Die Gartenlaube (1881)/Heft 23
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No. 23. | 1881. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Völkerpfingsten.
Der Winter kam vom Nord geschritten
Durch Wald und Wiese, Flur und Forst,
Und unter seinen eh’rnen Tritten
Der frostdurchzogne Boden borst.
Gewohnt durch Berg und Thal zu gehn,
Es mußt’ vor seinem Odemzuge
Das Blut der Erde stille stehn.
Des Lebens Pulse mußten stocken;
Und schimmernd fielen weiße Flocken
Auf’s Leichenangesicht der Welt.
Da hob der Frühlingssturm die Flügel,
Und jedes Herz war froh gestimmt;
Der harten Hand des Winters nimmt,
Daß er zerbricht, was dürr geworden,
Und Raum dem Trieb, dem jungen, bringt,
Daß er in brausenden Accorden
Die Welle brach des Eises Schranken
Und sprudelt’ schäumend himmelan
Und trug den hohen Lenzgedanken
Vom Fels bis zu dem Ocean.
Die Welt im Maienschmucke steht!
Die Morgenröthe ist gesunken
Als Rose in des Gartens Beet,
Und wenn die Sterne leise wallen
Dann singen noch die Nachtigallen
Die süßen Lieder fort im Traum,
Und alle diese Wunderwonne,
Die singt und klingt und blüht und sprießt,
Die auf die Welt die Strahlen gießt. –
Ihr Völker in der weiten Runde,
Wer ist’s, der’s uns verkünden mag:
Wann bricht nach mancher trüben Stunde
Der Knechtschaft Winter wußt’ zu biegen
In’s Joch euch mit der eis’gen Faust,
Und heulend kam in blut’gen Kriegen
Ein Frühlingssturm herangebraust.
Möcht’ nun das Herz im Sonnenschein –
O ew’ger Gott, wann soll auf Erden
Denn endlich Völkerpfingsten sein? –
Ihr braucht die Sterne nicht zu fragen
Es kann’s euch jede Blume sagen:
Das Leben ist allein im Licht.
Ihr schaut vergebens nur nach oben,
So lang ihr euch im Traum behagt,
Der Purpurmäntel Schleppen tragt.
Die Freiheit wird ihr eigner Henker
Bei einem Volk, bethört vom Wahn;
Nur einer Welt der freien Denker
Das Licht in’s Volk! Von allen Zinnen
Gepredigt wider jeden Trug,
Der gerne möcht’ die Welt umspinnen,
Wie er sie einst in Bande schlug!
Des Geists gebraucht in stolzer Kraft,
Daß es, entwöhnt von Joch und Zügel,
Sich selbst die bessre Zukunft schafft! –
Zu einem Bunde fest zusammen,
So wahr der Sonne Strahlen flammen,
Es kommt der Völker Pfingstenzeit.
Nicht zu hoch.
Aus einer der Berggruppen unserer Alpenkette ragt ein besonders steiler Gipfel empor, der zwar, aus der Ferne gesehen, nur als Zwischenglied mächtiger Höhen und nicht sehr ansehnlich erscheint. Wenn man ihm aber näher kommt, zeigt er sich als eine ganz erhebliche Felsenmasse.
Den Namen dieses Bergriesen, den ich hier verschweigen will, trug auch ein lebendes Wesen, ein Niedriggeborener, der nichts weniger als ein Riese, sondern mehr ein Gnom war, ein Männchen von unscheinbarem Aussehen, klein, etwas verwachsen und von sehr bleicher Gesichtsfarbe. Er hörte es gar nicht gern, wenn man ihn bei seinem stolzen Familiennamen nannte; der Vergleich mit dem Berge fiel doch gar zu spaßhaft ungünstig für ihn aus, und doch mußte er bisweilen spöttische Anspielungen deshalb über sich ergehen lassen. Wer ihm aber wohlwollte – und das war bei der Mehrzahl der Leute seiner Umgebung der Fall – nannte ihn einfach bei seinem Taufnamen Sebaldus „den Herrn Sebald“.
Er war armer Leute Sohn und Schreiber bei dem Anwalte in einem seinem Heimathorte benachbarten Städtchen. Da er von Kindheit an kränklich und zu Feldarbeiten unbrauchbar gewesen, dagegen eine hübsche Handschrift besaß und sich sonst auch fleißig und anstellig erwies, so fand er sich bald an seinem rechten Platze und arbeitete sich in kurzer Zeit so in seinen Dienst hinein, daß ihm sein Herr nicht nur Schreibereien, sondern auch Geld- und andere Commissionen anvertrauen konnte.
Der junge Schreiber wurde nach und nach ein halber Jurist. Jeden Abend ging er in sein Heimathdorf, eine gute Stunde Weges, woselbst er bei einer älteren unverheiratheten Schwester wohnte. Den Mittag über blieb er auf der Schreibstube und verzehrte sein frugales Frühstück, das er von Haus in seiner Rocktasche mitgebracht hatte. Diese freie Zeit, während welcher die Geschäfte ruhten, benutzte Sebald dazu, die juridischen Bücher seines Principals durchzusehen und sich aus ihnen, so gut es ging, [370] Belehrung zu verschaffen Er las Gönner's Civilproceß, den Strafcodex, und bereicherte seine durch die Praxis erworbenen Kenntnisse, indem er die verschiedenen Land- und Statuarrechte mit großem Eifer studirte. Die Sonntage verwendete er ebenfalls zu seinem Studium, nur daß er in den Nachmittagsstunden nach der Vesper einem von seiner Schwester angenommenen Kinde Unterricht gab. Durch das viele Abschreiben, durch aufmerksames Zuhören bei den Verhandlungen mit den Parteien gewann er eine nicht gewöhnliche Geschäftsgewandtheit, und vermochte in Fällen, wenn der Anwalt abwesend war, den Clienten mit Rathschlägen an die Hand zu gehen. Man glaube aber ja nicht, daß er dabei seinen Nutzen suchte; er war und blieb die treueste, uneigennützigste Seele, die es gab.
Indessen waren es vorzugsweise die Paragraphen der Criminaljustiz, die ihn anzogen, die er mit Vorliebe und Beharrlichkeit seinem Gedächtnisse einprägte, über die er nachdachte, die er prüfte und bei sich ergänzte. Er kam darüber zuweilen mit seinem Prinzipale in Wortstreit; denn ihm schienen die meisten Strafbestimmungen zu mild, und daß gar dem Delinquenten ein Advocat an die Seite gegeben wurde, der ihn zu vertheidigen, die Schuld von ihm abzuwälzen bestrebt war, ja selbst dann, wenn sich ihm die moralische Ueberzeugung von dessen Schuld aufdrängte, dies erschien ihm ganz ungehörig; eher wäre er für die Anwendung der Tortur gewesen, wenn ein überwiesener Verbrecher hartnäckig leugnete. Daß er ein Anhänger der Todesstrafe war, versteht sich von selbst.
Nun mußte Herr Sebald, wenn er nach Beendigung der Bureaustunden seiner Heimath zuging, an dem Hause eines Mannes vorüber, der weit und breit im Geruche eines argen Schelmen stand. Oft bestraft und noch öfters durchgeschlüpft, war er ein gefürchteter Mensch, dem man nichts anhaben konnte, den zu beleidigen gefährlich war. Seines Zeichens ein Goldschmied, lebte er mutterseelenallein in einem Häuschen am Rande des Waldes in geringer Entfernung von der Landstraße, und daß sein Gewerbe nur ein Aushängeschild war, leuchtete Jedermann ein. Hösch – so hieß er – war wenig zu Hause; er ging auf Handelschaft, streunte in den Dörfern umher und blieb oft tagelang außer Landes.
Diesen Mann nun haßte unser Schreiber ganz besonders er nahm ihn fest aufs Korn. Oft, wenn er auf seinem Heimwege an des Goldschmiedes Haus vorüberging, hob er drohend seinen Stock und sagte halblaut „Mir kämest Du nicht länger aus, so fein Du auch Dein Handwerk verstehst, Spitzbube!“ Dabei wieder holte er sich im Geiste alle bezüglichen Stellen des Strafgesetzbuches und gedachte, wie er es bewerkstelligen wollte, durch verfängliche Kreuz- und Querfragen ein Geständniß aus dem Manne herauszubringen.
Eines Abends – es war gegen Ende des Winters und die Dämmerung bereits eingetreten – fühlte er bei seiner ihm schon fast zur Gewohnheit gewordenen Standrede einen leichten Schlag auf seiner Schulter, und hinter ihm stand der gefürchtete Hösch selbst.
„Nun, erschreckt Ihr vor mir, Herr Sebald?“ redete er den verblüfften Schreiber an. „ein Jurist, wie Ihr, sollte sich vor dem Teufel selbst nicht fürchten“
„Ich fürcht’ Euch auch nicht,“ entgegnete Sebald, „ nicht weil ich mich etwa für einen Juristen halte, sondern weil ich selbst ein armer Teufel bin, bei dem nichts zu holen ist.“
„Oho,“ lachte der Andere auf, „Ihr glaubt am Ende gar, ich wolle Euch ausrauben? Das Gegentheil davon will ich – ich hab’ da einen kleinen Zins an Euren Principal zu entrichten und würd’ ihn Euch gern anvertrauen, wenn Ihr ihn morgen übergeben möchtet.“
„Das kann schon sein,“ war die Antwort.
„Nun, so kommt die wenigen Schritte mit in meine Wohnung! Da will ich Euch die paar Gulden einhändigen, und Ihr bescheinigt mir den Empfang, Herr Oberschreiber, wenn Ihr so gut sein wollt. Ihr erspart mir einen Gang in die Stadt.“
„Soll geschehen,“ antwortete dieser, der sich schämte, eine Aengstlichkeit zu verrathen. So ging er denn mit. An seinem Hause angekommen, öffnete der Goldschmied die Hausthür und hieß seinen Begleiter eintreten. Unwillkürlich zögerte Sebald ein wenig; ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. In dieses Haus kam sonst selten Jemand; wer konnte, vermied es. Er wollte sich jedoch keine Furcht anmerken lassen und trat ein. Auf dem Ofen im Zimmer brannte ein trübes Licht und ein eigentümlich metallischer Geruch drang daraus hervor.
„Der schlägt auch falsches Geld,“ dachte der Schreiber, während Hösch einen Schrank aufschloß, das in Papier gewickelte Geld herausnahm und ihm einhändigte.
„Es ist schon in der Ordnung,“ sagte er lachend, da Sebald die Summe bei der mangelhaften Beleuchtung im dunkeln Winkel der Stube abzuzählen sich anschickte. Dieser nickte nur, unterschrieb hastig die Quittung und wollte sich eiligst davon machen, aber Hösch hielt ihn nochmals auf; er brachte aus demselben Schrank, in welchem er das Geld verwahrt gehabt, ein kleines schmutziges Gebetbuch hervor und sagte:
„Seht, guter Freund, das Büchlein das hat mich auf den rechten Weg gebracht; Ihr wißt es ja, daß ich früher einmal ein leichtes Vergehen gegen das Gesetz im Gefängniß abzubüßen hatte – aber mit den heiligen Worten, die darin stehen, hab’ ich das Heil gefunden. Gehet mit Gott und denkt besser von mir!“
Sebald sah mit Widerwillen in das heuchlerische Gesicht des Mannes und hörte die süßlichen Reden mit Abscheu; so schnell wie möglich empfahl er sich. Zu Hause prüfte er sorglich Klang und Gepräge der Guldenstücke, es war aber kein falsches Geld dabei.
Am andern Morgen händigte er den Zins seinem Principal ein und erzählte zugleich, wie er gelegentlich dieses Geschäftes zu einem Besuche bei dem berüchtigten Manne gekommen.
„Ich war recht froh, als ich wieder draußen war: der Schelm hat gewiß eine Absicht gehabt; umsonst ließ er mich nicht in seinen Schlupfwinkel blicken.“
„Haben Sie richtig gezählt?“ unterbrach ihn der Anwalt; „es ist ein Gulden zu viel.“
„Nicht möglich,“ rief der Schreiber, „ich glaubte doch so genau abgezählt zu haben.“
„Es ist doch so – nun müssen Sie sich schon entschließen, der Spelunke einen zweiten Besuch abzustatten.“
„Leider,“ antwortete Sebald und dachte bei sich: es hat Zeit bis zum nächsten Sonntag; denn Nachts geh' ich nicht mehr hin. –
Ehe er aber dazu kam, seine Verpflichtung zu erfüllen, trat ein Ereigniß ein, das die öffentliche Aufmerksamkeit in außerordentlicher Weise auf Hösch lenkte.
An einem Sonntagmorgen, als die Landleute aus den Höfen umher nach dem Dorfe zur Kirche gingen, entdeckten sie im Straßengraben einen blutigen Leichnam. Man erkannte in dem Todten einen begüterten Händler, der an jedem Markttage, nachdem er seine Geschäfte im Städtchen abgewickelt hatte, nach seinem einige Stunden entfernten Hofe zurückfuhr, und zwar meistens noch spät in der Nacht. Eine Menge Menschen hatte sich bald an dem Platze versammelt; man brachte Pferde und Wagen des offenbar Ermordeten aus dem nächst der Straße gelegenen Wald, und die Bewohner eines Hauses unfern vom Orte, wo die blutige That geschehen war, sagten aus, sie hätten ungefähr um Mitternacht Schüsse gehört, als ein paar alte Leute aber hätten sie sich nicht vor die Thür getraut. Von dem Gelde, das der Händler, wie man wußte, bei sich getragen, war keine Spur aufzufinden.
Wäre nicht der freundliche helle Sommermorgen gewesen und hätten nicht von allen Seiten her die Sonntagsglocken zusammengeläutet, so hätte man wohl das Gefühl gehabt, daß die Stelle, an der man sich befand, etwas Düsteres, wie für einen Mord Vorausbestimmtes an sich trage. Rechts von der Straße ist dichte Waldung, die sich bis zum Fuße der Berge hin ausdehnt; links erstreckt sich zuerst ein Torfmoor, das mit einzelnen Birken bestanden ist, und weiterhin ebenfalls Waldung, über der sich ein Hügel mit den Ruinen einer alten Burg erhebt. Der Name dieser Burg und einiger der nächsten Ortschaften legen die Vermuthung nahe, daß hier in uralter Zeit eine Gerichtsstätte sich befunden habe und ringsumher der Boden eines heidnischen Götterdienstes. Ein Reiter, der dort einstmals in einer sehr kalten Winternacht auf dem hartgefrorenen Boden hintrabte, hat erzählt, daß er plötzlich Hufschläge aus dem nahen Walde herübertönen hörte, und zwar so deutlich und in gleichem Tacte mit dem seines eigenen Pferdes, als reite unter den Tannen ein gespenstiger Doppelgänger mit ihm. Ein eigener Schauer habe ihn überkommen, und er sei froh gewesen, als er das nächste Gasthaus erreicht und sein schweißtriefendes Pferd in den Stall gebracht habe.
An jenem Morgen nun, als unter den die Leiche umstehenden Leuten die Rede darauf kam, wer wohl das gräßliche Verbrechen begangen habe, wandten sich Aller Blicke scheu nach dem alten [371] Schlosse; denn in dem Ueberreste seiner Mauern – es war fast nichts mehr als ein alter Thurm, der noch stand – wohnte ein Jäger mit zwei Söhnen, denen das Allerschlimmste nachgesagt wurde. Sie waren überdies die vertrautesten Freunde und Spießgesellen des Hösch. Niemand jedoch wagte es, einer Muthmaßung Worte zu leihen – da erschien auf einmal Einer, den man nicht erwartete. Hösch selber war es, der sich mitten unter die Menge hineindrängte, den Todten aufmerksam betrachtete und dann mit kalter Gelassenheit erklärte, was er von der Sache halte.
„Da waren ihrer Mehrere dabei!“ rief er aus. „Seht, das da ist einmal eine Stichwunde, und dies hier ist eine Schußwunde; das hat nicht Einer allein gethan! Verrücke ja Niemand die Lage des Ermordeten! Ich gehe und mache beim Landgericht die Anzeige.“
Damit ging er weg mit einer Ruhe und Sicherheit, als wäre er der Untersuchungsrichter selbst. Die Leute sahen ihm erst stumm nach, dann aber nahm ein alter Bauer das Wort und sprach.
„Ich nehme Euch Alle zu Zeugen, daß aus zwei von den Wunden hier, so lange der Hösch dagestanden, Blut geflossen ist. Ich für meinen Theil weiß jetzt den Mörder; von Euch mag Jeder denken, was er will, aber das Blut habt Ihr Alle gesehen“
„Ja, das haben wir,“ hieß es einstimmig, „und das Gericht soll es hören und erfahren.“
Die Nachricht von dem schrecklichen Vorfall kam nach wenigen Stunden auch dem Schreiber Sebald zu Gehör, und auch er zweifelte nicht, daß Hösch der Mörder sei. Sein Principal warnte ihn jedoch, eine belastende Vermuthung auszusprechen; man könne darum verklagt werden, und wenn der Schuldige höre, daß man ihn im Verdacht habe, so könne er sich bei Zeiten davon machen. Sebald merkte sich das und schwieg. Daß die Unthat auf dem Wege geschehen war, den er jeden Abend zu gehen, den er kaum ein paar Stunden vor dem blutigen Ereigniß selbst noch zurückgelegt hatte, das erschütterte ihn tief, ja es erfüllte ihn mit unsäglichem Schrecken. Als aber nun Hösch wirklich verhaftet wurde, da triumphirte er. Mit fieberhafter Spannung horchte er auf jedes Wort über den Verlauf des Verhörs und faßte Alles zusammen, was die Schuld an den Tag bringen konnte. Er ging auf dem Lande bei den Bauern umher und sammelte Indicien; er machte verschiedene Anzeigen und ergriff jede Gelegenheit, neue Verdachtsgründe herbeizubringen. Am glücklichsten wäre er gewesen, wenn man ihm die Leitung der ganzen Angelegenheit übertragen hätte. In dieser rastlosen, aufreibenden Thätigkeit gönnte er sich weder Ruhe noch Erholung, und mehr als je schlug er die Codices nach und recapitulirte das peinliche Verfahren.
Eines Nachts aber überkam ihn ein seltsamer Traum. Ihm war, es sei wieder an jenem Sonntagsmorgen; der Todte lag an der Straße; er kam dazu, und wie er näher trat – o Schrecken – da fingen die Wunden des Erschlagenen an zu bluten. Aller Augen richteten sich nach ihm; er hatte das Gefühl, daß man ihn für den Mörder hielt, und wie er sich vertheidigen wollte, versagte ihm die Stimme; er brachte kein Wort hervor. Er erblaßt und flieht, und Alles ruft ihm nach. „Er ist’s – er ist der Mörder. Ergreift ihn!“ Mit heftigem Herzklopfen und in Angstschweiß erwachte der arme Mann.
Der Traum ging ihm nicht aus dem Sinne er hatte sich so lange mit all den Anzeigen und Anzeichen des Mordes und der Möglichkeit einer gewichtigen Anklage zu thun gemacht, daß er jetzt vor sich selbst erschrak, sich sagen mußte, wenn man so durchdringend, so unablässig vorgehe, wie er, so könnte am Ende Niemand mehr sicher sein und sogar er selbst, wie im Traum, schuldig erscheinen müssen. Dieser Gedanke setzte. sich nach und nach so in ihm fest, daß er sich nicht wieder von ihm befreien konnten doch hütete er sich sorgfältig, Jemandem davon Mittheilung zu machen; und um so tiefer schlug der Argwohn gegen sich selbst in ihm Wurzel und drohte, seine Vernunft völlig zu überwältigen.
