Die Gartenlaube (1881)/Heft 24
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No. 24. | 1881. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
(Schluß.)
In der That, Sebaldus lag in einem schweren Processe mit
sich selbst. Der Glaube an so Vieles, was ihm bisher für unerschütterlich
wahr gegolten, was er hinnahm, als ob es so sein
müßte, erschien ihm jetzt in einem anderen, in einem zweifelhaften
Lichte. Die tausend Kniffe und Schliche, mit denen der Klügere,
Rücksichtslosere den blos Redlichen übervortheilt, die Härte, mit
der das Gesetz, das nicht den Einzelnen beachtet, gegen den verfährt,
der sich nicht zu beherrschen weiß, das allgemeine Uebereinkommen,
mit dem man dem Einflußreichen, dem Mächtigen gegenüber
Alles, selbst das gemeinste Laster beschönigt, die Bosheit
liebenswürdig, die Herzlosigkeit natürlich findet, das Alles trat jetzt
vor ihn und erschien ihm in seiner wahren Gestalt; er verachtete
die Welt, in der er lebte, die er tagtäglich vor sich hatte, der
er, wie jeder Andere, schmeichelte und huldigte. Jetzt fiel ihm
wieder das Gespräch in der Wirthsstube ein; er war beinahe stolz
darauf, daß er unter Menschen gesessen, die so kühne Aeußerungen
gewagt hatten, wie der Jäger.
„Ja,“ sprach er zu sich, „mir wär’ es gleichgültig, wenn man mich auch für einen solchen hielte, einen von denjenigen, die das Unrecht im Verborgenen strafen.“
Jetzt ward an seine Thür gepocht und das von seiner Schwester angenommene Kind, dem er Unterricht ertheilte, trat ein. Seit einem Jahre lebte es im Hause, und Jedermann hatte es lieb gewonnen; dem Schreiber war es geradezu seine einzige Freude.
Veronika war vor etwa zwei Jahren von ihrer Mutter aus dem benachbarten Gebirgsland in den Dienst gegeben worden. In jedem Frühjahr kommen nämlich aus dem Montafun arme Leute herüber und verdingen da ihre Kinder zum Viehhüten an wohlhabende Bauern der Umgegend. Im Herbst werden die Kinder wieder an derselben Stelle von ihren Eltern abgeholt, und der Lohn, den sie sich während des Sommers erwarben, reicht den Winter über aus, ihr karges Leben zu fristen. Nun war an einem Herbsttag auch Veronika am Sammelplatz eingetroffen, nachdem sie den Sommer über im Dienste der Schwester Sebald’s gestanden hatte, aber für sie kam diesmal Niemand, um sie heimzuholen. Durch die Eltern der andern Kinder erfuhr sie, daß ihre Mutter gestorben sei. Von ihrem Vater wußte man ohnehin seit Jahren nichts mehr, er war in die weite Welt gegangen, man glaubte nach Australien. Die Aermste, die nun eine Waise geworden, lief weinend zu ihrer Dienstherrschaft zurück und wurde wieder angenommen, nach einigen Monaten sogar an Kindesstatt. Es hatte freilich einigen Zuredens von Seiten des Bruders bedurft, bis die Schwester sich zu dem Schritte entschloß. Da nun das Kind bisher von Lesen und Schreiben soviel wie nichts wußte, so übernahm es Sebald, sie in beiden zu unterrichten. Anfangs ging es recht langsam, die Vernachlässigung aller geistigen Anlagen hatte ihre Fähigkeiten wie in Schlaf versenkt, und nur die Wißbegierde zu wecken, kostete schon Mühe. Sebald ließ sich diese nicht gereuen und sah sich bald belohnt. Einmal erwacht, entwickelten sich die Talente des Mädchens mit südlicher Raschheit, und mit der geistigen Entfaltung ging auch die körperliche vorwärts. Das Rauhe und Trotzige in Veronika’s Wesen verwandelte sich in jungfräuliche Sanftmuth; ihre Stimme wurde weicher, ihre Gestalt zarter und biegsamer.
Wie Veronika nun Bücher und Hefte vor ihrem Lehrer ausbreitete, wie er ihre Aufgaben durchsah und prüfte, da fühlte er recht tief, welche Beruhigung ihre Anwesenheit ihm bot. Jede Frage, die sie an ihn richtete, jede Antwort, die er von ihr hörte, rückte seinen Geist wieder in geordnete ruhige Bahnen. Er fühlte sich unter der Macht dieser unschuldigen Seele genesen, wie ein Fieberkranker, dem ein frischer Trunk Wasser gereicht wird.
Am Schlusse der Unterrichtsstunde blieb Veronika vor ihrem Lehrer stehen und sah ihn mitleidsvoll an.
„Ach, Herr Sebald,“ sagte sie, „ich habe eine Bitte. Sie dürfen mir es nicht übelnehmen.“
„Gewiß nicht, Kind. Was willst Du?“
„Ich möchte Sie bitten, daß Sie sich der Sache des Hösch nicht weiter annehmen. Sie werden krank darüber.“
Der Schreiber bog seinen Arm um die Stuhllehne und stützte nachdenklich den Kopf darauf – er antwortete nicht.
