheu wie ein Wilderer durch fremdes Revier schleiche. Und im Stall des Waldhüterhauses hatten die Ziegen verrätherisch gemeckert, und der Hund hatte drinn die Schnauze an die Fuge der Flurthür gedrückt und geknurrt, zum Aerger dessen, der das Haus umkreist und auf dem weichen Wiesenboden fast unhörbar geschritten war.

Die Eckfenster waren noch genau so streng verhüllt gewesen wie gestern; nur aus einem Fenster an der Nordseite war ein helles Licht in die Abenddämmerung hineingeflossen – und durch dieses Fenster hatte er gesehen, was er gefürchtet, was ihm Verwünschungen auf die Lippen und eine Thräne ohnmächtigen Zornes und rasender Erbitterung in die Augen getrieben. … Ja, sie [123] war dagewesen; sie hatte am Küchenherd gestanden, und eine grelle Flamme war jäh aus dem offenen Herdloch emporgelodert und hatte sie voll beleuchtet. Er war in Versuchung gewesen, hinüberzuspringen und mit einem Faustschlag gegen das Fenster sie aufzuschrecken aus dem tiefen Sinnen, das gleichsam einen Schleier über das schöne Gesicht des Mädchens gebreitet. Dazu wäre ihm aber auch kaum die Zeit verblieben – sie hatte sich plötzlich selbst emporgerafft, hatte mit hastigen Händen die Herdringe über die Flamme gedeckt und war mit einer dampfenden Eßschüssel in der Hand hinter der nächsten Thür verschwunden!

Der Mann draußen war noch einen Augenblick stehen geblieben; dann hatte er, sich hoch aufrichtend, gleichsam den Staub von den Füßen geschüttelt und war harten, festen Trittes unter den Fenstern des Hauses hingegangen, sodaß Mosje Dachs hinter der Flurthür nunmehr mit Fug und Recht laut geworden war. Ein Fenster hatte geklirrt – es mochte auch Jemand herausgesehen haben, aber Herr Markus war auf der Fahrstraße fürbaß gegangen wie andere Wanderer auch, die das einsame Haus interesselos seitwärts liegen ließen. … Nein, er durfte nicht länger der klägliche, erbärmliche Spielball dieser unseligen Leidenschaft sein. Schande über den Mann, der sich die Wogen leidenschaftlicher Gefühle über dem Kopf zusammenschlagen ließ! Es mußte Alles vorbei sein, als habe ein Erdsturz dort hinter ihm den rothen Würfel mit seinen Insassen verschlungen. Die Sterne waren nur blaß auf dem noch ziemlich lichten Himmel hervorgetreten, aber sie waren doch da gewesen, die wenigen, denen die vorquellenden Baumwipfel zu beiden Seiten ein Hereinlugen gestattet; sie hatten auf ihren Posten gestanden und auf den dahinstürmenden Mann unverändert herabgesehen, wie sie schon vor Jahren über seinem Kindeshaupt geschienen. Wie nur die Dichter mit diesen Unwandelbaren, im steten, tröstlichen Lichte Schimmernden die Frauenaugen vergleichen mochten! Ein hohnvolles, bitteres Auflachen hatte gespenstig in die tiefe Einsamkeit hineingeklungen. Gab es denn etwas Verlogeneres, als solch einen seelenvollen Mädchenblick unter dunklen Wimpern hervor?

So war der letzte Tag dieser stürmischen Woche, der Sonnabend, gekommen, und mit ihm der Baumeister, der den Riß des neuen Vorwerkhauses brachte. Er hatte auf der Schneidemühle zu thun, wohin ihn der Gutsherr begleitete, und blieb über die Mittagszeit im Hirschwinkel. Als aber sein Wagen vom Hofthore wegrollte, da kam auch Herr Markus schon die Treppe herab, um den Bauriß auf das Vorwerk zu tragen. Er durfte sich das wohl zutrauen – er war ja über Nacht vollkommen ruhig geworden, ja wohl, so ruhig, als sei sein Herzschlag nie alterirt gewesen. Das Gefühl der Verachtung hatte ihm den Sieg über die unselige Neigung verschafft. Und wenn ihm auch war, als scheine die Sonne gar nicht mehr so strahlend über der Welt, und als sei es so seltsam still um ihn her geworden, wie wenn die dunkle Erde alle sonnige Fröhlichkeit aus der Lebenslust in sich aufgesogen hätte, so mußte er sich darüber hinwegzusetzen wissen; besser in ein Grab sehen, als sich durch einen Zauber narren lassen und sich selbst zum Gespött werden!

Im Vorwerkgarten hatte man angefangen, das Gras zu mähen; bis auf den schmalen Weg herein waren die blumendurchsprenkelten Büschel verzettelt. Es lag aber auch ein Taschentuch da; Herr Markus nahm es auf, das feine, schneeweiße Tüchlein, dem ein zarter Veilchengeruch entströmte. Fräulein Gouvernante hatte hier promenirt, und es war leicht möglich, daß er sie jetzt dort in der Lindenlaube mit ihrer Arbeit oder einem Buche in der Hand überraschte. Das ließ ihn allerdings sehr kalt; er wünschte durchaus keine Begegnung und wollte einfach im Vorübergehen den Hut ziehen – aber auch das unterblieb.

Die Näherin stand am Tische unter der Laubenwölbung. Sie hatte sich wahrscheinlich, ermüdet und erhitzt, für einen Moment in den kühlen Schatten geflüchtet. Die Sichel lag vor ihr auf der Steinplatte neben einer Handvoll Gras, aus welchem das Mädchen die Blumen zusammensuchte.

Ohne zu grüßen, legte Herr Markus das gefundene Tuch auf den Tisch, und sein Blick streifte spöttisch nur die schlanken, braunen Hände – er mußte „der Neuen“ gedenken, die mit ihren gepriesenen Arbeitsfäusten das anmuthige Geschäft des Bouquetbindens schwerlich fortsetzte.

Und er ging weiter, als sei die Laube vollkommen leer gewesen. „Brüsk“ hatte der Forstwärter sein Thun und Wesen genannt, und das war er augenblicklich in jeder Linie, brüsk und herrisch, „ein Vornehmer“, für welchen die Dienstleute des Hauses, das er besucht, nicht existiren. … Aber schon über den Hof schritt er als ein Anderer. Die alte Frau auf dem Krankenlager durfte und sollte es nicht mitempfinden, daß ihm dieses Vorwerk nunmehr in tiefster Seele verhaßt sei.

Er breitete den Bauriß auf ihrer Bettdecke aus und weidete sich an der freudigen Bestürzung, mit welcher sie die Zeichnung des schmucken Neubaues anstaunte. Ja, da waren schöne, hohe Fenster und Glasthüren, die auf die Veranda hinausgingen. Wilder Wein sollte sich um das Eisengeländer und die Verandasäulchen schlingen, und an Stelle des öden Oekonomiehofes vor der Hauptfaçade zeigte die Skizze einen hübschen, mit Kugelakazien besetzten Rasenplatz. Er beschrieb ihr, die in einem Athem weinte und lachte, die ganze innere, zweckmäßige Einrichtung des Hauses und blieb äußerlich völlig gelassen den lächerlichen Ansprüchen und Ausstellungen des Amtmanns gegenüber, dem plötzlich der Kamm ganz gewaltig schwoll. Der unverbesserliche Aufschneider war sofort wieder Herr der Situation – das Haus baute er. Er faselte von parketirten Fußböden, von Sammetmöbeln, die er für den Salon anschaffen werde, und tadelte es heftig, daß keine eigentliche Anfahrt da sei, welche das directe Herankommen einer anständigen Equipage gestatte. Und dabei hinkte er aufgeregt durch die Stube und schlug den geflickten Schlafrock, dem ein verwaschenes Baumwollentuch aus der Tasche hing, majestätisch wie einen kostbaren Pelz über der Brust zusammen.

Der Gutsherr lächelte und drückte der Kranken, die ihn bei diesen Auslassungen angstvoll ansah, beruhigend die Hand, wobei er ihr sagte, daß er in Berlin auch nach einem bequemen Fahrstuhl suchen würde, auf welchem ihre Uebersiedelung nach dem Gutshause bewerkstelligt werden solle. Dann aber erhob er sich eiligst. Es mochte wohl die dumpfe, eingeschlossene Luft der Wohnstube sein, die ihm das Blut pochend, voll prickelnder Unruhe nach den Schläfen jagte und ihn hinaus in’s Freie trieb – er ging lediglich, um aufzuathmen, ja, nur deshalb. … Er hätte auch durch das Hofthor den Heimweg antreten können; allein da lag die Sonne breit, in greller Gluthhitze auf der verwahrlosten, steinebesäeten Fahrstraße, während der Garten mit seinen Bäumen kühlen Schatten bot, und weshalb hätte er denn nicht durch den Garten gehen sollen?


12.

Er behielt die Zaunthür in der Hand, damit sie beim Zufallen nicht knarre, und blieb einen Augenblick bewegungslos in dem schattigen Himbeergebüsch stehen, weil – nun, weil es da so, erquickend kühl war. … Und da sah er das Mädchen drüben auf dem abgemähten Grasfleck, wie sie sich eben aufrichtete und das veilchenduftende Taschentuch der Gouvernante aus der Tasche zog, um ihr Gesicht hineinzudrücken – die Intimität zwischen Herrin und Dienerin erstreckte sich somit, wie der Augenschein lehrte, selbst bis auf die Gütergemeinschaft.

Sie kehrte ihm den Rücken zu, und an der Bewegung ihrer Schultern sah er, daß sie krampfhaft athmete. Fast in demselben Moment stand er neben ihr.

„Warum weinen Sie?“ fragte er, halb im Spotte, halb beunruhigt. Das Mädchen stieß einen schwachen Schreckenslaut aus und ließ unwillkürlich das Tuch vom Gesicht fallen. Ja, die Lider waren roth vom Weinen, aber aus den Augen flammte den Fragenden hie tiefste Indignation an. Sie antwortete nicht und nahm die Sichel vom Boden auf, als beabsichtige sie, auf’s Neue zu arbeiten, ohne ihn und seine Frage zu beachten.

„Soll ich keine Antwort bekommen?“ fragte er weiter, mit verhaltener Stimme.

Sie kämpfte sichtlich mit sich selbst.

„Nicht eher, als bis ich Ihnen beweisen kann, daß Sie mich schwer beleidigt haben,“ kam es ihr gepreßt zwischen den Zähnen hervor.

„Das wollen Sie beweisen?“ Er lachte hart auf. „Ich möchte wohl wissen, wie Sie das anfangen werden. Aber das sage ich Ihnen,“ sein Ton wandelte sich plötzlich und nahm eine leidenschaftliche Färbung an, „fußfällig wollte ich Sie um Verzeihung bitten, wenn Sie mich überführten.“

[124] Sie sah überrascht, mit ungewissem Blick auf und wurde glühendroth – dann senkte sie den Kopf tief auf die Brust, in der That wie eine Schuldbewußte.

„Ich wußte es ja,“ sagte er bei diesem Anblick verächtlich. „Sie waren gestern Abend im Grafenholz –“

„Sie auch,“ warf sie ruhig ein.

Diese Gelassenheit frappirte ihn, und dabei schämte er sich in seine Seele hinein der Spionage, bei welcher ihn das Mädchen ertappt hatte.

„Ach, ich wußte nicht, daß man im Forstwärterhaus die Waldspaziergänger controllirt,“ sagte er, zwischen Verlegenheit und grenzenlosem Aerger schwankend.

„Dazu hat man im Forstwärterhause weder Zeit noch Lust,“ versetzte sie ebenso ruhig wie vorher. „Der Hund schlug an –“

„Und da schauten Sie nach dem Heimkommenden aus,“ ergänzte er sarkastisch. „Die Abendsuppe war fertig; er brauchte sich nur an den gedeckten Tisch zu setzen. Der hat’s gut! … Sie sind schon merkwürdig heimisch und rührig in Ihrem zukünftigen Heim.“

Sie sah ihn zuerst groß an, dann aber schien sie plötzlich zu verstehen. Sie wurde roth, und um ihre Mundwinkel zuckte es wie verhaltenes Spottlächeln.

„Wir werden doch nicht in das Waldhaus ziehen?“ warf sie halb fragend hin.

„,Wir’ allerdings nicht, wenn Sie darunter Ihre Herrschaft mitverstehen. Ich glaube, Fräulein Agnes Franz würde sich für ein solches Unterkriechen im Hause ihrer ehemaligen Zofe sehr bedanken.“

„Das Forstwärterhaus im Grafenholz gehört Seiner Durchlaucht, dem Fürsten,“ entgegnete sie, das Lächeln niederkämpfend, „und ich wüßte nicht, wie ich je zu dem Rechte kommen sollte, darüber zu verfügen. Ich bin übrigens die längste Zeit in Thüringen gewesen: wenn ,Fräulein Agnes Franz’ geht, verschwinde ich auch, um mir mein Brod draußen in der Welt zu suchen.“

In sprachloser Ueberraschung starrte er sie an.

„Ich möchte Ihnen schon glauben,“ sagte er langsam, ohne seinen Blick von ihr zu wenden, „wenn ich nicht wüßte, daß Sie – falsch sind.“

Ihre Lippen bebten, aber sie nahm die Beschuldigung scheinbar gelassen hin.

„Ich widerspreche Ihnen nicht – warum soll ich in den Wind hineinreden? Sie sehen durch getrübte Gläser, und ich darf ja keinen Finger rühren, um der Wahrheit die Ehre zu geben. … Leider sind Sie allerdings nach einer Seite hin berechtigt, mir auch später nachzusagen, daß ich ein falsches Spiel gespielt habe –“

„Ja, das unverantwortliche Spiel weiblicher Gefallsucht, wie Sie es der gewiegten Salondame abgelauscht haben!“

„Nein, dazu bekenne ich mich nicht.“ Sie sagte das entschieden, mit einem festen Blick in seine zürnenden Augen.

Er lächelte malitiös ungläubig. „Ich möchte wissen, wie der Mann im Forstwärterhaus darüber denkt.“

„Der denkt und sagt jeden Tag auf’s Neue: ,Gott sei Dank, daß die furchtbare Sorgenzeit auf dem Vorwerk überstanden ist.’ Er hat das Gefühl der Erlösung, wie ich auch.“

„Und kraft dieses Trostes soll er es schleunigst verwinden, daß Sie nebenbei grausam mit ihm gespielt haben?“

Das Mädchen warf stolz den Kopf auf, und eine scharfe Antwort schwebte ihr unverkennbar auf den Lippen, aber sie beherrschte sich und fragte ganz ruhig:

„Nennen Sie die harte, schwere Feldarbeit, die wir allerdings wie ein Paar getreue Cameraden in Gemeinschaft auf uns genommen haben, Spielerei? Fritz Weber ist ein braver, prächtiger Mensch, dem ich zeitlebens dankbar sein werde. Ich habe ihm deshalb auch versprochen“ – ein leichter Zug von Schelmerei erschien und verschwand rasch auf ihrem schönen Gesicht – „seine Hochzeit in Person mitzufeiern, und wenn ich über’s Meer her kommen müßte. In zwei Jahren wird er so gestellt sein, daß er die treue Braut aus seiner ehemaligen Garnison Magdeburg heimholen kann.“

Die Züge des Gutsherrn hellten sich auf, als gehe ein Leuchten durch seine Seele. „Und über’s Meer würden Sie dann kommen? Will denn Fräulein Gouvernante ihr Glück drüben versuchen?“

Sie zuckte die Achseln. „Vielleicht!“ sagte sie lakonisch, obenhin und fuhr mit den schlanken Fingern über die Sichelklinge, als gelte es, einen Fleck wegzuwischen.