Eines Tages sagte sein Principal ganz unbefangen zu ihm.
„Nun Hösch ist freigelassen; der Verdacht hat sich gegen ein anderes Individuum gerichtet.“
„So,“ erwiderte Sebald ärgerlich, „so – gegen ein anderes Individuum? Wenn es nur kein unschuldiges ist – die Wege der Justiz sind unerforschlich.“
„Ei,“ versetzte der Anwalt, „von Ihnen hätte ich ein solches Mißtrauensvotum gegen uns Juristen am wenigsten erwartet.“
Dem unglücklichen Schreiber kam es vor, als ob der Blick seines Principals durchdringend aus ihn gerichtet fei; er fühlte etwas wie Zorn in seinem Herzen und unmuthig erwiderte er:
„Nun wenn man solch erwiesene Verbrecher freigiebt, dann dürfte sich wohl Niemand mehr sicher fühlen.“
„Ja, ja,“ lachte der Principal, „besonders wenn es nach Ihren Principien ginge und die Tortur wieder eingeführt würde. Aber was ist Ihnen, sind Sie nicht wohl?“
„Ich? O nein, mir ist ganz wohl,“ murmelte Sebald und setzte sich, indem er Feder und Papier zurecht legte, um seine Aufregung zu verbergen.
Was war die Ursache? Sein Unwille über die Freilassung des Hösch, oder hatte er an seinen Traum gedacht? Indem er seine Feder zuschnitt, zitterte seine Hand, sodaß er sich verletzte und einige Tropfen Blut auf den Aermel spritzten
Eben trat der Gerichtsdiener in's Zimmer, der sich gern einen Scherz über den Schreiber erlaubte, weil dieser für einen geizigen Hagestolz galt.
„Ei,“ rannte er ihm zu, „das Blut waschen Sie ja gleich weg! Sonst bringen Sie die Flecken nicht mehr heraus, und man hält Sie am Ende gar für einen Mitschuldigen des Hösch.“
Sebald lächelte, drückte aber das Gesicht tiefer in’s Concept; die Stichelreden des groben Menschen hatten ihn verletzt; er wurde über und über roth.
„Wenn auch noch der Spürhund hinter Dir her ist,“ sagte er zu sich selbst, „dann ist es um Dich und Deinen ehrlichen Namen geschehen.“
So geängstigt und gedrängt von innerer Unruhe, wie er war, konnte ihm nichts angelegener sein, als daß der wirkliche Schuldige möglichst bald entdeckt würde. Er nahm sich vor, ein kleines Wirthshaus, das auf seinem Heimwege lag, zu besuchen, weil er wußte, daß dort allerlei anrüchige Leute zusammen kamen, von denen leicht etwas zu erfahren war – um so mehr, da die Freigebung des Hösch das Stadt- und Landgespräch bildete.
Sonst war er nur mit Grauen und Abscheu an der Thür der verrufenen Kneipe vorbeigegangen; heute zog es ihn mächtig dahin. Die beiden Söhne des Försters kehrten häufig dort ein; von ihnen war vielleicht etwas zu erfahren, wie er es wünschte, aus leichtsinnigen oder frechen Reden vielleicht, die von Anderen nicht beachtet wurden, ihm aber wichtige Anhaltspunkte gaben; dafür war er der Mann; er hatte Praxis in solchen Dingen.
Bei seinem Eintritt erblickte er sogleich die Gesuchten. Die Wirthin grüßte ihn mit besonderer Aufmerksamkeit.
„Eine seltene Ehre,“ redete sie ihn an, „daß der Herr Oberschreiber bei uns einkehrt. Haben Recht. Der Weg ist weit, und einige Stärkung wird Ihnen nöthig sein; die Arbeiten bei Gericht haben sich zu sehr gehäuft, hört man sagen. Was ist gefällig?“
Sebald ließ sich einen Schoppen Wein vorsetzen; sein Blick überflog die Anwesenden. Da waren außer den Jägern noch ein Hausirer aus dem Montafun, ein schwarzbärtiger breitschulteriger Mann aus dem romanischen Berglande, ein paar heimkehrende Maurer und ein sogenannter Wegmacher, ein Steinklopfer von der Landstraße. Oben an der Ecke des Daches saß der Wirth, den Arm seiner Gewohnheit gemäß aufgestützt, als wäre er immer in Bereitschaft sich Platz mit dem Ellenbogen zu verschaffen. Er war ein riesiger Mann und, wie man ihm ansah, von ungewöhnlicher Stärke; sein Gesicht war glatt rasirt, sein Scheitel dünnbehaart, aber ein Büschel rother Haare saß auf seiner gleichfalls rothen Nase, was ihm ein seltsames Aussehen gab. Trotz seiner hünenhaften Gestalt und Körperstärke hatte er doch nie das Faustrecht geübt, sondern alle seine Streitigkeiten vor den Civilrichter gebracht und in seinem Leben mehr Processe als irgend ein Christenmensch geführt. Er war deshalb auch ein ebenso guter Jurist, wie der Schreiber des Advocaten, vor dem er stets großen Respect an den Tag legte.
„Das allein freut mich,“ rief er aus, „daß sie den Hösch wieder freigeben mußten; ich halte zwar selbst nichts Gutes von dem Spitzbuben, aber auf solche Indicien hin Einen zu verhaften, das ist unerhört. Was – weil Blut aus der Wunde des Gemordeten floß – deshalb? Ist das nicht eine Schande für unser aufgeklärtes Jahrhundert? Schöne Justiz das!“
Damit ließ er seine Faust auf den Tisch prallen, daß die Gläser klirrten.
„Erlaubt mir,“ fiel der Schreiber ein, „nicht deshalb hat man den Hösch festgesetzt, sondern weil sein Benehmen, seine Aeußerungen [372] an der Leiche Verdacht erregt haben, und daß er zu Allem fähig ist, wer wollte das leugnen?“
„Richtig,“ antwortete der Wirth, „und was waren das für Aeußerungen? Daß er den Leuten erklärte, welches Schußwunden und welches Stichwunden seien; da müßte jeder Chirurg, der das auch sagt, eingesteckt werden und ein Verbrecher sein.“
„Sind es auch die meisten,“ lachte nun der Jäger hinter dem Tisch, „möchte nicht wissen, wie Viele der unsere schon unter den Boden gebracht hat. Was aber den Mord am Wildberger betrifft, so ist dem nur Recht geschehen; er war ein Tropf; er hat an vielen Leuten schlecht, niederträchtig schlecht gehandelte durch Betrug und Wucher hat er seinen Reichthum erschwindelt – ihm ist Recht geschehen.“
Der Jäger stand auf, nahm sein Gewehr über die Schulter und sagte noch im Abgehen:
„Wer den erschlagen hat, der wird niemals entdeckt werden. Was da geschehen ist, war ein Act der Volksjustiz.“
„Jawohl, Lynchjustiz, wie sie drüben bei uns sagen,“ fiel der Montafuner mit seiner tiefen Stimme ein.
Der Jäger schritt hinaus. Sebald sah ihm staunend nach. „Volksjustiz!“ Das Wort hatte er noch nie gehört. Er mußte lachen.
„Auch ich,“ rief jetzt der Wirth, „weiß schlechte Streiche genug von dem Händler; er war ein Cujon, aber Recht bleibt Recht, und der Rechtsweg darf nicht umgangen werden.“
„Wißt Ihr auch, Wirth,“ begann jetzt einer der Maurer, „daß es heißt – und ich habe es von meinem Vater gehört – es sei an der Stecke, wo der Mord geschah, ehedem ein Gerichtsplatz gewesen; es wurde da unter Gottes freiem Himmel vom Volke, nicht von gelehrten und besoldeten Richtern geurtheilt.“
„Ich hab’ auch davon gehört,“ nickte der Andere dazu, „und beim Abbruch der alten Burg hat man unter den Dielen zwei Gerippe gefunden; dort muß wohl was gewesen sein.“
„So viel weiß auch ich,“ fiel hier der Steinklopfer ein, „daß in der ersten Weihnacht ein Reiter auf einem Schimmel aus dem Berg hervorkommt und dreimal um die Schloßruine reitet; dann verschwindet er wieder.“
„Laß Dich nicht auslachen, Wegmacher!“ sagte der Wirth, „solche Geschichten sind für die alten Weiber.“
Alles lachte. Sebald aber schwieg und schickte sich an, fortzugehen. Während er die Rechnung berichtigte, kam der Wirth auf ihn zu und legte seine Riesenhand vertraulich auf seine Schulter.
„Nicht wahr, Herr Oberschreiber, sagte er, „da sind wir zwei anderer Ansicht, wir Juristen?“
„Ich muß aufrichtig bekennen,“ gab dieser zur Antwort, „ich höre die Worte Volksjustiz und Volksgericht heute zum ersten Mal in meinem Leben und weiß nicht, was ich davon denken soll – ich will aber nachschlagen; ich werde nachschlagen.“
Das Gespräch hatte ihn auf einen ganz neuen Gedankengang gebracht, und er war im Weitergehen ausschließlich damit beschäftigt. Es gab also Menschen, die eine solche That als gerechte Urtheilsvollstreckung betrachteten und aus eigener Machtvollkommenheit ausübten, und zwar da, wo die Hand der gewöhnlichen Justiz ein verbrecherisches Thun nicht erreichen konnte, und dies galt bei ihnen als kein Mord, sondern als ein Rache-Act der beleidigten Menschheit. Sebald hatte wohl einmal von der heiligen Vehme gelesen – und ein solches Gericht sollt’ es jetzt noch geben? Ihn schauderte anfangs, allmählich aber begann ein Gefühl von Genugthuung, ja von Bewunderung sich in ihm zu regen.
Plötzlich fiel ihm bei, daß er einen Auftrag des Advocaten auszurichten, nämlich einen Brief im Hause eines Clienten abzugeben habe. Er hatte, obwohl das Haus nahe bei der Straße lag, ganz vergessen, sein Mandat auszurichten, und war schon eine geraume Strecke davon entfernt, als er sich des Briefes erinnerte; die Sache war von Wichtigkeit – er mußte nochmals zurück.
Da er öfters mit dergleichen Anfangen betraut wurde, so war er mit den Räumlichkeiten des Hauses bekannt und wußte, daß um diese Zeit – denn es war schon ziemlich spät geworden – die Hausthür nach der Straße zu geschlossen, die zum Hofraum führende dagegen um diese Zeit noch unverriegelt war. Um kein Aufsehen zu erregen, nahm er sich vor, durch letztere einzutreten. Er wußte den Drücker, der aufschloß, und konnte seinen Brief an einen der Dienstboten, die um diese Zeit noch wachten, abgeben.
Kaum aber hatte er die Thür so leise wie möglich geöffnet, als ihm die Frau des Hauses begegnete und mit dem Schrei – „ein Mörder, ein Mörder!“ zurückbebte und die Treppe hinaufsprang. Sebald selbst war nicht wenig erschrocken und entschuldigte sich mit ängstlicher Stimme, daß nur er es gewesen sei.
„Aber um Himmelswillen,“ redete die Frau ihn an, „wie mögt Ihr Euch da hereinschleichen und uns erschrecken in so später Nachtstunde?“
Er übergab seinen Brief und beeilte sich, nach wiederholter Entschädigung fortzukommen. Als er draußen in der Nacht allein dahin schritt, gellte der Angstruf „ein Mörder!“ ihm nach, und das gräßliche Wort fand einen grausigen Wiederhall in seiner ohnehin schon geängstigten Seele.
„Nicht zu hoch!“ war sonst seine Antwort gewesen, wenn er den Spott über seinen Namen und Höcker ironisch zurückwies.
„Nicht zu hoch!“ sagte er jetzt zu sich selbst. „Was ging es eigentlich mich an, wer den Wildberger umgebracht hat, und was hab’ ich von meinem Nachspüren ? Dankt's mir Jemand ? Nein – die Spötter haben nur wieder einen neuen Anlaß, über mich zu lachen. Mir schlägt Alles zum Unglück aus; mein guter Wille selbst bringt mir Nachtheil und Verdruß. Nicht zu hoch, Sebald, nicht zu hoch hinaus!“
Traurig wandte er seine Schritte der Heimath zu. – Der folgende Tag war ein Sonntag. Sebald besuchte die Predigt. Der Geistliche, noch ein junger Caplan, predigte über die Gewissensruhe. Seine Rede, mit poetischen Floskeln „aus den Werken der besten Schriftsteller“ geschmückt, schilderte nachdrücklich die Seelenpein des Sünders gegenüber der heiligen Sabbathfeier im Gemüthe des Schuldlosen. Er zeigte, wie Jenen die böse That verfolge, wie sie ihm durch Arbeit und Zerstreuung nachgehe, ihm die Liebe seiner Mitmenschen unerträglich mache, seinen Schlaf, seine Träume vergifte, wie er bei jedem Worte erzittern müsse.
„Er deutet auf mich,“ sprach Sebald zu sich selbst, „genau so sieht es in meinem Innern aus, und doch bin ich unschuldig und habe nichts verbrochen, und der wirkliche Thäter sitzt jetzt vielleicht sorglos in einer Schenke und zecht. Was ist denn nun das Gewissen? – O, der auf seiner Kanzel droben lügt auch, und die ganze Welt lügt und will betrogen sein. Bin ich besser? – Welch schreckliche Gedanken!“ Ein lautes Ach schloß seine Betrachtung. Es wurde gehört, und Alles in der Kirche sah auf und nach ihm. Er hätte aufspringen mögen und unter die Gaffer hineindonnern. „Was seht ihr mich an? Ich bin es nicht.“ Aber er schämte sich und schlug die Augen nieder. – Nach dem Gottesdienst eilte er so schnell wie möglich nach Hause, ohne Jemanden zu grüßen. Die Bauern sahen ihm nach und sagten lachend zu einander: der muß wieder einen schweren Proceß auszumachen haben.
Die Heimstätte der Rattenfängersage.
Wer ein im Ganzen noch wenig gekanntes, aber herrliches Stück deutscher Erde schätzen lernen will, der befahre nach dem Feste der Maien von Münden oder Höxter aus die Weser zu Thal bis zu dem Punkte, wo sich am rechten Ufer die Hannover-Altenbekener Eisenbahn mit der Linie Löhne-Bienenburg kreuzt. Hier mischen zwei Flüßchen ihre klaren Wasser mit den grünen Wellen der Weser, von denen das rechts mündende Deutschlands Rattenfängerstadt den Namen gab. Gegenüber dem Flüßchen Humme und der sogenannten Klüthöhe ergießt sich nämlich die vom Süntel kommende Hamel in die Weser, und die große Fruchtbarkeit der Gegend mag wohl die nächste Veranlassung gewesen sein, daß schon um 755 ein Graf von Büren unweit jener Mündung das St. Bonifacius-Stift, dessen Münster noch heute die Hauptzierde Hamelns bildet, gründete. Die Stadt selbst entwickelte sich erst zur Zeit Karl's des Großen aus neun, jene fuldaische Stiftung umlagernden Siedelungen und Dörfern unter der Bezeichnung Hameloa, das ist Hamelaue. Zur Unterscheidung von naheliegenden Orten mit ähnlichen Namen, wie Hamelspringe, taufte
[373][374] man die Stadt später Querenhameln, das ist Mühlenhameln, und gab ihr, da einer der lohnendsten Nahrungszweige Hamelns von Anfang an die Müllerei war, den Mühlstein oder das Quereisen zum Wappenzeichen.
Von den sehenswürdigen Bauten Hamelns fesselt zunächst unsre Aufmerksamkeit das bereits erwähnte im Osten der Stadt und nahe der Weser gelegene Münster St. Bonifacii, eine romanische Basilika mit gothischem Uebergangsstil und einem achtseitigen Doppelthurme, deren Dach die Barockform des siebenzehnten Jahrhunderts trägt.
Schreitet man vom östlichsten Punkte des Münsterkirchhofes eine der Hauptverkehrsadern der Stadt, nämlich die Bäckerstraße von deren alterthümlichen Gebäuden unser Bild einen wegen seines Kindersegens sprüchwörtlich gewordenen Hof darstellt – nach Norden hinauf, so gelangt man auf den Hauptplatz Hamelns, den Pferdemarkt, welcher außer der gothischen dreischiffigen Nicolaikirche noch das Rathhaus, sowie das architektonisch höchst bedeutsame Privathaus des ehemaligen Bürgermeisters Tobias von Dampfer enthält, Vom Pferdemarkte und der hier endenden Bäckerstraße führt Hamelns breiteste Verkehrsader, die Osterstraße, über den Osterthorwall hinaus, in ihrer Fortsetzung als Deisterstraße nach dem Bahnhof.
Gleich das zweite Gebäude in dieser an monumentalen Sehenswürdigkeiten reichsten Straße der Stadt ist das sogenannte Hochzeitshaus, welches, wie unser Bild zeigt, durch einen kleinen Zwischenbau mit der südlichen Giebelfront des Rathhauses verbunden ist, sodaß über demselben, zwischen Rathhaus und Hochzeitshaus, der Thurm der Nicolaikirche sichtbar wird. Sein architektonisch würdigstes Pendant findet es in dem in derselben Straße gelegenen sogenannten Rattenfängerhause. Beide gehören mit ihren reichverzierten steilen Giebeln, massiven Erkern und mit Bildhauerarbeit fast überladenen Straßenfronten der späteren Renaissancezeit an, sind also erst zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts, vermuthlich von demselben Baumeister errichtet worden, welcher die eine Stunde südlich von der Stadt an der Emmer gelegene „Hämelnsche Burg“ erbaut hat.
Mehr jedoch als von den alterthümlichen Gebäuden Hamelns dürfte jeder Tourist von den landschaftlichen Schönheiten der deutschen Rattenfängerstadt angezogen werden. Den ersten schönen Aussichtspunkt dieser Art bietet die 1839 dem Verkehr übergebene eiserne Kettenbrücke, die älteste in Deutschland. Schon von weitem lockt ein donnerähnliches Getöse, das von den in unmittelbarer Nähe befindlichen, ehemals zum Füllen der Stadtgräben, jetzt aber ausschließlich zum Salmenfang aufgerichteten Wehren herrührt, den Wanderer an den Strand der Weser. Ein überraschender Naturanblick bietet sich dem Auge von der Brücke, Links erheben sich die Hasselberge mit Burg Hastenbeck und Obensburg; rechts tritt der steile Ohrberg hart an den Strom heran, drunten aber rauscht und braust die dunkelgrüne Fluth der Weser.
Auf den wildwirbelnden Wogen blinkt’s und glitzert’s dann und wann über dem Gischt, als spielte das Sonnenlicht mit den Schuppen eines Silberpanzers, Das sind mächtige Lachse, welche den sechs Fuß hohen Wasserfall des schräg laufenden Wehres zu überspringen streben.
Weit entzückender noch als von der Kettenbrücke erscheint Hamelns Naturreichthum von dem Klütberge aus. Dieser östlichste Rand der lippeschen Hügelkette ist, rechts von der Weserbrücke aus, in einer halben Stunde zu erreichen und hat, als das eigentliche Tusculum der Hamelner Bürger, nicht blos prächtige, laubbeschattete Promenadenwege, sondern auch freundliche Restaurationen, wie Dreier’s Berggarten, den Felsenkeller, den Funkenborn und das Klüthaus, aufzuweisen,
„Von Gärten umduftet, umrauscht vom Strom,
Mit schmucken Häusern und altem Dom,“
So liegt, von dem Klütthurme gesehen, zu Füßen des Beschauers die vielbesungene Stadt, und über ihre bläulich dampfenden Schornsteine und schwarzbrodelnden Fabrikschlote hinweg schweift der Blick nach den Ausläufern des Deister-, Oster, Ith- und Hilsgebirges hinüber und sucht alsdann, sich rückwärts wendend, die Mindener Hausberge mit der Porta Westfalica und dem Osning oder Teutoburger Wald in weiter dämmernder Ferne.