„Ich versündige mich vielleicht an Ihrem gerechten Eifer,“ fuhr sie fort, „aber auch das muß ich gestehen: ich habe Mitleid mit dem Missethäter; Alles lästert ihn; Alles verfolgt ihn; Jedermann wünscht ihm ein martervolles Ende, und ist er nicht schon elend genug, da er ein Kain geworden ist?“
„Wie!“ fuhr der Schreiber auf „soll ein Mörder frei herumgehen in der Welt, die gleiche Luft mit uns einathmen, soll ihm dasselbe Himmelslicht scheinen, wie den Guten und Braven, die in Angst und Schrecken sind, so lang er straflos bleibt?“
„Es mag so sein,“ antwortete Veronika, „aber vielleicht ist er nicht einmal so schuldig und verabscheuenswerth, wie es den Anschein hat, wer er auch sein mag.“
„Kind, Kind,“ rief Sebald, „das sind Versuchungen. Halte Dein Gewissen frei von solchen Gedanken! Aber zu Deiner Beruhigung will ich Dir versprechen, daß ich mich um diese Angelegenheit nicht mehr und nicht weniger bekümmern will, als ich muß, als es mir zur Pflicht wird.“
[390] Ruhiger, als an den früheren Tagen, kam er des nächsten Morgens in die Amtsstube; die düstern Gespenster schienen hinter ihm versunken; eine stille Freude war in ihm aufgegangen. Es kam ihm vor, als hätte er eigentlich mehr Beruf zum Lehrfache, als zu diesem trockenen Schreiberamt, in dem er es doch nie mehr weiter bringen konnte. Er brauchte dann nicht in die spitzfindige Stadt hinein zu kommen und in der dumpfen Stube zu sitzen. Draußen auf seinem Dorfe, bei weit offenen Fenstern, durch die der Wohlgeruch der Felder hereinzog, da würde das Gebiet seiner Thätigkeit sein und das, was seinem strebsamen Charakter am nächsten lag, auf Andere fördernd und rathend einzuwirken, das wäre dann seine Arbeit geworden. Leider mußte er sich sagen: es war zu spät; sein Loos war entschieden, und so wurde selbst das, was ihn hob, eine Quelle neuer Leiden für ihn; die frohe Stimmung, mit der er gekommen war, hielt denn auch nicht lange nach, und bald versank er wieder in seinen Trübsinn. Ein einziges Wort, eine Miene, die ihm eine Andeutung schien, gab ihn wieder dem alten Wahne preis. Die Woche verging, und der nächste Sonntag goß wieder Zufriedenheit in seine Seele. Alle anderen Tage schienen nur noch für den Sonntag da zu sein. Bald war er nur noch in der Nähe des Kindes wie unter einem höheren Schutze und frei von den quälenden Gedanken, die sein Inneres zerrütteten.
So verfloß ein Monat; der Sommer neigte sich dem Herbste zu. Seine Schülerin brachte ihm ein Körbchen mit Erdbeeren aus dem Walde, die letzten, sagte sie.
An diesen Nachmittage wurde der Unterricht auf eine wenig angenehme Weise unterbrochen. Veronika kam ängstlich die Treppe herauf und sagte zu Sebald, es warte ein Mann vor der Thür, der ihn zu sprechen wünsche. Es war Hösch. Unaufgefordert, aber unter vielen Bücklingen trat er ein und brachte sein Anliegen vor, eine verführte Streitigkeit mit einem Nachbarn wegen des Fahrrechts über eine Wiese, die ihm zugehörte. Augenscheinlich war die ganze Sache nur ein Vorwand; Hösch wollte sich eindrängen und auskundschaften. Zu welchem Zwecke, war freilich nicht abzusehen. Sein lauernder Blick nach dem Mädchen, das sich übrigens nicht weiter um ihn bekümmerte, sondern ruhig an ihren Aufgaben fortschrieb, bestätigte die geheime Absicht seines Besuches. Sebald beschied ihn kurz, und jener entfernte sich unter allerlei Verzögerungen und mit einem höhnischen Lächeln auf der Lippe. Kaum war er fort, so wich die Gleichgültigkeit, welche Veronika während seiner Anwesenheit beobachtet hatte, sie eilte an’s Fenster und kam mit den Worten zurück:
„Es ist noch Einer unten.“
Sebald sah nach und bemerkte den Montafuner, der, wie es schien, seinen Cameraden erwartet hatte. Beide sprachen nun heimlich und eifrig mit einander, wobei sie mehrmals nach dem Haus emporblickten. Die Verstimmung, die der widrige Besuch erregt hatte, klang in dem Schreiber nach, war aber nur eine Vorbedeutung von einer herberen Schickung, die den armen Mann treffen sollte; denn nach der Lehrstunde, als Veronika fortgegangen war, kam die Schwester und eröffnete ihm, daß dem Kinde eine unerwartet günstige Aussicht für seine Zukunft sich biete; sie werde es nach der Hauptstadt zu weiterer Ausbildung bringen. Es sei eine Herrschaft in das Dorf gekommen auf der Durchreise, die zufällig das Mädchen gesehen und gesprochen habe. Voll Theilnahme für das liebe Geschöpf, habe sie gebeten, für dessen Zukunft sorgen zu dürfen. Das ganze Benehmen der Herrschaft habe für deren Aufrichtigkeit gezeugt, und so habe sie sich entschlossen, dem Wunsche nachzukommen.
Sebald fühlte sich bei den Worten seiner Schwester wie an einem Abgrund stehen: er starrte sie an und fragte nur:
„Und soll das schon bald geschehen? Hast Du Alles reiflich erwogen?“
„Ja,“ antwortete sie fest, „und ich glaube eine heilige Pflicht zu erfüllen.“
„Es ist wahr,“ antwortete er, innerlich überzeugt, daß sie Recht habe, aber eine Ahnung sagte ihm, nun sei für ihn das schönste Glück verloren und vielleicht mehr.
Noch an demselben Abend nahm er Abschied; er wunderte sich selbst über die guten Lehren und vernünftigen Grundsätze, die er dem Mädchen auf den Weg mitgab, die er mit so viel Ruhe und Salbung vorbrachte, während ihm das Herz von Zweifel und Qual zerrissen war, und er wunderte sich, daß er sich noch darüber verwundern konnte – es war ja Alles, was geschah, so natürlich, so nothwendig, so ganz in der Ordnung, und doch sprach’s in ihm: dein gutes Werk, dein Engel geht mit ihr dahin.
Wie waren ihm stets seine eigenen Gedanken, seine nüchternen Sonntagsbetrachtungen und Sentenzen ans ihrem Munde so tiefsinnig, so wirklich erhebend vorgekommen, und wie flach und inhaltslos erschienen sie ihm jetzt! Wie sollte seine Standhaftigkeit auf die Probe gestellt werden! Veronika weinte, als er ihr die Hand zum Abschiede bot; er sprach ihr Trost zu, aber sie schluchzte:
„Ach, ich habe ja keinen Vater mehr Sie sind mir Alles gewesen – Ihnen dank’ ich Alles.“
Und mit einmal hielt sie ihn umfaßt; er fühlte auf seiner von ihren Thränen benetzten Hand ihre heiße Stirn; er glaubte das Pochen ihres Herzens zu fühlen ihm war wie einem Armen, der plötzlich Geld gefunden hat und weiß, daß es nicht ihm gehört; es blendet seine Augen, aber er muß, er will es zurückgeben. Er schob sie leise von sich.