„Lassen Sie das!“ wehrte er ihr nervös irritirt. „Sie werden sich verletzen. – Werfen Sie doch das profane Instrument da fort! Sie brauchen es nicht mehr, so wenig, wie Ihre Dame die Blumenmalerei.“

Das Mädchen ließ die Rechte mit der Sichel sinken, es fiel ihr aber nicht ein, das Geräth auf die Erde zu werfen.

„Ich werde so lange arbeiten und auf meinem Posten bleiben, bis ein Ersatz für mich da ist,“ entgegnete sie ernst gelassen. „Und weshalb ,meine Dame’ auf eine Kunst verzichten soll, die sie liebt, das verstehe ich nicht.“

„Ei, sagten Sie denn nicht, daß sie über das Meer gehen würde? Nun sehen Sie, das ist der direkte Weg in’s Schlaraffenland, zu dem erträumten Diamantenprinzen!“

Sie verzog geringschätzend die Lippen. „Was doch solch ein reicher Mann für eine hohe Meinung von der Macht des Besitzes hat!“ sagte sie bitter.

Er lachte. „Wäre sie etwa falsch, diese Meinung? Gott bewahre Sie bestätigt sich alle Tage! Geben Sie einen Diamantenregen über Kopf und Schultern, einen Palast in volkreicher Metropole und ein märchenhaftes Sommerhaus inmitten reicher Plantagen, und solch ein begehrliches Gouvernantenpersönchen wird den Spender all dieser Herrlichkeiten hinreißend finden, und wäre er schwarz und brutal wie der Teufel selbst. Glauben Sie das nicht?“

„Mein Gott, ja – wenn Sie es sagen!“ antwortete sie ebenso leichthin, wie er gesprochen. „Die Eine, die ich meine, hat ja auch ihren Sparren. Ist es nicht grenzenlos vermessen, daß sie sich erlaubt, Sympathieen und Antipathieen zu haben, ganz wie Sie? Ich weiß, daß sie den Vorzug des Reichthums genau auf dieselbe Stufe stellt, wohin Sie die verhaßten Gouvernanten verweisen – tief unter ihre Wünsche.“

Die tiefste Gereiztheit sprach aus dieser scharfen Replik, aber er schien es nicht zu fühlen.

„Ach, lassen Sie sich doch nicht so Etwas weiß machen!“ lachte er. „Sie sind ein kluges Mädchen, an Geist für mich eine Art Wunderkind Ihrer Sphäre, aber das innerste Wesen Ihrer Gebieterin ist Ihnen doch ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Sie belügt Sie. Darum fort mit ihr nach dem ersehnten Eldorado! Ich wünsche ihr von Herzen fröhliches Gelingen. Mag sie doch nach ihrer Façon glücklich werden, wenn sie nur ihren Schatten zurück läßt! Sie gehen nicht mit – nein? Sie bleiben im Hirschwinkel?“ fragte er nach einem tiefen Athemzuge fast bittend.

Aber das ließ sie ungerührt. „Hierbleiben? – Um vielleicht auf mein Schicksal zu warten?“ fragte sie unbeschreiblich herb und spöttisch zurück.

„Es würde wohl rascher kommen, Sie wegzuholen, als Sie denken,“ versetzte er in seltsam stockender Redeweise – klang es doch, als klopfe ein ungestümes Herz in diesen unsicheren Tönen. Er trat ihr plötzlich näher, aber da wich sie erschreckt, mit tiefverfinstertem Gesichte zurück und erhob, wie in unwillkürlicher Nothwehr, die Rechte – die Sichelklinge blitzte zwischen ihnen auf.

„Ich werde Ihnen wohl dieses abscheuliche Spielzeug wegnehmen müssen,“ zürnte er und griff mit einer raschen Bewegung zu. Es geschah mit Gedankenschnelle, aber wie es geschehen, wußten wohl Beide nicht – er fuhr zurück, und sie stieß erschrocken einen Schrei aus und schleuderte die Sichel weit von sich.

„Trag’ ich die Schuld?“ stammelte sie entsetzt.

„Und wenn? War es nicht recht so?“ fragte er, während er sein Taschentuch hervorholte und es um die verletzte Hand wickelte. „Strafe muß sein! Daß doch solch ein dummer Teufel nie gewitzigt wird!“ Er verzog den Mund zu einem flüchtigen Lächeln des Spottes, das die schönen, festen Zähne sehen ließ. „Ich wußte schon am ersten Tage – da auf der Brücke bei der Schneidemühle, wo ich so famose Antworten bekam – daß die Disteln in Thüringen abscheulich stechen, und nun bin ich doch wieder so einfältig gewesen, ihnen in’s Gehege zu laufen.“ – Er verbeugte sich ironisch tief. – „So, nun sind wir quitt, schöne Prüde. Ich habe meinen Theil dahin.“

Sie antwortete nicht. In sich zusammengesunken, hatte sie dagestanden und die Augen in unbeschreiblichem Schrecken auf das weiße Foulardtuch geheftet, durch welches jetzt mit Blitzesschnelle große, rothe Flecken drangen. Und nun, bei diesem Anblicke, flog sie wie gejagt durch den Garten und verschwand im Himbeergebüsch.

Trotz seiner tiefen Verstimmung mußte er lachen. Diese tapfere Heldin, die eine schwere Lebensaufgabe wirklich heldenhaft

[125]

Zu spät entdeckter Einbruch.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen von C. Kronberger.

[126] und muthig auf ihre Schultern genommen hatte, sie konnte kein Blut sehen, sie ließ ihr Opfer im Stiche. Er fühlte, daß die Verletzung keine besonders schlimme war, und der kleine Aderlaß konnte ihm nicht schaden – rollte ihm ja doch seit Tagen das Blut so heiß und ungestüm durch die Adern, wie in der schlimmsten Fieberkrankheit, und verwirrte und verdunkelte ihm die Seele. … Schämen mußte er sich. Er verdiente, von seinen Freunden grausam verhöhnt und verspottet zu werden. Hätten sie ihn nur jetzt sehen können, das Urbild des heimgeschickten dummen Jungen! An das homerische Gelächter durfte er nicht denken, ohne daß sich ihm die Rechte zur Faust ballte! Und mit der Verachtung, in die er sich gehüllt, war es auch nichts gewesen – du lieber Gott, was für ein kläglicher Nothbehelf! Beim ersten Aufblicke der verweinten Mädchenaugen hatte von dieser stolzen Verachtung nichts mehr existirt. Und der frische Humor, mit welchem er sich sonst alle Bedrängnisse sofort von Leib und Seele zu schütteln pflegte, er verfing diesmal auch nicht; er brachte es auch nicht einmal bis zum Galgenhumor.

Wie er so dahin ging – den Garten hatte auch er sofort verlassen – auf dem einsamen Wege am Fichtenhölzchen, wo ihn kein menschlicher Blick traf, wo es so still war, und die jungen, schaukelnden Triebe der Nadelzweige weich und kühlend über seine entblößte, heiße Stirn glitten, da rang er mächtig mit sich und den Gefühlen schmerzlichster Enttäuschung. … Er hatte einen Augenblick innerlich aufgejubelt, als breche plötzlich der volle Sonnenglanz eines grenzenlosen Glückes über ihn herein – das Mädchen war schuldlos, war frei; kein Anderer hatte ein Anrecht auf sie; sie hatte es unwiderleglich bewiesen, aber was half ihm das? Er hatte sich ebenso überzeugen müssen, daß auch er keine Aussicht habe, sie zu besitzen; da half kein Beschönigen, kein Vertrösten auf später, und wie alle diese Vorflunkereien der trügerischen Hoffnung lauten mögen – das Mädchen wollte nichts von ihm wissen, das sagte ihm sein eigener grundehrlicher, gerader Sinn, und da hieß es, mannhaft kämpfen, auf daß „das Bischen Selbstachtung“ nicht auch noch verloren gehe.


13.

Im Pavillonstübchen war es drückend schwül. Es hatte längere Zeit nicht geregnet; Tag für Tag war die Sonne am wolkenlosen, strahlend blauen Himmel auf- und untergegangen und hatte allmählich Alles durchglüht, Dächer und Wände, Waldwipfel und Dickicht und die Fruchtfelder bis in das Mark hinein.

Herr Markus meinte, daß Frau Griebel Recht habe, wenn sie, höchst unpoetisch zwar, aber desto erboster sagte, solch ein blauer Himmel zur Unzeit, der „eine Ewigkeit lang“ kein einziges gesegnetes Wölkchen aufkommen lasse, käme ihr gerade vor wie ein boshaftes Gesicht, das sich über die armen Creaturen auf Gottes Erdboden lustig mache. Ihm war auch, als ob ihm diese zehrende Gluth, unter welcher sich bereits die fruchtschweren Halme schlaff neigten, und Blatt und Blüthe die erste leichte Krümmung des beginnenden Verschmachtens annahmen, durch Poren und Nerven in die innerste Seele dringe, als höre auch er ringsum ein schadenfrohes Gekicher über die armseligen, machtlosen „Creaturen auf Gottes Erdboden“, die ihr Schicksal auf sich nehmen müssen, wie es kommt, gleichviel, ob sie sich wild aufbäumen oder schmerzvoll trauern.

Seine Hand brannte, und es war gut, daß er neben anderem Comfort auch eine Karaffe mit frischem Wasser und Waschgeräth in sein kleines Monbijou gestiftet hatte – nun brauchte er nicht in das Gutshaus zu gehen und Frau Griebel in die Hände zu laufen, was ihm durchaus nicht wünschenswerth war, aber er entging seinem Schicksal trotzdem nicht.

Gerade in dem Augenblick, wo er die Hand in das Wasserbad tauchte, kam die brave Dicke pustend und schwitzend das Gartentreppchen herauf, um „von wegen des Nachmittagskaffees“ zu sehen, ob er da sei.

Sie war nicht die Frau, die viel Federlesens mit einem „Schnitt in’s Fleisch“ machte. Sie schüttelte nur den Kopf bei der Bemerkung des Gutsherrn, daß er sich mit dem Taschenmesser verwundet habe, und sagte in ihrer trockenen Weise: „Wie Sie das fertig gebracht haben, Herr Markus, das ist mir wirklich unbegreiflich. Wenn’s noch der Daumen oder Zeigefinger wäre, da ließe ich mir den Spaß gefallen – aber in den Ballen?!“ – Die conseguente Schlußfolgerung: „Sie müssen doch recht ungeschickt gewesen sein!“ verschluckte sie sichtlich mit Mühe. … Dann ging sie fort, um altes, weiches Leinen und Arnica zu holen, aber Herr Markus müsse Geduld haben und einstweilen die Hand im Wasser lassen, bis sie nach dem Zeug gesucht habe – altes Leinen sei nicht nur so bei der Hand, und wo die Arnica logire, wisse sie im Augenblick auch nicht; man habe, Gott sei Dank, dergleichen seit Menschengedenken nicht gebraucht.

Nun war es wieder still im Stübchen. Die Thür nach dem Altan war weit offen geblieben; da blies dann und wann ein träger Hauch, herein, ohne die Luft abzukühlen. Herr Markus saß im Eckdivan, und vor ihm lag ein, kleines Nécessaire, aus welchem er ein Stück Heftpflaster entnommen – er wollte kurzen Proceß machen, um Frau Griebel’s drohendem Verbinden der Wunde vorzubeugen – aber das hatte er nun schon wieder vergessen. Die Stirn in die Linke vergraben, und die Augen geschlossen, war er wieder im Vorwerksgarten, und das schöne, angstvolle, tödtlich erblaßte Gesicht war ihm nahe, als könne er den Hauch des Mundes spüren. …

„Ich glaube, ich werde noch verrückt um dieses Mädchens willen,“ murmelte er zwischen den Zähnen, und seine Finger wühlten sich wie verzweifelt in das reiche Stirnhaar.

Da war es, als husche Etwas über die Altantreppe – leicht, fast unhörbar, wie auf den Sammetpfötchen einer Katze. Ein Mensch kam sicher nicht hier herauf. Die Gartenecke lag so einsam, und von den wenigen umwohnenden Leuten würde es Niemand gewagt haben, der Gutsherrschaft auf diesem Wege nahe zu kommen.

Herr Markus sah empor und meinte unter einem jähen Zusammenschrecken, das ihn stechend durchfuhr, er träume fort – es war allerdings ein Menschenkind die Treppe herauf, bis fast unter den Rahmen der Thür gekommen – sie, die Prüde, in deren Wangen und Lippen das lebendige Roth noch nicht zurückgekehrt war, trotz der Gluthatmosphäre, die jedes Menschenantlitz höher färbte. … Sie kam zu ihm – in seine Wohnung! Ei nun, wie sie ja auch, bei aller Unnahbarkeit und Zurückhaltung im persönlichen Umgange, ungenirt im Hause des unverheiratheten Forstwärters aus- und einging! Sie gab nichts auf die Anforderungen strenger äußerer Sitten, nichts auf die rügenden Lästerzungen – das hatte sie selbst gesagt. Und so stand sie da, zwar mit scheuem Blick, und auf dem halb und halb neutralen Boden des Altans bang zögernd, aber doch unverkennbar im Begriffe, einzutreten.

Ein seltsames Gemisch von Glückseligkeit, sie zu sehen, und Grimm über diesen ihren Schritt wogte in ihm auf, und dazu gesellte sich die Besorgniß, daß Frau Griebel jeden Augenblick eintreten könne – ach ja, das wäre Wasser auf diese Mühle gewesen! Dann war es um den letzten Rest des guten Rufes dieser Unvorsichtigen geschehen.

Er sprang erregt empor – eine heiße Röthe überflog sein Gesicht. „Sie wünschen?“ fragte er unsicher und deshalb fast rauh und abstoßend. Bei diesen Lauten war es, als wolle das Mädchen in sich zusammenbrechen. Sie griff unwillkürlich nach dem Altangeländer zurück und legte die andere Hand über die Augen. Aber sie faßte sich rasch.

„Der – der Herr Amtmann läßt für die Bücher herzlich danken und bittet um den ,Münchhausen’ von Immermann,“ sagte sie tonlos und reichte ihm zwei der von ihm an den Amtmann geliehenen Werke hin, die sie in einem Körbchen am Arme gebracht hatte. Ah, sie kam als Abgeschickte, als die Magd ihrer Herrschaft. Wie seltsam, daß er ihre Lebensstellung immer wieder vergaß! Wenn der Amtmann befahl, so mußte sie ja ohne Widerrede gehen – an diesem Gehorsam hatte auch Frau Griebel nichts auszusetzen.