Wer hier zu Thal schauet auf das alte Rattenfängernest, den überkommt unwillkürlich ein romantisches Träumen, etwas von der Stimmung, die in der poesievollen Sage webt, welche hier ihre Heimath hat. Er gedenkt des sangesgewältigen Spielmannes und seiner jugendlichen Opfer – der Zauber der wunderbaren Rattenfängermythe nimmt ihn ganz gefangen.
Diese Sage selbst ist heute dermaßen in aller Leute Munde, daß es an dieser Stelle genügen wird, ihren Kernpunkt kurz zu berühren. Ein buntgekleideter, fahrender Spielmann verpflichtet sich dem Rathe der genannten Weserstadt, gegen ausbedungenen Lohn sämmtliche Ratten und Mäuse, die dort in erschreckender Weise überhand genommen, zu vertilgen. Der abenteuerliche Pfeifer wird seinem Vorhaben auch gerecht, das Stadtregiment aber verweigert dem Rattenfänger, als einem unheimlichen Zauberer und Teufelscumpan, die versprochenen 100 Mark hamelnscher Witt’ und Wichte und weist ihn drohend aus den Mauern der Gemeinde. Da, von Rache und Wuth entbrannt, lockt der mißhandelte Spielmann, wie vorher das geschwänzte Ungeziefer, so jetzt der Bürger Liebstes, die Jugend, mit seiner Zauberflöte aus der Stadt hinaus und in den Koppenberg hinein; von dort sollen die jungen Hamelenser unter der Erde weitergeführt und in Siebenbürgen wieder zum Vorschein gekommen sein, wo sie, der Sage nach, der Grundstock der daselbst seßhaften deutschen Bevölkerung geworden sind.
Diese Ueberlieferung ist keineswegs von Anfang an in der erzählten Gestalt und Vollkommenheit aufgetreten, sondern hat mehrere Stufen der Entwickelung zu durchlaufen gehabt. Die Aufeinanderfolge und allmähliche Verschmelzung dieser einzelnen Entwickelungsphasen ist aber höchst interessant und veranschaulicht die Entstehung der Sagen im Allgemeinen. Erich, ein Oberpfarrer Hamelns um 1650, schrieb eine ausführliche Abhandlung über besagten geheimnißvollen Kinderauszug und citirte in dieser seiner Darstellung einige ältere, jene dunkle Geschichte betreffende Knittelverse eines unbekannten Reimschmieds. Aber weder diese Citate Erich’s, noch die von Heinrich Maibom, dem Verfasser einer „Geschichte des alten Bardewiek im Lüneburgischen“, aufgefundenen Notizen über denselben Gegenstand enthalten, als früheste Quellen, etwas von einem Kinderentführer überhaupt, geschweige denn von einem hamelner Rattenfänger als Jugendverführer im Besonderen. Die Auslassungen beider Gewährsmänner beschränken sich, was die Citate anbelangt, vielmehr darauf, daß in alter Zeit 130 hamelnsche Kinder auf dem Koppel oder Köppel, dem Galgen- und Hochgerichtsberge, auf einmal verschwanden seien. Den Zusatz, daß der plötzliche Verlust der hamelnschen Jugend durch einen bunten fahrenden Spielmann bewirkt worden, bringt die auf ein kleines rothes Buch des städtischen Archivs – wovon heute freilich keine Spur mehr vorhanden sich beziehende „Sachsenchronik“, während eine nach Erich aus dem Jahre 1589 stammende und von dem hamelnschen Oberprediger Herr mitgetheilte „Reimchronik“, die den Kinderausgang in dreiundfünfzig Versen behandelt, den kinderentführenden Pfeifer zu einem Rattenfänger macht und als Zeit jenes furchtbaren Rache-Actes das Jahr 1284 setzt. Endlich erhielt die Sage ihre jetzige Gestaltung durch einen dritten hamelnschen Geistlichen, den Jesuiten Athanasius Kircher, der zuerst die kühne Behauptung ausspricht, die vom Rattenfänger in den Koppenberg gelockten Kinder seien in Siebenbürgen wieder an’s Tageslicht gekommen und die Stamm-Eltern der dortigen Sachsen geworden.
Neben diesen literarischen Denkmälern existiren aber noch viele andere Zeichen und Umstände, welche für ein Ereigniß, wie es die Grimm’sche Sage meldet und selbst Rollenhagen’s „Froschmäusler“ berichtet, zu bürgen scheinen, Zu Erich’s Zeiten standen auf dein Koppenberge zwei uralte Kreuze, deren eines die Jahreszahl 1284 getragen haben soll, und an zwei Häusern verkünden noch heute inschriftliche Sculpturen die unheimliche That des zauberischen Pfeifers. Am Rattenfängerhause, an dessen der Bungelosen-, das ist Trommellosen-Straße zugekehrten Wand, befindet sich die eine, welche unsere heutige Abbildung veranschaulicht, am Hochzeitshause die andere, welche folgenden Wortlaut hat:
„Nach Christi Geburt 1284 Jahr
Gingen bei den Koppen unter Verwahr
Hundertdreissig Kinder, in Hameln geboren,
Von einem Pfeifer verführt und verloren.“
Ja, noch mehr! Aus einem lateinischen Distichon, welches sich bis vor wenigen Jahren an einem der Thore Hamelns befand, jetzt aber in der Krypta des Münsters aufbewahrt wird, rechnete man das schon genannte Jahr als bestimmte Zeit des Schreckensereignisses [375] heraus; ferner war auf einem Fenster der Marktkirche bis zum Jahre 1527, wo es renovirt worden, der tückische Entführer mit seinen jugendlichen Opfern leibhaftig dargestellt, und einige Schriftsteller wissen sogar von einer mit ähnlichen Bildern versehenen Gedächtnißmünze, die aus Anlaß jener traurigen Begebenheit geschlagen worden sein soll; ein holländischer Gelehrter, Johann Lactus, aber überbietet all dies noch durch die Behauptung, die Hamelner Bürger hätten bis 1643 ihre officiellen Schriftstücke „anno x nach unserer Kinder Ausführung“ datirt.
Eine von solcher Fülle angeblicher Wahrheitsmomente unterstützte Sage mußte natürlich den Erklärungseifer von Gelehrten wie Ungelehrten mit gleicher Stärke erwecken, und eine ganze Reihe theils bedeutender und geistreicher, theils aber auch plumper und fader Lösungsversuche zeitigen.
Beachtenswerth von diesen verschiedenen Auffassungen erscheinen nur zwei, von denen die erstere Hamelns Kinderverlust mit den namentlich zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts auch in Deutschland grassirenden Flagellantenfahrten und Veitstänzen zusammen bringt, während die andere jenes Unglück mit den aus Frankreich nach Deutschland importirten und mit ungeheurem Fanatismus besonders in Thüringen ausgeführten Kinderkreuzzügen auf dasselbe Blatt setzt.
Einen bedeutenden Schritt vorwärts in der Erklärung der Rattenfängersage that 1749 ein Geistlicher Hamelns, der Garnisonprediger Fein, indem er mit seiner Schrift „Die entlarvte Fabel vom Ausgange der hämelnschen Kinder“ auf ein wohlbeglaubigtes Ereigniß in der Geschichte Hamelns, nämlich auf die am 28. Juli 1259 stattgehabte Schlacht bei Sedemünder hinwies, in welcher die kampffähige Jugend der Stadt theils im Streite gegen Bischof Wedekind von Minden fiel, theils in des Letzteren Gefangenschaft gerieth.
Die ausziehenden Kinder sind besagtem Geistlichen die ausrückenden jungen Krieger mit einem Pfeifer an der Spitze, und die Straße nach Sedemünder führt wirklich aus dem Osterthore und über den Hamelner Koppenberg. Dort verliert die nachschauende Bürgerschaft die Kriegerschaar aus den Augen – mit anderen Worten: die Jugend verschwindet scheinbar im Koppen, und von den Sieben-Bergen her, das heißt über die Hausberge bei Minden, kehren die von Wedekind gefangenen Streiter und Geiseln, nach zu Stande gekommenem Vergleiche zwischen Stadt und Bischof, in ihre Heimath zurück. Aus den Sieben-Bergen des Weserlandes hat die Volksphantasie mit Zuhülfenahme des auffallenden Gleichklanges beider Namen Siebenbürgen in Ungarn gemacht, und eine derartige, in geographisch ungeschulten Zeiten gar nicht auffällige Verwechselung lag um so näher, als sich im siebenbürgischen Gebirgslande mehr als ein Calvarienberg – wie der hämelnsche Koppenhügel noch genannt wird – befindet. Aber gerade diese Fein’sche, auf den ersten Blick bestechende, rein historische Deutung hat den jetzigen Oberlehrer Dr. Dörries in Hameln veranlaßt, der Sache noch tiefer auf den Grund zu gehen. Gestützt auf Jacob Grimm und zahlreiche Belege, behauptet er, daß die Rattenfängersage mehr als eine nur historische Deutung zuläßt. Er erklärt den Hamelner Mythus für eine internationale Wandersage. In der That wird von einem Kapuzinermönche im Dorfe Drandy bei Paris, ferner von einem Dudelsackpfeifer zu Belfast und endlich von einem Brandenburger Leiermann Aehnliches gefabelt, wie vom Hamelner Rattenfänger.
So dürfte denn dem Leser klar geworden sein, daß in dem wunderbaren Gewebe der Rattenfängersage der Auszug historisch, der Einschlag dagegen entschieden mythisch ist. Wo sich aber Geschichte und Mythe zu einer Sage verschmelzen, da entsteht als Drittes und Neues immer das psychologische Element, und diese geistige Substanz ist es, welche Sagen und Märchen Jahrhunderte überdauern macht, ihrer dichterischen Gestalt immer neuen Reiz verleiht und die Künstler aller Epochen anspornt, an derartigen Stoffen ihre schöpferische Kraft zu erproben.
In unseren Tagen verband sich die Poesie mit der Musik und der darstellenden Kunst und gab in dieser Mächtigkeit des Ausdruckes der bisher nur local hamelnisch gefärbten internationalen Rattenfängersage ein deutsch-nationales Gepräge.
Nachdem Goethe, auch in dieser Beziehung seiner Zeit vorauseilend, mit genialem Blicke das psychologische Moment der Rattenfängersage erfaßt und in seinen bekannten drei Balladenstrophen zum ersten Mal offenbart hatte, sodaß Gläser in seiner frühesten Rattenfängeroper den Fußstapfen dieses Altmeisters folgen konnte, stand 1875, wie über Nacht, ein neuer Dichter, Julius Wolff in Berlin, auf; er griff mit glücklicher Hand in die vergilbten Pergamentblätter der kleinen Weserstadt und schuf – alles bis dahin über diesen Gegenstand Geschriebene und Gedichtete weit hinter sich zurücklassend – der beinahe verschollenen Aventiure vom Hamelner Rattenfänger in dem Gewande eines modernen, lyrischen Epos neuen Ruf und frisches Leben.
Seit Wolff’s „Hunold Singuf“ seine sechsundzwanzig zündenden Rattenfängerweisen ertönen läßt, ist die Bearbeitung der Hamelner Sage, wie schon bemerkt worden, zu einer Art Cultus geworden. Görner’s phantastisches Volksstück „Der Rattenfänger von Hameln“ hat im Berliner Bellealliance-Theater nahe an 250 Wiederholungen erlebt; V E. Neßler’s gleichbetitelte Oper, zu der Friedrich Hofmann bekanntlich den der Musik sich trefflich anschmiegenden poetischen Text geschrieben, ist im königlichen Opernhause zu Berlin und an nahezu fünfzig Hof- und Stadttheatern in Scene gegangen, und augenblicklich bereitet der Hofcomponist Bratzky eine Operette dieses Namens für das Friedrich Wilhelmstädtische Theater vor. Ja, sogar der Reichshauptstadt erster Circus „Renz“ hat sich den Stoff nicht entgehen lassen und in seiner Weise großartige Leben und Farben sprühende Tableaus daraus arrangirt.
So hat der wundersame Rattenfänger das kleine Hameln an der Weser zu einer viel genannten Stadt gemacht. Wohl selten hat eine internationale Wundermär ihrer deutschen Niederlassung und Heimstätte so viel Ruhm eingebracht und Millionen Herzen, nah und fern, so mannigfachen künstlerischen Genuß bereitet, wie Hamelns Rattenfängersage.
Die Sachsen in Siebenbürgen.
Oesterreich hieß noch nicht „die österreichisch-ungarische Monarchie“, sondern es stand als „Kaiserthum Oesterreich“ noch an der Spitze des „Deutschen Bundes“, als sein Ministerpräsident, der clerical-feudale Graf Beleredi, gegen die national- und freigesinnten Männer des durch ihn sistirten Wiener Reichstages die Drohung ausstieß: „Man muß diesen Deutschen zeigen, daß man Oesterreich ganz gut ohne sie regieren kann.“
Diesen Gedanken hatte wohl jede der anspruchsvolleren nichtdeutschen Nationalitäten des völkerreichen Staates oft genug gehegt; er war nicht neu – aber an dieser Stelle, der nächsten neben dem Throne, hatte ihn noch Niemand so scharf und so laut auszusprechen gewagt, und eben darum mußte seine Wirkung so sein, wie sie es wurde: aufregend und ermuthigend für die herrschsüchtigen Theile und unheilvoll für das Ganze des Staates, dem nur ein Wille und ein Gesetz eine geschlossene Kraft, aber in dieser mit dem Gefühl der Sicherheit gegen außen den Segen der Ordnung und Freiheit im Inneren verleihen konnte.
Stellen wir uns das Völkerbild Oesterreichs einmal vor Augen![2] Es scheidet sich von selbst in drei Theile: in einen nördlichen, einen mittleren und einen südlichen, in deren jedem sich compacte Massen von besonderen Nationalitäten an einander reihen. Im Norden sehen wir die Czechen, von allen Grenzgebirgen her von einem starken Rahmen Deutscher eingeengt, im Innern Böhmens sich ausbreiten; an diese schließen im Osten sich die Mähren, die Slovaken, die Polen und die Ruthenen an, sodaß wir vom Herzen Böhmens bis an die russische Grenze nur eine slavische Völkerreihe vor uns haben.
Den mittleren Theil bilden im Westen die Deutsch-Oesterreicher; östlich von ihnen breitet sich das Gebiet der Magyaren und neben diesen das der Rumänen (Walachen) aus, die, wiederum in starker und compacter Masse, die siebenbürger Szekler und Sachsen völlig vom magyarischen Gebiete trennen.
[376] Die südlichsten Volkstheile Oesterreichs sind die Italiener Tirols, die Slovenen in Untersteiermark und Krain, und mit diesen hängen, die Magyaren von dem jetzt selbstständigen serbischen Füstenthum trennend, die südslavischen Völker der Slavonier und der Serbo-Kroaten zusammen, ferner die diesen stammverwandten Morlakken Dalmatiens, die nun mit Bosnien und der Herzegowina ein slavisches Gebiet beherrschen, das weit in den Süden reicht, wo Oesterreich die Faust von Novibazar zwischen Serbien und Montenegro hineingeschoben, und das an Ausdehnung dem der Nordslaven gleich kommt.
Ist dieses Völkerbild an sich schon farbenreich genug, so gewinnt es doch noch einen besondern bunten Schmuck durch die vielen Sprachinseln, durch welche von den Grenzen des Deutschthums an der Gang des deutschen Culturfortschritts durch alle drei eben genannten Abtheilungen bis zum äußersten Osten wie durch ehrende Marksteine bezeichnet wird. – Diese deutschen Sprachinseln beginnen in unserer nördlichen Abtheilung schon in Böhmen, wo Prag selbst als eine Hochburg deutscher Wissenschaft mitten im Czechenlande prangt. Die Sprachinsel Iglau steht wie ein mächtiger Brückenpfeiler zwischen dem deutsch-böhmischen Vorgebirge Neuhaus im Süden und der Südspitze des deutschen Schlesierlandes, das den Deutsch-Böhmen der Nordgrenze die Hand reicht. In Mähren und der Slovakei, sowie im Polen- und Ruthenengebiete finden wir bald größere Niederlassungen, bald einzelne Gemeinden Deutscher, hauptsächlich behaupten sie sich aber in den Hauptsitzen der Industrie, der Regierung und der Wissenschaft. Im Ganzen zählen wir in dem bezeichneten Gebiete vierundfünfzig größere und Keine Sprachinseln, darunter: Olmütz, Brünn und Austerlitz, Krakau und Wieliczka, Lemberg, Brody und Czernowitz.
Noch bedeutender tritt diese Erscheinung in Ungarn und Siebenbürgen auf. Die vielgestaltigen, volkreichen deutschen Sprachinseln folgen hauptsächlich dem Donaustrom, aber auch abseits davon, doch einzelner, schwimmen sie im Magyarengebiete, in welchem allein man deren etwa fünfundvierzig zählt. Eine starke Gruppe, welche von Arad über Temesvar bis Werschetz hinabreicht, bildet die Grenze zwischen dem magyarischen und dem rumänischen Sprachgebiet, welch letzteres etwa zwanzig deutsche Sprachinseln umfaßt, darunter als die größten die Lande der Sachsen, aber auch viele (wohl nahe an dreißig) kleine magyarische Sprachinseln, hauptsächlich in der Richtung nach dem Szeklerlande, welches die Hauptmasse des Landes der Sachsen vom Königreich Rumänien trennt. Die deutschen Sprachinseln in Ungarn sind für den uns vorliegenden Fall vom schwersten Gewicht, doch verdienen auch die der südlichen Abtheilung Beachtung, indem auch sie vorzüglich die Haupt-, Industrie- und Verkehrsorte andeuten, wie im Gebiete der Slovenen: Marburg, Pettau, Cilli, Laibach, Görz und Triest. In Gottschee haben etwa 28,000 fränkisch-thüringische Einwanderer seit Jahrhunderten heimathliche Sprache und Sitte bewahrt. Dünner gesäet (etwa fünfzehn) sind diese Sprachinseln in dem weiten Landstriche zwischen der Drau und der Sau in Slavonien und Syrmien, bis sie, bei Semlin die Donau überspringend, in Weißkirchen enden.