„Geh’,“ sagte er, „bleib’ brav! wir sehen uns wieder.“ – –
In der Stadt erwartete ihn eine Neuigkeit: Wiederholt hatten sich Verdachtsgründe gegen Hösch ergeben; man hatte, als er gerade ausgegangen war, Haussuchung bei ihm gehalten, aber nichts Gravirendes gefunden. Das erfuhr nun Sebald über Hösch, und er fühlte sich dadurch nicht wenig aufgeregt.
Als der schlaue Hösch dann nach Hause kam und bemerkte, was vorgegangen, gedachte er sich baldmöglichst aus dem Staube zu machen; zuvor jedoch wollte er noch von dem Schreiber erfahren, was gegen ihn vorliege und was ihm etwa bevorstehe.
Er lauerte ihm daher auf und trat ihm, wie jenes erste Mal, in den Weg. Daß Sebald ihm noch einen Gulden schulde, war ihm ein erwünschter Vorwand.
„Nehmt mir’s nicht übel, daß ich mahne!“ redete er ihn an. „Du lieber Himmel, was ist Euch ein Guldenstück; das konntet Ihr leicht vergessen. Aber Unsereiner, arm und gehetzt wie ein Thier, Herr, Unsereiner rechnet.“
„Ist mir leid, wirklich leid,“ versetzte Sebald, „aber im Tumult der letzten Zeit hab’ ich’s rein vergessen. Hier, hier!“
„Danke Euch,“ versetzte Hösch; „ich werde das Geld brauchen. Unter uns gesagt: man wird mich wohl des Landes verweisen, oder will man mich abermals einsperren?“
„Ihr seid ein angesessener Mann – wer kann Euch ausweisen? Wer überhaupt kann Euch etwas anhaben, wenn Ihr ein gutes Gewissen habt?“
„O, der Verdacht ruht einmal auf mir; alles muß ich verschuldet haben; hält man mich nicht sogar für den Mörder des Wildberger und Ihr selbst auch, Schreiber, he?“
Damit faßte er den neben ihm ruhig Hergehenden heftig am Arm und schüttelte ihn. Dieser sah ihn von der Seite an und warf hin:
„Ich bin’s nicht schuldig, Euch zu beichten.“
Hösch blieb stehen und hielt seinen Nebenmann fest; er schien heftig mit sich zu kämpfen und seufzte tief auf. Endlich schien er einen Entschluß zu fassen.
„Herr Sebald,“ flüsterte er ihm zu, „hol’ der Teufel die schlechte Meinung, die Ihr von mir Habt! – Hört, ich weiß, wer den Händler erschlug, und ich will ihn Euch angeben, wenn Ihr mir versprecht, acht Tage lang zu warten, bis Ihr die Anzeige macht.“
„Damit der Verbrecher Zeit habe, sich der Justiz zu entziehen? Das wäre mir ein sauberer Pact.“
„Nein, sag’ ich Euch, er soll nicht entkommen: ich werde ihn nicht warnen. Wollt Ihr? Wollt Ihr den Schwur leisten? Wir sind allein auf diesem Fußsteig im Wald; es ist Nacht und weit und breit ist Niemand um die Wege. Wollt Ihr schwören, Herr Schreiber?“
Es lag in diesen Worten etwas so finster Drohendes und sogar Wahrhaftiges, daß Sebald auf den Gedanken kam, gerade die verlangte Frist beweise, daß es Hösch mit dem Geständnisse Ernst sei.
„Was Ihr da sagt,“ rief er und trat einen Schritt zurück, „ist der vollste Beweis gegen Euch: Ihr selbst seid der Thäter.“
„Nein,“ schnaubte Hösch, „nein, bei Gott – ich werde Euch die Wahrheit sagen – ein Anderer ist’s, wollt Ihr schwören?“
„Ja, ich will, ich will Euer Geständniß bei mir acht Tage behalten – das schwör’ ich Euch – so wahr –
„Es gilt,“ rief Hösch aus – „habt Ihr neulich den Vagabunden [391] den Montafuner gesehen? Habt Ihr? – nun, der hat dem Opfer den tödtlichen Streich versetzt; ich war nur sein Helfershelfer und theilte den Raub, und wollt Ihr auch wissen, warum er ihn erschlug? Ich will’s Euch sagen. Es gab eine Zeit, da war der Montafuner ein wohlhabender und ordentlicher Mann, er ließ sich mit dem Händler in Geschäfte ein, und der brachte ihn mit Spiel und Wucherzinsen um Alles, um Hab und Gut, um Ehre und häusliches Glück, denn er hat ihm auch sein Weib gestohlen. Verarmt und elend ist er in die weite Welt gegangen, und arm und elend kam er zurück, da hat er Rache genommen – jetzt wißt Ihr Alles.
„Und warum gebt Ihr den Mann an? Das ist ja grundschlecht von Euch.
„Warum ich ihn angebe?“ versetzte Hösch langsam und in seltsam höhnischer Weise. „Weil ich ihn los sein will, er hängt sich an mich, und ich will ihn los sein; er ist mein böser Stern; er wird mein Unglück werden, und ich bringe ihn nicht eher an, als bis er im Gefängnisse sitzt. Er wird mich angeben, alle Schuld auf mich wälzen – mög’ er’s thun! Wenn’s ihm was nützt, ist mir’s recht – innerhalb der acht Tage bin ich so weit, daß mich Eure Gerichte nicht mehr erwischen. Jetzt wißt Ihr Alles, jetzt Adieu! Ich hab’ Euren Schwur.“
Damit war der Hösch verschwanden.