„Ich habe das Buch nicht hier,“ entgegnete er aufgehellten Blickes, „und muß Sie bitten, einen Augenblick zu warten – ich werde es herüberholen.“ Er schlug ein Tuch um die noch immer blutende Hand und war im Begriff, die nach dem Garten führende Thür zu öffnen – aber da stand das Mädchen mit wenigen Schritten neben ihm.

„Das hat Zeit!“ wehrte sie hastig, in scheuer Verlegenheit ab. „Ich sollte die Bücher zum Forstwärter tragen, damit er den Wechsel besorge; er wird heute Abend kommen, das Buch zu holen – bitte, geben Sie es ihm!“ – Sie schlug plötzlich wie [127] in überwältigender Scham beide Hände vor das Gesicht. „O Gott, wie peinvoll!“ murmelte sie, und die Hände wieder sinken lassend, sagte sie mit niedergeschlagenen Augen: „Der Bücherwechsel war nur eine Legitimation, mich einzuführen – vielleicht dachten Sie das selbst. Ich kam – weil ich es nicht ertrage, Ihnen Schmerz verursacht zu haben, ohne ihn zu lindern. Ich will gut machen, so viel ich kann.“

Ach, wie schnell war Alles vergessen, was er eben noch gedacht hatte! Seine hypermoralischen Bedenken, Frau Griebel’s alterirtes Anstandsgefühl – wie hätten diese Geringfügigkeiten noch aufkommen können neben den erschütternden Tönen, die an sein Ohr schlugen, angesichts des süßen, blassen Mädchenantlitzes, das sich demüthig auf die Brust senkte! – Unwillkürlich bog er sich nieder, um sie in seine Arme zu ziehen, wo sie geschützt sein sollte für alle Zeit. Allein diese eine rasche Bewegung scheuchte sie sofort bis auf die Schwelle der Altanthür; sie schien förmlich entsetzt über die Wirkung ihrer Worte, über das leuchtende Gesicht des Gutsherrn und hob den Fuß, um, bei einem weiteren Schritte seinerseits, die Treppe hinabzuspringen und das Weite zu suchen.

„Ich war vorhin in das Haus gelaufen, um Verbandzeug zu holen,“ sagte sie herb, mit finster zusammengezogener Stirn; „aber als ich zurückkam, waren Sie fortgegangen. … Ich weiß nicht, ob ich die Schuld an dem unseligen Vorfall allein trage – auf jeden Fall bin ich unvorsichtig gewesen, und das läßt mich nicht ruhen, das hat mich hierher getrieben! … Ich will keine ungesühnte Schuld auf dem Herzen haben, gegen keinen Menschen, gegen Niemand auf der Welt, sei es, wer es sei!“

„Ach so. Nun denn, ich danke Ihnen recht sehr für Ihre Theilnahme,“ warf er bitter lächelnd hin, während er an den Tisch trat. „Sie können beruhigt nach Hause gehen. Die Schuld trage ich allein; warum war ich so täppisch, der sichelführenden ,Trutzigen’ zu nahe zu kommen! Im Uebrigen sehen Sie, daß ich eben im Begriff war“ – er zeigte auf das Nécessaire – „den Zeugen des ,unseligen Vorfalls’ einfach mit Heftpflaster zu verkleben.“

„Das genügt nicht,“ sagte sie rasch und bestimmt und kam wieder in das Stübchen herein. „Die Wunde geht ziemlich tief – ich habe es gesehen und besitze ein Mittel, das jeder Entzündung vorbeugt und die Heilung beschleunigt.“ Sie schlug den Deckel des mitgebrachten Körbchens zurück und nahm ein Leinenpäckchen heraus. „Erlauben Sie mir, daß ich Sie verbinden darf! Sie dürfen sich mir ruhig anvertrauen – die Diakonissenpflichten sind mir nicht fremd.“

„Ei bewahre! Was denken Sie? Ich werde wohl solch ein offenbares Opfer Ihrerseits zugeben! Niemals, schöne Prüde! Wer, wie ich, weiß, unter welch innerem Widerstreben Sie sich zu dergleichen Samariterdiensten verstehen – denken Sie nur an die Brücke bei der Schneidemühle, wo ich erst an die christliche Barmherzigkeit appelliren mußte, ehe Sie mich armen Teufel aus dem Schraubstock erlösten! – der kommt kein zweites Mal! Und nun gehen Sie in Gottes Namen heim, oder besser, in das Grafenholz, und sagen Sie dem Forstwärter, daß er das verlangte Buch heute Abend hier abholen kann! Es soll bereit liegen!“

Sie ging nicht – im Gegentheil! Neben den Gutsherrn an den Tisch tretend, rollte sie das Leinenpäckchen aus einander, entkorkte ein kleines Medicinglas und breitete verschiedene Verbandutensilien hin – das geschah alles flink, sicher, und mit schweigendem Ernst, wie ein Arzt dem widerstrebenden Patienten gegenüber zu verfahren pflegt.

„Mögen Sie mich aufdringlich schelten und unbarmherzig mit mir in’s Gericht gehen, mögen Sie mich noch mehr verachten, als bisher, ich weiche nicht, ehe ich meine Pflicht erfüllt habe,“ sagte sie sanft, aber mit Festigkeit.

„Ich will aber Ihre Pflichterfüllung absolut nicht. Ich lehne sie ab und gebe Ihnen hiermit das Zeugniß, daß Sie das Menschenmögliche gethan haben, um Ihr empfindliches Gewissen zu beruhigen,“ rief er, bebend vor Erregung. „Sind Sie nun zufrieden?“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Tag auf dem Lootsen-Schooner.

Plauderei von Gustav Schubert.

„In fünfzehn Minuten läuft der Schooner aus.“ Diese kurze mit Bleistift geschriebene Depesche weckte mich an einem schönen Sommermorgen in dem Ostseebade S., wo ich mich während der Hundstagsferien zur Cur eingenistet hatte, aus dem Schlafe. Mit Windeseile war ich angekleidet, und bald eilte ich durch die dichten „Anlagen“ dem Hafen entgegen. Mein freundlicher Hauswirth, der heute als Oberlootse den „Delphin“, einen schmucken Dampfer, befehligte, hatte mir die obige Nachricht zukommen lassen, um meinem Wunsche, eine Lootsenausfahrt mitzumachen, zu willfahren. Sein scharfes Seemannsauge hatte mich auf meiner Morgengaloppade schon längst erkannt, noch ehe ich davon eine Ahnung hatte, und von ferne winkte er mir zu, daß es die höchste Zeit sei. Ein kurzer Laufschritt, ein kühner Sprung – und ich war auf dem Schooner, der im nächsten Augenblicke vom Lande abstieß.

Während wir in die See hinausdampften, sah ich mich zunächst auf dem sehr sauber gehaltenen „Delphin“ etwas genauer um. Das fünfundzwanzig Meter lange Schiff trägt, wie alle Lootsenfahrzeuge, am Vordermast in eigenthümlicher Weise die deutschen Farben (schwarz-weiß-roth auf weißem Grunde), hat eine vorzügliche Maschine von sechsunddreißig Pferdekräften, eine freundliche Kajüte für den Oberlootsen und Steuermann, eine einfachere für die Lootsen, eine Kochvorrichtung und an Back- und Steuerbord je ein großes, mit Korksäcken versehenes hängendes Ruderboot. Die von dem Oberlootsen befehligte Besatzung besteht aus einem Steuermann, zwei Matrosen, zwei Maschinisten, zwei Heizern und neun Lootsen und repräsentirt eine nicht geringe Summe seemännischer Intelligenz; denn die Lootsen sind ausschließlich ehemalige Capitaine und Steuerleute, die außerdem durch strenge Examina ihre Befähigung zu dem wichtigen und gefahrvollen Lootsendienst dargelegt haben müssen.

Durch meinen liebenswürdigen Freund, den Oberlootsen, den einzelnen „Seebären“ in einfachster Form vorgestellt, war ich bald in die interessantesten Gespräche verwickelt und erfuhr, daß meine Reisegenossen die Fahrt um die Welt sämmtlich mindestens einmal gemacht, mit vielen Nationen verkehrt und mannigfache Unfälle erlebt hatten. Es war eine Lust, ihnen zuzuhören; wer je den Erzählungen älterer Seeleute gelauscht hat, wird empfunden haben, von welchem Ernste, von welch prunkloser, aber fesselnder Darstellungsweise alles durchdrungen ist, was sie sagen. Diese Männer der That machen keine leeren Worte; in ihrer knappen Redeweise liegt meistens etwas ungewöhnlich Entschlossenes, aber auch etwas unendlich Gutmüthiges, und das ist leicht erklärlich; hängt es doch mit dem Berufe und den Lebensgewohnheiten des Seemannes zusammen; denn keine Berufsgattung fördert zu so schnell entschlossenem Handeln auf, wie die des Schiffers, und in nur wenigen Lebensstellungen findet der Mensch zu aufopferungsfähiger Selbstvergessenheit so oft Gelegenheit wie in dieser, welche häufig genug Veranlassung giebt, eine erbetene oder nicht erbetene Hülfe schnell zu leisten, die weit über die starre Instruction hinausgeht.

Während ich in der Kajüte meines Freundes einen von ihm selbst bereiteten strammen Kaffee, der seine „Weißheit“ einem biederen Eigelb verdankte, eingenommen hatte, waren wir ein tüchtiges Stück weiter gedampft, sodaß die hinter uns liegende Küste im Morgennebel verschwand.

Auf dem Vordertheil des „Delphin“ geht es seit der letzten Viertelstunde recht lebhaft zu. Die Lootsen stehen in Gruppen zusammen; ein riesiges Fernrohr und ein Doppelglas, die beide deutliche Spuren unausgesetzter Benutzung tragen, wandern von Hand zu Hand und werden nach einer Stelle des Horizontes gerichtet, wo ein graues Pünktchen allmählich auftaucht, in welchem ein ungeübtes Auge nimmermehr ein Schiff vermuthet haben würde.

Für die Lootsen bildet es das Object der lebhaftesten Unterhaltung. Zunächst gilt es, zu ermitteln: ist das Fahrzeug ein „Lootsenschiff“, das heißt hat es den bestimmten Tonnengehalt, auf Grund dessen es mit einem Lootsen besetzt werden muß; denn kleinere Schiffe, Fischerboote etc. dürfen unter eigener Führung einlaufen. Ist es wirklich ein Lootsenschiff, so zeigt es auf der höchsten Mastspitze die „Lootsenflagge“; das ist eine einfache Flagge [128] in den Nationalitätsfarben, mit welcher also die Lootsenpflichtigkeit und zugleich die Staatsangehörigkeit des Fahrzeuges gemeldet wird. Mit Hülfe des Fernrohrs ist dies längst erkannt, noch ehe der Unkundige nur eine Ahnung davon hat. Nach einer halben Stunde ist das Fahrzeug näher herangekommen es ist ein prachtvolles Vollschiff mit unzähligen großen und kleinen Segeln, die von einer günstigen Brise aufgebläht werden und tüchtige Fahrt machen; stolz flattert uns die schwedische Flagge im Morgenwinde entgegen.

Jetzt beginnt die eigentliche Thätigkeit der Lootsen. Auf ein kurzes Kommandowort Seitens des Oberlootsen eilen Alle nach dem an Steuerbord hängenden Boote und lösen die Taue im nächsten Augenblicke saust das Boot nach unten und tanzt auf den Wellen, die mir, obgleich heute kein „Sturm“ ist, im Verhältniß zu der da unten schwimmenden Nußschale recht bedenklich erscheinen. Mit großer Geschicklichkeit und turnerischer Elasticität sind drei durch Turnus bestimmte Lootsen in das herabgelassene Boot gesprungen; Einer aus ihrer Zahl befestigt das ihm zugeworfene Tau an demselben, einige kräftige Ruderschläge - und das kleine Fahrzeug befindet sich im Schlepptau des Dampfers, der seine für wenige Momente gemäßigte Fahrt mit vollen Kräften wieder aufnimmt. Secundenlang verschwinden jene drei Lootsen vollständig hinter den Wellenbergen, die das Boot, dessen Spitze wegen der scharfen Fahrt 45° über der Meeresoberfläche hervorragt, vor sich aufthürmt. In den nächsten Minuten gilt es, die ganze seemännische Geschicklichkeit und Kühnheit zur Anwendung zu bringen, um dem Lootsen den Uebergang - oft ist es auch ein Ueberspringen - aus dem Boot auf das fremde Schiff zu ermöglichen. Alle Parteien, das Schiff, der Dampfer und das im Schlepptau befindliche Boot müssen jetzt mit größter Sicherheit und Sachkenntniß manövriren. Die erste Aufgabe des zu besetzenden Schiffes ist seine Fahrt zu moderiren und eine solche Stellung zu nehmen, daß die Leeseite (die gegen den Wind geschützte) dem Schooner zugewendet ist. Der Dampfer hat aber das Lootsenboot so nahe an jenes heranzuschleppen, daß es, bei dem Abwerfen des Taues, das heißt bei der Trennung von dem Dampfer, durch möglichst wenig Ruderschläge an das fremde Schiff herankommt. Das ist selbst bei mäßigem Wellengange stets ein gefahrvolles Stück. Ergreifen und Festmachen des zugeworfenen Taues, Anlegen, Ueberklettern des Lootsen, Wiederabstoßen des Bootes ist das Werk einiger Augenblicke und bei stürmischem Wetter ein Wagniß auf Leben und Tod.[1] Die beiden rudernden Lootsen suchen sich nun wieder an den Dampfer, der ihre Absicht durch Manövriren erfolgreich unterstützt, heranzuarbeiten, und während dieser Manipulationen nimmt der Oberlootse den geeigneten Augenblick wahr, um vom Dampfer aus mit dem fremden Schiffscapitain ein kurzes, dem Wellengeräusch zum Trotze laut ertönendes Gespräch anzuknüpfen über Woher? Wohin? etc. Dieser Dialog geschieht in einem Idiom (ein seltsames Gemisch von Plattdeutsch und Englisch), das durch die Zuthaten von technischen Bezeichnungen dem Laien absolut unverständlich ist. Nichts destoweniger erschien mir diese Sprache echt international; denn ich habe nie bemerkt, daß die Führer der verschiedensten Flaggen, die wir im Laufe der nächsten Wochen einholten, den Dialog nicht angenommen hätten. Jener Lootse, den wir glücklich an Bord des Schweden gebracht sahen, hat von diesem Augenblick das Commando des Schiffes übernommen, er wägt alle Verantwortlichkeit und ist dem Capitain übergeordnet. Bleibt das Fahrzeug im Hafen, so hört mit dem herabrollenden Anker die Thätigkeit des Lootsen auf, dieser wird an Land gesetzt, erstattet aus dem Bureau die betreffenden Meldungen und ist nun bis aus Weiteres ohne Thätigkeit; ist das hereingebrachte Schiff aber ein durchpassirendes, so wird es nach Erledigung der erforderlichen Formalitäten durch einen „Land- oder Binnenlootsen“ (eine Gruppe, die nur auf dem Strome thätig ist), weiter geführt.

