ADB:Reimarus, Hermann Samuel
Joh. Albert Fabricius (s. A. D. B. VI, 518 ff.), und bezog sodann 1714 die Universität Jena, wo er Theologie, Philologie und Philosophie studirte; 1716 ging er nach Wittenberg, woselbst er alsbald von der philosophischen Facultät als Docent aufgenommen wurde und auch nach einer längeren Reise, welche ihn 1720–21 nach Holland und England führte, seine Lehrthätigkeit fortsetzte, bis er im J. 1723 einem Rufe zur Uebernahme des Rectorates des Gymnasiums zu Wismar folgte. – Als im J. 1727 (nicht, wie Bd. V, S. 652 lautet, 1737) am Hamburger akademischen Gymnasium der Professor der orientalischen Sprachen, Georg El. Edzardus, mit Tode abging, bewarb sich R. aus Anhänglichkeit an seine Vaterstadt um diese erledigte Stelle, welche ihm auch (1728) [703] übertragen wurde. Am 11. November 1728 verheirathete er sich mit einer Tochter seines früheren Lehrers Fabricius, und 40 Jahre hindurch führte er in größter Pflichttreue sein Amt, welches eigentlich seiner vollen Begabung nicht ganz entsprechen konnte; es ergab sich auch, daß viele Gymnasiasten, welche für ihr weiteres Studium das Hebräische nicht bedurften, ihn um besondere philologische oder philosophische Uebungsstunden baten. Einen an ihn ergangenen Ruf nach Göttingen an Gesner’s († 1761) Stelle schlug er aus. Sein Kenntnißreichthum erstreckte sich auf Philologie, Philosophie, Theologie, Mathematik und Naturwissenschaften, politische und litterarische Geschichte und Staatswissenschaft; in der Philosophie übte vorerst Joh. Franz Buddeus, alsbald aber Wolff einen entscheidenden Einfluß auf ihn aus. Er war ein Mann von gediegenem Charakter, ein scharfer, folgerichtiger Denker und kraft seiner unbedingten Wahrheitsliebe ein Feind des Truges jeder Art. Als Philologe beschenkte er die Wissenschaft mit einer vortrefflichen Ausgabe des Dio Cassius (in 2 Bdn., 1750–52). Hierauf folgte die Schrift: „Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion“ (1755, 7. Aufl. 1798), durch welche er bereits zeigte, welch hervorragende Stellung er innerhalb der Gruppe der Aufklärer einzunehmen berufen sei. Anknüpfend an Wolff’s Theologia naturalis und an die englischen Deisten führte er eine teleologische Anschauung durch, vermöge deren Gottes Güte und Weisheit in der Natureinrichtung nachgewiesen sei und daher eine natürliche Religion sich ergebe, durch welche jede positive Religion entbehrlich gemacht werde. Das einzige göttliche Wunder sei die Schöpfung, deren Erhaltung durch die Gesetze der Natur geregelt werde; überhaupt andere Wunder anzunehmen, widerspreche der Weisheit und Vollkommenheit Gottes. Indem der Zweck der Schöpfung sei, aus dem Unbelebten alle lebenden Wesen hervorzubringen und alles mit der größtmöglichen Lust der letzteren in Einklang zu setzen, müsse eben die Einrichtung der Welt als die Offenbarung Gottes betrachtet werden, und indem der Mensch auf der höchsten Stufe der lebenden Wesen stehe und von den Thieren sich durch den Besitz sittlicher Ideen unterscheide, werde der Zweck der Menschheit erst in einem künftigen Leben erreicht; so stützt er die Unsterblichkeit auf die Einfachheit der Seele, auf das Verlangen derselben nach höherer Erkenntniß, auf die Nothwendigkeit einer künftigen Vergeltung und eine Stufenfolge fortschreitender Entwicklung. Vielfach wurde daher diese Schrift als Waffe gegen den Spinozismus und gegen den materialistischen Atheismus der Encyklopädisten benutzt, unter welchen R. selbst sich besonders gegen De la Mettrie wandte. Eine weite Verbreitung fand auch die Logik Reimarus’ unter dem Titel: „Vernunftlehre als Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit aus zwei ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruches hergeleitet“ (1756, 5. Aufl. 1790), worin ein gewichtiger Beitrag lag zu den damaligen Erörterungen der sog. principia cognitionis. Dann veröffentlichte er „Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihren Kunsttrieb, zur Erkenntniß des