Erschüttert stand Sebald da; ein furchtbares Geheimniß war auf seine Seele gebunden – er war Mitwissender einer Schuld geworden und hatte sich verpflichtet, diese Schuld tagelang bei sich zu behalten. Durfte er das? War er verpflichtet, seinen Eid zu halten? „Ja.“ sagte er sich, „ich muß und ich werde schweigen.“
Er blickte über sich. Die Zweige der Tannen verschatteten sich zu einem dunklen Gewölbe; kein Stern blickte durch. Er wußte sich’s zu deuten – wie sehr sehnte er sich nach einem mitfühlenden Herzen! Allmählich aber wich das Entsetzen vor Allem, was er eben erfahren hatte, einer weichen Stimmung; war er doch befreit von dem Alp, der ihn schier erdrückt hatte, von der wahnsinnfinsteren selbstmörderischen Gewissensunruhe. Der Schuldige war gefunden, es lag nur an ihm, das Gericht über ihn hereinbrechen zu lassen – in seiner Hand lag das Geschick des Mörders. Der Tag mußte kommen, an dem es sich erfüllte – jede Minute rann ihm unaufhaltsam entgegen.
Seine Arbeiten vollzog er in dieser Zeit wie immer pünktlich; seine Lebensweise ging den geordneten Gang, und nichts verrieth, was er Ereignißschweres in seinem Innern verschloß; nur eine gewisse Hast in seinem Benehmen, ein unruhiges Aufleuchten in seinen Blicken zeugte von der Ungeduld, die ihn nicht mehr verließ. Für seine vormalige Schülerin bemerkte er Folgendes:
„Der Redliche geht seines Weges und hat oft keine Ahnung von den Gefahren, die zu beiden Seiten dieses Weges liegen; er hört nur von fern das Gekrächz der Raben, welche auf Denjenigen warten, der fällt. Er weiß nicht, daß Schlechtigkeit und Unglück schon beinahe das Normale, Tugend und Heil die Ausnahmen geworden sind.“ An dem Tage, der ihn seines Eides entband, verfügte er sich in aller Frühe zu Gericht und gab seine Aussage zu Protokoll. Der Tag verstrich ihm in gewohnter Weise, und als er des Abends, recht froh, die Stadt verlassen zu können, des gewohnten Weges nach Hause eilte, sah er unter dem Hofthore der Schenke den riesigen Wirth stehen, der ihn anrief, einzutreten.
„Kommt herein! Ich hab’ Euch Mancherlei zu erzählen, es ist ohnehin ein Gewitter im Anzuge, das könnt Ihr am besten bei mir aushalten.
Sebald fand, daß er Recht habe, und trat ein. Sein erster Blick traf auf den Montafuner; er erschrak; wußte er doch, was in den nächsten Stunden über diesen Menschen hereinbrechen würde. Aber wie ward ihm erst, als der Wirth begann.
„Das wißt Ihr auch nicht, daß man den Hösch im Anstand aufgegriffen hat? Seine Papiere sollen nicht in Ordnung gewesen sein; man hat entdeckt, daß der Paß, den er bei sich trug, gefälscht war, und liefert ihn daher aus. Morgen bringen sie ihn.“
„Was, was, den Hösch? rief Sebald erstaunt. „Sein Fluchtversuch wird nun allerdings jeden Verdacht gegen ihn bekräftigen. Diesmal kommt er nicht mehr aus.“
„Nicht mehr, meint Ihr?“ rief höhnisch der Montafuner vom andern Dach herüber; „der Hösch ist schon aus schlimmern Fatalitäten glücklich davongekommen; der hat schon andere Riegel und Handschellen als die Eurigen durchbrochen.“
Der Wirth, der eben hinausgerufen wurde, sah den Sprecher verächtlich an, der aber nahm sein Glas und setzte sich in vertraulicher Weise an Sebald’s Seite.
„Geständniß bringen sie schon gar keines aus ihm heraus,“ fuhr er fort, „und ohne solches kann man ihm nichts anhaben.“
„Das ist noch sehr die Frage,“ antwortete kurz der Schreiber. „Hört, Herr Oberschreiber,“ fing der Zudringliche wieder an, es heißt, Ihr hättet ihm ein wenig hinausgeholfen.
„Ich.“ fuhr der so Interpellirte auf – „ich? nein!“
„Nun, nichts für ungut! Aber hört: ich brauchte eigentlich auch einen Reiseschein; möchte wieder einmal in meine Heimath, aber ohne was Schriftliches lassen die Grenzer mich nicht hinüber, gebt mir guten Rath! Könnte mir wer zu einem Paß verhelfen?“ „Wo habt Ihr den Euern? Ihr hattet doch einst gewiß eine Legitimation?“
„Ja,“ lachte der Vagabund, die hab’ ich in Australien vereufelt, hab’ sie dort einem verkauft, der sie nöthiger hatte als ich.“
„Ihr wart in Australien?“
„Manches Jahr, freilich – ja – bin längst todt gesagt zu Haus, längst verschollen. hab’ Niemand als ein armes Kind, das noch mein ist, aber auch das kennt mich nicht – möcht es auch mit mir heimbringen, aber ich bin ja todt gesagt.“
„Euer Kind. wo lebt das?“ fragte Sebald, zitternd vor einer Enthüllung, die ihn zerschmettern mußte. „Euer Kind?“ – eine Aehnlichkeit in den Gesichtszügen des Mannes, der neben ihm saß, mit jenen des sanften geliebten Wesens machte ihn schaudern.
„Wo mein Kind lebt?“ erwiderte heftig der Montafuner. „ich hab’ es gefunden – es lebt bei Eurer Schwester – Herr Oberschreiber.“
Todtenbleich war dieser aufgesprungen.
„So. Veronika ist Dein Kind – Ungeheuer, und Du bist der Mörder des Wildberger!“
Der so Angeredete sprang gleichfalls auf, Sebald packte ihn bei der Brust – „ist es so, bist Du der – dann fort – lauf was Du kannst! Ich will keinen Antheil an Deiner Strafe – fort!“ Er drängte den Menschen nach der Thür, der wie ein Trunkener ihn mit weitgeöffneten Augen anstarrte.