Ueber den innigen Zusammenhang dieser deutschen Sprachinseln mit dem gesammten Culturleben namentlich in Ungarn hat unser Artikel „Die Deutschen in Ungarn“ (1880, Nr. 25) eine ausführliche Darlegung gegeben. Wir können Diesem aus eigener Erinnerung noch Folgendes beifügen. In der Mitte der dreißiger Jahre muß eine Zeit des friedlichsten Verhältnisses zwischen Deutschen und Magyaren gewesen sein: davon war sogar im Herzen Deutschlands eine Spur zu erkennen, nämlich in den vielen Ungarn, welche damals auf deutschen und namentlich auf den sächsischen Hochschulen von Halle, Leipzig und Jena studirten. In Jena hatten sich ein Paar Dutzend dieser Ungarn mit Siebenbürger Sachsen der Burschenschaft angeschlossen. Wir lebten im innigsten Verkehr mit ihnen, und sie belehrten uns über manche Eigenthümlichkeit ihrer heimischen Zustände. Alle aber versicherten, daß das Wagniß, das sie trotz des strengen österreichischen Verbots mit dem Besuch unserer Universitäten unternommen, ihnen daheim reichlich gelohnt werde; denn es gehöre zum Stolz vieler ihrer Magnaten, zu Hauslehrern und Geistlichen solche zu wählen, welche in Sachsen studirt hätten. Daß bei solcher Achtung vor deutscher Wissenschaft auch die deutsche Sprache nicht verachtet wurde, ist selbstverständlich; sie war die Sprache der Gebildeten im ganzen Lande, und selbst in den slavischen Reichstheilen das allgemeine Verständigungsmittel.[3] Nicht übersehen dürfen wir allerdings, daß Deutsche und Ungarn damals unter einem gemeinsamen Drucke litten und einen gemeinsamen Feind hatten: das Metternich’sche System.
Dieses freundliche Verhältniß war allerdings nur in den Kreisen der Höchstgebildeten möglich. In den Massen saß, wie bei allen nichtdeutschen Völkern des Reiches, der Ingrimm gegen die fremde Sprache der Herrschenden, der Beamten, der Militärfuchtelei und aufgezwungenen Schulmeisterei fest. Dazu gesellte sich frühzeitig das Mißgefühl über das Emporkommen der Deutschen, ob sie als Landbauer, Handwerker oder Handelsleute, ob als Künstler oder Gelehrte irgendwo festen Boden gewonnen. Wenn der ärmere Theil des ungarischen Adels solches betriebsame Bürgerpack mit der Verachtung strafte, wie ungefähr der leichtfertige Student den „Philister“, so fraß in anderen Volksschichten, und namentlich bei Slaven und Walachen, der Neid tiefer und streute überall mit dem Samen der Cultur auch gleich den jener Feindschaft aus, die seit Belcredi’s verhängnißvollem Worte in so üppige Blüthe geschossen ist. Es war ein Unglück für den deutschen Culturgang zwischen Alpen und Karpathen nach dem Orient, daß seine Führung in die Hand der Regierung Oesterreichs fallen mußte, das bei seiner politischen und kirchlichen Starrheit sich nirgends Freunde zu erwerben verstand. Während die deutschen Künstler die Lieblinge der römischen Bevölkerung waren, konnte man im österreichischen Oberitalien an jeder Straßenecke das „Morte ai Tedeschi!“ lesen, und während auf dem Burgkeller in Jena deutsche und ungarische Jugend innige Freundschaft schloß und sich schwärmerisch am Herzen lag, kochte jenseits der hohen Tatra das Gift der alten Zwietracht in den Massen fort.
Wie aber war es möglich, in wenigen Jahrzehnten Zustände zu schaffen, wie sie in diesem Augenblicke herrschen, Zustände, durch welche Deutsche und Magyaren der „österreichisch-ungarischen Monarchie“ durch alle Stände auf das Feindseligste aus einander gerissen worden? Auch diese Frage müssen wir noch erledigen, ehe wir zu unserm Gegenstände kommen können.
Die krankhafte Hast, mit welcher die Magyaren alle Völler in den weiten Ländern der Stephanskrone, die ihnen der „Beust’sche Ausgleich“ überantwortet, zu magyarisiren streben, diese immer fanatischer treibende Hast entspringt einem politischen Traumbilde, das nicht in Erfüllung gehen kann. Ich erinnere die Leser an unser Völkerbild. Noch mit weit mehr Recht, als wir im deutschen Reiche, können jetzt die Magyaren singen: „Feinde ringsum!“ Im Norden droht ihnen der panslavistische Geist, hinter welchem Rußland steht, Ungarns allerschlimmster Feind. Im Osten ist das Königreich Rumänien erstanden, ein selbstständiger Staat von der Macht Baierns, dem der Anfall einiger Millionen, ungarischer Rumänen nicht unwillkommen sein kann. Der Zusammenhang zwischen beiden besteht; schon jetzt finden massenhafte Auswanderungen aus dem ungarischen nach dem Königreiche Rumänien statt, um dem Drucke der Magyarisirung zu entgehen.
Wie im Norden, ist im Süden ein trotziges Slaventhum zur energischen Abwehr der nationalen Unterdrückung bereit; die Kroaten stehen bereits im Kampf, und nach Serbien ist eine so massenhafte Auswanderung aus Südungarn eröffnet, daß die eifrigen Herren in Budapest sofort auf den Verdacht verfallen sind, es könnten dies nur die Folgen von Umtrieben feindseliger Agenten sein; denn daß Jemand von selbst auf den Wunsch gerathen könnte, der Herrlichkeit der magyarischen Wirthschaft, dem Steuer- und Entnationalisirungsdruck sich zu entziehen, ist magyarisch nicht denkbar. Und im Westen des Magyarenlandes? Im Westen wohnen die Deutsch-Oesterreicher, und hinter ihnen steht das Deutsche Reich, das mit der „österreichisch-ungarischen Monarchie“ einen Bund geschlossen hat.
Ein Politiker, in welchem die blinde Leidenschaft nicht mit dem klaren Verstand in Kampf gerathen und in welchem der Gedanke der Völkerbeglückung höher als die nationale Eitelkeit gestanden, würde für die Sicherheit und edelste Machtentfaltung des Gebiets der Stephanskrone nichts Gedeihlicheres gefunden haben, [377] als den ehrlichen Anschluß der Magyaren an die Deutschen und das Deutsche Reich, als die ohne Zweifel jetzt zuverlässigste Macht Europas. Nicht blos das Bündniß, sondern auch das eigene Industrie- und Handelsinteresse gebietet dem Reich, sich den Weg in’s Morgenland weder durch Rußland noch durch einen andern deutschfeindlichen Staat versperren zu lassen. Eben deshalb ist es, im Verein mit jenen Interessen, Deutschlands ernste Sorge, den Bestand Oesterreich-Ungarns gegen jeden Angriff aufrecht zu erhalten. Mit diesem Gefühl, der Sicherheit nach außen mußten die magyarischen Staatsmänner, nachdem sie vollkommen „freie Hand“ gewonnen, nicht die Unterdrücker, sondern die Befreier aller nichtmagyarischen Völker der Stephanskrone werden. Was Oesterreich ihnen so lange versagt – sie mußten es mit offenen Händen bieten, und sie konnten es; denn sie hatten die Macht dazu. Alle Slaven, Rumänen und Deutsche Ungarns an sich ketten durch die Segnungen der Freiheit, der Bildung und des geschützten Wohlstandes – das wäre eine Washington-That gewesen, und wie es keinem französischen, keinem italienischen, keinem deutschen Schweizer, trotz aller Verlockung, die in der Zugehörigkeit zu einem großen Reiche liegt, jemals eingefallen, dem gemeinsamen schweizerischen Vaterlande untreu zu werden, mit derselben Treue würden die genannten ungarischen Nationen sich unter dem Schutze der Magyarenkrone frei und glücklich gefühlt haben.
Leider waren für eine so hohe und edle Idee die Köpfe und Herzen der ungarischen Staatslenker zu klein; sie griffen, sobald sie die Macht fühlten, zum schroffsten Gegensatz jener Idee: zur rücksichtslosesten Ausnutzung ihrer Uebermacht, zur vollsten Sättigung der Selbst- und Herrschsucht und zur Befriedigung lange gehegter Rache. Und all das Unglück, das für Millionen daraus erwächst, ist das Erzeugniß jenes politischen Wahns, der sich des gesammten Magyarenvolks bemächtigt hat.[4] Ein Drittel aller Völker der Länder der Stephanskrone bildend, faßten die Magyaren, den Entschluß, die zwei anderen Drittel Nicht-Magyaren ihrer nationalen Rechte und ihrer Nationalitäten vollständig zu berauben, sie mit Leib und Seele sich einzuverleiben und so ein Fünfzehnmillionen-Reich herzustellen, das als rein-magyarische Großmacht seine Selbstständigkeit sich selbst zu wahren im Stande sei.
Die Geschichte kennt kaum ein kühneres Unternehmen, aber auch kein verhängnißvolleres für den Unternehmer selbst. Die Vernichtung fremder Nationalitäten ist ein schweres Werk, an welchem schon die Mächtigsten gescheitert sind. Der Vernichtungskampf gegen das Deutschthum schleuderte einen Napoleon den Ersten nach St. Helena. Hier vollbringt’s nicht die Gewalt allein; hier ist die Zeit der zerstörendste Mithelfer, aber nicht die von Jahrzehnten; oft trotzt das, was wir mit der schönsten Bezeichnung schmücken: die „Muttersprache“, im Heiligthum des Hauses Jahrhunderte lang der offenen Tyrannei und hebt im Stillen den Samen des Hasses und der Vergeltung auf für die rechte Zeit. Gewaltsam unterdrückte Völker sind nie eine Stärkung, sondern stets eine Schwächung, der unterdrückten Macht gewesen.
Trotzalledem fahren die Magyaren in der begonnenen Weise, namentlich in der “Unterdrückung alles Deutschen fort, wie unser bereits angeführter Artikel in Nr. 25 von 1880 dargethan hat. Wenn nun, wie dort (S. 406) gesagt ist, die Deutsch-Ungarn des Magyarengebiets, welche mit der neuen magyarischen Bewegung gegen Oesterreich, 1861, sympathisirten, weil eben damals „Oesterreicherthum leider Ultramontanismus, Absolutismus und Reaction, der Magyarismus dagegen politische und religiöse Freiheit bedeutete“, ungeachtet dieser Magyarenfreundlichkeit bald genug die Angriffe auf ihre Nationalität spüren mußten, so konnte man an der Wucht, mit welcher die Faust der Gewalt auf die Sachsen Siebenbürgens niedetfiel, sofort erkennen, daß es hier einen verhaßten Feind nicht nur niederzudrücken, sondern zu erdrücken galt.
Die Sachsen Siebenbürgens gehören bekanntlich zu den deutschen Einwanderern, welche der Einladung ungarischer Könige gefolgt sind, die in einsichtsvoller Sorge für ihr Land erkannt hatten, daß die eigene Bevölkerung zu schwach sei, um dasselbe im Innern zu cultiviren und nach außen zu schützen. Der Wandertrieb der Deutschen, durch die Kreuzzüge neugeweckt und nach Osten hingeleitet, war leicht zu solcher Auswanderung in geschlossener und geordneter Masse zu bewegen, und haben die deutschen Einwanderungen, unter König Geisa im zwölften Jahrhundert beginnend, nach und nach in Siebenbürgen eine Colonie von mehr als 200,000 Seelen gegründet. Die ersten Schaaren scheinen aus Flandern, sowie von Rhein und Mosel hergekommen zu sein, spätere Zuzüge aber auch aus Friesland zu stammen; wie, nach J. Grimm’s Annahme die Seeblätter im Wappen von Hermannstadt andeuten; da aber seit dem dreizehnten Jahrhundert der Name „Sachsen“ für alle Deutschen Siebenbürgens Geltung gewinnt, so mögen aus dem weiten Gebiete von Niedersachsen ebenfalls noch bedeutende Ansiedlermassen dazu gekommen. sein. Erinnern müssen wir hier an die kecke Sage vom unterirdischen Zuge der Hamelner Kinder nach Siebenbürgen, welche Seite 374 dieser Nummer erwähnt ist.
Die großartige Schicksalstragödie, welche die Geschichte dieses Sachsenvolks vor uns aufrollt, wird später hier Raum finden. Jetzt müssen wir vor Allem wissen, was die Sachsen dem Ungarlande waren und was sie zu Recht besaßen, um ermessen zu können, wie sie von magyarischen Parlamenten und Ministern beraubt worden sind.
Welche Achtung die Sachsen in ihrer neuen Heimath sich zu erwerben vermocht, das bezeugt der Freibrief, welchen König Andreas der Zweite von Ungarn ihnen 1224 ausstellte. Zugesichert waren ihnen vor Allem Schutz ihrer Nationalität Und Selbstverwaltung. Die Könige wußten, was sie an ihnen hatten, namentlich auch ihrem unzuverlässigen und habgierigen Adel gegenüber; nicht vergeblich ertheilten sie ihnen ein gemeinsames Siegel, das die Inschrift trug: „Ad retinendam Coronam“ (Zum Schutz der Krone). Die Entwickelung ihres freien deutschen Gemeindewesens hatte mit dem Jahre 1464 ihre Vollendung erreicht. Jede Gemeinde wählte alljährlich ihren „Richter“, sowie die „Geschworenen“ oder „Aeltesten“. Viermal im Jahre trat die Gemeindeversammlung als höherer Gerichtshof („Stuhl“) und einmal im Jahre die Gauversammlung als Landtag zusammen. Das Hermannstädter Gericht war der „Oberhof“ für alle Stühle und Bezirke. Die Regierung und Verwaltung des gesammten Sachsenlandes, das wegen seiner königlichen Freiheiten der „Königsboden“ genannt wurde, leitete die „Sächsische Nationaluniversität“, an deren Spitze der früher vom König, später von der Nation gewählte Nationsgraf (Comes) stand. Er war zugleich Führer der bewaffneten Macht, die immer wohlgerüstet sein mußte; denn der von den Sachsen urbar gemachte Boden ist nur zu oft mit ihrem und ihrer Feinde Blut gedüngt worden. Einen Adel ließen die Sachsen nicht in ihrer freien Gemeinschaft aufkommen; keine Ritterburg liegt als Ruine im Lande, aber die Befestigungen ihrer Berge und Kirchen, die sächsischen „Bauernburgen“ zeugen noch heute davon, wie tapfer dieses Volk seine Heimath gegen Feinde, gegen Walachen und Türken, oft selbst gegen die Ungarn vertheidigen mußte (vergl. „Gartenlaube“ 1869, Nr. 30).
Der Reformation schloß sich sofort das ganze Volk an, und von da an beginnt der innige, geistige Zusammenhang dieser Sachsen mit Deutschland. Von da ward es feste Bestimmung, daß die Candidaten des Pfarramtes gelehrte Studien in Deutschland gemacht haben mußten. Natürlich holten auch die Genossen anderer Facultäten sich dort ihre geistige Erfrischung. Selbst in Deutschland würde das kleine Sachsenland eine hohe Stufe der Volksbildung eingenommen haben; es besaß nicht weniger als fünf Gymnasien, ein Progymnasium, dazu Seminarien, Real-, Ackerbau- und Gewerbeschulen und Elementarschulen in jedem Dorfe und dazu eine ausgezeichnete Rechtsakademie in Hermannstadt. Das gesammte Vermögen der Nationaluniversität (der corporativen Vertretung der Sachsen), das auf zwei Millionen Gulden angegeben wird, war ausschließlich den Zwecken deutscher Bildung gewidmet, die ihre Nationalität allein bisher aufrecht erhielt.
Die königlichen Rechte der Sachsen sind zwar oft verletzt, ja [378] zeitweise aufgehoben, aber stets wieder erneut worden, und selbst in den gesetzlichen Bestimmungen über die Vereinigung Ungarns und Siebenbürgens von 1868 setzt der dreiundvierzigste Artikel Folgendes fest:
„§ 10. Behufs von Sicherstellung der Innerverwaltungsrechte der Stühle, Districte und Städte des Königsbodens, der Organisirung ihrer Vertretung und der Feststellung des Rechtskreises der sächsischen Nationsuniversität wird das Ministerium beauftragt, nach Anhörung der Betreffenden dem Reichstage einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen, welcher sowohl die auf Gesetzen und Verträgen beruhenden Rechte, als auch die Gleichberechtigung der auf diesem Territorium wohnenden Staatsbürger gehörig zu berücksichtigen und in Einklang zu bringen haben wird.
§ 11. Die sächsische Nationsuniversität wird auch hinfort in dem den XIII siebenbürgischen Gesetzartikeln von 1791 entsprechenden Wirkungskreise unter Aufrechterhaltung des obersten durch das ungarische verantwortliche Ministerium auszuübenden Aufsichtsrechtes Sr. Majestät belassen, mit dem Unterschiede, daß die Universitäts-Versammlung in Folge der Veränderung in dem System der Rechtspflege die richterliche Jurisdiction nicht mehr ausüben kann.“
Diese beiden Paragraphen mußten wir hier abdrucken; denn sie bestehen noch zu Recht; sie sind nicht aufgehoben – aber von dem, was sie zusichern und zu beschützen versprechen, steht kein Stein mehr auf dem andern.
Was diese Sachsen siebenhundert Jahre lang festgehalten, was sie selbst aus der furchtbarsten Zeit der Türkenherrschaft über Ungarn und Siebenbürgen, „jenen entsetzlichen zweihundert Jahren voll Mut, Trümmer und Thränen, die mit der Schlacht von Mohacz (1526) begannen und erst mit der dauernden Herstellung habsburgischer Herrschaft (1691) endeten“ – was sie aus dieser Zeit treu und muthig gerettet: ihre deutsche Nationalität, sie soll in der und trotz jener Paragraphen –„durch eine ununterbrochene Kette der flagrantesten Rechtsverletzungen und des rücksichtslosesten Mißbrauchs der Macht“ eines hohnlachenden Magyaren-Parlamentes und eines siegschmunzelnden Ministers ausgerottet werden.
Daß „deutsch sein“ und „Verbrecher sein“ längst in der Logik des blinden Hasses bei den Magyaren gleichbedeutend geworden, zeigt die Hinrichtung des evangelischen Pfarrers Roth in Klausenburg am 11. Mai 1849 (vergl. „Gartenlaube“ 1862, Seite 407). Stand auch das Gericht unter dem Einflusse der Revolution, in welcher die Sachsen treu zum Hause Oesterreich gehalten hatten (um später das Schicksal Tirols von 1809 zu theilen), so ist doch das Charakteristischeste des Todesurtheils die Bemerkung des ungarischen Regierungscommissars Chány: daß Roth nicht einen, sondern zehn Tode verdient habe, „weil er an der Vertilgung der ungarischen Nation gearbeitet“, das heißt die Einwanderung Deutscher in Siebenbürgen gefördert habe.
Schon zu Anfang der fünfziger Jahre begann der Sturmlauf gegen die deutsche Rechtsakademie in Hermannstadt, und so „energisch“ ging man gegen die hervorragenden Persönlichkeiten derselben vor, daß durch die unaufhörlichen Kränkungen und Bedrückungen einer der edelsten Männer, Professor Heinrich Schmidt (der mit uns in Jena am „Ungarntisch“ gesessen und der Liebling Aller war) in Verzweiflung und Tod gehetzt wurde.
Dies Alles waren nur Vorspiele. Das Nationaltrauerspiel begann mit dem „Ausgleich“ von 1867, durch welchen Siebenbürgen in die Gewalt der Ungarn kam. Das Magyaren-Parlament ertheilte dem Minister des Innern sofort ein ganz neues Recht zu einem konstitutionellen Staate: das Recht der „freien Hand“ zum beliebigen Gebrauch aller Machtmittel, welche dem dermaligen obersten Staatszweck der Magyarisirung aller Unterthanen der Stephanskrone dienen.
Alle Maßregeln, welche zu diesem Behufe gegen „die Deutschen in Ungarn“ ergingen (vergl. unsern. Artikel in Nr. 25 von 1880), wurden auch auf die Walachen und Sachsen Siebenbürgens ausgedehnt. Nur fand man gegen letztere besondere Härten nöthig, und durfte zum Wohlgefühl der Rache – der Hohn nicht fehlen.