Mittlerweile haben wir neue Schiffe aus West und Ost entdeckt, zwei Barks, eine Brigg und einen englischen großen Dampfer innerhalb der nächsten Stunden besetzt und finden jetzt Muße, unser Mittagsmahl auf dem (ohne Dampf) „treibenden“ Schooner einzunehmen.

Der Schiffskoch hat heute recht schmackhafte Brühkartoffeln hergestellt, zu welchen sich einzelne Lootsen Fische gebraten haben, deren einladender Duft lieblich mit der an Bord wehenden frischen Brise contrastirt. Unter anregenden Gesprächen mit meinem freundlichen Wirth fließen die Stunden schnell dahin. Wäre es nicht das bewegliche Element, auf dem wir uns schaukeln, wir könnten sagen: es ist ein eminent historischer Boden, den wir betreten haben. Dort drüben ist die Stelle, wo das sagenreiche Vineta in die Fluthen versunken ist. Welche Völker und Nationen sind nicht hier vorübergesegelt, von den Phöniciern und Gothen bis zu den Schweden und Dänen, die zu ungezählten Malen von hier die deutschen Küsten heimsuchten! Diese Wellen trugen die „Galeyen und Strußen“ Gustav Adolf's und kurze Zeit nachher die sterblichen Ueberreste dieses edlen Schwedenkönigs.

Die Pflicht ruft indeß wieder und bringt neue Bewegung in die Mannschaft des Schooners. Es ist eine Brigg in Sicht, die, wie der gebrochene Vordermast und die langsame Fahrt zeigt, Havarie gelitten hat.

Mit vollem Dampfe eilt ihr der „Delphin“ entgegen, um ihr thatkräftige Hülfe zu bringen, und in kurzer Zeit ist sie besetzt und befindet sich in unserem Schlepptau. Wir steuern dem Hafen zu, da kein ankommendes Schiff weiter zu entdecken ist – da plötzlich ertönt das Commando „Langsam!“; das Schlepptau wird losgeworfen, und wir müssen die Brigg ihrem Schicksal überlassen; denn auf dem Ausguckthurm der äußeren Lootsenstation erscheint eine Doppelflagge (oben schwarz-weiß, unten schwarzes Rechteck mit weißem Kreis), sie giebt das Signal: „Ein Schiff in Sicht“.

Als Antwort, daß wir die Mittheilung empfangen haben, wird unsere Flagge einen Moment herabgeholt und dann wieder gehißt, in welchem Augenblicke auch das Signal vom Thurm verschwindet. Wir wenden demnach, um das hoffentlich letzte Fahrzeug für heute einzuholen; denn die von uns schnöde verlassene Brigg erhält von anderer Seite bald Hülfe. Längst ist sie im innern Hafen avisirt worden, und einige Privat-Schleppdampfer, die mit dem Lootsenwesen außer aller Verbindung stehen, sind, in ihrer Fahrt concurrirend, bei der willkommenen „Beute“ angelangt und bewerben sich um die Gunst des fremden Capitains. Wunderliche Scenen sollen sich oft zwischen dem Führer des Schleppers und dem des ankommenden Schiffes entspinnen. In allerdings derb seemännischer Art stellt der erstere die Frage des Dichters: „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?“ das heißt in Prosa „Was bezahlst du mir, wenn ich dich, da dir der Athemzug der treibenden Brise innerhalb der Moolen bald ausgehen wird, an das Bollwerk schleppe?“ Man feilscht unter dem Gebrüll der sich brechenden Wogen hin und her, bis endlich der Handel abgeschlossen wird und der Schlepper Vorspanndienste übernimmt.

In mindestens einer Stunde kann das zuletzt gemeldete Schiff erst herangekommen sein. unser „Delphin“ legt sich deshalb schließlich noch auf den Fischfang. Wer indeß zur Ausführung desselben Angeln und Netze oder sonstige Vorrichtungen voraussetzen würde, dürfte sich in schwerem Irrthum befinden; der „Fang“ geschieht auf ganz andere Art. Von Westen her taucht eine ganze Flotille Fischerböte auf, die dem Hafen zusegelt. Mit merkwürdigem Kennerblick haben die Lootsen das „Gesuchte“ herausgefunden, und drei bis vier Mann springen in unser Boot, mit der gewohnten Geschicklichkeit sind sie in kurzer Zeit an die Fischer herangekommen, es wird angelegt, herübergeklettert, gehandelt, gekauft (natürlich billig), und nach einer halben Stunde sind Alle zurück, einige Eimer frische Fische als Ausbeute des improvisirten Fanges mit sich bringend. Sofort beginnt das Ausnehmen und Schaben der Flundern, und zwar wird es mit großem Geschick ausgeführt; denn jeder Seemann versteht bekanntlich mehr vom Kochwesen, als manche stolze Köchin zu Lande. An Wasser ist kein Mangel, sodaß bald die schmucksten Gerichte fertig sind, an welchen die damit beglückten Hausfrauen der Lootsen ihre helle Freude haben werden.

Das erwartete Schiff, ein russischer Transportdampfer, ist endlich herangekommen es wird schnell besetzt. Noch ein kräftiges „Vorwärts“ des Oberlootsen – und wir dampfen mit voller Kraft „nach Hause“, froh der Fahrt und ihrer Resultate, aber auch froh, den mütterlichen Erdboden wieder betreten zu können.

[129]
Arnold Ruge.
Von Wilhelm Goldbaum.

Die Kunde von dem Tode unseres Arnold Ruge ist sicherlich für Viele eine überraschende gewesen; die Wenigsten wußten, daß der wackere achtundsiebenzigjährige Landsmann in der Fremde am Alter kranke. Mir kam sie nicht unerwartet. Zwei Tage, bevor er starb, gelangte ein Brief von ihm in meine Hände, der in gewissem Sinne einem literarischen Vermächtnisse glich. Ruge hatte ihn nicht selbst geschrieben, sondern seiner Tochter Agnes Franziska in die Feder dictirt; von ihm war nur der Namenszug in zitterigen, unbestimmten, verschwommenen Lettern. Und in dem Briefe eröffnete er mir, es gereiche ihm zu großer Freude, daß er in seiner Tochter Agnes Franziska eine vortreffliche literarische Gehülfin gefunden.

Arnold Ruge.
Nach einer Photographie auf Holz von Adolf Neumann

Die Freude währte nicht lange. Nun ist Arnold Ruge todt, in fremder Erde begraben, und er bedarf keiner Gehülfin mehr. Er hat das Sterben rasch besorgt, wie Alles, was er angriff oder zu überwinden hatte. Und wenn volle vier Tage darüber vergehen mußten, bis Deutschland den Tod eines seiner besten Söhne erfuhr, wenn die Kunde nicht gleich einige Stunden nach seinem Tode, am Sylvesterabend, sondern erst am Vorabende des Dreikönigstages vom Crescent Park in Brighton herüberdrang zu den Freunden und Verehrern des braven Mannes diesseits des Canals, so ist zu bedenken, daß Ruge kein Fürst oder Fürstensohn, kein Minister und überhaupt keiner von jenen Würdenträgern war, von denen, wenn sie nur in ein Eisenbahncoupé steigen, der elektrische Draht nicht genug zu erzählen vermag.

Was war denn nun aber Arnold Ruge? Man hieß ihn lange den „Vater der deutschen Demokratie“; er selbst nannte sich im Hinblick auf seine Insulaner-Abkunft bis in sein Greisenalter hinein mit Vorliebe einen „rügenschen Bauernjungen“. In dem Titel, den ihm die Leute gaben, lag die Geschichte seiner Thaten und Leiden; in dem Prädicat, das er sich selbst beilegte, der Hinweis auf die Kraft und Zähigkeit, womit er alle Schickungen und Wendungen, alle Schläge und Enttäuschungen seines vielbewegten Lebens überwand.

Und er hat gestritten und gelitten, gerungen und geduldet, wie Alle, welche unabwendbar großen Idealen nachstreben und der Freiheit ihre Liebe weihen. Sechs Jahre Gefängniß, die er rechtschaffen abbüßte, wurden ihm schon auf [130] der Hochschule wegen seiner Theilnahme an der Burschenschaft zudecretirt; dann, als er einen akademischen Lehrstuhl in Halle bestiegen hatte, begann eine Hatz und Jagd der Behörden nach ihm wie nach einem Edelwild, ein Wandern und Flüchten, von Halle nach Dresden, von Dresden nach Paris, von hier nach Zürich, wo er mit J. Fröbel zusammen eine Buchhandlung besaß, von dort nach Leipzig, dann nach Berlin und endlich, nach einem längeren, verborgenen Aufenthalte bei einer befreundeten Familie in der Nähe Bremens, nach England, wo er das bittere Brod des Exils genoß und schließlich in freiwilliger Verbannung ausharrte bis zu seinem Tode. Das zählt sich so leicht der Reihe nach auf und ist dennoch eine Märtyrergeschichte; denn es sind darin vierzig Jahre deutscher Volksentwickelung enthalten, trübe und heitere Jahre, Jahre des Leidens und der Erfüllung. Und das Volk trägt leichter an seinen wechselnden Geschicken als der Einzelne, der diese Geschicke auf sich nimmt und sich selbst gleichsam mit seinem Volke identificirt. Das Volk ist unsterblich; ihm kommt nie, um mit dem Dichter zu sprechen, „ein letztes Glück und ein letzter Tag“. Der Einzelne aber wartet sehnsüchtig auf das Morgen, das Uebermorgen; er jubelt über den Sonnenaufgang und bangt, ob er das Abendroth erlebe.

Ganz getäuscht ward auch Arnold Ruge nicht von seinen Hoffnungen. Die Aufrichtung des deutschen Reiches war ihm eine frohe Botschaft, und von Brighton her erscholl seine kräftige Stimme unter denen, welche forderten, daß Elsaß und Lothringen nicht belassen würden in dem Besitze der Franzosen, von denen sie uns einst in schmachvollen Tagen geraubt worden waren. Das legten ihm damals unverständige Leute als einen Abfall aus, wie sie es ihm später auch vorwarfen, daß er einen Ehrensold von dem geeinten und erstarkten Vaterlande angenommen. Arnold Runge ein Renegat! Er ist nicht Minister geworden, wie sein rumänischer Freund Bratiano, nicht Fürstendiener, wie viele Andere, welche im Jahre 1848 in effigie gehenkt worden waren. Er blieb in Brighton, sich kärglich ernährend von dem Ertrage seiner Feder. Nicht so, wie er es sich gedacht hatte, war das deutsche Volk zur Einheit und Macht emporgestiegen, aber den Gipfel hatte es erklommen, und wie ein guter Sohn, der aus dem Antlitz seiner Mutter Freude und Seligkeit liest, nicht lange fragt, sondern sich mit ihr freut und mit ihr jubelt, so ward es hell in dem Herzen Ruge’s von dem Glücke seines Volkes, und er lehnte nicht verstockt ab, was von diesem Glücke auch ihm zu Theil ward.

Mit Heinrich Leo hatte Ruge auf der Hochschule die Farbe derselben Burschenschaft getragen. Dann ging jener rechtswärts, er aber linkswärts. Leo wandte sich gegen das Volk, er aber blieb der Sache desselben getreu. Und als sie dann auch an derselben Hochschule, in Halle, zu lehren hatten, da war zwischen ihnen bittere Feindschaft. Die Geister waren wach, aber es gab noch nicht Wege und Ziele für sie. Die Pariser Juli-Revolution hatte sie geweckt, dann war Goethe gestorben, und das „Junge Deutschland“ hatte keck nach seinem Erbe gegriffen. In Wort und Schrift wallte das Freiheitsgefühl stürmisch auf, verworren tönten die Wünsche und Forderungen durch einander, und der Bundestag, dieses traurige Spiegelbild deutscher Zerrissenheit und Kleinstaaterei, rächte sich für seine klägliche Ohnmacht nach außen hin durch jämmerliche Verfolgungen und Quälereien im Innern. Da bäumte sich auch in dem „rügenschen Bauernjungen“, der bisher nur an philosophischen und philologischen Studien Gefallen gefunden hatte, der eingeborene Trotz, und mit Theodor Echtermeyer in Gemeinschaft gründete er die „Halleschen Jahrbücher“. Das war eine große That, denn von nun an marschirte auch die Philosophie in dem Reigen der Freiheitskämpfer; man konnte nicht mehr höhnisch von aussätzigen Poeten und Belletristen sprechen, da die Wissenschaft, mit dem schwersten Rüstzeug bewehrt, sich in den Lärm des Tages mischte. Die besten Geister schaarten sich um Ruge und Echtermeyer, daneben freilich auch manch problematischer Geselle, wie der Russe Bakunin, der unter dem Autornamen Jules Elizard einen Essai über „Die Revolution in Deutschland“ für die „Jahrbücher“ schrieb. In Berlin witterte man die Gefahr, und Ruge mußte, um die „Jahrbücher“ zu retten, Professur und behagliches Dasein in Halle dahingeben. Er zog mit den „Jahrbüchern“ nach Dresden und nannte sie fortan „Deutsche Jahrbücher“. Aber bald trat ihm auch die sächsische Regierung in seine Kreise, sie entzog ihm die Concession. Er ging, nachdem er mehrere Jahre in Paris und der Schweiz gelebt, nach Leipzig und etablirte das sogenannte „Verlagsbureau“, aus welchem eine Anzahl politischer Schriften hervorging, aber seine Mittel zerflossen ihm dabei. Dann, als in Berlin die Revolution ausgebrochen war, eilte er nach der preußischen Hauptstadt, um das demokratische Blatt „Die Reform“ zu gründen, wurde in das Frankfurter Parlament gewählt, wo er auf der äußersten Linken seinen Platz nahm, und förderte endlich von Leipzig aus den Dresdener Mai-Aufstand. Als Alles vorüber war und wieder Kirchhofstille in Deutschland herrschte, da floh er, wie unzählige Andere, über den Canal, schloß sich zu London in dem sogenannten europäischen Revolutionscomité an Joseph Mazzini und Bratiano an, um schließlich, ermüdet, doch nicht entmuthigt, in Brighton als Zuschauer die Händel der Welt und die Geschicke der Völker zu verfolgen.

Man hat Ruge einen Doctrinär genannt, und während er in der Frankfurter Paulskirche saß, erschien sogar in der Form der „Briefe der Dunkelmänner“ ein lateinisches Pamphlet auf ihn, als auf den „sehr gelehrten und sehr abstracten Mann“.