„Du bist verrathen,“ wiederholte er. „flieh! Sonst bist Du verloren. Hösch hat alles bekannt.“
Jetzt schien ihn der Unglückliche zu verstehen, er langte mit der Hand nach dem Dach. als such’ er eine Waffe und stürzte nach der Thür. Hier aber wurde ihm ein Halt entgegengerufen; zwei Gensd’armen nahmen ihn fest. Er widersetzte sich nicht und ließ sich wegführen. In Verzweiflung starrte ihm Sebald nach; er rannte hinaus. Das Gewitter war noch nicht ganz vorüber, schwere Wolken hingen am Himmel; hier und da blitzte es noch. Mitten auf der Straße blieb er stehen und rang die Hände.
„Schrecklich, schrecklich!“ rief er mehrmals aus, „ich habe den Vater des Kindes verrathen, das mein guter Engel war, das allein nur Trost und Leuchte gewesen ist. Wenn sie es erfährt, wenn sie alles erfährt – ihr Vater ein Mörder, zum Tode verurtheilt, und ich sein Verräther! O, wenn ich nur das von ihr abwenden könnte! Es ist nicht auszudenken, welcher Jammer es wäre, wenn sie ihr Unglück hörte.“
Er wandte sich und lief dem Gefangenentransport nach; vor dem Gefängniß suchte er um die Erlaubniß nach, allein mit dem Verhafteten sprechen zu dürfen. Es wurde ihm leicht bewilligt. da man wußte, daß er die Anzeige von der Thäterschaft des Montafuners gemacht hatte, allein auch dieser hatte das in Erfahrung gebracht und sah in dem Eintretenden seinen Todfeind vor sich. Er hörte schweigend und regungslos zu, als Sebald ihn bat, seines Kindes im Verhör nicht zu erwähnen. damit es nicht die Schande zu erdulden habe.
„Schande?“ lachte er wild auf, „die Schande ist Dein, Du Judas. Ich habe mich gerächt an einem Schurken, und mein Kind soll es wissen, wer sein Vater ist, daß er ein Mann ist und denjenigen erschlagen hat, der an meinem und auch an ihrem Unglück schuld ist. Macht, daß Ihr fortkommt, Schreiber!“
„Nein,“ antwortete er, „ich lasse nicht ab, Dich zu bitten und zu ermahnen. Denk’ an Gott und bereue Deine Sünde!“
„Was Sünde? Pack Dich weiter!“
„Bedenke, daß Du ein unschuldiges Leben um seinen zeitlichen Frieden bringst. Deine That ist nicht zu verbessern; nach menschlichen und ewigen Gesetzen bist Du ein Mörder.“
[392] „Tropf Du!“ schrie der Gefangene und stieß die gefesselten Hände mit solcher Gewalt gegen die Brust des Schreibers, daß er ihn an die Mauer warf. Mit einem Aufschrei des Schmerzes sank dieser zu Boden.
Nun wollte der Wüthende noch weiter auf ihn eindringen, aber die Aufseher stürzten herein und befreiten den Blutenden von seinem Würger, der wie ein Rasender sich wehrte und kaum bezwungen und in festere Bande gelegt werden konnte.
Der Verwundete wurde zu einem Arzte gebracht.
Trotz der vorgerückten Nachtzeit hatte der Vorfall einige Leute herbeigezogen die voll Neugier und herumfragend ihre Muthmaßungen und Bemerkungen vorbrachten; denn man hatte aus dem Innern des Gefängnisses den besagen Streit und das Jammern des Verwundeten gehört. Schwer aufathmend lag der Gefangene in seiner Zelle, er, der sich noch vor einer Stunde so sicher geglaubt, er war nun gebunden den Folgen seiner That überliefert.
Stunden lang blieb er so in einer Art von Betäubung, stöhnend, sich verzweiflungsvoll auf dem Stroh herumwälzend; nach und nach kam die Besinnung, kam ein Gefühl von Reue über ihn. Sein Muth war gewichen; er gab sich auf, und den Mord zu leugnen fiel ihm nicht mehr bei; er wünschte nur noch, daß das ihm bevorstehende Urtheil bald vollzogen würde. In den dumpfen Zustand seiner Ergebung drängte sich bald der Gedanke an sein Kind; er erinnerte sich der Worte des Schreibers; er fühlte, daß dieser Recht habe. Das einzige Gute, das er im Leben noch thun könne, schien ihm: daß er des armen Kindes mit keiner Silbe erwähnte und durch nichts verrate, daß er dessen Vater sei.
„So muß es sein. Die Schande soll nicht auf sie kommen; ich kann mich nicht verteidigen; ich kann nichts bereuen, aber ich kann schweigen.“
In diesem Entschluß fühlte er sein Gewissen erleichtert, und er nahm sich fest vor, das Geheimniß mit in’s Grab zu nehmen
Er hielt Wort. In dem Verhör, das sogleich am nächsten Morgen statt hatte, gestand er seine Schuld unumwunden ein. Auf die Frage nach dem Beweggrund seiner That schwieg er anfangs, ließ sich jedoch später zu dem Geständniß herbei, daß er einen Act der Rache verübt, seinen ärgsten Feind, der es tausendfach an ihm verschuldet, aus der Welt geschafft habe. Weiteres war nicht aus ihm herauszubringen, und als man ihm mit körperlicher Bestrafung drohte, schwur er, lieber sich die Zunge abzubeißen als über sein Unglück noch ein Wort zu verlieren.
Einige Tage darauf fanden ihn die Aufseher, als sie den Kerker betraten, todt; er hatte seinem Leben auf furchtbare Weise ein Ende gemacht.
Sebald, dessen Verletzungen nicht tödtlich waren und der sich bereits außer Gefahr befand, hörte die Nachricht mit Entsetzen; die Vorwürfe in seinem Herzen erwachten mit erneuter Gewalt, und mit wahrer Seelenangst blickte er zu dem Mädchen auf, als sie kam, nur nach seinem Befinden zu fragen, aber in ihren Blicken lag nichts, als die Besorgniß nur ihn; keine Wolke trübte noch diese reine Stirn. Er wußte nun, daß der Unglückliche nichts verraten hatte. Die Strafe würde ihn doch früher oder später erreicht haben, sagte er sich, und wer weiß, wie er noch sein Kind mit in’s Verderben gezogen hätte.