Der erste Mann im Sachsenlande, der von der Nation auf Lebenszeit freigewählte und von der Krone bestätigte Nationalgraf (Comes) konnte selbstverständlich nur ein unantastbarer Ehrenmann sein. Als solcher hatte Conrad Schmidt sich erwiesen und selbst im Reichstage die Hochachtung aller Würdigen sich errungen. – Kaum war dem ungarischen Ministerium „die freie Hand“ gegeben, so benutzte es dieselbe, um – ohne Angabe irgend welchen Grundes – den „für Lebenszeit gewählten und von der Krone bestätigten“ Comes C. Schmidt ohne Weiteres seines Postens zu entheben und an seine Stelle ein gefügiges Werkzeug des Magyarismus zu setzen, denn das genügte vollauf, die betreffende Person zum Vertrauensmann der ungarischen Regierung zu stempeln. Die höchste Würde des Sachsenvolkes aber war in den Staub getreten.
Das geschah im Februar 1868. Noch in demselben Jahre beorderte das Ministerium Andrassy einen mit diktatorischer Gewalt ausgerüsteten königlichen Commissar nach Siebenbürgen, welcher dasselbe mit „freies Hand“ zu verwalten hatte. Diese freie Hand löste sofort die gesetzlichen Vertretungskörper der sächsischen Nation auf und ertheilte einer großen Anzahl rumänischer Dörfer, die früher nicht zum Sachsenlande gehört hatten, das Wahlrecht zur sächsischen Nationsuniversität und folglich zum Mitgenuß des rein sächsischen Privatvermögens.
Mundtodt war die Sachsennation gemacht, aber sie lebte noch als solche, und auch das sollte ein Ende nehmen. Den Triumph dieses schwersten Schlages behielt sich das Ministerium Tisza vor und sicherte ihn durch seine neue magyarisch-constitutionelle Errungenschaft: die Parlaments-Allgewalt über Alles, was Gesetz und Recht heißt, auch wenn jenes noch so feierlich beschworen und dieses noch so fest verbürgt worden ist.
Mit dieser neuen Waffe in der „freien Hand“ legte das Ministerium Tisza zu Anfang des Jahres 1876 dem ungarischen Reichstag einen Gesetzentwurf vor, welcher die Zerreißung des Sachsenlandes und die beliebige Zuweisung der Bestandtheile desselben an die bestehenden oder an neu zu bildende Comitate in Siebenbürgen verfügt, das Amt des Sachsengrafen (Comes) für erloschen erklärt, den der sächsischen Nationsuniversität seit Jahrhunderten zugestandenen und noch vor Kurzem neu garantirten Wirkungskreis aufhebt und dieselbe zu einem bloßen Verwaltungsorgane bezüglich des sächsischen Nationalvermögens degradirt.
Es war ein Anblick zum Erbarmen und zum Bewundern, der viertägige Kampf der Sachsen für ihr Recht im ungarischen Landtage. Die Tage des 22., 23., 24. und 27. März 1876 bilden für die Geschichte des „Sachsenlandes“, des „Königsbodens“, das letzte Blatt, aber es bleibt für sie ein Ehrenblatt für alle Zeiten. Die tüchtigsten Männer und besten Redner der Sachsen traten hier in die Schranken. Was gediegenste Rechtskunde, Staatsweisheit und Vaterlandsliebe nur immer an geistigem Rüstzeug bieten konnte, ward von Männern, wie Gustav Kapp, Guido von Baußnern, Adolf Zay, Karl Gebbel, Emil von Trauschenfels und Eduard Steinacker in den Kampf getragen; in jeder gerechteren Versammlung hätten Inhalt, Werth und Wucht der Worte Eindruck machen müssen: hier stand das kleine Häuflein der fünfzehn „treuen“ Sachsen (zwei Sachsen: Friedrich Wächter und Fabricius, waren untreu geworden), und ihnen gegenüber standen die in ihrem Stolze und Hasse einmüthigen Magyaren, denen sich, weil es gegen die Deutschen ging, auch Rumänen, Slaven und magyarisirte Deutsch-Juden dienstwonnig anschlossen. Hier der glühende Eifer edler Männer – und dort die fanatische Masse, welche die Redner oft mit Lärm und Toben unterbrach, – bis endlich selbst Baußnern’s mahnender Appell an die Ehre der magyarischen Nation, die nicht durch Wortbruch sich schänden dürfe, mit Hohngelächter beantwortet worden war. Nach der Spiegelfechterei der Abstimmung, deren Resultat der Ministerpräsident Coloman von Tisza mit der Phrase, würdig der schlimmsten Tage des „Convents“, krönte: „Ueber der parlamentarischen Gewalt steht nur die allgemeine ewige Gerechtigkeit“ – verließen die Sachsen den Landtagssaal. Ihr Name war auf der Landkarte Ungarns ausgewischt.
Die Sitte, zu Pfingsten die engen Mauern der Stadt zu verlassen und in den maigrünen Wäldern Herz und Seele zu erquicken, läßt sich ohne Zweifel auf uralte Bräuche zurückführen. Freilich sind die prosaischen Eisenbahnfahrten und die allzu oft lästigen Touristenschwärme unserer Tage eine jämmerlich verkrüppelte Form tiefsinniger und echt volksthümlicher Feste.
Kirche und Staat haben, wie gegen viele andere Ueberlieferungen des Heidenthums, so auch gegen diese althergebrachten Mai- und Pfingstfeste seit Jahrhunderten einen barbarischen Kampf geführt. Es ist ihnen auch gelungen, dieselben auf ein enges Gebiet zu beschränken; denn nur hier und dort, in entlegenen Bergwinkeln oder von den Heerstraßen des modernen Handels weit entfernten Dörfern des platten Landes lebt noch der alte Brauch fort, und gar merkwürdig ragen diese Trümmer einer verschollenen, naiven Zeit in unser altkluges Jahrhundert herein. Dem Volke ist inzwischen das Verständniß für ihre Bedeutung abhanden gekommen; es weiß nichts mehr von der tiefen Symbolik, welche diesen Festlichkeiten zu Grunde liegt; es beurtheilt dieselben nur nach dem äußeren Schein und wendet sich in dieser Zeit der wachsenden Prosa von der „nutzlosen Spielerei“ immer entschiedener ab. Um so mehr ist es die Pflicht des gelehrten wie des populären Schriftthums, das Bewußtsein von dem Wesen dieser Feste wachzuhalten und – soweit sie bereits der Vergessenheit anheim gefallen – die Erinnerung an dieselben zu beleben, weshalb wir erst vor Kurzem über die deutschen Volksbräuche zu Ostern und zu Weihnachten berichtet haben (vergl. „Gartenlaube“ 1880, Nr. 13 und 52). Heute möge es uns noch gestattet sein, ein gedrängtes Bild derjenigen vollsthümlichen Feste und Spiele zu entwerfen, welche einst in der Zeit des aufblühenden Frühlings, in den zwischen Ostern und Pfingsten liegenden frohen Wochen abgehalten wurden.
Zunächst wollen wir daran erinnern, daß die um die Osterzeit abgehaltenen öffentlichen Aufzüge eng mit dem heidnischen Ostaracultus zusammenhingen, daß sich dieselben später an die christlichen Feiertage anschlossen und, indem sie nach und nach ihre charakteristischen heidnischen Merkmale verloren, schließlich zu ziemlich geistlosen, mit den kirchlichen und religiösen Anschauungen der Gegenwart nur lose zusammenhängenden Bräuchen wurden. Ihre Urquelle war die altheidnische, bei allen indogermanischen Völkern Jahr aus Jahr ein begangene Frühlingsfeier, die sich in manchen Gegenden dem freudigsten Feste des Christenthums, dem Osterfeste, unterordnete und in demselben aufging. Dieser Quelle entspringen auch die Bräuche, welche zwischen Ostern und Pfingsten beobachtet werden und den Gegenstand unserer heutigen Betrachtung bilden.
Die Witterung der Monate März und April, in welche die beweglichen christlichen Ostern fallen, war in den nordischen Ländern wenig zur Abhaltung eines Frühlingsfestes im Freien geeignet. Der wirkliche Eintritt des Lenzes erfolgt in jenen Gegenden in einer späteren Jahreszeit, und so war es natürlich, daß die mit der alten heidnischen Feier verbundenen Feste erst im Wonnemonat, bald am Walpurgistag, bald zu Pfingsten begangen wurden.
Die älteste Form, in welcher man dieses Frühlingsfest feierte, bestand in der Abholung des Lenzes und der Vertreibung des Winters und wurde gewöhnlich das Maireiten oder der Mairitt genannt. Von allen germanischen Stämmen blieben dieser Sitte die Schweden und Gothen am längsten treu, und aus dem Norden haben wir auch ziemlich ausführliche und wahrheitsgetreue Schilderungen des genannten Festes erhalten.
Am ersten Tage „Maiens“ rüstete in den Städten die Obrigkeit zwei Reitergeschwader von starken jungen Gesellen und Männern aus, „nicht anders, als wollte man zu einer gewaltigen Schlacht ziehen“. An der Spitze des einen Geschwaders ritt ein Hauptmann, mit vielen Pelzen und gefütterten Kleidern angethan und mit einem Winterspieß bewaffnet. Das war der Winter; er warf Schneeballen und Eisschemel vor sich hin, als wollte er seine gestrenge Herrschaft verlängern. Den Rittmeister des zweiten Geschwaders nannte man den Blumengrafen, weil er mit grünem Gezweige, Laub und Blumen bekleidet war; auch trug er leichte Sommerkleider und ritt „fast nicht wehrhaft“ einher.
Beide Führer zogen zusammen, von ihren Leuten begleitet, in die Stadt ein, wo das sogenannte Stechen oder das Turnier begann. Der zornige Winter und sein finsteres Gefolge warfen mit Asche und Funken um sich, während das sommerliche Gesinde mit grünen Birkenmaien und ausgeschlagenen Lindenruthen sich wehrte. Nachdem der Kampf eine Zeit lang gedauert, wurde dem Sommer von dem umstehenden Volle der Sieg zugesprochen, und hierauf begann eine allgemeine Volkslustbarkeit mit Tanz und Gelage.
Diese Maispiele wurden mit großer Vorliebe abgehalten, und alle Stände, die Fürsten, der Adel und das Volk nahmen an denselben gleichmäßig theil. Es ist nicht schwer, ihren mythologischen Hintergrund zu errathen. Der Wechsel der Jahreszeiten war ja nach dem Naturglauben unserer Vorfahren die Folge des ewig wiederkehrenden Kampfes der winterlichen und sommerlichen Götter, und in den Maispielen wurde dieser Kampf symbolisch dargestellt, wie auch später die christliche Kirche die Wunderwerke ihrer Heiligen symbolisch in gewissermaßen theatralischen Aufzügen den Gläubigen vorführte. Aber bald sollten die mächtigen Bewohner Walhallas die Erfahrung machen, daß auch sie, die Kinder der menschlichen Phantasie, vergänglich sind, wie alle anderen Werke der Menschenhand und des menschlichen Geistes; ihre Throne wankten; denn ein mächtigerer und reinerer Gott zog in die Herzen und Seelen der Menschen ein. Der schöne Brauch des Mairitts, der uns heute, nach vielen Jahrhunderten, so harmlos erscheint und der uns durch seine poetische Auffassung der waltenden Naturkräfte so sehr anmuthet, er war in den Augen der neubekehrten Heiden ein götzendienerisches Spiel. Die Geistlichkeit verpönte ihn als gottlos mit entschiedenem Nachdruck, und so ließ man ihn allmählich fallen.
Aber wohl nichts läßt sich so schwierig ausrotten, wie die Sitten eines Volkes. Die politischen Gestaltungen der Staaten machen neuen Ordnungen Platz; die Besiegten nehmen die Sprache ihrer Bezwinger an; das Volk selbst zerschmettert seine alten Götter und baut neuen himmlischen Altäre und Tempel – nur Eines überdauert diesen Wechsel der Dinge jahrhundertelang: die Volkssitte. Und so kam es auch, daß die Germanen die Personificirung des Winters und des Sommers dem Christenthum, ihrer neuen Religion, opferten, aber trotzdem in veränderter Gestalt an den Maispielen festhielten. Nur hier und dort erhielt sich der Mairitt fast bis in die neuere Zeit hinein; zu Greifswalde wurde das letzte Maireiten im Jahre 1528 abgehalten, und in Hildesheim beobachtete man diesen Brauch sogar noch im achtzehnten Jahrhundert.
An den meisten Orten dagegen trat an die Stelle des Kampfes das Fest der Maigrafen. In Dänemark wurde es am Walpurgistage gefeiert, indem ein Junggeselle mit zwei Kränzen in das Dorf eingeführt und auf den Hauptplatz des Ortes gebracht wurde. Hier bildeten die Jungfrauen einen Kreis um ihn, und er wählte sich eine „Majinde“; indem er auf dieselbe einen seiner beiden Kränze warf. Tanz und Gelage bildeten auch hier, wie überall, den Beschluß der Feierlichkeit.
In andern Gegenden wiederum, und vor Allem in Mitteldeutschland, wurde der Lenz in abweichender Art „in’s Land geführt“. Junggesellen zogen mit dem Maigrafen, der stets zu Pfingsten erwählt wurde, in den Wald; hier schmückte man einen Wagen, den sogenannten Maiwagen, mit 60 bis 70 Bunden Maien und fuhr in das Dorf zurück, in dem Kirche und Häuser mit den Maien geschmückt wurden, während am Schluß des Festes der Maigraf die Holzerben bewirthete. Auch kam bis in die neueste Zeit hinein der „Mai“ an der Spitze eines Zuges in die Dörfer des Thüringerlandes geritten. Er war mit grünem Gezweig vollständig umbunden, sodaß man sein Gesicht nicht sehen konnte. Vor jedem Bauerhof machte er Halt, und der Wirth mußte rathen, wer wohl der also Vermummte sei. Löste der Bauer das Räthsel nicht, so mußte er Eier und Kuchen hergeben, welche Speisen alsdann am Abend bei einem gemeinschaftlichen Feste verzehrt wurden.
An anderen Orten schließlich brachte man anstatt der Maibunde einen Maibaum in’s Dorf, und diese Sitte war hauptsächlich in England heimisch, wo die Jugend zu Pfingsten den Maibaum holte und den Mailord wählte.
Man muß wohl staunen, wenn man in allen vergilbten Archiven kirchliche und weltliche Fürstengebote vorfindet, welche ausschließlich gegen diese äußerst harmlosen Gebräuche gerichtet sind. Wir lesen in einer von dem großen Kurfürsten an die Geistlichen der Grafschaft Mark im Jahre 1669 erlassenen Verordnung:
[380]
[381] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [382] „Demnach wir in Erfahrung kommen, daß an etlichen Orten unsrer Grafschaft Mark viele abergläubische und böse Dinge annoch im Schwange gehen, als daß … Osterfeuer angezündet, Johanniskränze oder Kronen angehangen, auf Maitag das Vieh gequickt und Quickruthen an die Thüren und Hecken des Hofes aufgesteckt …, wie auch auf gewissen Tagen das Vogelschießen gehalten und andere dergleichen unterschiedliche so recht heidnische als sonst abergläubische und gottlose Dinge verübt werden, die bereits guten Theils von Uns verboten worden sind, und Wir denn solche und dergleichen abergläubische verbotene Sachen bei Unsern Unterthanen ohne Unterschied der Religion ganz und gar abgestellt, darüber festgehalten und die Verbrecher zur gebührenden Strafe gezogen wissen wollen, als ergeht Unser gnädigster und zugleich ernster Befehl hiermit an euch, hienach zu handeln und zu thun.“
Anfangs untersagte man diese Feste, weil sie doch „teuflischen Ursprungs“ wären; später verbot der Pfalzgraf Philipp Wilhelm nach dem Dreißigjährigen Kriege die Maibäume, weil die herzoglichen Forsten dadurch beraubt würden; Kurfürst Karl Theodor untersagte das nächtliche Maigeläute und die Maifeste bei Prügelstrafe und Gefängniß, ja, in den Jahren 1800, 1807 und 1809 erließ die bergische Regierung Verordnungen, in denen das Maistecken mit Geldbuße und Gefängniß bedroht wurde. Dazu kam noch in späteren Zeiten der vornehme gesellschaftliche Sinn, der bald in den Schnallschuhen und dem wohlgepflegten Zopfe, bald, je nachdem die Mode es vorschrieb, in den Pariser Glanzstiefeln und Frackschößen das allein menschenwürdige Dasein erblickte und, in die dumpfen Säle und engen Gärten gebannt, auf alles Volksthümliche so sehr von oben herabzuschauen beliebte.
Diesen vereinten Angriffen der kirchlichen und weltlichen Potentaten sowie einer auswüchsigen Civilisation unterlagen schließlich die heiteren Volksfeste, und schon gegen das Ende des Mittelalters war an den meisten Orten von ihnen nichts mehr übrig, als das volksthümliche Tanz- und Trinkgelage, wie es aus unserem heutigen wohlgelungenen Bilde des talentvollen J. Adam (vergl. Seite 380 und 381), welches uns in die Zeiten des sechszehnten Jahrhunderts zurückversetzt, dargestellt wird. Es währte aber nicht lange, und auch der städtische Patricier und der Honoratiorenmensch des Dorfes hielten es für unter ihrer Würde, mit dem sogenannten Volk in Berührung zu kommen. Da wären wir schließlich in der Gegenwart angelangt, wo Jeder für sich den Maigrafen abholt, wo Menschenschwärme nach dem Gebirge hin ausströmen, in enge Gesellschaftscirkel eingetheilt und scheu einander aus dem Wege weichend, wo die Sitte, das Haus mit Maien zu schmücken, zu recht profanem Marktgeschäft herabsank.
Nur in einigen Städten, in welchen die Veranstaltung des Festes von Innungen, Schützengilden und anderen Corporationen geleitet wurde, erhielt sich die alte Sitte, wiewohl in äußerst verzerrter Form. Welchen Wandlungen ein solches Fest im Laufe der Zeit unterworfen war, darüber belehrt uns ein nicht umfangreiches, aber für den Culturhistoriker sehr interessantes Werkchen „Das Mai-Abendfest in Bochum“ von Max Seippel. Ist es doch in dieser Stadt schließlich soweit gekommen, daß der Einfachheit und Bequemlichkeit halber nicht der Maibaum, auf welchen den Bochumern ein ausdrückliches Anrecht zugestanden war, aus dem benachbarten Walde abgeholt, sondern der dortigen Schützengilde eine Abfindungssumme von acht Thalern gezahlt wurde.
Die sogenannten besseren Stände ziehen sich heute wieder mehr als jemals von den Volksfesten zurück, indem sie über die zunehmende Rohheit der Massen klagen. Aber sie vergessen dabei leider nur allzu oft, daß sie daran zum großen Thema selbst schuld sind; denn wenn die besseren Elemente von den öffentlichen Festen fernbleiben, so gewinnt bei diesen natürlich der Pöbel die Oberhand, und man darf sich unter solchen Umständen nicht wundern, daß die Kluft des Standesunterschiedes sich immer mehr erweitert und die Rohheit in den sich selbst überlassenen unteren Schichten der Gesellschaft zunimmt.
Gegen gewisse Uebel unseres socialen Lebens bilden die öffentlichen Feste, an denen sich Jedermann betheiligen darf, ein gutes Heilmittel, und da unsere Zeit an echtem volksthümlichem Sinne so arm ist, sollten wir dahin streben, die alten Volksbräuche nach Kräften zu erhalten.
