Textdaten
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Autor: Fritz Kalle
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Titel: Arbeiter-Hülfscassen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 655-656
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Arbeiter-Hülfscassen!

Der Vorschlag, den Ertrag der Wilhelmsspende zur Gründung von Invaliden-, Pensions-, Wittwen- und Waisencassen für Arbeiter zu verwenden, beruht auf einem so glücklichen und doch so naheliegenden Gedanken, daß er Unzähligen aus der Seele gesprochen und vom deutschen Kronprinzen, wie vom Haupte des Comité der Wilhelmsspende, dem ehrwürdigen Moltke, freudig erfaßt worden ist. Als am 15. September dieses Comité dem Kronprinzen in besonderer Audienz über das Ergebniß der Sammlung berichtete und als Erfolg die Summe von 1,739,418 Mark 42 Pfennig, dargebracht von nahe an zwölf Millionen Beisteurern, überreichen konnte, sprach es der Kronprinz offen aus: „er hoffe, daß ein Mittel gefunden werde, wie der dringendsten Noth gerade derjenigen Classen des Volkes abzuhelfen sei, bei denen Irrlehren Eingang gefunden hätten, welche auf Untergrabung und Zerstörung des gesammten Volkslebens gerichtet seien“. So ist man denn an maßgebender Stelle gesonnen, jenen glücklichen Gedanken zu verwirklichen. Unbedingt ist damit ein Weg bezeichnet, der endlich mit Entschiedenheit betreten werden muß, wenn durch Erfüllung vernachlässigter Pflichten wider den schlimmen Geist gewirkt werden soll, der uns in den letzten Monaten seine Gefährlichkeit in so erschreckender Weise gezeigt hat. Möge sich aber Niemand einbilden, daß mit der eben genannten Summe der Wilhelmsspende das Ziel erreicht werden könnte. Von erfahrener und bewährter Seite schreibt man uns neuerdings über die Frage:

„Keinem Widerspruch dürfte die Behauptung begegnen, daß derjenige Arbeiter, welcher das Bewußtsein in sich trägt, daß der erste beste seine Arbeitskraft schädigende Unfall ihn und seine Familie zu Bettlern herabdrücken kann, leicht auf den Gedanken kommt, es müsse der Augenblick dem Genusse gewidmet werden, da die Zukunft denn doch eine unsichere sei. Die Unsicherheit, in der er lebt, muß seine Selbstachtung schwächen, die Aussicht auf den Bettelstab den Sinn für Ehre in ihm ertödten. Das Gefühl der Bitterkeit wird in ihm großgezogen, das Gefühl des Hasses gegen eine Gesellschaft und gegen Institutionen, unter deren Herrschaft es möglich ist, daß selbst ein braver und fleißiger Mann durch vorübergehende oder andauernde Störung seiner Erwerbsfähigkeit in die mißachtete Classe der Almosenempfänger gestoßen wird. Moralische Verwilderung, Versinken in niedrigen Materialismus und andererseits Haß alles Bestehenden und die natürliche Frucht der geringen Sicherheit, welche wir der materiellen Existenz unserer Arbeiter geben. Und diese Zustände werden je länger, je schlimmer. Das heranwachsende Geschlecht wird in denselben schlechten Grundsätzen erzogen, die Kinder aber solcher armen Leute, welche erwerbsunfähig wurden oder starben, ehe jene sich selbst ernähren konnten, sind nicht selten ganz verloren. Aufwachsend im Elend, ohne häusliche Erziehung, der Schule entfremdet, hinausgestoßen auf die Straße, um durch Betteln ihr Leben zu fristen, verfallen sie nur allzu oft vollständig dem Laster. Und daß solcher Kinder nicht wenige sind, das beweist die Statistik der Knappschaften, wonach auf je zehn Bergarbeiter eine Waise unter fünfzehn Jahre kommt.“