Nach einigen Wochen war er so weit hergestellt, daß er nach Hause fahren und bei seiner Schwester der völligen Genesung entgegensehen konnte. Ehe er aber dazu kam, ward ihm die freilich nicht ungetrübte Freude zu Theil, von seiner Schülerin zu hören, daß sie aus der Stadt wieder in ihre zweite Heimath zurückgekehrt sei. Ihre Dienstherrschaft, die sich ihrer anfangs so warm angenommen, hatte ihre Theilnahme aufgegeben; es waren ihr seltsame Gerüchte über des Mädchens Herkunft zugetragen worden, und man fand darin eine hinreichende Ursache, sie auf anständige Weise loszuwerden, Mit Geschenken und unter den ehrenhaftesten Zufriedenheitsbezeigungen wurde sie in das Dorf zurückgebracht. Sebald reichte ihr die Hand zum Willkomm und unterdrückte die bittere Empfindung, die ihn beschlich, als er sie wieder der Armuth und Niedrigkeit anheimgegeben sah. Gedachte er erst all des Andern, was unterdeß geschehen, so hatte er Mühe, den Sturm in seinem Inneren zu beschwichtigen. Ihr Anblick bewegte ihn zu Thränen, aber er gelobte bei sich im Stillen, für sie zu sorgen.
Nach Verlauf einiger Tage war sein Befinden derart, daß er seinen Dienst wieder antreten konnte. Innige Freude überkam ihn, als der Anwalt ihm den vollen Gehalt einhändigte, ohne die Zeit seiner Krankheit in Abrechnung gebracht zu haben; dessen Warnung aber, daß er seine Gesundheit mehr als bisher schonen müsse, beachtete er keineswegs; er legte bald wieder nach wie vor den weiten, nicht immer unbeschwerlichen Weg im Winter wie im Sommer zurück und gönnte sich nur die geringste und ärmlichste Kost. Er sparte, aber nicht aus Geiz, nicht für sich – für sie kargte und entbehrte er. Bald war eine beträchtliche Summe, waren einige hundert Gulden zurückgelegt; sie sollten das Heirathsgut der Waise oder ihr Nothpfennig im Alter werden.
Mit stolzer Befriedigung sah er, wenn er Nachts spät von der Stadt zurückkam, nach ihrem erleuchteten Fenster hinauf; er wußte, daß sie noch las und schrieb; er war glücklich, die Keime der Erkenntniß und Bildung in ein empfängliches Gemüth gelegt zu haben. Aber Entbehrung und Mühsal zehrten an seinem Leben; oft fror ihn, daß er sich kaum erwärmen konnte; oft spürte er ein Stechen unter den Schultern; ein Hüsteln stellte sich ein, das immer wieder kam und schlimmer und schlimmer wurde. Mit dem Frühjahr erklärte der Arzt seiner Schwester, daß ihr Bruder an einer Brustkrankheit leide und unrettbar verloren sei. Sie und Veronika wichen bald nicht mehr von dem Krankenbette des treuen Sebald; Veronika war unermüdlich im Wachen, Vorlesen und Beibringen von lindernden und erfrischenden Mitteln; sie blieb auch in seinen letzten Tagen, was sie ihm stets gewesen war, ein gütiger Engel.
Als man ihn in die Erde gesenkt hatte, ließ sie über seinem Grabe ein schlichtes Denkmal aufrichten und da kam zuerst wieder jener Name zum Vorschein, den auch der majestätische Berg trug, der so hoch und stolz über die Kirchhofmauer hereinschaute auf den armen Namensvetter im kleinen Erdhügel, unter dem ein stillgewordenes, armes Menschenherz schlief.
Die erste elektrische Eisenbahn der Welt.
Wenn uns jetzt das Dampfroß der Anhaltischen Eisenbahn der deutschen Reichshauptstadt zuführt, so bemerken wir unweit derselben, auf der Station Groß-Lichterfelde, dort, wo uns aus der Ferne der stolze Prachtbau der deutschen Central-Cadettenanstalt entgegenwinkt, einen Schienenweg, auf dem in gar wundersamer Weise, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben ein schmucker Tramwagen in raschem Fluge dahinruckt. Vergeblich sucht unser Auge die treibende Kraft an diesem Gefährt zu entdecken, das Geheimniß seiner Bewegung zu enträtseln; man vermag, so weit man auch späht, nichts mehr als einen gewöhnlichen Bahnkörper und den darauf sich anscheinend von selbst bewegenden Wagen wahrzunehmen. Selbst wenn man, von der seltsamen Erscheinung angezogen, auf der gedachten Station dem Eisenbahnzuge entsteigt und den räthselhaften Wagen aus unmittelbarer Nähe betrachtet, bietet sich dem Auge, außer einer Hebelstange auf dem Perron, auch nicht das Geringste dar, was auf das Vorhandensein eines Bewegungsmechanismus schließen ließe. Wendet man sich nun, um des Räthsels Lösung zu erfahren, etwa an ein Bäuerlein, das eben im Begriffe ist, an der wundersamen Fahrt Theil zu nehmen, so wird es wohl mit der gleichgültigsten Miene von der Welt, als ob es mit den hier wirkenden Kräften vollkommen vertraut wäre, die kurze Antwort geben. „Dies ist ja die neue elektrische Eisenbahn.“
Ja, eine elektrische Eisenbahn ist es, was das staunende Auge hier erblickt. Der Gedanke, den die weltberühmte Firma Siemens und Halske schon auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung in einer kleinen elektrischen Bahn (vergl. „Gartenlaube“ 1879, S. 630) zum Ausdruck brachte, ist nun zur reifen That geworden. Und diese neue glänzende Errungenschaft unseres Zeitalters, deren Vorarbeiten schon seit einem Menschenalter manchen forschenden Geist beschäftigt haben, vermochte unser an bedeutsamen Erfindungen so verwöhntes Menschengeschlecht kaum mehr zu überraschen, sodaß selbst der Bauer in der Erscheinung dieses von einer unsichtbaren Kraft in Bewegung gesetzten Wagens durchaus nichts Wunderbares
[393][394] erblickt. Ohne den inneren Zusammenhang der hier thätigen Naturkräfte zu begreifen, begnügt er sich mit dem Worte „Elektricität“ und der Thatsache des Erfolges und – schweigt. Ein Beweis dafür, wie es im Verlaufe unseres Jahrhunderts der wissenschaftlichen Erkenntniß gelungen ist, den alten Glauben des Volkes an übernatürliche Mächte fast ganz zu bannen und dagegen die große Bedeutung der Forschung für das gesammte Culturleben zur allgemeinen Geltung zu bringen.