Nun, die echte politische Gesinnung ist stets ein wenig doctrinär und eigensinnig. Heutzutage freilich hat sich für eine abscheuliche Sache ein noch abscheulicheres Wort in das öffentliche Leben eingeschlichen: man spricht viel von Opportunisten. Ein solcher allerdings war Arnold Ruge nie; er stammte aus einer andern Zeit. Ja, er hat bis in die letzten Jahre sich abseits gehalten von Jenen, welche mehr mit den Thatsachen rechnen als mit den Gesinnungen. Ihm war es z. B. nicht verständlich, warum die Liberalen in Deutschland aus Gründen der äußeren Politik gegen den liberalen Gladstone Partei nahmen, und oft genug in seinen Briefen sprach er von seiner „Ketzerei für Gladstone“. Ein ander Mal – im September 1877 – schrieb er mir:

„Rußland hat seine Bulldoggrolle eingebüßt, und es wäre zu überlegen wie weit wir das große Slavenreich sinken lassen wollen. Habent sua fata Imperia

Darin steckte ohne Zweifel viel Pedanterie, aber noch mehr Treue gegen sich selbst; denn Ruge, wie er nun einmal war, wurzelte mit seinem ganzen Wesen im Weltbürgerthum, das er sich philosophisch zurecht gelegt hatte. Die Freiheit war ihm das Erste, die Nation erst das Zweite. So gelangte er zu dem Schlusse, man müsse den liberalen Engländer selbst dann noch unterstützen, wenn er sich als ein Feind der Deutschen erweise, und dürfe aus Haß gegen die Despotie der Zaren die nach Freiheit ringenden Russen nicht im Stiche lassen.

Wir Heutigen leben in einer Zeit, welche das nationale Interesse zum Mittelpunkte alles politischen Seins erhoben hat. Wir haben uns darüber nicht zu beklagen; denn Großes zu thun und zu schauen ward uns dadurch vergönnt. Aber wir sollen auf unsere Einseitigkeit auch nicht übermäßig stolz sein; denn eine Einseitigkeit ist es trotz alledem, alle Fragen und Bedürfnisse, auch diejenigen der Freiheit, hinter die nationalen Forderungen zurückzudrängen, und davon hielt sich Runge unberührt, wollte er sich grundsätzlich unberührt halten, indem er in England, fern von der Heimath, ausharrte. Wie in seiner Jugend auf der Kreide-Insel in der Ostsee, so hatte er im Alter in Brighton den Blick auf das Meer, den belebenden Athem der Woge, und das war ihm genug. In den Jahren des Kampfes hatte er von der heutigen Zuspitzung der Nationalitätennidee keine Ahnung, und ganz Deutschland hatte sie nicht. Man wollte frei sein, frei von der Misere des Bundestages und der Kleinstaaterei, frei von der Censur und der Polizei. Das war ja ohne Zweifel ein sehr nebelhaftes Programm, so lange man nicht wußte, was an die Stelle des Bundestages zu setzen, wie die staatliche Erneuerung Deutschlands zu bewirken wäre, und wenn wir heute die politischen Gedichte und Flugschriften des Vormärz lesen, so empfinden wir deutlich die Unklarheit, die in denselben zu Tage trat. Allein der schöne Idealismus, die Gesinnungstüchtigkeit gediehen damals besser, als heute, und Arnold Ruge war dessen ein Beispiel. Einst fragte ihn Heinrich Heine, der ihm befreundet war, indem er ihm ein neu erschienenes Bändchen lyrischer Gedichte von Robert Prutz zeigte, ob dies nicht der Dichtername Arnold Ruge’s wäre. Ruge verneinte.

„Und ich habe Sie stets mit Robert Prutz verwechselt,“ sagte Heine.

„Nun,“ erwiderte Ruge, „daß Sie mich mit Prutz verwechseln, ist nicht arg. Traurig wäre es nur gewesen, wenn Sie mich mit Heinrich Heine verwechselt hätten.“ Diese Aeußerung [131] ist in hohem Grade für Ruge’s Wesen bezeichnend; er war ein Deutscher vom Wirbel bis zur Sohle, treu, schwerfällig, herzensrein. Er hätte sich beglückwünschen können, wenn ihm die Gelenkigkeit und Begabung Heine’s verliehen gewesen wäre, aber um den Preis leichtfertiger Gesinnung war ihm der Tausch mit Heine auch in Gedanken ein Gräuel. Dagegen hinderte ihn hinwiederum sein Deutschthum nicht, mit allen Revolutionären der Welt in Verbindung zu treten, mit Kossuth, Herzen, Bratiano, Mazzini, Prim, um der Freiheit zum Siege zu verhelfen. An Bildung und philosophischem Tiefsinn überragte er sie Alle, sie aber hatten die praktische Gewandtheit vor ihm voraus, und selbst Bakunin, als er zum wüsten Anarchisten geworden war, konnte sich greifbarer Ergebnisse seines Wirkens in höherem Maße rühmen, als der ungelenke Deutsche mit seinen treuen Augen und seinem breiten, ehrlichen Lachen.

Auch als Revolutionär war Ruge im besten Sinne ein Deutscher. Er verabscheute den Königsmord und hat jedes Attentat mit den stärksten Worten verdammt; er conspirirte dreißig Jahre lang, aber nicht, wie seine romanischen Freunde, aus Liebe zum Complotiren, nicht wie jener kürzlich gestorbene Franzose, Blanqui, der auf die Frage des Richters nach seinem Berufe, mit theatralischem Pathos erwiderte: „Conspirator“, sondern um der Sache willen, der er biete. Und als er merkte, daß ihn Italiener, Spanier, Rumänen und Russen im Londoner Exil mißbrauchten, daß sie sich seines Namens bediente, um ihre geheimen Anschläge mit ihm zu decken, da schnitt er tapfer den Faden entzwei, der ihn mit jenen verknüpfte, und zog sich aus dem europäischen Revolutionscomité zurück, um in dem Idyll von Brighton sich für immer zu bergen. Es waren ihm über manche Sorte von Exulanten gründlich die Augen aufgegangen.

Man muß dies im Auge behalten, um Runge gerecht zu würdigen. Es haben ihn Viele, die nicht werth waren, ihm die Schuhriemen zu lösen, als einen Phantasten verlacht. Andere schalten ihn einen sentimentalen Moralisten. Von alledem ist er nichts gewesen, aber voll und ganz ein Idealist war er, von dem Anfange seines Wirkens bis zum Ende. Als solcher hat er sein Vermögen, seine Ruhe, seine Zukunft und die Heimath unbedenklich für die Freiheit geopfert, die er sich zur Göttin erkoren hatte. Als solcher wird er auch fortleben. Seine Bücher werden vergessen sein; wer spricht heute noch von seinen philosophischen Untersuchungen, von seiner „Vorschule der Aesthetik“, seiner Erörterung über das Wesen des Humors? Auch seine vortrefflichen Uebersetzungen werthvoller englischer Werke, der Briefe des Junius, der Geschichte Buckle’s, obgleich sie ansehnlich beigetragen haben zur Entwickelung des geistigen Lebens in Deutschland, werden vielleicht nicht allzu lange seinen Namen in die Zukunft forttragen. Das kommt und verschwindet wie nach Homer die Blätter im Walde. Aber so lange eine Erinnnerung vorhanden sein wird an die Glanztage der deutschen Demokratie, so lange Kunde bleiben wird von dem Sturme und Drange, dem Ringen und Leiden jener tapferen Vorkämpfer deutscher Volksentfaltung, auf deren Schultern wir als die glücklicheren Epigonen stehen, so lange wird auch Arnold Ruge nicht vergessen sein; denn er hat seinen vollen Antheil an dem, was wir geworden, und worin er auch immer geirrt haben mag; ein Blick auf sein nunnmehr abgeschlossenes Lebem lehrt uns, was wir noch zu erstreben haben. Darum aber auch darf die wehmüthige Rückschau auf sein Leben schicklich in dem Wunsche enden, daß es uns niemals fehlen möge an Männern von seiner Art. Sie sind Deutschlands Stolz in der Fremde.




Am Meere.


So sanft, so ruhig lag es da,
Das Meer in seinen Purpurrosen;
     Ich trat ihm nah –
Mit einem Male hört’ ich’s tosen;

5
Es schlug den Strand mit Donnerwucht

In ew’gem Andrang, ew’ger Flucht –
Erschüttert bebt davon die Bucht.

Ja Meer, das bist du, friedevoll
Und schmeichelnd in den Sonnenstrahlen;

10
     Dein Zorngeroll

Aus Tiefen voll Titanenqualen
Erkennt erst, wer dir nahe tritt;
Nimm auch, was ich Geringes litt,
In dein erhab’nes Zürnen mit!

Neapel, April 1880.

Hermann Lingg.




Die „frommen“ Landsknechte.
Ein kriegerisches Culturbild aus der Reformationszeit.
Nach Leonhard Fronsperger, Adam Reißner und Barthold
dargestellt von Karl Ueberhorst.
(Schluß.)

Die Ausrichtung eines Landsknechtsregimentes, welches zumeist aus 5000 bis 6000, mitunter auch wohl aus 10,000 Knechten bestand, geschah durch einen erprobten, weltberühmten Kriegsobristen, dem der Kriegsherr einen Bestallungsbrief, das offene Werbepatent, sowie den Artikelbrief, welcher den Rechtsbrauch des Regimentes feststellte, zufertigte. Je größer der Ruf desselben unter den stets in enger Verbindung mit einander stehenden Kriegsgurgeln war, desto mehr Volk lief der aufgepflanzten Werbefahne zu, und sicherer Sold, sowie feste Verbriefung der Regimentsverfassung war den „ehrlichen, rüstigen Gesellen, welche zum Kriegsspiele geladen wurden“, dabei zu allen Zeiten die Hauptsache. Georg von Frundsberg und hundert Jahre später der gewaltige Friedländer genossen dieses Vertrauen in hohem Grade, Ersterer durch seine biedere, Zutrauen erweckende Persönlichkeit, Letzterer durch seine unerschöpflichen Hülfsmittel. Beiden ist es daher auch stets gelungen, mit zauberhafter Schnelle große Heere aufzurichten.

Der Feldobrist war unumschränkter Gebieter mit vielfach dictatorischer Gewalt. Unter Karl dem Fünften erhielt er einen Monatssold von vierhundert Gulden rheinisch, nebenbei für acht Trabanten, welche ihn stets und zwar in wunderlichster Tracht umliefen, für Dolmetsch, Caplan, Schreiber, Herold und vier gerüstete Pferde eine Monatszulage von zweihundert Gulden. Nach ihm erscheint der Schultheiß als wichtiger Beamter der soldatischen Republik. Kundig des Rechtes, muß er in die Hand des Obristen geloben, „dem Armen wie dem Reichen, Niemand zu Lieb noch Leid, den anvertrauten Stab zu führen“. Er bezieht Hauptmannssold: monatlich vierzig Gulden. Sowohl als öffentlicher Ankläger, wie als Vollstrecker des Urtheils tritt zunächst der furchtbare Profoß in den Vordergrund der Regimentsbeamten. Er hat ebenfalls Hauptmannsrang und Sold; – in seinem Gefolge erscheint der Stockmeister nebst Steckenknechten und als unentbehrliches Requisit damaliger Zeiten Meister Freimann mit Richtschwert und rothem Mantel. War im Lager der Galgen aufgerichtet – ein Gerechtigkeitssymbol, vor dem selbst Karl der Fünfte im Vorbeireiten den Hut abzunehmen pflegte – so begann die Thätigkeit des Profoßen in strenger Beaufsichtigung der Kaufleute, Marketender, des Spielplatzes und der Lagerordnung. Ein anderes, unserer Zeit kaum verständliches Amt ist dem Manne zugetheilt, welcher als Weibel über den dem Regimente nachziehenden Weiber- und Bubentroß der Herrscherstab, oder besser gesagt, den Prügel schwingt. Auch dieser Beamte bezog Hauptmannssold und in seinem Gefolge stolzirten Fähndrich, Lieutenant und Rumormeister einher. Der altgermannische Brauch, Weib und Kind auf den Kriegszügen mitzunehmen, hatte bei den Landsknechtsheeren einen solchen Troß von Weibern und Buben erzeugt, daß nur die strengste Zucht denselben zu bändigen vermochte.

[132] Ob nun alle Ehen, wie der Artikelbrief es vorschrieb, durch den Priester oder doch vor der Trommel eingesegnet waren, wollen wir dahin gestellt sein lassen, immerhin aber beanspruchte der Landsknecht die möglichste Bequemlichkeit, und dieses Verlangen nach häuslichem Wesen und gutem Wissen hat die Unsitte des Weiber- und Bubentrosses bei den deutschen Heeren bis tief in’s siebenzehnte Jahrhundert hinein erhalten. Die Befriedigung der mannigfachen Bedürfnisse machte Heerlager und Marsch höchst schwerfällig, wenn aber Herr Sebastian Schärtlin, der Feldobrist, sein „bequemes Reißbett mit Fürhängen, der Himmel auf eine Säule gestützt“, mit in’s Feld zu nehmen für nöthig fand, so wollen wir den armen Landsknechten ihre Liebe zu häuslicher Gemüthlichkeit nicht allzu sehr verargen.

Die einzelnen Abtheilungen des Regiments hießen Fähnlein, deren jedes vierhundert Knechte zählte. Dem Fähnlein war ein Hauptmann vorgesetzt, und aus der Zahl dieser Hauptleute erwählte der Obrist seinen Stellvertreter. Dieselben waren fast immer durch größere Summen bei der Aufrichtung eines Regiments betheiligt, weshalb das Wohl und Wehe ihres Geldbeutels sowie ihrer Stellung mit dem des Feldobristen eng zusammenhing. Von diesem Gesichtspunkte aus müssen wir die Pilsener Verschreibung der Friedländischen Officiere vom 12. Januar 1634, sowie die Auflehnung des schwedisch-deutschen Heeres gegen Oxenstjerna (20. April 1633) beurtheilen. Auch unter dem großen Kurfürsten sehen wir kurz nach seinem Regierungsantritte sich eine ähnliche Revolte mehrerer Obristen gegen den Kriegsherrn entspinnen, deren Wiederholung der umsichtige und energische Fürst durch allmähliche Errichtung eines fast nur aus Landeskindern bestehenden Heeres zuvorzukommen wußte.

Dem Hauptmann zunächst folgte der Fähndrich, eine Persönlichkeit, von deren Wesen und Benehmen gar oft die Entscheidung des Treffens abhing. Es mußte ein starker, hochgewachsener Kriegsgesell im kräftigsten Mannesalter sein, und das Fähnlein, welches, nebenbei bemerkt, seiner Diminutivbezeichnung wenig entsprach – denn es war eine gewaltige, viele Ellen Seidenzeugs enthaltende Fahne, in deren Weite sich ein Mann bequem einwickeln konnte – wurde ihm vom Obristen unter besonderer Ansprache übergeben.