Vater und Sohn standen eine Weile einander schweigend gegenüber. In Aurel’s Mienen lag der Ausdruck einer tiefen Wehmuth; der alte Lanken sah ihm mit immer starrer und steinerner werdenden Zügen in’s Gesicht, und endlich murmelte er:
„Also sie hatten die Papiere. Lily hatte sie genommen, und wir klagten andere Menschen des Diebstahls an. Ist mehr, als ich vertragen kann, Aurel, viel mehr. Mach’, daß ich fortkomme! Geh’ in meine Wälder nach Michigan zurück. Ist keine gute Luft hier für mich, nicht gesund für unser eins! Aurel, für Dich wär’ es das Beste, Du kämst mit – mit mir hinüber.“
„Vielleicht,“ sagte Aurel gedankenvoll. „Wir werden sehen. Vielleicht! Für’s Erste habe ich hier eine heilige Pflicht zu erfüllen, eine schwere Pflicht, aber erfüllt soll sie werden.“
Er klingelte und verlangte nach seinem Wagen.
„Was willst Du, Aurel?“ fragte der alte Lanken.
„Als reuiger Mensch meine Schuld bekennen!“
„Ah – Du willst –“
„Thun, was ich dem Herzoge, dem Grafen schuldig bin!“
Der alte Thierarzt sah ihn an, schüttelte den Kopf, nickte und sagte dann mit einem herzhaften Seufzer:
„Bist doch ein ehrlicher Kerl geblieben bei aller Ministerschaft, Aurel!“
Als der Wagen vorgefahren war, eilte Aurel hinab und befahl seinem Kutscher:
„Zur Residenz des Herzogs.“ – –
Der Herzog war wenig aus Aurel’s Besuch gefaßt. Er empfing ihn mit einer ein wenig gerunzelten Stirn.
„Sie, Lanken?“ sagte er. „Ich dachte, wir hätten uns gegenseitig ausgesprochen, und es sei Alles gesagt.“
„Leider nicht Alles, Hoheit, etwas – das Sie von meinen eigenen Lippen hören müssen, noch nicht.“
„Und was kann das sein?“
„Ein Schuldbekenntniß und eine Ehrenerklärung. Ich habe Ihnen gesagt, Hoheit, daß die bewußten Documente gestohlen seien. Indem ich dies aussprach, erhob ich eine Anklage wider den Herrn Graf Gollheim. Darin liegt meine Schuld.“
„Ihre Schuld? Ich bin begierig –“
„Die Documente sind nicht gestohlen. Meine Schwester selbst hat sie, ohne mein und meines Vaters Vorwissen, an sich genommen und in die Hände des Rechtsanwalts Gruber gelegt. Gruber ist von ihr zur Annulirung ihrer Ehe mit Ludwig Gollheim bevollmächtigt.“
„Ah, ich denke, desto besser – für Euch Alle!“
„Vielleicht, Hoheit! In diesem Augenblick fühle ich nur die bittere Reue, vor meinem Fürsten eine ungerechte Anklage gegen einen seiner ersten Diener ausgesprochen zu haben. Ich werde mir das nie verzeihen.“
„Sie sind ein ehrlicher Mann, Lanken,“ sagte der Herzog, nachdem er Aurel eine Weile schweigend angeblickt hatten „ja, ein ehrlicher Mann, und ich weiß nicht,“ setzte er nachdenklich hinzu, „wer Sie mir ersetzen soll. Ihr Vater –“
„Ist auch ein ehrlicher Mann, Hoheit, und –“
„Ich will nichts wider ihn sagen, aber wäre er drüben geblieben –“
„Er wird, denk’ ich, zurückreisen.“
„Er wird zurückreisen? Dann – wissen Sie was, Lanken? Nehmen Sie einige Monate, ein Jahr meinethalben Urlaub! Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen eine diplomatische Mission in’s Ausland geben, und nachher –“
„Hoheit,“ versetzte Aurel schmerzlich lächelnd, „in’s Ausland denke ich zu gehen. Ich werde meinem Vater zur Seite bleiben.“
„In der That? Nun, so gehen Sie! Aber kehren Sie zurück, [383] Lanken! Nach Jahresfrist, wenn drüben für Ihren Vater gesorgt ist. Wollen Sie?“
Aurel verbeugte sich ein wenig unschlüssig.
Der Herzog streckte ihm die Hand entgegen.
„Da – versprechen Sie mir es mit Ihrem Handschlag!“ rief er lebhaft. „Dann weiß ich, daß Sie Ihr Wort halten.“
Aurel konnte nicht anders als seine Hand in die seines Fürsten legen. Dieser schüttelte sie warm, wie die eines Freundes, und Aurel ging.
Es war mehr als vier Monate später. Am Rheine war die Weinlese bereits vorüber; die Weinblätter lagen zum Theil vergilbt neben ihren Reben, und das noch dunkelgrüne Laub der Wallnußbäume zeichnete sich in den Gärten unter den rothen und gelben Obstbaumwipfeln in scharfen Contrasten ab; auf den vorspringenden Bergwänden lag der Schein einer heitern klaren Herbstsonne; ein blauer Himmel spannte sich hoch und hell über die beiden Höhenzüge, welche den breiten Strom begleiten, unten aber zog ein ziemlich scharfer und trockener Wind über die Wasserfläche dahin und bog die Rauchsäule eines sich stromaufwärts arbeitenden
Dampfers in scharfem rechtem Winkel niederwärts.
Der Dampfer wurde erwartet. Auf der Landungsbrücke, die von dem malerischen Rheinstädtchen am linken Ufer sich in das Fluthbett hinein vorschob, stand eine bunte, laute, elegant gekleidete Gesellschaft; trotz der Ueberwürfe, Plaids, Tücher und Shawls, in welche Herren und Damen sich gehüllt, war die festliche Ausstattung aller dieser den verschiedensten Lebensaltern angehörenden Erscheinungen nicht zu verkennen. Und wenn man die gerötheten, erhitzten, lebhaft erregten Gesichter hinzunahm, konnte es nicht lange verborgen bleiben, daß man es mit einer Hochzeitsgesellschaft zu thun hatte; die beiden jungen Leute, welche den Kern der Gruppe bildeten, waren augenscheinlich das junge Ehepaar. Er war ein hübscher wohlgewachsener, ebenso vergnügt als unbedeutend aussehender Blondin mit einer sehr sorgfältigen Kellnerfrisur und sie eine feine, überaus anmuthige, rosig glühende Blondine, die etwas Fremdländisches, etwas von einer zarten englischen Schönheit hatte, ganz auffallend feine, wie mit einem Silberstift auf Elfenbein gezeichnete Züge und eine transparente Klarheit der Haut, wie sie selten ist bei den jungen Mädchen, welche Anspruch darauf machen, die Vertreterinnen der landesüblichen Jugend und Schönheit an dieser Seite Deutschlands zu sein.
Sie steht, trippelt, lacht, lacht mit einem klaren, silbernen Organ, das etwas außerordentlich Wohllautendes und Herzgewinnendes hat, läßt sich bald von dieser, bald von jener der sie umringenden Freundinnen Muhmen und Tanten noch etwas an ihrem Reisehut und Schleier zurechtzupfen, noch etwas an ihren Röcken glätten und ordnen oder einen widerspenstigen vierten Handschuhknopf zur Raison bringen – zur Freude armer harrender Ehemänner, die bei zwei Handschuhknöpfen früher noch keine hinreichende Geduldprobe hatten, schreibt die Mode ja jetzt ihrer vier vor. Und so vergingen die Minuten; das Dampfschiff war da, schlug seinen Bogen und legte sich breit und majestätisch vor die Landungsbrücke, und nun begann, während die Matrosen die Planken auswarfen, ein Abschiednehmen, ein Küssen, ein Umarmen, ein Zurufen letzter Grüße, ein Hinübertragen von elegantem Handgepäck, von riesigen Blumensträußen – es war außerordentlich hübsch anzusehen das Alles; die Schiffspassagiere ließen das junge Ehepaar ein förmliches Spalier passiren, wobei es manches bewundernde „Ah!“, manches unverschämt laute: „Elle est charmante,“ und leiser gesprochene: „pretty little woman“ gab. Der Dampfschiffsconducteur, der mehreren Mitgliedern der Hochzeitsgesellschaft Grüße zugewinkt, empfing das junge Paar mit großer Beflissenheit, und während sich das Schiff nun von seiner Landungsbrücke wieder loslöste, flog hinten am Spiegel die große Festflagge in die Höhe, worauf vom Ufer her mehrere krachende Böllerschüsse salutirten.
Und dann noch lange ein fröhliches Tücherschwenken, Grüßen, Winken; das Schiff verschwand mit den jungen Leuten, die es südwärts, nach der Schweiz, nach Italien führte, und nun verschwand auch die Hochzeitsgesellschaft vom Ufer, um, in einzelne Gruppen aufgelöst, einer großen und schönen modernen „Villa“ zuzustreben, welche neben dem Städtchen lag und durch ihren Flaggenschmuck hinreichend verrieth, daß sie heute der Schauplatz der glänzenden Hochzeitsfeier gewesen.
Dabei hatten sich zwei behäbig aussehende, röthlich angeglühte ältere Herren zusammengefunden, die, sich wechselseitig zu Feuer für ihre erloschenen Cigarren verhelfend, hinter den anderen zurückgeblieben waren und nun sehr lässig hinterdrein wandelten.
„Wie die frische Luft nach der langen Sitzung wohl thut!“ sagte der Eine, der ein wenig asthmatisch zu sein schien und, von Zeit zu Zeit aufathmend, stehen blieb.
„Freilich, Papa Falster, nach solchen Leistungen wie Sie heute Ihren Gästen zugemuthet haben –“
„Ah bah – eine Hochzeit hat man nicht alle Tage –“
„Wahrhaftig nicht eine solche,“ lachte der Andere – „in Giersbach wenigstens nicht; möchte behaupten, daß eine solche da noch nie gefeiert ist –“
„Nun, man hat es ja dazu,“ fiel der asthmatische Herr ein, „und weil ich mich nun einmal mit Franzens wunderlicher Passion völlig ausgesöhnt habe, je mehr ich seine Braut kennen gelernt, hab’ ich’s dann auch der Welt, welche immer ihre boshaften Glossen zu machen liebt, zeigen wollen.“
„Worüber macht die Welt nicht ihre Glossen und absonderlich, wenn sie irgendwo ein wenig Romantik, die sich um die Sache legt, wittert.“
„Nun ja, romantisch war ja Franzens Passion ganz hinreichend. Ein so hübsches, liebes, vertrauensvolles Wesen, das ein gewissenloser Mensch in’s Unglück gestürzt hatte und dessen Lage noch dazu Vater und Bruder ausbeuten wollten, um sich in eine vornehme Verwandtschaft einzudrängen oder vielleicht auch nur um eine schöne runde Entschädigungssumme aus der Sache herauszuschlagen, was ich für das Wahrscheinlichere halte …“
„Das arme Kind! Kann mir denken, daß den gutmüthigen Franz ihre verlassene Lage rührte, daß er sich sterblich verliebte.“
Papa Falster nickte mit dem Kopfe.
„Freilich, freilich,“ sagte er, „daran ist nicht viel Verwunderliches, obwohl der Junge etwas Gescheidteres hätte thun können, als die Heirath mit Gewalt durchzusetzen. Meine Alte spie ja anfangs auch Feuer und Flammen wider die Idee; als der Franz aber seine Auserwählte zu uns brachte und wir sahen, wie hübsch und harmlos sie war, und wir sie plaudern hörten und sahen, wie sie an dem Franz hing – nun ja, da waren wir entwaffnet und ließen den Dingen ihren natürlichen Verlauf. So ist denn heute Hochzeit gewesen, und sie segeln eben in die Flitterwochen hinein. Mögen sie ihnen recht lange vorhalten, die Flitterwochen! Auf Flitterwochen scheint mir diese kleine Lily ganz wunderbar eingerichtet. Was später daraus wird, wenn der Ernst des Lebens in sein Recht tritt und Tage kommen, wo dieses reizende Frauchen mit seinem hübschen Lärvchen ihren Charakter bewähren und schwere Pflichten auf sich nehmen soll, das muß sich dann ja zeigen und geht den Franz an, der nun einmal sie und keine Andere wollte!“
„Das, ja, das geht den Franz an,“ lächelte der Geschäftsfreund von Papa Falster, „und ich denke, man darf’s ihm nicht übelnehmen, wenn er eine hübsche Frau nach seinem Herzen wählte – wenn man mit der Firma ‚Anton Falster und Sohn‘ im Handelsregister steht, kann man sich’s erlauben.“
„Und man muß seiner Kinder Vorsehung nicht spielen wollen,“ antwortete der gutmüthige Herr, der mit der Firma ‚Anton Falster und Sohn‘ im Handelsregister stand, mit einem Seufzer, den ihm wohl nur sein Asthma erpreßte; denn sie schritten jetzt einen ziemlich steilen Weg durch die Gartenanlagen empor, die sich vom Rheinufer bis zu der Villa hinaufzogen.
Das junge Volk der Gesellschaft war unterdeß längst vorauf und oben angekommen. Es füllte bereits wieder die Räume des stattlichen Landhauses – durch offenstehende Balconthüren im ersten Stock sah man die meisten der Gäste schon sich um einen großen Tisch mit einer mächtigen Bowle darauf versammeln. Unten in der Vorhalle aber standen ein halb Dutzend junger Mädchen um einen wunderlichen Herrn mit einem runden Bäuchlein und einem fettglänzenden Gesichte gedrängt; sie hatten ihm nicht Ruhe gelassen, bis er ihnen das schöne Gedicht, mit dem er bei Tisch den Toast auf das Brautpaar ausgebracht – er war so berühmt, der dicke Herr, wegen seiner Toaste, keiner in der ganzen „Pfaffengasse“, der ihm darin gleichkam –, noch einmal zum Besten gab. Hatte er sich heute doch selbst übertroffen: und so stand er jetzt da, und mit einem eigenthümlich wirksamen Auf- [384] und Niederrollen der Stirnfalten versicherte er seinen von liebenswürdiger Begeisterung erglühenden Zuhörerinnen, daß, „was die Welt auch immer vermocht, sie treue Liebe nicht unterjocht, daß über der Wellen und Stürme Wogen sich diese Seelen zugeflogen etc.“, was denn bei den Zuhörerinnen ein ekstatisches Entzücken hervorrief, das nicht eher ein Genüge fand, bis der Dichter jeder Einzelnen eine besonders für sie gefertigte Abschrift des Gedichts versprach.
Und damit verlassen wir Lily und stellen ihre weiteren Schicksale dem lieben Gott anheim. Wird er sie doch auch ferner noch ernähren, wie eine seiner Lilien auf dem Felde, obwohl sie nicht spinnen und nicht arbeiten; denn auch von Lily ist anzunehmen, daß sie in Zukunft als „höhere Natur“ nur mit dem zahlen wird, was sie ist, und sich mit dem Ruhme begnügen wird, eines jener bevorzugten Wesen dargestellt zu haben, welche veraltete Lebensprincipien gering schätzen, eines jener Wesen, die unser fortgeschrittenes Jahrhundert oben auf die schwindelnd hohe Pyramide seiner Bildung als zierendes Büschel und grünen Maienzweig gesteckt hat: das moderne Kind. –
Dieselbe Sonne, welche zur Feier von Lily’s Hochzeitstage so gefällig das Rheinthal illuminirt hatte, schien übrigens ganz um die nämliche Stunde jetzt ebenso hell in die melancholischen Räume des gräflich Gollheim’schen Hotels in unserer Residenzstadt, aber hier war die Wärme, welche sie ausstrahlte, schon um so viel geringer, daß im Wohnzimmer Regina ein tüchtiges hellflackerndes Kaminfeuer hatte entzünden lassen, vor dem jetzt ihr Bruder Ludwig in einem niederen Sessel ausgestreckt ruhte und sich müßig die Füße wärmte. Regina saß rückwärts von ihm am Fenster und benutzte das hereinscheinende abendliche Sonnenlicht für die feine Stickerei-Arbeit, mit der sie sich eifrig beschäftigte.
Ludwig war seit vielen Wochen wieder im Vaterhause. Als er durch briefliche Mittheilungen Regina’s Kunde von der Wendung erhalten, welche die Dinge daheim genommen, war er von seiner Alpenwanderung zurückgekehrt und hatte seinen Frieden mit seinem Vater gemacht: er hatte bereitwillig in Alles eingestimmt, was die Scheidung seiner Ehe mit Lily, welche Doctor Gruber vor dem Gericht betrieb, beschleunigen konnte. Was er innerlich dabei empfand, was er im Stillen dabei in sich verarbeitete, das gelang Regina erst nach und nach zu durchschauen. Erst nach und nach ließ er sie auf den Grund seines Herzens blicken, obwohl er es offenbar liebte, in ihrer Gesellschaft zu sein, und das stete Bedürfnis verrieth, in allen Tagesvorkommnissen und Angelegenheiten sich mit ihr in Uebereinstimmung zu fühlen. Er saß heute lässig vor dem Kaminfeuer ausgestreckt und rauchte langsam eine Cigarette nach der andern. Nachdem er lange nachdenklich in die Flammen geschaut, sagte er:
„Das Beste ist, daß der Mensch klüger wird durch seine Erfahrungen, Regina. Wenn ich nicht so schrecklich klug geworden wäre durch die Entdeckung, was eigentlich diese kleine Grasmücke werth war, würde ich längst auf dem Wege sein, um den Burschen, der sie entführt hat, zu fordern und ihm womöglich eine Kugel vor den albernen Kopf zu schießen.[WS 1] Wäre mir’s eigentlich selber schuldig gewesen – solch ein Beispiel von Courage, nachdem ich der Welt ein – kann mir’s ja denken, wie man darüber glossirt hat – ein Beispiel von … sagen wir: von auffallender Friedensliebe gegeben.“
„Ich bitte Dich,“ fiel Regina ein, überrascht, ihn auf diesem Gedankengange zu ertappen; „Du denkst hoffentlich nicht daran, der jungen Dame auch noch ein tragisches Lüstre zu geben?“
„Nein, ich denke in der That nicht daran; die Welt wird sich, ohne diesen obligaten Couragebeweis von mir zu erhalten, weiter helfen müssen. Ein tragisches Lüstre? Für Lily? Nein – es paßt wahrhaftig nicht für sie – wäre schade, wenn sie Schwarz tragen müßte – ist nur auf helle Stoffe, luftige Farben eingerichtet, das ganze Figürchen und das ganze Seelchen!“
Regina erhob die Augen zu ihrem Bruder, um in seinen Zügen zu lesen. Sie hörte durch seine anscheinend so ruhige Stimme doch die tiefe Bitterkeit zittern.
„Bin überhaupt nicht für’s Tragische, Regina,“ fuhr Ludwig jetzt fort. „Als die Sache tragisch wurde, rettete ich mich – wahrhaftig nicht aus Feigheit, sondern aus Abscheu vor aller Tragik. Stelle Dir vor, welche Scenen uns, wenn ich geblieben, erblüht wären: auf der einen Seite dieser brutale Mensch von einem Roßarzt und auf der andern dieser zornige, harte gräsliche Herr Vater, der Eine dreinschlagend und Sturm laufend, um seiner Tochter Recht, und der Andere wie ein Löwe kämpfend um die Zukunft seines Sohnes, um die Glorie seiner jungen Gräflichkeit! Stelle Dir das vor! Hättest Du Lust gehabt, als ihr Kampfobject zwischen ihnen in der Mitte zu stehen? Zwischen diesen harten Mühlsteinen Dich wie ein weiches Korn zu Mehl, zu Staub zerreiben zu lassen? Nein, lieber auf und davon in die Weite, in den Frieden, in die Freiheit –“
„Nun ja, die Freiheit hast Du ja auch errungen, bald und gründlich!“ sagte Regina mit einem leisen Seufzer.