Zusammenhanges zwischen dem Schöpfer und uns selbst“ (1760, 4. Aufl. 1798); in Anknüpfung an obige teleologische Naturbetrachtung erscheint ihm hier die Thierwelt als eine bereits kunstsinnige Vorstufe des Menschen, und sowie er hierbei Fragen anregt, welche der Thier-Psychologie angehören, so greift er auch in die in jenen Jahren sich verbreitende Litteratur der Aesthetik ein. Neben all dieser schriftstellerischen Leistung hatte er sich seit 1745 in wiederholter Umarbeitung und Nachbesserung mit einem Werke beschäftigt, welchem er in der letzten Redaction im J. 1767 den Titel gab: „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“; eine Veröffentlichung aber wollte er unterlassen, weil vielleicht erst in weit späterer Zeit das Publicum hinreichend reif [704] sein würde, derlei kritische Untersuchungen zu ertragen. Nun aber kam im April 1767, d. h. im letzten Lebensjahre Reimarus', Lessing als Dramaturg nach Hamburg und lernte allerdings den R. nicht näher persönlich kennen, trat aber während seines bis zum April 1770 dauernden Aufenthaltes in innigere Beziehungen zu den Kindern desselben, nämlich der Tochter Elise und dem Sohne Johann Albrecht Heinrich, welcher Arzt war (s. u.). Hier nun sah Lessing das Manuscript der Schutzschrift, erhielt aber, wahrscheinlich durch Elise, nur eine Abschrift einiger Capitel derselben, welche er als einen angeblichen Bibliothekfund, natürlich ohne Nennung des Verfassers, in seinen Beiträgen „Zur Geschichte und Literatur aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel“ allmählich von 1774–1777 herausgab, wovon namentlich die letzten fünf Fragmente („Von Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln“, „Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen glauben könnten“, „Durchzug der Israeliten durch das rothe Meer“, „Daß die Bücher des A. T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren“, „Ueber die Auferstehungsgeschichte“) zur Folge hatten, daß Lessing in seinen letzten Lebensjahren in die bekannten Streitigkeiten mit Pastor Göze verwickelt wurde, worüber auf A. D. B. XIX, S. 793 ff. verwiesen sein möge. Einiges Weitere veröffentlichte 1787 C. A. E. Schmidt als „Uebrige noch ungedruckte Werke der Wolfenbüttel’schen Fragmentisten“. Man wußte aber über den wahren Verfasser der sog. Wolfenbütteler Fragmente noch immer nichts sicheres, bis der oben genannte Sohn des Reimarus, welcher das Originalmanuscript an die Hamburger Stadtbibliothek überwies, im J. 1814 eine Abschrift desselben unter Nennung des Verfassers an die Göttinger Bibliothek schickte. Aus letzterer gab Wilh. Klose einige Bruchstücke in Niedner’s Zeitschrift für historische Theologe (1850–52) heraus, und David Strauß veröffentlichte nach genauer Durchforschung des Ganzen (1862) einen umfassenden Auszug. Es ist jetzt ersichtlich, daß R. die vieljährige Arbeit seiner Schutzschrift zu dem Zwecke unternahm, um die Vernunftreligion im Gegensatz zu der geoffenbarten Religion zu begründen. Anknüpfend an Spinoza, Pierre Bayle und die englischen Deisten (besonders an Toland) bekämpfte er mittels litterarischer und logischer Kritik die Schriften des alten und des neuen Testamentes, wobei es sich grundsätzlich um eine Prüfung der Offenbarung überhaupt handelte und die auch im Einzelnen Schritt für Schritt, zumal bei allen Wunderberichten, eine einschneidendste und gründlichste Erörterung geübt wird, so daß bei unbefangener Beurtheilung wohl gesagt werden kann, er habe durch seine ebenso kühne als scharfsinnige Untersuchung den Grundlagen der Orthodoxie einen empfindlichen Stoß versetzt.
Reimarus: Hermann Samuel R., geb. am 22. December 1694 in Hamburg, † am 1. März 1768 ebendaselbst, Sohn eines Gymnasiallehrers, machte seine Vorbereitungsstudien am Johanneum unter Leitung seines Vaters und hierauf seit 1710 am akademischen Gymnasium unter dem gelehrten- Dav. Friedr. Strauß. Herm. Sam. Reimaius und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (1862. 2. Aufl. 1877).