„Ich befehle Euch das Fähnlein,“ pflegte er zu sagen, „damit Ihr schwöret, Leib und Leben bei demselben zu lassen, also, wenn Ihr werdet in die Hand geschossen, darinnen Ihr das Fähnlein traget, daß Ihr es in die andere Hand nehmet, oder werdet Ihr an derselben Hand geschädigt, daß Ihr das Fähnlein in’s Maul nehmet und fliegen lasset. Sofern Ihr aber von dem Feinde überrungen werdet, so sollt Ihr Euch darein wickeln und Leib und Leben drinnen lassen.“

Also lautete des Obristen Anrede, welche von den todesmuthigen Herzen ihrer vollen Bedeutung, ihrem eigentlichen Wortlaute nach aufgefaßt sein mag, denn fast keine Schlacht, kein Treffen finden wir verzeichnet, in welchem nicht einem tapferen Fähndriche auf diese Art das anvertraute Fähnlein zum Leichentuche geworden.

Die Verfassung der Landsknechte, welche Kaiser Max selbst niederschrieb und drucken ließ, war uraltem, deutschem Herkommen

Der Feldweybel.
Originalzeichnung von Adolf Neumann

entlehnt. Für beleidigte Ehre trat der Zweikampf ein, wobei aber als ehrliche Kampfeswaffe nur das kurze Landsknechtsschwert erlaubt und, im Gegensatz zur wälschen Sitte, der Stich verboten war. Prügelstrafe, Schimpfreden etc., die Auswüchse einer späteren Zeit, gab es nicht, denn der unabhängige, freie Mannessinn des Gesellen, der durch adelige Geburt oder in seinem früheren Berufe daheim durch Zunft und Bruderschaft vor Verunglimpfung geschützt war, beugte seine persönliche Freiheit und Ehre auch im Feldlager nur unter solche Gesetze, welche ihm dieselben gewährleisteten. So entstand eine Gerichtsordnung, die, in Malefizsachen allerdings vielfach auf Strafbestimmungen der Carolina (Kaiser Karl’s des Fünften Halsgerichtsordnung) fußend, doch im Uebrigen ein durchaus öffentliches Verfahren vorschrieb, bei welchem der Schultheiß unter Beistand von zwölf aus den Knechten gewählten Schöffen auf freiem Felde nach Art der Fehme die Bank spannte. Alles, was in’s bürgerliche Recht einschlug, wurde ohne Ceremonie erledigt; die Malefiz- oder peinlichen Fälle aber erforderten jene germanische Umständlichkeit, welche wir noch bis in unser Jahrhundert hinein sich bei allen Gerichts-Verhandlungen breit machen sehen. Malefizfälle wurden meistens, wenn auch auf zwiefache Art, mit dem Tode gestraft. Im ersteren Falle ward der arme Sünder dem Nachrichter übergeben, damit ihm dieser mit einem Schwerte „den Leib entzwei schlage, also, daß der Leib der größere und der Kopf der kleinere Theil sei“. Im anderen Falle trat „das Recht der langen Spieße“ ein, eine Vergünstigung, welche sich das Regiment vielfach in seinem Artikelbriefe vorbehielt und dessen letzte Reste sich als Gassen- oder Spießruthenlaufen bis zu Anfang unseres Jahrhunderts bei den deutschen Heeren erhalten haben.

Beim Recht der langen Spieße werden einundvierzig Knechte als Schöffen gewählt. Während der Verhandlung halten die Fähndriche ihr Fähnlein zusammengewickelt mit der Spitze in die Erde gestoßen; denn unbestrafter Frevel lastet auf einem der Genossen und eher nicht – so will es der strenge, heilige Brauch – dürfen dieselben wieder fliegen, als bis das Verbrechen durch den Todesspruch gesühnt ist. Ist derselbe unter Zustimmung des umstehenden Ringes gefällt, so bedanken sich die Fähndriche beim gemeinen Mann für so ehrliches Regiment, werfen ihr Fähnlein in die Höhe und ziehen gegen Sonnenaufgang dem Richtplatze zu. Nachdem hier für den armen Sünder durch drei gegenüberstehende Glieder der Knechte die Todesgasse gebildet, wird derselbe an das eine Ende derselben geführt. Den Rücken der Sonne zugekehrt und die Spitze des Fähnleins dem Verurtheilten zugewendet, stehen die Fähndriche am anderen Ende der Gasse. Auf gegebenen Trommelschlag senken sich die Spieße, der Profoß schließt den Verurtheilten aus dem Eisen, und nachdem er ihn um Verzeihung gebeten – denn, „was sie (die Schöffen) gethan, wäre wegen guten Regiments geschehen“ – stößt er ihn mit drei Schlägen auf die Schulter, im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, in die todbringenden Spieße. Sobald der Gerichtete verschieden, spricht das Regiment knieend ein Gebet für ihn, umschreitet dreimal in geschlossenen Gliedern den Leichnam und zieht dann, nachdem sich der Profoß wegen „ehrlicher Führung“ bedankt, in’s Lager zurück.

[133] Ein Landsknechtsregiment bot in seiner äußeren Erscheinung eines der buntscheckigsten Bilder dieser an Farben- und Kleiderpracht ohnedies so überreichen Zeit. An gleichmäßige Bekleidung, an auch nur einigermaßen übereinstimmende Bewaffnung war nicht zu denken, es sei denn, daß in vereinzeltem Falle Nürnberg im Schweizerkriege seinen Söldnern rothe Röcke angezogen. Je nach Laune und Vermögen bewehrt und gekleidet – der Eine in Blechkappe, Brustharnisch und Eisenschurz, der Andere in eng anschließender, den ganzen Kopf einhüllender Gugel, auf der ein gewaltiges Federbarett thronte, der Dritte wieder in buntschimmerndem Wamms mit prächtig aufgebauschten Aermeln, dazu Halsberge und Panzerkragen von Stahlringen, so zogen sie in den Krieg – aber bei keinem fehlte jenes charakteristische Merkmal des Landsknechts – die gewaltige Pluderhose, welche in unendlicher Weite, oft bis zu dreißig Ellen, auf’s Knie, ja, bis zur Ferse herabfallend, die Mode damaliger Zeit so sehr beherrschte, daß selbst des wortgewandten Musculus, des brandenburgischen Hofpredigers, berühmte Predigt „gegen den Hosenteufel“ dieselbe nicht zu verbannen vermochte.

Denken wir uns zu dieser Tracht die wilden, sonnenverbrannten Gesichter von verschiedenartig zugestutzten Bärten umrahmt; denken wir uns jene Riesengestalten bewehrt mit langem Spieße, mit Hellebarde von absonderlichster Form oder gewaltigem, zweihändigem Schlachtschwerte, mit Knebelspieß, mit Fausthammer oder Hakenbüchse, die schwere Pulverflasche an der Hüfte und im Gefechte die Kugeln im Munde führend, Alle aber das kurze, breite Landsknechtsschwert quer vor den Leib geschnallt – denken wir uns 10,000 solcher Gesellen, und wir sehen jenes unüberwindliche Fußvolk vor uns, mit welchem Karl der Fünfte nicht nur die Christenheit im Zaume hielt, sondern auch in Ungarn und Tunis die Ungläubigen schlug, jenes Fußvolk, aus welchem nach vielerlei Umformung die Infanterie aller modernen Völker hervorgegangen ist. An seiner Spitze marschirte der Obrist auf geharnischtem, prächtig geschmücktem Rosse, umsprungen von riesenhaften, phantastisch aufgeputzten Trabanten; ihm folgten die mit goldener Beutekette, mit absonderlich stattlichem Wamms angethanen Fähndriche, die buntschillernde Fahne schwingend, und nun schloß sich das Spiel an: Trommler und Pfeifer, Ersterer auf seinem einer Tonne an Größe wenig nachstehenden Instrumente jenen Sturmmarsch schlagend, welcher, durch fünf Schläge in drei Schritte eingetheilt und vom Landsknechtshumor durch den uralten, artigen Trommelreim. „Hüt’ Dich, Bau’r, ich komm!“ interpretirt wird – hinterdrein aber ergoß sich der in regellosem Behagen singend und fluchend daherziehende „helle Haufen“, des mit seinem Blutgefolge finster einherreitenden Profoßen wenig achtend; den Schluß bildete endlich der unübersehbare Schweif von Weibern und Buben unter ihrem grotesk aufgeputzten Weibel, umkläfft von ganzen Rudeln bissiger Hunde.

Dem zierlichen Geschmacke des Franzosen scheint der phantastisch daherschreitende Landsknecht nicht besonders zugesagt zu haben; denn ein französischer Schriftsteller, Grollier, schreibt in seiner „Erstürmung Roms“ von ihnen, „daß ihr Barett seiner Größe wegen mit dem Kopfe schlecht harmonire, daß ihre Hosen zu bauschig, die Schuhe zu weit, noch weiter aber ihre Harnische

Der Profoß.
Originalzeichnung von Adolf Neumann

seien, sodaß in Beschuhung und Kleidern bei diesem Volke nichts vorhanden, was die Augen des Zuschauers erfreuen könne.“

Die reiche Beute an Kirchengewändern, an Geschmeide, Sammet und Seide, welche den Landsknechten bei der Einnahme Roms 1527 zu Theil wurde, mochte die übermüthigen Gesellen allerdings zu noch abenteuerlicherem Aufputze verleitet haben. Trugen sie doch die erbeuteten Gemmen, fast unschätzbare Kleinodien, in die struppigen Bärte geknüpft, und bei den Worten des Bußpredigers von Siena: „Liebe Gesellen, raubet und nehmet Alles, Ihr müßt doch Alles wieder ausspeien; denn Pfaffengut und Kriegsgut gehet wieder hin, als her“ – erschien es ihnen jedenfalls ergötzlicher, sich mit der gewonnenen Beute zu schmücken, als dieselbe zu verwerthen.

Wie toll es während dieser Tage in Rom zugegangen, schildert uns Reißner, Frundsberg’s Biograph, auf das Anschaulichste. Processionen aller Art durchzogen die Straßen, aber Landsknechte in Cardinalsgewänder gehüllt und auf Maulthieren reitend waren es, welche den hohen Clerus vertraten. Eine päpstliche Tiara auf dem buschigen Haupte, in vollem Pontifer-Ornate ritt Sandizl, ein Doppelsöldner aus oberdeutschem Adel, mit seinem Gefolge toller, als Cardinäle und Bischöfe verkleideter Landsknechte zur Engelsburg, in welche sich Papst Clemens geflüchtet. Dort brachte er Letzterem unter parodirendem Segensspruche einen Trunk aus; sein Gefolge warf sich nieder, that ihm trinkend Bescheid und schrie, sie wollten von jetz auf Päpste und Cardinäle machen, welche dem Kaiser gehorsam seien und nicht, wie die früheren, gegen das Gebot des Evangeliums Unfrieden und Blutvergießen angestiftet. Nachdem hierauf Sandizl Luther als echten Papst ausgerufen und sein groteskes Gefolge durch Aufheben der Hände und den Jubelruf: „Luther Papst! Luther Papst!“ die Wahl bestätigt, zog die ganze Clerisei johlend weiter.

So sehr dieses wilde Gebahren unsere gesittete Zeit auch anwidern mag, immerhin dürfen wir dabei nicht vergessen, daß Papst Clemens den Landsknechten nicht nur als leibhaftiger Antichrist, sondern auch als eigentlicher Anstifter des Krieges galt. Zudem war der Sold monatelang ausgeblieben und das halb verhungerte Kriegsvolk von seinen Führern ausdrücklich auf die Plünderung Roms vertröstet worden. Und gerade bei dieser Plünderung bewährt sich deutsche Manneszucht auf das Glänzendste und trägt über Beutelust den Sieg davon; denn während Spanier und Italiener von vornherein plündern, halten die Deutschen ihre Reihen bis zur gänzlichen Sicherung der eroberten Stadttheile fest geschlossen. Aber auch das deutsche Gemüth, Mitleid und Erbarmen gegen wehrlose Frauen, ist den hartgesottenen Kriegsgesellen nicht ganz abhanden gekommen; denn wenn die Wälschen und Spanier kein Erbarmen, keine Schonung gekannt in ihren viehischen Begierden, so begnügen sich die vielgelästerten deutschen Barbaren mit Essen und Trinken und einem Stück Lösegelde, das, bescheiden genug, zum öftern in einem Stück Seide besteht, welches ihnen eine womöglich noch stattlichere Pluderhose verspricht.

Immerhin also mögen wir diese so gern zur Schau getragene Prunksucht anderer guten Eigenschaften halber ebenso übersehen, wie sie schon Kaiser Max bei einer über die Kleiderpracht seiner Heergesellen eingelaufenen Klage den Hofleuten gegenüber entschuldigt: „Ach, was närrischer Bekümmerniß ist das? Gönnt [134] ihnen für ihr unselig und kümmerlich Leben, dessen Endschaft sie stündlich gewärtig sein müssen, ein wenig Freud und Ergötzlichkeit! Sie müssen oftmals, wenn Ihr dahinter stehet, davornen die Köpfe zerstoßen. Es ist der Speck auf der Falle, darmit man solche Mäuse fängt. Seid zufrieden und lasset sie machen! Wenn diese Hoffart aufspringt, wagen sie gemeiniglich all ihr Gut, und es währet nit, denn von der Vesper, bis die Hühner aufliegen.“ –

Nicht immer aber werden die Landsknechte wohl so prunkhaft einhergezogen sein, und schlechtes Wetter, ausbleibender Sold, sowie Eilmärsche über die unwegsamen Alpen ließen sie oft mit zerrissenen Schuhen die lombardische Ebene betreten. Aber mochten sie noch so abgerissen und zerlumpt, noch so hungrig sein – sie hatten Löwenmuth im Herzen, sodaß Frundsberg dem Venetianer Alviano auf dessen Spott ebenso derb wie zuversichtlich erwidern konnte: „Ich hab’ nackte Knaben, wenn aber jeder einen Pokal Wein im Busen hat, so sind sie mir lieber denn die Venediger, die Harnisch tragen bis auf die Füße.“ –

Von allen Kriegsobristen damaliger Zeit ist Frundsberg vielleicht der einzige, welcher von dem Prunke seines Standes wenig oder gar nichts zur Schau trug. Sein uns von Holbein dem Jüngeren hinterlassenes Portrait stellt ihn in einfacher Kriegsrüstung, die Hellebarde auf der Schulter, dar; auf Märschen ritt er statt des ausgeschmückten Hengstes ein Maulthier; in der Schlacht aber ritt er stets zu Fuß im ersten Gliede der gevierten Ordnung, und bei Pavia sehen wir den Alten die Landsknechte in einer befremdlichen Vermummung zum entscheidenden Angriffe führen. Im Gegensatze zu den von Goldstücken, von Sammet und Seide starrenden Harnischscapulieren der französischen, wie spanischen Ritterschaft wirft er eine Franziskanerkutte über den Harnisch und kämpft in ihr die Schlacht durch. Uns möchte dies, namentlich bei einem so geschworenen Gegner römischer Pfaffen, wie Frundsberg war, lediglich als Verspottung der Mönchsorden erscheinen. Zu jener Zeit aber galt das geistliche Gewand (Luther selbst legte bekanntlich erst gegen Ende des Jahres 1524 die Augustinerkutte ab) noch als das würdigste Kleid des gottesfürchtigen, zum Tode bereiten Mannes. Wenn Frundsberg in der Tracht einer gottgeweihten Brüderschaft auf dem Schlachtfelde fiel, so versöhnte er, nach dem Glauben der Zeit, den Himmel mit seinem blutigen Handwerke.