„Die Freiheit – ja,“ wiederholte Ludwig mit einem trübsinnigen Lächeln. „Ich weiß nur nicht, ob das ein befriedigender Schluß für eine Herzensgeschichte ist; ich fürchte, nicht ganz, Regina! Du kannst ja darüber mitreden. Wie denkst Du – die Du Dich auch mit dieser Freiheit trösten mußt – darüber?“
„Ich?“ fragte Regina zögernd zurück. „Was soll ich Dir darauf antworten? Ich bin nicht so frei, wie Du glaubst.“
„Nicht frei? Du, Regina?“
„Nein. Aurel wird ein Jahr lang jenseits des Meeres bleiben, bis sein Vater sich dort in irgend einer neuen Lage zurecht gefunden. Dann wird Aurel zurückkehren. Er hat es dem Herzog versprochen. Und dann werde ich die Seine werden.“
„Das hast Du ihm versprochen?“
„Ja! Bevor er schied, habe ich es ihm versprochen!“[WS 2]
„Du könntest mir nichts Besseres ankündigen, Regina,“ rief Ludwig aufspringend und ihr die Hand hinstreckend aus. „Wahrhaftig, hast Du alsdann noch mit dem Vater zu kämpfen, so sollst Du sehen, daß Dein Bruder nicht – ein Feigling ist.“
Karl Egon von Ebert.
Karl Egon von Ebert feiert am 5. Juni dieses Jahres seinen achtzigsten Geburtstag. Die „Gartenlaube“ will nicht unterlassen, durch eine einfache und schmucklose Würdigung des ausgezeichneten Dichters auch ihr Scherflein zu dieser Feier beizusteuern. Scheint ihr eine solche Würdigung heute doch keineswegs unangebracht; denn obschon Ebert die volle Anerkennung unserer hervorragendsten Geister, das Lob eines Goethe, den Beifall eines Uhland genoß, und obschon alle Mustersammlungen deutscher Lyrik glänzende Proben seiner poetischen Begabung enthalten, so hat dennoch sein Name nicht ganz die allgemeine Schätzung und Verbreitung gefunden, die er verdient. Allein das erklärt sich leicht. Als Ebert begann, sich literarisch zu bethätigen (Anfang der zwanziger Jahre), entfaltete sich auf dem deutschen Parnasse gerade eine so reiche und üppige Fülle von Begabungen, daß Einzelne unter diesen Dichtern, wenn sie bescheiden eigene Wege gingen und weder Stimmung noch Gelegenheit fanden, sich einer herrschenden Richtung oder Schule anzuschließen, in diesem Gewoge von Talenten und Namen nur mühsam sich hervorzuthun vermochten. Schiller’s patriotisches Pathos, das in der Kriegslyrik von 1813 zu mächtigem Ausdruck gekommen war, klang noch herzbewegend in allen Geistern nach und erregte im tiefsten Innern selbst Goethe, der mit seinem erhabenen Ansehen die Zeit beherrschte. Unter seinen Augen brauten und wirrten die tollen Romantiker, von denen sich die schwäbische Dichterschule in sich läuternder Klarheit abzweigte. Endlich begann auch das sogenannte Junge Deutschland sich zu erheben, das mit wuchtigen Schlägen an die Pforte eines neuen Jahrhunderts pochte.
Zwischen diesen Extremen hin schritt Karl Egon von Ebert. Sein Schönheitsgefühl und seine Verehrung für den hohen Meister trieben ihn zu Goethe’s Füßen, mit dem er die Liebe zu Schiller theilte. Ein kurzer Aufenthalt in Karlsruhe und persönliche Beziehungen zu Uhland, Schwab, Kerner näherten ihn der schwäbischen Dichterschule und der verführerische und lockende Reiz, den Heine’s Auftreten ausübte, so wie seine liberale Gesinnung zogen ihn vorübergehend auch in dessen Bann und in die Kreise des Jungen Deutschlands.
[385]
Jüngst hätt’ ich balde
Süßdurchgraut,
Verloren im Walde,
Ein Märchen geschaut. –
In Waldgrundmitte,
Verfallen und grau,
Treff’ ich die Hütte
Der Kräuterfrau;
Die Schindeln seit lange
Vergraben in Moos,
Halb aus dem Hange
Raget sie blos.
Zwei Gänse, träge
Vor Langeweil’,
Im Lattengehege,
Und Klotz und Beil,
Und ein Kupferkessel,
Hängend, beim Haus.
Rings Farn und Nessel
Und wüster Graus,
Rings Waldnachtsschweigen
Und Einsamkeit,
Nur daß in den Zweigen
Der Häher schreit,
Nur daß es blaulich
Vom Schornstein fliegt,
Ein Kater beschaulich
Auf’s Dach sich schmiegt. –
Und Hans und Greten
Erblick’ ich, die zwei;
Sie trippeln betreten,
Schüchtern herbei.
Der Junge drückt sich
Der Schwester nach;
Die steht und bückt sich
Und späht ins Gemach.
Mit leisem Geschnatter
Hebt sich die Gans;
Feindselig durch’s Gatter
Zischt sie zum Hans;
Es öffnet die Lider
Der Kater sacht
Und schleicht sich hernieder
Auf Sohlen der Nacht.
Nun spinne, du Märchen – –
Es spinnt nicht mehr.
Wohl kam zu dem Pärchen
Die Hexe nachher;
Triefäugig stand sie
Und runzlig alt.
Ich ging und fand sie
Später im Wald,
Wo sie sich sonnte;
Sie klagt über Gicht,
Doch zaubern konnte
Die Gute nicht.
Alle diese Richtungen klingen in seinen „Poetischen Werken“ (Prag, Verlag der „Bohemia“) an. Das satirische Gedicht: „Virtuosen“ und einige ähnliche sind in der Art Heine’s gedichtet, und Anklänge an die schwäbischen Dichter finden sich in manchen Liedern namentlich in den Balladen, während Schiller’scher Athem die „Zeitgedichte“ durchwogt. Nach dem Muster Goethe’s bedünken uns vorzugsweise die größeren poetischen Erzählungen: „Das Kloster“ und „Wald und Liebe“ (Poetische Werke, vierter Band) gedichtet. Sie sind voll reiner Plastik der Sprache, warm und klar in der Empfindung und mit einer wahrhaften Meisterschaft epischer Darstellungskunst geschaffen. Diese Dichtungen verdienen die höchste Anerkennung; denn sie zeigen in der Nachahmung des großen Vorgängers doch zugleich so viel Selbstständigkeit und Eigenart, daß man hier am überzeugendsten wahrnehmen kann, wie Ebert von Hause aus eine durchaus ursprüngliche Dichternatur ist. Seine Poesie ist ein stark und mächtig hinfluthender Strom, in welchen die jeweiligen Gestade, an denen er hinfließt, und die wechselnden Erscheinungen des Tages ihre Reflexe werfen, der aber [386] im Grunde, allem Wandel gegenüber, unverändert bleibt und seine Eigenthümlichkeit bewahrt.
Eben darum auch konnte er in keine der herrschenden Geschmacksrichtungen aufgehen und – von keiner auf den Schild gehoben – aus der Masse der damaligen Dichterjugend nicht besonders hervorragen. Erst langsam und nach und nach vermochten seine Vorzüge und Verdienste in das rechte Licht zu treten. Das Feldgeschrei und der Kampf der dichterischen Parteien und Schulen mußte erst verklungen sein, ehe Ebert zum vollen Worte kam. Wie Heinrich von Kleist erst spät und langsam, gleichsam erst auf den Stoppelfeldern der Romantik zu Ruf und Ansehen kann, wie Franz Grillparzer lange nach den flüchtigen Lorbeeren der „Ahnfrau“ und dem Untergange der sogenannten Schicksalstragödie die richtige Würdigung erhielt, so gelangt auch unser Jubilar erst in unseren Tagen zu dem Ruhme, der ihm gebührt. Vor dem Erscheinen der vorhin erwähnten Gesammtausgabe seiner „Poetischen Werke“ war es auch schwer, sein dichterisches Schaffen und dessen Werth zu überblicken. Der Literarhistoriker hatte Mühe, sich Ebert's vereinzelte Veröffentlichungen zu verschaffen, und begnügte sich meistenteils damit, den Dichter so beiläufig zu behandeln wie es seine Vorgänger gethan. Im Allgemeinen ragt da Karl Egon von Ebert wenig aus dem Dichterhaufen hervor. Theodor Mundt, ein Schriftsteller, der leider auch zu früh einer unverdienten Vergessenheit anheimgefallen, erwähnt ihn in seiner „Geschichte der Literatur der Gegenwart“ allerdings ebenfalls nur kurz und in einer Reihe von Schriftstellern, die Ebert weit hinter sich läßt, aber er, der vielfach ein sehr richtiges und treffendes Urtheil bewährt und nicht selten mit wenigen Worten das innerste Wesen eines Schriftstellers zu eröffnen versteht, schreibt sehr bezeichnend und wahr von Ebert’s Gedichten. „daß sie an den gesunden Quellen der alten deutschen Gemüths- und Naturlyrik schöpfen, und in der Ballade und Romanze manchen glücklichen Ton anschlagen“.
Dieser Ausspruch, so lakonisch er ist, trifft mindestens die Sache im Kern und zeigt mit einem überraschenden Streiflichte die volle Seele der Ebert’schen Poesie, die in der That von einer durch und durch gesunden Natur und deutschen Gemüthstiefe erfüllt erscheint und dabei sich so maßvoll und anmuthig ausgiebt, daß der feinere Geschmack dauernde Freude daran haben muß. Soll etwas an den Dichtungen Ebert's ausgesetzt werden, so dürfte auch der strengste Kennerblick neben ihren großen Vorzügen nur geringfügige Mängel finden, wie hier und da zu starke, der Uebertreibung sich zuneigende Ausdrücke, z. B. ein „schrie“, wo ein „rief“, ein „brüllte“, wo ein „schrie“ genügend wäre, und ferner einen etwas störenden Gebrauch allzu österreichischer Redewendungen und Ausdrücke: „am Lande“, „am Schlachtfelde“, statt „auf dem Lande“ und „auf dem Schlachtfelde“. Allein alle diese Fehler und Verstöße gegen die Reinheit und Richtigkeit unserer schönen deutschen Sprache sind zu untergeordneter Art, als daß sie den Eindruck trüben und die Wirkung Ebert’scher Dichtungen abschwächen könnten, die im Uebrigen mit so gediegener Erhabenheit und so gewinnender Würde vor uns treten, daß es geradezu unmöglich ist, ihnen Achtung und Liebe zu versagen.
Ueberblicken wir, um uns davon zu überzeugen, die sieben Bände der „Poetischen Werke“! Der erste Band enthält lyrische, satirische und vermischte Gedichte. Die Abtheilung „Natur und Liebe“, mit welcher er beginnt, leitet der Verfasser mit folgenden Versen ein.
„Natur und Lieb’, ich nenn euch beide
Und hab’ euch mir im Sinn gepaart,
Weil jede reine höch’re Freude
Mir nur durch eure Segnung ward.
0b Alles auch von uns sich kehrt,
Und wäre nicht das Tröpflein Liebe,
Das Leben wär’ nicht lebenswerth.“
Diese einfache, schlichte Auslassung mit ihrem ungekünstelten Ausdruck kann, ja muß gleichsam als das geflügelte Leitwort angesehen werden, das die ganze Ebert’sche Poesie durchpulst; denn die Darstellungen von dem Walten und Weben der göttlichen Natur und der unverwüstlichen Liebe der Menschenbrust bilden darin den eigentlichen Hauptinhalt, den Hauch und Athem, die Seele ihres Wesens. In Ebert’s Gedichten ist nichts Gesuchtes, Gezwungenes; es überraschen in ihnen keine epigrammatischen Zuspitzungen, keine ironischen Wendungen; der Geist, der darin waltet, ist kein Geist, der poetische Seiltänzerkunststücke macht und durch Luftsprünge die Leser in staunende Bewunderung versetzt. In Ebert’s Gedichten ist eine keusche und reine Wahrheit, die in ihrer gleichmäßigen und anmuthigen Ausdrucksweise stets eine wohltuende, ja oft eine erhebende Wirkung hervorbringt. Seine „Frühlingsluft“, seine „Junge Liebe“, seine „Waldlieder“ sind Hymnen, die an Frische der Empfindung, an Innigkeit des Gefühls, sowie an Natürlichkeit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks sich den besten der deutschen Lyrik anreihen dürfen.
Wie heiliger Ernst es aber auch Ebert um sein dichterisches Schaffen ist, das bekundet sein schon vorher erwähntes Gedicht „Künstlers Gebet“, welches die Abtheilung „Kunst und Literatur“ einleitet und folgendermaßen lautet.
Wurzel schlugen deine Keime,
Herr, in meines Busens Tiefen,
Und gedeutet sind die Träume,
Die in mir, ein Räthsel, schliefen.
Der in meinem Geiste waltet,
Der die dunklen Traumgebilde
In mir formet und gestaltet.
Dich erkenn’ ich, Geist der Liebe,
Und die Brust voll kleiner Triebe
Wunderbar zum All erweitert.
Dich erkenn’ ich, Geist der Stärke,
Der mir durch die Adern glühet,
Mir aus Aug’ und Wange sprühet.
Du bist’s, der die Hand mir leitet,
Wenn mein Saitenspiel erklinget,
Wenn mein Lied der Kehl’ entgleitet,
Könnt’ ich je, der Staubgeborne,
Unwerth solcher Gnade werden
Könnt’ ich, der von dir Erkorne,
Mich als stolzes Selbst geberden,
Schaaler Eitelkeit versinken,
Mich in frechem Uebermuthe,
Wie Prometheus, Schöpfer dünken.
Dann verwandte, Geist der Milde,
Und vernichte die Gebilde
Und den Bildner schmettre nieder!
Denn verrucht, der Gaben liebte,
Und den Geber nicht erkannte,
Und sich selbst den Schöpfer nannte!“
Dieses Gedicht ist bezeichnend für Ebert’s ganze Geistesrichtung und Dichtungsweise. Sein Dichten ist ihm wie ein Gottesdienst, wie eine Andachtsverrichtung, wie eine himmlische Erleuchtung, die ihn antreibt und inspirirt. Dies tritt uns aus allen seinen Schöpfungen den kleinsten wie den größten, namentlich auch aus der Abteilung. „Kunst und Literatur“ entgegen. Wenn er Uhland besingt, „Dichterloos und Dichtertrost“ in’s Auge faßt, sich „An einen Schauspieler“ wendet, „An einen jungen talentvollen Dichter“, „Musik und Kirchenmusik“ betrachtet oder Schiller in einem Prologe zu dessen hundertjährigem Geburtstag feiert, überall prägt sich in seinen Gedanken und Versen eine Mächtigkeit der Idee und ein starker Adel der Gesinnung aus, die selbst da noch zum Vorschein kommen, wo er, wie in „Virtuosen“ oder in „Literarisches Unwesen“ mit „Scherzen fechtend“, das heißt mit der Ironie und dem Humor in Heine’s Manier, die Lächerlichkeiten des Tages und des herrschenden Zeitgeschmackes geißelt.
Der zweite Band der „Poetischen Werke“ enthält Balladen, Romanzen, Legenden, kleine poetische Erzählungen und Scenen meist Dichtungen von hervorragender Bedeutung, unter denen wir, außer den schon früher angeführten, „Kaiser Karl der Vierte und seine Frauen“, „Daliber“, „Abt Ero“, „Hermann Grün“, „Der Sänger im Palast“ und „Otto der Schütze“ nennen. „Nachtbilder“ sind zwei Gedichte, die als poetische Stimmungsstücke mit ähnlichen von Byron sich messen dürfen. Düster im Inhalt, geheimnißvoll [387] in der Fassung und meisterhaft in der knappen Ausmalung der Situation, ergreifen sie die Seele mit einer wahrhaft packenden Gewalt. „Milosch und Militzka“ und „Alpenscene“ bieten zwei poetische Momente von großer dramatischer Wucht, von denen das eine tragisch, das andere idyllisch sich austrägt.
Der dritte Band bringt das böhmisch-nationale Heldengedicht „Wlasta“, dem Karl Egon von Ebert seine erste Berühmtheit verdankt. Diese epische Darstellung eines mythischen Mägdekrieges ist in der That auch eine Dichtung großen Stils, die in einer stillen Zeit nothwendig Aufsehen erregen mußte. Was für Grillparzer „Die Ahnfrau“, das war für Ebert „Wlasta“. Sie verschaffte ihm Ansehen und Ruf, trat aber im Laufe der Tage gegen Schöpfungen von reinerem und höherem Geschmacke bedeutend zurück.
„Das Kloster“ und „Wald und Liebe“, zwei poetische Erzählungen, die mit „Eine Magyarenfrau“ den vierten Band ausmachen, haben, für uns wenigstens, mehr dichterischen Werth, als jene „Wlasta“. „Das Kloster“ darf getrost neben Goethe’s „Hermann und Dorothea“ treten. so fein, sinnig und heiter ausgeführt in seinem idyllischen Charakter steht es vor uns, so voll Reiz der Darstellung, so voll Wärme des poetischen Andrucks, so voll schöner und rührender Menschlichkeit.
Der fünfte Band führt uns ein Lieblingswerk des Dichters, nämlich „Fromme Gedanken eines weltlichen Mannes“, vor, ein Werk, das mit Leopold Schefer’s „Laienbrevier“ und Friedrich von Sallet’s „Laien-Evangelium“ würdig in die Schranken treten darf, Es entstand in derzeit von 1853 bis 1858; im letzteren Jahre sendete Ebert es in Handschrift an Ludwig Uhland zur Beurtheilung mit einem Schreiben, in dem es heißt.
„Ich wollte in diesem Werkchen, ohne deshalb die poetische Seite zu vernachlässigen, auch einen Theil der Welterfahrung niederlegen, die ich auf meinem Lebensgange aus der Beobachtung der Menschen und unserer in der That nicht sehr tröstlichen Zustände gewonnen, und ich strebte dabei, auch der frivolen Richtung entgegen zu treten, die uns in der Literatur besonders durch die sogenannte Selbstironie manches modernen Schriftstellers und durch die liederlichen Lebensansichten der jüngsten literarischen Welt so viel, ich will nicht hoffen unwiederbringlich, von dem genommen hat, was allein das Leben und die Poesie schön machen kann. Das heißt wohl einigermaßen gegen den Strom schwimmen, allein mir ist es nicht gegeben, zu Schlechtem zu schweigen, und ich möchte lieber den Ruhm erringen, mir im Ankämpfen gegen das, was ich nicht für echt und recht halte, den Kopf eingerannt, als dem Nichtrechten und Nichtechten, um dem bunten Markt zu gefallen, gehuldigt zu haben.“
Ludwig Uhland antwortete darauf unter Anderem Folgendes:
„Der Lebensernst, der in diesen Erzeugnissen waltet, giebt ihnen das durchgehende, eigentümliche Gepräge. Daß sie lehrhaft sind, daß die Bilder, die Naturanschauungen wesentlich dieser Richtung dienen, kann der poetischen Berechtigung keinen Eintrag thun. Poesie herrscht auch da, wo Reflexionen, Lehren, Rügen, nicht im trockenen Nachdenken, sondern im lebhaft bewegten, sittlichen Gefühl ihren Ursprung nehmen. Es mag sein, daß in einzelnen Stücken der praktische Zweck, der getadelte Gegenstand in seiner nackten Wirklichkeit die innere, dichterische Erregung weniger aufkommen ließ, dagegen ist in solchen, wie ‚Der Blinde‘, ‚Der Wald‘, ‚Weihestunden‘, ‚Ein altes Häuschen‘, ‚Das Alter‘, ‚Einmal im Jahre‘ u. dergl. m. der Gedanke mit dem Naturbilde, die Lyrik in der Tiefe mit dem didaktischen Ausdrucke auf neue und glücklichste Weise verbunden.“
Diese Briefauszüge dürften hier am Platze sein, einmal, weil sie ein schönes und rührendes Zeugniß von dem freundschaftlichen Verhältniß zweier bedeutender Dichter geben, und zum andern, weil sie zugleich den Ernst und die Gewissenhaftigkeit bekunden, mit denen sie ihre poetischen Schöpfungen zu behandeln pflegten.