Heute sieht man in jedem neuen Gedanken eine Anregung zur Vermehrung des Wissensschatzes und in diesem den alleinigen Hebel für den geistigen und materiellen Fortschritt der Menschheit. Vermag doch Niemand vorauszusehen, ob nicht aus dem unscheinbarsten Samenkörnchen menschlichen Denkens dereinst eine die Welt beglückende Errungenschaft entsprießen wird. Beginnt doch die glorreiche Geschichte der elektrischen Technik, des Telegraphen, des Fernsprechers, der dynamo-elektrischen Maschine, des im Dienste der Heilkunde stehenden magneto-elektrischen Apparats und der elektrischen Eisenbahn mit einer scheinbar sehr geringfügigen Entdeckung.
Als Galvani im Jahre 1789 wahrnahm, daß ein von ihm frisch präparirter Froschschenkel, den er mittelst eines metallenen Hakens an einem eisernen Gitter aufhängte, in heftige Zuckungen gerieth, konnte Niemand im Entferntesten ahnen, daß diese unscheinbare Beobachtung der Ursprung für die Entdeckung einer der gewaltigsten Naturkräfte sein würde, die inzwischen, wie keine andere, umgestaltend auf das ganze menschliche Leben gewirkt hat und in der Zukunft gewiß noch weit bedeutendere Entwickelungsphasen in dem Fortbau der Cultur herbeiführen wird.
Kaum hatte Galvani seine Beobachtung veröffentlicht, als auch schon die Gelehrten mit einander wetteiferten, das Geheimniß dieser Thatsache zu erklären und ihre Nutzanwendung zu erforschen. Man fand später, daß Eisen, welches man in die Nähe eines galvanischen Stromes brachte, magnetisch wurde, also die Eigenschaft erhielt, ein zweites Eisenstückchen anzuziehen, und daß dieses Eisen seine magnetische Kraft sofort verlor, wenn man den galvanischen Strom entfernte oder ihn unterbrach. Ein Eisenstab also, umwunden von einem Kupferdraht, wird ein unter ihm liegendes Eisenstück zu sich in die Höhe ziehen, wenn wir durch diesen Draht einen galvanischen Strom gehen lassen. Das angezogene Eisenstückchen wird aber sofort niederfallen, sobald wir den Strom unterbrechen und dadurch dem oberen Eisenstabe die magnetische Kraft entziehen. So ist es möglich, durch rasch auf einander folgende Unterbrechungen des galvanischen Stromes das untere Eisenstück in regelmäßige Bewegung nach oben und unten zu versetzen und diese Kraft als den Motor für irgend eine Maschine zu verwenden. Der Erste, der diesen Zusammenhang der Elektricität mit dem Magnetismus nachwies und so die Grundlage zur Lehre von der Fernwirkung des elektrischen Stromes legte, war der dänische Naturforscher Oersted. Nunmehr begann man darüber nachzudenken, ob sich nicht die bedeutende Zugkraft, welche ein Elektromagnet auszuüben im Stande ist, zu größeren Arbeitsleistungen, der Dampfkraft analog, verwenden lasse. Diesen Gedanken versuchten zuerst der Amerikaner Page und der berühmte Erfinder der Galvanoplastik, Jacoby in St. Petersburg, in der Construction größerer elektrischer Kraftmaschinen zu verkörpern. Jacoby brachte es wirklich dahin, durch einen elektromagnetischen Motor ein Boot auf der Newa in Bewegung zu setzen, Mußte aber schließlich selbst eingestehen, daß sein Versuch die Lösung der Aufgabe als eine Unmöglichkeit erscheinen lasse, da der Kostenaufwand der galvanischen Batterien zur Erzeugung des elektrischen Stromes zu beträchtlich sei und außerdem die Arbeitskraft der elektrischen Maschine die Kraft der Batterien ungemein abschwäche.
Einen größeren und nachhaltigen Erfolg versprach man sich von den sogenannten magneto-elektrischen Maschinen, die auf der Basis der von Faraday entdeckten Induktion beruhten. Der Vorgang, welcher sich bei der galvanischen Inductionserscheinung abspielt, ist dem oben geschilderten verwandt. Bringen wir z. B. in die Nähe eines Kupferdrahtes einen Magnet, so entsteht in dem Augenblicke der Annäherung in dem Kupferdrahte ein kurz andauernder galvanischer Strom, dasselbe geschieht auch in dem Augenblicke der Entfernung des Magneten von dem Kupferdrahte. Durch die fortgesetzte Rotation eines Magneten vor einem elektrischen Leiter (z. B. Kupferdraht) wurde man nunmehr in den Stand gesetzt, eine unendliche Anzahl von Inductionsströmen zu erzeugen und die galvanischen Batterien als entbehrlich zu beseitigen. Doch auch diese Maschinen, bei welchen Stahlmagnete, deren mehrere zu einem großen Magneten vereinigt wurden, in Anwendung kamen, reichten zur Erzeugung so starker Ströme, wie sie die Kraftübertragung für mechanische Zwecke beansprucht, nicht aus, um so weniger, als Stahlmagnete mit der Zeit ihre magnetische Kraft einbüßen; auch wurde die Herstellung dieser Maschinen noch immer zu kostspielig.
Erst im Jahre 1867 ist es Werner Siemens gelungen, durch die Construction einer dynamo-elektrischen Maschine, welche er der Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorführte, das Princip der elektrischen Kraftübertragung ohne Vermittelung vorhandener permanenter Magnete zur Ausführung zu bringen und damit dem elektrischen Strome die eigentliche Grundlage für seine mechanische Nutzanwendung zu geben. Er fand, daß schon der remanente Magnetismus, das heißt: die geringe magnetische Kraft, welche in dem Elektromagneten zurückbleibt, vollkommen genügt, um einen constanten elektrischen Strom zu erzeugen und in Arbeitskraft umzuwandeln. Wir wollen es mit Umgehung der schwer zu schildernden technischen Einzelheiten versuchen, das leitende Princip dieser dynamo-elektrischen Maschine kurz zu erläutern.