Die Musterung der geworbenen Knechte geschah durch einen vom Kriegsfürsten bestellten Musterherrn und zwar derart, daß jeder Angeworbene eine Art Pforte, welche, wie bei dem römischen Joche, aus drei Spießen gebildet war, in voller Kriegsrüstung vor dem Musterherrn passiren mußte. Nach Güte und Art der Bewaffnung ergab sich dann der Sold, der bei vorzüglich Geharnischten, sowie bei den mit Hakenbüchse, Kraut und Loth versehenen Schützen auf Doppelsold stieg. Der einfachste Sold des Landsknechts ward von Max auf dem Kostnitzer Reichstage 1507 zu vier Gulden rheinisch monatlich festgestellt. Diese für die damalige Zeit beträchtliche Löhnung erhielt sich auch bei den Heeren Wallenstein’s, wobei Letzterer aber schon begann, durch die auf seinen Besitzungen fabrikmäßig betriebene Herstellung von dauerhaften Strümpfen und Schuhen, wie auch Harnischen für ausreichende Bekleidung und Bewaffnung seiner Truppen zu sorgen. Wir vermögen nicht anzugeben, ob diese Uranfänge einer Uniform den Knechten gratis verabfolgt oder in ihren Sold eingerechnet wurden, bei der knappen Sparsamkeit aber, welche der reichste Mann des damaligen Europa trotz fürstlicher Hofhaltung und vielfacher eben so verschwenderischer Geschenke in seiner musterhaften Verwaltung eingeführt, glauben wir das Letztere voraussetzen zu dürfen.

Die Schlachtordnung der Landsknechte bestand aus großen, fest in einander geschlossenen Haufen. Im Dreißigjährigen Kriege Tertien genannt, wirkten sie hauptsächlich durch die Wucht des Nachschubs, sodaß der durch das Loos gewählte voranstürmende „verlorene Haufen“, von dem im Sturmschritt nachfolgenden „hellen Haufen“ unaufhaltsam gegen die feindliche Schlachtordnung getrieben, meistens in der That verloren war. Die „gevierte Ordnung“ der deutschen Landsknechte galt, gleich der macedonischen Phalanx, für unüberwindlich.

Nachdem sie sich vor Beginn des Treffens zum Gebete niedergeworfen, auch wohl eines der neuen Kirchenlieder angestimmt, schütteln sie ausstehend alsbald nach alter Sitte den Staub von Wamms und Schuhen und senken die Spieße. Im ersten Gliede schreitet an heißen Tagen der Feldobrist selbst, das zweihändige Schwert führend, neben ihm die Hauptleute des Regiments. Da sehen wir den „Vater der frommen Landsknechte“, Herrn Georg Frundsberg, seinen Kindern tapfer vorankämpfen. Er ist ein riesenstarker Mann von gewaltigem Leibe, der ein Roß in vollem Laufe aufzuhalten vermag – bei jedem Streiche holt er tiefaufseufzend Athem, aber jeder Streich erlegt einen Gegner, und nicht selten ist er es, welcher den Nachdrängenden mit Schwert oder Hellebarde die erste Lücke in die feindliche Ordnung erschließt.

„Her! her!“ war der Schlachtruf, mit dem die Landsknechte auf den Gegner eindrangen, ein eigentliches Feldgeschrei aber blieb ihnen unbekannt, immer jedoch mag dieses wild über Pavias Schlachtfeld dahinbrausende „her! her!“ Franz dem Ersten und seiner in bunter Pracht strahlenden Ritterschaft noch lange hernach in den Ohren gegellt haben. Herausforderungen und Zweikämpfe vor der Fronte waren an der Tagesordnung, und wie einen Helden Homer’s sehen wir, das Haupt mit Kränzen geschmückt, in der Schlacht bei Ravenna Herrn Fabian von Schlabrendorf, den riesigsten Mann seiner Zeit, vor die Front treten, einzelne Spanier zum Zweikampfe herausfordern und seinen Gegner alsbald erlegen.

Die Blüthezeit der Landsknechte fällt zugleich in die Glanzepoche der Meistersinger, jener behäbigen Poeten, welche, wenn auch in zünftiger, nach strengen Gesetzen der Tabulatur geordneter Form, die ritterliche Dichtkunst der Hohenstaufen in die schirmenden Mauern ihrer Städte gerettet. Wenn es daher bei den Landsknechten an tollen Schwänken und fröhlichen Liedern nicht gefehlt, wenn sich sogar eine eigene Landsknechtspoesie ausgebildet, so kann uns das bei dem Vorleben dieser kriegerischen Poeten nicht Wunder nehmen. Da sie zumeist dem Stande entsprungen waren, in welchem die Muse eine sorgfältige, wenn auch zünftige Pflege fand, so gestaltete sich jede Begebenheit dieses an wechselvollen Abenteuern so überreichen Zeitalters in dem Munde der lebensfrohen Gesellen zu einem frischen Liede.

Jedes Ereigniß, sei es nun, daß „Franz von Sickingen, das edel Blut, der hat viel Landsknecht gut“, in seiner Burg Ranstuhl (Landstuhl) ein so tragisches Ende gefunden, oder König Franz bei Pavia geschlagen und gefangen, sei es die Hinrichtung Sebastian Vogelberger’s, der schmalkaldische Krieg, das Loos des sächsischen Kurfürsten oder die Gefangenhaltung Philipp’s von Hessen – alles wird in theils derbem, theils zierlichem Reime wiedererzählt.

Daß die religiösen Kämpfe in der Landsknechtsmuse eine so große Rolle spielen, wird durch die Zeitverhälnisse bedingt. Den früheren Söldnerbanden klebte vielfach der Begriff des Verächtlichen an, jetzt aber verlieh die Idee der religiösen Nothwehr, das Bewußtsein, um geistige Freiheit zu streiten, dem Kriegshandwerke die Bedeutung eines christlich erlaubten Standes. Luther selbst lehrte, „in welchem Sinne fromme Kriegsleute streiten sollten“, und wenn die Benennung „fromme Landsknechte“ vielleicht anfänglich auch nur in der Bedeutung des lateinischen „virtus“, wie Barthold annimmt, aufgefaßt sein mag – zur Zeit der Reformation und in deren Folgezeit ist diese eigenthümliche Bezeichnung sicher nur im evangelischen Sinne Luther’s gebraucht worden.

Das kraftvolle: „Ein veste Burg ist unser Gott“ des großen Reformators, dessen bildliche Sprache lediglich dem Kriegswesen entlehnt ist, fand in den Herzen der Landsknechte lebendigen Wiederhall, und ironisch genug behandelt „Peter Stubensol, viel guter Gesellen kennen ihn wohl“, den Statthalter Christi:

„Der Papst thut so die Schäflein weiden:
Er nennt sich der allerheiligst Mann,
Und hebt doch bei den Christen an
Sie helfen morden, wie ich sag –
Ist das nit jämmerliche Klag?“

Auch auf den bekannten Dr. Eck ist der Straßburger Poet nicht gut zu sprechen:

„Man sagt, man bedürf’ keiner Kriegsleut’ mehr;
Denn Doctor Eck mit seiner Lehr
Hab in den ‚Dekretorum‘ funden,
Man mög zu aller Zeit und Stunden
Hauptleut und Obersten entbehren;
Er will sonst in der Bibel lehren,
Wie sie die Ordnung sollen schließen – –
Er ist auch ein blutgierig Mann
Auf alte Gulden, die han viel Gran.“

[135] Gerne preist der Landsknecht die Vorzüge seines Standes. „Des Knaben Wunderhorn“ hat uns ein derartiges Lied aufbewahrt, von welchem wir die bezeichnendste Strophe wiedergeben:

„Beim Bauern muß ich dreschen
Und essen saure Milch.
Belm König trag ich volle Fleschen (Flaschen),
Beim Bauern groben Zwilch.
Beim König tret ich ganz tapfer ins Feld,
Zieh daher als ein freier Held,
Zerhauen und zerschnitten (in geschlitzter Tracht).“

Leider sind uns von den meisten Liedern nur Bruchstücke, vielfach auch nur die Angaben des „Tones“ , das heißt der Melodie, nach welcher sie gesungen wurden, überkommen.

Selbst der wackere Frundsberg dichtet nach der Schlacht von Pavia, dem Ehrentage seines ruhmreichen Lebens, ein Liedlein, welches er sich auf seinem Schlosse Mindelheim vierstimmig mit Instrumenten vortragen läßt, dessen letzter Vers aber zur Genüge zeigt, wie man die Verdienste des alternden Helden belohnt:

„Kein Dank noch Lohn
Davon ich bring’,
Man wiegt mich ring (gering)
Und ist mein gar
Vergessen; zwar
Groß Noth und G’fahr
Ich bestanden hau,
Was Freude soll ich haben
     dran?“

Ob das schöne Soldatenlied:

„Kein sel’ger Tod ist in der
     Welt,
Als wer vor’m Feind erschlagen
Auf grüner Haid’, im freien
     Feld
Darf nit hören groß Weh-
     klagen!“

dieser oder einer späteren Zeit entsprungen vermögen wir nicht anzugeben.

Die Namen der Obristen und Hauptleute, welche Kaiser Max bei seiner Schöpfung unterstützt, sind uns zumeist verloren gegangen. Der Franzose Brantome hält es für eine Schande, viel von Ihnen zu schreiben, „weil so viele Geschichten von ihnen reden“. – Franz von

Der Fähndrich.
Originalzeichnung von Adolf Neumann

Sickingen, der sowohl für die deutsche, wie auch für die französische Krone oft Landsknechte anwarb, darf doch den eigentlichen Landsknechtsführern nicht zugerechnet werden; denn als kleiner Dynast führte er sowohl die Fehde gegen Worms, wie auch gegen Trier, Hessen und Pfalz auf eigene Faust und Rechnung. Frundsberg dagegen Schärtlin, Conrad von Bemelberg, seiner hessischen Abstammung halber „der kleine Heß“ genannt, Sebastian Vogelberger sowie die Gebrüder Jacob und Ma Sittich von Ems können als Urbilder echter Landsknechtsobristen gelten. Des tapfern Claus Seidensticker’s, Hauptmanns und Profoßen, erwähnen wir deshalb, weil er der Urahne des durch seine vortrefflichen Lehrbücher verschiedener Sprachen in dem Gedächtnisse vieler Leser gewiß fortlebenden Philologen Seidensticker ist. Bei der Erstürmung Roms war er der Erste, welcher die Mauer erstieg.

Sowohl der Hang zu Abenteuern und gutem Solde wie das verderbliche Werbesystem hat das Landsknechtswesen Jahrhunderte lang fortwuchern lassen. Streng genommen, erhielt es sich in seinen Resten noch bis auf unsere Zeit; denn noch vor wenigen Jahren sahen wir manch deutschen Gesellen, dem außer persönlicher Tapferkeit allerdings nur wenig Gutes nachzurühmen sein mochte, sich auf fremden Schlachtfeldern verbluten. Die Schweizerlegion des Krimkrieges und die berüchtigte Fremdenlegion Algiers enthielten verhältnißmäßig ebenso viel deutsches Element, wie die nordamerikanischen Heere während des großen Bürgerkrieges. Wir sind weit davon entfernt, letztere Streiter mit den gewöhnlichen Soldknechten der Schweizer und der Fremdenlegion vergleichen zu wollen, können jedoch nur wünschen, daß die Volkskraft in Zukunft dem heimathlichen Boden erhalten bleiben und die auch jenseits des Oceans erprobte deutsche Kriegstüchtigkeit sich nur zum Schirm und Schutz des eigenen Vaterlandes bewähren möge.




Blätter und Blüthen.

Vermißte. (Fortsetzung von Nr. 41, Jahrgang 1880):

30) Ernst Altel, 1845 zu Glatz in Schlesien geboren, Schriftsetzer, zu Anfang 1877 zu Frankfurt am Main in Condition, ist von dort verschwunden und seitdem für seinen einzig noch lebenden Bruder verschollen.

31) Ein Bruder sucht seine zwei Schwestern: Emilie und Mathilde Bils, Töchter des 1853 zu Königsberg in Preußen verstorbenen Premierlieutenants bei der Artillerie und Zeichenlehrers Friedrich Bils. Erstere war um 1866 in Stellung beim Hofconditor Kranzler in Berlin, letztere in einem Mehlgeschäft am Potsdamer Thor daselbst. Der Bruder begiebt sich Ende März nach Amerika.

32) Georg Burdach, Seemann, 1856 in Berlin geboren, fuhr den 2. September 1874 mit einem Kauffahrtschiff nach Savannah, war 1876 wieder in Hamburg, wo er eine Sendung von den Seinigen, die er seitdem ohne Nachricht gelassen hat, in Empfang nahm.

33) Der Knabe Heinrich Gräwe, Sohn des Chaussee-Arbeiters Wilhelm Gräwe zu Colonie, geboren am 22. März 1867, hat sich am 15. September vorigen Jahres aus dem Hause seiner Eltern entfernt und ist bis jetzt noch nicht zurückgekehrt. Derselbe ist mittler Statur, hat bleiche Gesichtsfarbe, längliches Gesicht, blonde Haare und war bekleidet mit einem gestreiften, braunen Sommer-Buckskin-Anzuge, grauer Klappmütze und Schuhen.

34) Rudolph Greifzu aus Elberfeld, Bildhauer und etwa dreißig Jahre alt, der einzige Ernährer seiner alten Mutter, einer Wittwe, ist am 18. Mai 1878 von dieser in Liebe und Frieden geschieden, um in Stuttgart Beschäftigung zu suchen. Er versprach, gleich nach seiner Ankunft dort an sie zu schreiben, aber es ist von dort keine Nachricht, weder von ihm, noch über ihn, eingelaufen, und alle Nachforschungen nach ihm sind bis jetzt erfolglos gewesen.

35) Christian Rudolf Griem, Zimmermann, 1849 in Trittau in Holstein geboren, wanderte im Mai 1870 nach Nordamerika, wohnte bis Mitte 1870 in Philmont, Columbia C., St. New-York, wollte von da nach Südamerika, ist aber seitdem verschwunden.

36) Gottfried Hammer, geboren in Böhlitz bei Mutzschen in Sachsen, lebte zu Simferopol im russischen Gouvernement Taurien, von wo er bis 1875 seine Schwester in der Heimath unterstützte. Seitdem verschollen.