Es ist wahrlich keine Uebertreibung, wenn behauptet wird, [656] daß die eben bezeichneten Folgen des Mangels von Einrichtungen zur Sicherstellung der Zukunft der Arbeiter mit in erster Linie Ursache der Empfänglichkeit für die Verführungen der Socialdemokratie sind. Daß das Gefühl, nichts zu besitzen, für den folgenden Tag, für die nächste Woche nicht einen Pfennig auf den andern legen zu können, sondern immer nur von der Hand in den Mund leben zu müssen, selbst in gutangelegten Naturen erst niederdrückend und endlich empörend wirkt, das haben schon jene Männer eingesehen, welche durch Arbeiter-Sparcassen das Selbstgefühl der so hart von allem Besitz Ausgeschlossenen wieder zu erwecken hofften. Die glücklicher gestellte Gesellschaft hat es bereits vielfach als eine Unterlassungssünde eingestanden, daß sie zu wenig gethan hat, um dieses Mißgefühl der Besitzlosigkeit und Zukunftsunsicherheit in den Massen zu solcher Höhe erwachsen zu lassen. Damit aber drängt sich für Jedermann die Pflicht auf, zu thun, was in seinen Kräften steht, um das bisher Versäumte nachzuholen mit Hand anzulegen zur Schaffung der fehlenden Einrichtungen. Die Arbeitgeber müssen jetzt zusammentreten und aus sich heraus Kranken-, Invaliden-, Wittwen- und Waisencassen für die Gesammtheit der von ihnen beschäftigten Arbeiter in’s Leben rufen. Es mögen zu diesem Zwecke alle Arbeitgeber einer Gemeinde, oder wenn diese dazu nicht stark genug ist, eines größeren geographische Bezirkes sich vereinigen, oder was in vielen Fälle noch besser ist, die Genossen eines einzelnen Industriezweiges innerhalb größerer Districte, weil damit der Grund gelegt werden könnte zu einer auch in sonstigen Beziehungen sehr zweckmäßigen Organisation der Gewerbe. Die Einrichtungen der bereits erfolgreich bestehenden Knappschaftscassen für Bergleute werden Denjenigen, welche die Bildung der Cassen in die Hand nehmen, in vielen Beziehungen als Beispiel dienen können. In den Statuten und Berichten jener Cassen wird man die Grundlagen für die hier in Rede stehenden Schöpfungen finden, und eine bereits ziemlich ausgedehnte Literatur (aus der hier besonders der im Jahre 1874 vom „Verein für Socialpolitik“ herausgegebene Band „Gutachten über Alters- und Invalidencassen für Arbeiter“, Verlag von Duncker und Humblot in Leipzig, hervorgehoben sei) wird Anhaltspunkte dafür geben, wie in einzelnen Fällen die Einrichtungen der Knappschaftscassen zu ändern sind und in welcher Weise die nöthige Verbindung der verschiedene Cassen mit einander zu bewerkstelligen ist.

Aber nicht nur der Mühe der Errichtung und der Theilnahme an der Verwaltung der Cassen sollen sich die Arbeitgeber unterziehen, sie müssen auch bereit sein, in die Tasche zu greifen; sie müssen unbedingt, wie die Bergwerksbesitzer, einen Zuschuß zu den Cassenbeiträgen der von ihnen beschäftigten Leute leisten; sie müssen selbst, wo dies nicht anders möglich ist, bereit sein, eine Lohnerhöhung zu gewähren, welche mit den von den Arbeitern zu zahlenden Prämie auf gleicher Höhe steht. Die von Arbeitern und Arbeitgebern zusammengenommen zu leistenden Beiträge werden allerdings, wenn die Unterstützung in Krankheitsfällen und die Pension der Invaliden, Wittwen und Waisen eine auskömmliche sein soll – und dies ist unbedingt nothwendig – ungefähr fünf Procent vom Normallohn der betreffenden Arbeiter betragen; wenn aber auch die Arbeitgeber diese fünf Procent ganz aus ihrer eigenen Tasche zahlen müßten, würden sie dabei auf die Dauer immer noch ein sehr gutes Geschäft machen. Was sind fünf oder auch sechs Procent gegenüber den Lohnsteigerungen der letzten zwanzig Jahre! Es ist ganz richtig, daß jetzt ein freiwillig zu dem gedachte Zwecke gebrachtes Opfer schon in den nächsten Jahren doppelt und dreifältig wieder eingebracht wird. Abgesehen davon, daß die Arbeiter durch Sicherstellung ihrer Zukunft arbeitsfreudiger werden, also mehr leisten, werden sie wieder Interesse am Bestehenden gewinnen und werden nicht mehr so leicht, wie dies bisher geschah, wenn die Conjunctur ihnen günstig ist, Lohnforderungen stellen, welche die rentable Fortführung des Geschäfts unmöglich machen, in dem sie thätig sind.

Daß die Arbeitgeber hier nicht einseitig vorgehen dürfen, daß sie womöglich schon bei der Gründung der Cassen, jedenfalls aber bei der späteren Verwaltung, die Arbeiter mit heranziehen müssen, versteht sich von selbst. In der Mitwirkung der Arbeiter liegt nicht nur die beste Garantie gegen Mißbrauch der Cassen und ein vortreffliches Erziehungsmittel, sondern es wird dadurch die für Herbeiführung des socialen Friedes so wirksame persönliche Annäherung zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, die gemeinsame Thätigkeit im Dienste der Humanität auf die denkbarbeste Weise gefördert.

Mögen alle deutschen Arbeitgeber hier ihre Pflicht, und – füge ich hinzu – ihren Vortheil erkennen, mögen sie sich vereinigen zur Gründung von Arbeiterhülfscassen im weiteste Sinne des Worts! Der Staat, die gesetzgebenden Factoren werden dann gewiß ihrerseits nicht säumen, das zu thun, was sie als nothwendig erkennen, die vom Volke selbst geschaffenen Instiutionen zu unterstützen und in jeder Weise zu fördern. Mit der allgemeinen Durchführung eines Systems guter Arbeiter-Hülfscassen werden alle jene neuerdings vorgeschlagenen Polizeimaßregeln, wie Paßzwang und Aehnliches, sowie alle gesetzlichen Beschränkungen der bestehenden Freizügigkeit überflüssig; die übermäßige Belastung des Armenbudgets der Gemeinden wird beseitigt und, was die Hauptsache ist, eine der wesentlichsten Ursachen des Umsichgreifens der socialdemokratischen Umsturzlehre wird aus der Welt geschafft werden. Darum frisch an’s Werk! Zeigen wir, daß wir Kopf und Herz auf dem rechten Fleck haben!

Fritz Kalle.