Die „Frommen Gedanken“ enthalten allerdings keine geistlichen Lieder, keine Psalmen und Kirchengesänge, sondern Erfahrungen, Beobachtungen und Bilder, wie das tägliche Leben sie einem Mann von Herz und Gemüth darbietet. Aber alle diese „Gedanken“ durchwogt und belebt der Athem wahrer und echter Menschenliebe in so schöner und edler Weise, daß es geradezu unmöglich ist, davon nicht im Innersten ergriffen und bewegt zu werden. Wie sinnvoll und reizend ist es, wenn der Dichter, seine Seele mit der Lerche vergleichend, singt:
„Trillernd, jubelnd steigst du auf,
Sachte sinkst du nieder,
Und du endest den kühnen Lauf
Immer am Boden wieder.
Bleibst du in stetem Wandern,
Bist des einen selig froh
Und erfreust dich des andern.“
Oder wenn er einen Knaben, das Kind der Armuth, durch Schnee und Wind den weiten Weg zur Schule machen sieht und ihm zuruft.
„Du wackres, braves Kind des Armen,
Dir möge, was du lernst, gedeihn!
Dir wolle Gottes reich Erbarmen
Des treuen Strebens Lohn verleihn!
Durch klugen Sinn befreit von Noth,
Wenn dir die heilige Mutter Erde
Verdienten Lohn der Arbeit bot:
Dann denk des Schnees, des Sturms und Regens,
Und freu dich fromm des holden Segens
Als Schöpfer deines eignen Glücks!“
Wenn er ferner die Geschichte einer alten Jungfrau erzählt, oder mittheilt, wie er auf die Straße gestreute Glasscherben einem gebeugten Mütterchen, das auf bloßen Füßen mühsam seine Reisigbündel schleppt, aus dem Wege räumt, ein leichtfertig geschriebenes Buch eines berühmten Dichters aus seiner Büchersammlung ausscheidet, die Heuchelei, das Alter oder eine schöne Frau apostrophirt – überall bekundet sich der Hauch reiner Menschlichkeit.
Auch die Sonette, die er dem Andenken seines Gönners und Freundes, des Fürsten Karl Egon zu Fürstenberg widmet, sowie die Zeitgedichte sind voll hoher Gedanken und erfüllt von einem Pathos, das dort menschlich und hier politisch sich ausgiebt.
Der sechste und siebente Band enthalten Dramen, die, sich in der Sprache an Grillparzer anlehnend, durchweg Würdiges bieten, wenn auch nicht immer das auf der Bühne Zündende und Packende. Das Schauspiel „Brunoy“, eine höchst anziehende und fesselnde Gestalt aus den Vorläufen der ersten großen französischen Revolution aufgreifend, dürfte darunter dasjenige sein, das unserem Zeitgeschmack am nächsten steht. Es möchte wohl des Versuchs einer Aufführung lohnen.
Dies sind in geschlossener Reihe die poetischen Werke Ebert’s, die er unter strenger Erfüllung seiner Berufspflichten in Mußestunden geschaffen.
Karl Egon Ebert’s äußeres Leben bietet an besonderen Ereignissen und Erlebnissen nichts Nennenswertes. Am 5. Juni 1801 in Prag geboren, wo sein Vater Doctor der Rechte und Vermögensverwalter der Fürstlich Fürstenberg’schen Familie war, studirte er gleichfalls Rechtswissenschaft, wurde 1825 Bibliothekar und Archivar im Dienste des Fürsten von Fürstenberg und nach dem Tode seines Vaters, Nachfolger in dessen Stellung, das heißt Chef der gesammten Verwaltung der fürstlichen Domäne, um die er sich große Verdienste erwarb. 1848 zum Hofrath ernannt und später in den Adelsstand erhoben, zog er sich 1857 von den Geschäften zurück und lebt seitdem in Prag in stiller Beschaulichkeit.
Welcher Art dieses beschauliche Leben ist, darüber geben den besten Aufschluß seine eigenen Gedichte, so z. B. in den „Frommen Gedanken“ dasjenige, welches die Ueberschrift trägt. „Am 5. Juni 1864 bei dem Eintritte in mein vierundsechszigstes Lebensjahr“. Es schließt mit den Worten.
„und wenn mein Haupt ich lege
Zum Sterben hin, dann laß die höchste Zuversicht
Auf ein verklärtes Sein, auf eine Welt voll Licht
Und voll Erkenntnis so mein tiefstes Herz durchdringen,
Das Hoffnungsfreuden mir des Todes Qual bezwingen!“
Schon einmal hat „Der Todesengel“ vor ihm gestanden, bereit, ihn zu berühren. Ebert deutet dies in einer gehaltvollen Allegorie an. Er fleht in ihm den Engel des Todes an, ihm noch Frist zum Glücke zu lassen, das er noch nicht gekostet, aber der Engel schüttelt das Haupt. „Laß mich die Werke noch vollenden, die ich begonnen,“ bittet er weiter; „manche gute That ist erst halb gethan.“ Diese Bitte rührt zwar den Genius, aber sie bewegt ihn nicht. Endlich jammert er, daß er noch eine heilige Schuld [388] zu tilgen, empfangene Liebe und Freundschaft zu vergüten habe, und der Tod ist entwaffnet.
Der Dichter hat das Glück gekostet, seine Werke vollbracht, seine heilige Schuld vollauf getilgt, und nun tönt folgendermaßen „Des Alten Abschied“:
„Mein Leib ist müd’; mein Geist wird stumpf,
Umsonst, daß ich sie labe –
Allstündlich ruft mir’s streng und dumpf:
‚Zu Grab’ mit dir, zu Grabe!‘
Leb’ wohl, du schönes Leben,
Leb’ wohl, du reiches Menschenherz,
Das oft mir Lust gegeben!
Leb’ wohl, Natur, der Wunder voll,
Aus deinem heil’gen Borne quoll
Mir Segen nur und Freude.
Leb’ wohl, o Kunst, die mich entzückt
In tausendfält’ger Weise,
Auf langer Lebensreise!
So, trug ich auch der Schmerzen viel,
Ward Trost mir stets hienieden,
Nun bin ich matt – ich steh’ am Ziel
Herr, nimm denn hin mich welkes Laub
Und birg mich in die Erde
Und gieb, daß einst aus meinem Staub
Ein duftig Heilkraut werde!“
So sanft, harmonisch und versöhnlich sehen wir ein langes, reiches, werkthätiges Leben sich seinem Abschlusse nähern. Karl Egon von Ebert, der Nachlebende einer großen literarischen Zeit, „eine hohe Säule, die von verschwundener Pracht zeugt“, der Schüler und Schützling Goethe’s, der Freund und Mitstrebende Uhland’s – er steht heute, in seinem achtzigsten Jahre, klar und leuchtend, in unvergänglicher Jugend vor uns. Eilen wir, ihm unsere Ehrfurcht, unsere aufrichtige Bewunderung, unseren vollen Dank entgegen zu bringen, und fassen wir dies Alles in zwei Verse des unsterblichen Meisters von Weimar zusammen:
„Wem wohl das Glück die schönste Palme beut?
Wer freudig thut, sich des Gethanen freut.“
Blätter und Blüthen.
Der Pfingst-Schustertanz in Stolp. In sehr vielen deutschen Städten werden heute noch von den Handwerkern viele aus der Blüthezeit der Innungen, dem Mittelalter, stammende Gebräuche festgehalten und Feste gefeiert, deren Bedeutung und Ursprung die heutige Generation nicht mehr kennt.
So wird in der alten, seit den letzten zwanzig Jahren im schnellsten Aufblühen begriffenen hinterpommerschen Stadt Stolp jetzt noch alle drei Jahre, früher alljährlich, von der Schuhmacher-Innung ein aus den frühesten Zeiten stammendes Fest gefeiert, welches an Sonderbarkeit nichts zu wünschen übrig läßt und uns lebhaft an Sitten und Gebräuche fernliegender Zeiten erinnert. Schon am Vorabend des Festes, welches jedesmal am Mittwoch nach Pfingsten begangen wird, bringt eine Musikcapelle dem Bürgermeister der Stadt, sowie den Vorstehern der Innung sogenannte „Ständchen“. Am Morgen des Festtages springen, von den Lehrlingen des edlen Schuhmachergewerkes schon sehnsüchtig erwartet, zwei als Bajazzos gekleidete Schuhmachergesellen aus der Thür ihrer Herberge hervor und beginnen, Jeder für sich eine andere Richtung einschlagend, einen Rundlauf durch die Straßen der Stadt. Die Burschen folgen ihnen auf Schritt und Tritt, und die Größeren und Stärkeren unter ihnen lassen es sich nicht nehmen, den Bajazzo streckenweise auf ihren Schultern oder auf einer mit grünen Zweigen verzierten Bahre zu tragen. Unaufhörlich singen sie dabei:
„Unser Bruder Aermel (Halb Sieben), der soll leben;
Seine Seele sei vergnügt,
Und sein Liebchen auch daneben,
Weil er sie so zärtlich liebt.
Rühret die Trommel und schenket tapfer ein!
Unser Bruder Aermel (Halb Sieben) soll lustig sein.“
Bruder Aermel und Bruder Halb Sieben sind nämlich die zwar wenig poetischen, aber althergebrachten Namen der beiden Bajazzos.
Auf ihrem Wege durch die Straßen statten die Beiden den Läden der Krämer, Bäcker und Fleischer Besuche ab und werfen von dort aus ihrer immer stärker anwachsenden Begleitung Rosinen und andere Süßigkeiten, Cigarren, Semmeln und Wurstenden zu, verschmähen aber auch nicht, bei dieser Gelegenheit kleine Geldgeschenke einzustecken.
Da am Tage dieses Festes in Stolp stets ein Wochenmarkt abgehalten wird, zu welchem viele Landleute mit ihren Fuhrwerken zur Stadt hineinkommen, so ist es gerade nichts Seltenes, daß einer der Bajazzos mit Hülfe seiner Begleitung einem unbeaufsichtigt dastehenden Gefährte die Pferde ausspannt und meistens freilich sehr kläglich ausfallende Reitversuche anstellt. Das Gewerk setzt zur Schadloshaltung der durch die Bajazzos heimgesuchten Ladenbesitzer einen bestimmten Geldbetrag fest, der nicht überschritten werden darf, sehr selten aber in Anspruch genommen wird, da die Bajazzos in der Regel sehr bescheiden auftreten und nur das nehmen und hinauswerfen, was ihnen zu diesem Zwecke hingestellt wird; daß diese Waaren gerade nicht zu den besten und theuersten gehören, ist wohl selbstverständlich. Als Beweis dafür, daß der Scherz der Gebrüder Aermel und Halb Sieben auch seine sehr einträglichen Seiten hat, dürfte aber die Thatsache gelten, daß mancher arme Geselle, der es verstand, die Rolle eines Bajazzo geschickt durchzuführen, durch die erhaltenen Geldgeschenke in die glückliche Lage versetzt wurde, selbstständig ein kleines Geschäft zu begründen.
Nachmittags bewegt sich von der Herberge aus ein bunter, aus den Mitgliedern der Schuhmachergesellen-Brüderschaft gebildeter Festzug durch die Hauptstraßen der Stadt nach dem, am Südende derselben, im sogenanten Anker gelegenen Festplatze. Vorauf marschirt ein Musikcorps, welchem der Fahnenträger mit der Innungsfahne, begleitet von zwei mit Degen bewaffneten Fahnenjunkern, folgt. Auf dem Kopfe tragen dieselben einen mit Goldborten besetzten dreieckigen Hut, Dreimaster genannt. Der Nächste im Zuge ist der Maigraf, kenntlich an einer breiten, über der Schulter getragenen Schärpe, dem zu beiden Seiten der Laden- und der Altmeister marschiren; dann folgen die beiden Altgesellen, jeder einen silbernen, der Schuhmachergesellen-Brüderschaft gehörigen Pokal in der Hand tragend, welchen sich paarweise vier bis acht Schaffner oder Schöffen mit rothen Baretts, weißen, grüngeränderten Schärpen und bändergeschmückten meterlangen Stäben, Schaffner- oder Schöffenstäbe genannt, anreihen. Die übrigen Gesellen, in schwarzen Anzügen, nur eine große grüne Rosette am Hute, bilden das Gros des Zuges, den der Schreiber, eine riesige Feder hinter dem Ohre, einen Stoß Acten unter dem Arme, den Dreimaster auf dem Kopfe, und einen Schleppsäbel an der Seite, beschließt. Auch raucht er eine Cigarre, die besonders für ihn angefertigt wird und wohl das Zehnfache der gewöhnlichen Länge und Stärke mißt. Die unermüdlichen Bajazzos umtanzen den Zug während des ganzen Weges, sind bald vorn, bald hinten, bald an den Seiten desselben zu finden, und theilen, platzschaffend, mit ihren buntbemalten Pritschhölzern ungefährliche Hiebe an die Straßenjugend aus.
Nachdem der Festzug auf dem Festplatze, einer grünen Wiese, angekommen, hält der Maigraf eine Ansprache in Knittelversen, in welcher er das hohe Alter des Schuhmachergewerbes aus dem alten Testamente zu beweisen sucht, die Vorzüge und Annehmlichkeiten dieses Berufes hervorhebt, der großen und berühmten Männer gedenkt, welche aus diesem Handwerk hervorgegangen sind, wie Hans Sachs, Hans von Sagan etc., dann auf die Gegenwart kommt und schließlich mit der Ausbringung zahlloser Lebehochs endet.
Nach beendigter Rede führt der Maigraf in der sogenannten Winde oder Windelbahn im Kibitzschritt einen Tanz aus. Die Windelbahn ist eine mit Rasen ausgelegte, etwa einen Meter in der Tiefe und zehn Meter im Durchmesser haltende kreisrunde Grube, welche von einem schmalen Wege in vielen Schlangenwindungen durchzogen ist. Der Maigraf muß bei seinem Tanze diesen Weg genau innehalten und darf sich durch die beiden ihn umspringenden Bajazzos nicht irre führen lassen.
Nach beendigtem Tanze wird dem Maigrafen von einem der beiden Altgesellen in einem silbernen Pokale ein Trunk Wein credenzt und ihm für den gut ausgeführten Tanz und die Rede der Dank der Festgenossen ausgesprochen. Dann treten zwei Schaffner gleichzeitig zu Anfang und Ende des gewundenen Weges zum Tanze an und führen denselben in gleicher Weise wie der Maigraf aus, nur daß sie sich in der Mitte der Bahn begegnen und vorbeitanzen müssen. Nach einigen Worten des Altmeisters ordnet sich nun der Zug wieder und kehrt in derselben Reihenfolge wie beim Ausmarsch zum Versammlungsorte zurück. Ein Ball, zu welchem nur Schuhmacherfamilien Zutritt haben und bei dem die Schaffner bedienen müssen, beschließt das Fest.
Noch im vorigen Jahrhundert wurde das Tanzfest auf einem von alten Bäumen bekränzten grünen Platze („unter grünen Lauben“ heißt es in den Acten) dicht am Walle abgehalten, auch lag die Windelbahn der Stadt bedeutend näher. Der Platz ist aber später an die Stadt verkauft worden und die Windelbahn, welche einer zu erbauenden Chaussee im Wege lag, etwa tausend Schritt weiter in’s Anker hineinverlegt.
Ueber den Ursprung dieses Festes ist in den Archiven der Stadt nichts hierauf Bezügliches zu finden, und so bleiben nur die mündlichen Ueberlieferungen übrig, die aber, wie dies ja gewöhnlich der Fall zu sein pflegt, in ihren Behauptungen weit aus einander gehen.
Kleiner Briefkasten.
Fr. K. in R. Sie sind mit Ihrem Mißtrauen gegen die bewußten Zeitungsnachrichten vollkommen im Recht. Den Besitzern der „Gartenlaube“ liegt ein Verkauf des Blattes an eine Actiengesellschaft völlig fern, wie auch der wiederholt in der Presse aufgemachte „Aufsichtsrath der ‚Gartenlaube‘“ in das Gebiet der Fabel gehört. Die Redaction fungirt in durchaus unabhängiger Weise und unter alleiniger Führung des als verantwortlich zeichnenden Redacteurs.
- ↑ Aus dessen „Neuen Gedichten“ (vierte Auflage, Leipzig, Ernst Keil).
- ↑ Man vergl. die treffliche „Ethnographische Karte von Oesterreich-Ungarn“ im 18. Band (Jahres-Supplement von 1880 bis 1881) von „Meyer’s Conversationslexicon“ dritter Auflage.
- ↑ Das unwiderleglichste Zeugniß dafür stellte bekanntlich der panslavistische Congreß im Mai 1867 in Moskau aus, dessen Zornesblitze in erster Linie gegen das Deutschthum gerichtet waren, und wo die Volksboten aller Slavenstämme an babylonischer Sprachverwirrung litten, bis sie das verhaßte Deutsch, weil es allein Allen verständlich war, als panslavistische Congreßsprache benutzten.
- ↑ Einer der ehrlichsten alten Ungarn, der für seines Volkes Wohl gewiß warm fühlte, Graf Stephan Szechenyi, giebt uns folgende Aufklärung, über diese sonst kaum erklärbare Erscheinung: „Mir ist kaum ein wirklicher Magyar bekannt, der, wie sehr auch sein Haar gebleicht sei, wie tief ihm auch Erfahrung und Lebensweisheit die Stirn gefurcht, nicht gleich einem Verrückten, dessen fixe Idee berührt wird, sich den Regeln der Billigkeit, ja sogar jenen der Gerechtigkeit mehr oder weniger entzöge, wenn die Angelegenheit unserer Sprache und Nationalität auf’s Tapet kommt. Bei solchen Gelegenheiten wird der Kaltblütigste hingerissen; der Scharfsichtigste ist mit Blindheit geschlagen, und der Billigste, Gerechteste ist bereit, die erste unabänderliche Regel der ewigen Wahrheit, die man bei keiner Gelegenheit aus den Augen verlieren sollte: ,Thue dem Andern nie, was du auch von ihm nicht gern aufnähmest’ zu vergessen, oder er vergißt sie auch wirklich.“ – Lebenswahrer kann der dermalige Zustand des national bis aufs Aeußerste aufgewühlten Magyarenvolks nicht gezeichnet werden!