37) Paul Otto Hanns, Sohn der Wittwe Hanns in Meißen, jetzt im fünfundzwanzigsten Jahre stehend, hat 1872 als Tischlergeselle seine Wanderschaft angetreten, kam über Leipzig in das nördliche Deutschland und die Rheingegenden, hat unter Anderem in Hildesheim, Wolfenbüttel, M.-Gladbach und Dortmund in Arbeit gestanden und seiner Mutter im März 1876 zum letzten Mal von Elberfeld aus geschrieben. Hier, wie im folgenden Jahre in Sangerhausen, hat er sich zum Militärdienst gestellt [136] und wurde zurückgeschrieben, 1878 aber, abermals in Elberfeld, wegen Untauglichkeit freigesprochen. In Folge einer Nachfrage der Mutter bei der königlichen Polizeidirection in Elberfeld kam die Nachricht, daß Hanns am 26. November 1878 sich dort polizeilich abgemeldet habe in der Absicht, in die Heimath zurückzukehren. Der seitdem spurlos Verschollene ist von untermittlerer, untersetzter Statur, blondhaarig und durch eine Narbe von einem Stemmeisenschnitt über dem einen Auge besonders kenntlich.

38) Karl Hennig, Maurer aus Röderau bei Riesa, 1841 geboren, zuletzt in Copitz bei Pirna wohnhaft, von wo er im Herbst 1876 nach Hamburg ging; von da reiste er mit dem Schiffe „Herschel“ nach Australien. Am 23. März schrieb er aus Adelaide (Hôtel „King of Hanover“, Rundel-Street), daß er Lust habe, später Sidney oder Neu-Seeland zu besuchen. Auf zwei Briefe kam seitdem keine Antwort von ihm.

39) Am 15. December vorigen Jahres verließ der noch nicht ganz sechszehn Jahre alte Sohn des Landbriefträgers Hentschel, Hermann Hentschel, heimlich, in Abwesenheit der Eltern und in dürftiger Kleidung, wahrscheinlich aus Furcht vor einer zu erwartenden Strafe, die elterliche Wohnung in Mückenhain am Bahnhof Rodersdorf[WS 1] im Kreise Liegnitz. Er war bis dahin beim kaiserlichen Postamt III. in Nicolausdorf als Schreibergehülfe beschäftigt gewesen. Noch am 18. December war er in Mückenhain; denn an diesem Tage bat er den Gemeindevorsteher um eine Legitimation, „da er sich vermiethen wollte“, erhielt dieselbe und ist seitdem verschwunden und verschollen. Der junge Mensch ist etwa fünf Fuß hoch, schlank aber kräftig, mit blondem Haar, blauen Augen und rundem Gesicht.

40) Eduard Höhne, aus Oberfriedersdorf bei Neusalza (Sachsen), Hufschmied, reiste mit mehreren Schlossern und Schmiedegesellen am 1. Mai 1863 nach Australien, kam dort glücklich an, hat aber den Seinen nie wieder Kunde zukommen lassen.

41) Max Linus Hoppe, aus Burgstädt in Sachsen, jetzt vierundzwanzig Jahre alt, Sohn des Formenstechers Hoppe, reiste am 2. Mai 1874 von Hamburg auf der englischen Bark „Martha Jackson“ nach Valparaiso, wo er an der Place de Victoria in einem deutschen Bierhause zuletzt gesehen wurde. Ihm fehlt der rechte Zeigefinger.

42) Eduard Wilhelm Hübler, aus Marklissa am Queis, 1849 geboren, Sohn des Schuhmachers und Lederhändlers Chr. W. Hübler, hat den Seinen so lange keine Nachricht von sich gegeben, daß er in Gefahr steht, für todt erklärt zu werden.

43) Am 15. October 1869 reiste Ernst Traugott Knopf (1842 zu Prießnitz in Sachsen-Weimar geboren) mit Frau und drei Kindern, durch Vermittelung des Agenten Louis Knorr in Hamburg mit Schiff „Sanct Katharina“ nach Brasilien, um sich in Donna Francisco anzusiedeln – und ist seitdem für seinen alten in kümmerlichen Verhältnissen lebenden Vater nicht mehr aufzufinden.

44) Eine hochbetagte Wittwe in Tilsit bittet dringend um eine Kunde von ihrem Sohne, dem Riemergesellen Theodor Koose, der vor acht Jahren in die Fremde gegangen ist und seit dem Juli des vorigen Jahres nichts von sich hat hören lassen; sie weiß nur, daß derselbe vom 9. bis 21. August vorigen Jahres im Krankenhanse zu Detmold gewesen und von da nach Schwalenberg im Lippischen gereist ist, ohne dort Arbeit gefunden zu haben.

45) An die „Gartenlaube“ ergeht sogar die Bitte: die Eltern eines Kindes zu suchen, nämlich den Menagerie- oder Schaubuden-Besitzer Johann Stephan Krichel aus Koffern bei Aachen und dessen Ehefrau Marie, geborene Krosse aus Leipzig. Beide haben vor fünf Jahren Verwandten ein kränkliches und geistesschwaches Kind zurückgelassen und seit drei Jahre keine Nachricht von sich gegeben. Ihr dermaliger Aufenthaltsort kann, ihres Gewerbes wegen, den Behörden kein Geheimniß sein.

46) Gustav Liebmann, noch unter Vormundschaft stehender junger Mensch, geboren 1864, der am 8. Februar 1879 bei dem Schleifer Albert Pohl in Niemegk (Provinz Brandenburg) in die Lehre trat, hat sich am 7. September desselben Jahres von dort entfernt und ist seitdem nirgends aufzufinden gewesen.

47) Der Bahnwärter Ludwig in Seifersdorf im Kreise Liegnitz vermißt seinen Sohn, den im December 1857 geborenen Schiffsjungen Ernst Robert Ludwig. Derselbe ist, laut Bericht des Seemanns-Amtes zu Hamburg, am 7. August 1878 mit dem Schiffe „Elsabea“, Capitain Möhlmann, verschollen.

48) Friedrich Wilhelm Ernst von Malßka, ehemals Apothekergehülfe, wird seit 1875 vermißt. Er ist 1847 zu Königsberg in Preußen geboren, diente 1870 bis 1873 bei dem 1. Westfälischen Infanterieregiment Nr. 13, zeitweise als Lazarethgehülfe fungirend, und arbeitete 1875 in einer Fabrik bei Stettin in untergeordneten Verhältnissen. Obrigkeitliche Nachforschungen haben denselben nicht finden können; vielleicht gelingt es diesem öffentlichen Aufrufe, ihn in seinem eigenen Interesse zu einem Lebenszeichen zu bewegen.

49) Hermann Martin, Lohgerber aus Gera, 1856 nach Amerika ausgewandert, war englischer Soldat in Quebec und Gibraltar, dann wieder in New-York und Paladin Bridge etc. Er scheint die Adresse seines Vaters nicht mehr zu kennen; sie ist: Chr. Martin in Gera.

50) Hermann Lebrecht Molfenter aus Ulm, ein nun einundzwanzigjähriger junger Mensch (groß, mager, bleich anstehend, mit braunem Haar und blauen Augen), sandte, auf der Wanderschaft begriffen, am 1. Mai 1879 von Bebra aus seinem Bruder Bernhard, Marinesoldat in Wilhelmshafen, seine Baarschaft von sechszig Mark und seine Uhr mit der Bemerkung, daß er beides nicht mehr brauche. Man wußte, daß er zur Schwermuth neigte. Ob er den Tod gefunden? Oder noch lebt?

51) Von seiner alten Großmutter, die ihn als Waisen erzogen, wird der Handlungscommis Hermann Münster aus Stargard gesucht. Er stand in Condition bei einem Kaufmann in Rostock, den er 1873, damals 18 Jahre alt, heimlich verließ, wahrscheinlich, um zur See zu gehen. Er hat keine Nachricht von sich gegeben.

52) Eine Frau in Sprottau möchte erfahren, wo ihr Mann, der Schlossermeister Karl Ernst Mußwitz, welcher Ende Januar 1880 eine Strafe in Lüneburg verbüßt hatte, hingekommen.

53) Wir bitten diejenigen Leser, welche uns in dem vorliegenden Falle helfen können, uns mit einem ernsten Mahnruf beizustehen, gerichtet an den Klempner oder Mechaniker Albert Peters aus Braunschweig. Sein nun sechsundsiebenzigjähriger Vater hat jetzt auch den letzten der drei Söhne verloren, die daheim seine und seiner Töchter Helene und Elsa Stütze waren; sie stehen nun ganz verlassen da, während der siebenunddreißigjährige jüngste Bruder, der dem Vater schon vielen Kummer bereitet, in der Welt herumschwärmt. Peters ist, nach dem Zeugniß seines Vaters, ein geschickter Arbeiter. Nachdem er seine Frau in Berlin verlassen, tauchte er 1873 als Ingenieur auf einem schwedischen Schiff in Kronstadt bei Petersburg, später wieder in Rustschuk auf. Wo er auch sei, vielleicht stößt doch Jemand auf ihn, der dieses Blatt gelesen: der thue dann, dem greisen Vater und den verlassenen Schwestern zu Liebe, gegen diesen Sohn seine Schuldigkeit!

54) In Tiraspol, einer Kreisstadt des russischen Gouvernements Cherson, stand in der Mitte der sechsziger Jahre der Jäger August Julius Wilhelm Philipp (geboren 1836 zu Forsthaus Schmetzdorf, preußischer Kreis Niederbarnim) bei einem Herrn Liedle in Dienst und mit einem Bäckermeister Rapp in Beziehung. Ihn sucht sein Bruder, nachdem seine Eltern gestorben.

55) Seit dreizehn Jahren läßt der Apotheker-Assistent Karl Raab aus Gewitsch in Mähren (1844 geboren) seine Eltern und Geschwister auf Nachricht von sich warten. Er conditionirte 1867 unter Anderm in Dresden und München und wollte sich nach Kairo wenden. Sollte dort sich keine Spur von ihm finden?

56) Eine alte kranke Mutter in Swinemünde hat einen Sohn, den Conditor Udo Rodig, „draußen in der Welt“. Er ist 1853 geboren und 1870 über Hamburg zur See gegangen. Die „Gartenlaube“ soll ihn der verlassenen Alten suchen.

57) Der Schuhmacher Karl Roßellit aus Mainz, 1833 geboren, 1870 mit Frau und Tochter in Paris, wurde dort während des Krieges als Deutscher ausgewiesen, kehrte jedoch Anfang November 1871 dorthin zurück, wo er in der Rue du Poirier 15 wohnte. Zu Anfang 1872 kam ein Brief mit der Bemerkung zurück, daß der Adressat dort nicht mehr wohne. Auch die deutsche Gesandtschaft forschte vergeblich nach ihm und ist der Meinung, daß er nach Amerika ausgewandert sei. Werden ihn diese Zeilen dort finden und an die Wittwe Charlotte Roßellit erinnern?

58) Zwei Kinder suchen ihren Vater Luzius Salzgeber de Andreas aus Seewis im Canton Graubünden, wo er 1831 geboren ist. Er verließ 1854 seinen Wohnort Gräsch, seine Gattin und einen Knaben zurücklassend, machte als Feldwebel in der Englischen Legion den Krimkrieg mit, etablirte sich dann in Bremen, wohin nun auch seine Frau zog und wo sie ihm noch ein Mädchen und einen Knaben gebar; letzterer starb. Aber nicht lange, so verließ Salzgeber Bremen, abermals mit Zurücklassung von Weib und Kindern, welche nun in die Schweiz zurückkehrten, während er zwar noch einige Jahre aus England Nachricht von sich gab, dann aber für immer schwieg. Die Mutter starb; die Kinder aber möchten wissen, ob sie noch einen Vater haben.




Zu spät entdeckter Einbruch. (Mit Abbildung Seite 125.) Meister Kronberger, der humorvolle Schöpfer unseres heutigen Bildes, ist ein gar arger Schalk. Fräulein Jeanette Müller, der jungen ausgeplünderten Modistin, stehen schier Thränen in den Augen, daß der stattliche Haubenstock, die zierlichen Kragen, die künstlichen Blumen und all der Tand, der so verlockend für Mädchen und Frauen das Schaufenster ihrer Modewaarenhandlung schmückte, nun durch böser Buben Hand auf das Straßenpflaster geworfen wurde. Sie war gestern Abend ruhig schlafen gegangen, im Vertrauen auf den Schutz der heiligen Hermandad, und nun, am grauen Morgen, findet sie vor ihrem erbrochenen Laden die behäbige Polizei in eifriger Unterhaltung mit den Nachbarn der engen Gasse über das Wohin und Woher der Diebe. Es ist ja offenbar eine traurige Affaire, die sich hier in Nacht und Nebel ereignete, und dennoch führt uns der Maler alle Betheiligten, von dem kleinen Jungen auf der Straße bis zu dem Großmütterchen oben am Fenster in recht komischer Situation vor Augen. Wir empören uns nicht beim Anblick des kleinen Bildes – wir lachen nur; denn das ist auch eine Macht der Kunst, daß sie die Schattenseiten des Lebens zu verdecken versteht und selbst dem Elende menschlicher Vergehen eine heitere Seite abzugewinnen vermag.




Der älteste Mitarbeiter der „Gartenlaube“ und der älteste Jugendfreund unseres unvergeßlichen Ernst Keil ist nun diesem und anderen vor ihm dahingegangenen Freunden unseres Blattes, einem Stolle, Bock, Roßmäßler, Beta, die mit ihm den ersten Jahrgang der „Gartenlaube“ geschmückt, nachgefolgt: Ludwig Storch ist in Kreuzwertheim am Main, nahezu 78 Jahre alt (er ist geboren im gothaischen Ruhla am 14. April 1803), am 5. Februar gestorben. Ist er auch im letzten Jahrzehnt unsern Lesern aus den Augen geschwunden, so werden doch die älteren Freunde der „Gartenlaube“ sich mit Dank und Freude der vielen lyrischen und novellistischen Gaben dieses geist- und gemüthvollen Thüringer Dichters erinnern. Er stand in der blühendsten Zeit des Lebens und Schaffens, als Ernst Keil ihm (1856) in dem Artikel „Die Thüringer Edeltanne“, welchem das damals sehr getreue Bild Storch’s beigedruckt ist, ein Ehren-Denkmal setzte. Er selbst hat in den Jahrgängen 1853, S. 480 und 1857, S. 468 interessante Erlebnisse aus seiner Vergangenheit mitgetheilt. Unser Blatt, dem der Todte seine volle Liebe geweiht, ist für ihn auch zum immergrünen Kranze dankbarer Anerkennung geworden. Wie lieb man ihn in seiner Heimath hatte, dafür spricht deutlich, daß eine Anhöhe in der Nähe seines Geburtsortes seinen Namen trägt.


  1. In den seltenen Fällen, wo ein Auslaufen des Lootsenfahrzeuges unmöglich ist, tritt die „Windbaake“ in Thätigkeit. Das ist eine schlagbaumartige Vorrichtung, mit welcher durch Bewegungen nach links und rechts dem gefährdeten Schiffe die Einfahrtslinie zugewinkt wird. Bei nebligem Wetter wird eine Glocke gezogen; sie würde, könnten wir ihre metallene Zunge deuten wohl von mancher Unglücksstunde berichten können. ( Vergleiche auch Jahrgang 1880, S. 568 u. f.)

Anmerkungen (Wikisource)