Man denke sich einen mit Drahtumwindungen umgebenen Eisencylinder, der sich um ein sogenanntes magnetisches Feld dreht, ohne dasselbe zu berühren, und dessen Drahtenden durch die Windungen von Elektromagneten führen, die zu beiden Seiten des magnetischen Feldes angebracht sind. Erfolgt nun eine gleichmäßig fortdauernde Rotation dieses Cylinders, so muß sich der schwache Magnetismus im magnetischen Felde verstärken, in dem sich drehenden Theile der Maschine einen Strom erzeugen, der wiederum die Kraft des Elektromagneten erhöht und dadurch dem verstärkten Magnetismus die Kraft giebt, abermals stärkere Ströme hervorzubringen. Dieser Kreislauf geht so fort, bis schließlich Ströme entstehen, die mächtig genug sind, nicht nur ein intensives elektrisches Licht, die stärkste chemische Wirkung, sondern auch die umfassendsten Arbeitsleistungen zu Stande zu bringen. Um eine Kraftübertragung zu ermöglichen, braucht man nur die Stromerzeugungsmaschine mit einer zweiten dynamischen Maschine durch eine Leitung zu verbinden, dann wird sich durch die Macht des Stromes der rotirende Cylinder der zweiten Maschine gleichfalls in Bewegung setzen und, wenn man diesen mit einem Triebwerk versieht, jeden beliebigen mechanischen Apparat in Thätigkeit bringen.
Bei der ersten elektrischen Eisenbahn sind nun die soeben beschriebenen Maschinen in folgender Weise thätig. Etwa einen halben Kilometer von dem Ausgangspunkte der Bahn und eine kleine Strecke von ihrem Schienenwege entfernt, findet man in einem alten Werkstattsgebäude eine von einem Gasmotor in rasche Umdrehung versetzte dynamo-elektrische Maschine. Der von ihr erzeugte elektrische Strom ist es, der draußen auf dem Bahnkörper das Wunder der Bewegung vollführt. Mittelst unterirdischer Leitungsdrähte wird nämlich dieser Strom den Schienen der Bahn zugeführt, durch diese zu den in steter Bewegung befindlichen Radkränzen der Wagenräder und von diesen durch Schleiffedern in eine zweite dynamo-elektrische Maschine geleitet, welche, dem Auge des Beobachters unsichtbar, am Wagen befestigt ist. Der Cylinder dieser Betriebsmaschine wird durch den elektrischen Strom in rotirende Bewegung versetzt, bringt seinerseits durch eine Reihe stählerner Spirälschnüre die Räder des Wagens in Umdrehung und diesen somit in Lauf. Die Schleiffedern der einen Wagenseite, respective der einen Schiene, stehen nun mit dem einen, die der anderen Wagenseite aber mit dem anderen Ende des Verbindungsdrahtes der elektrischen Betriebsmaschine in steter leitender Verbindung, sodaß dadurch der elektrische Kreislauf mit der stromerzeugenden Maschine hergestellt ist. Die Einleitung und Unterbrechung des elektrischen Stromes geschieht durch Bewegung eines Hebels, der sich auf jedem Wagenperron zur Hand des Wagenführers befindet; so lange der Stromlauf geschlossen ist, bewegt sich der Wagen fort; die Unterbrechung desselben und das Anziehen der Bremse bewirken seinen sofortigen Stillstand. Da der Wagen, ohne umgedreht zu werden, analog dem Pferdebahnwagen, vor- oder rückwärts fahren kann, so ist zur Bedienung desselben und auch zur Billetausgabe nur eine Person nöthig. Bei der Abfahrt läßt dieser Führer eine Signalglocke ertönen, schließt durch eine leichte Bewegung des gedachten Hebels den Stromlauf, und fort rollt der Wagen in schnellem Laufe, wie durch Zauberkräfte getrieben, seinem Ziele zu.
[395] Zwar soll, der behördlichen Anordnung gemäß, die Fahrgeschwindigkeit des Wagens zwanzig Kilometer per Stunde nicht übersteigen; dennoch hat er bei den Probefahrten die ganze Strecke der Anlage, die vorläufig von dem Bahnhofe Groß-Lichterfelde bis nach der zweieinhalb Kilometer entfernten Central-Cadettenanstalt reicht, in fünf Minuten zurückgelegt, gewiß ein glänzendes Zeugniß seiner Leistungsfähigkeit.
Ebenso wie dieser Wagen in seiner ganzen Form und Einrichtung denjenigen der Pferdebahn vollkommen entspricht, unterscheidet sich auch der Bahnkörper der elektrischen Eisenbahn, der ein Werk der Berliner Civilingenieure Gerding und Birnbaum ist, sichtbar in nichts von dem einer Secundärbahn. Wir haben einen ganz gewöhnlichen Unterbau vor uns, auf dem die Stahlschienen, wie bei Eisenbahnen üblich, auf Holzschwellen befestigt sind, welche aber hier gleichzeitig als Isolatoren wirken, indem sie das Uebergehen der Elektricität aus den Schienen in den Erdboden verhüten.
Da dieselbe stromerzeugende dynamische Maschine selbst zwei Geleise in einer Länge von etwa zwanzig Kilometer mit Kraft zu versorgen vermag und außerdem die Einrichtung getroffen werden kann, daß auf demselben Geleise zwei oder mehrere Wagen, entweder zu einem Zuge vereinigt oder mit Zwischenräumen hinter einander zu fahren vermögen, so darf man wohl nach dem glänzenden Erfolge dieses ersten Versuches die Vermuthung hegen, daß der elektrische Bahnbetrieb in nicht zu langer Zeit umgestaltend in unser gesammtes Verkehrswesen eingreifen wird. Wenn man erwägt, daß der Wagen der elektrischen Bahn von der drückenden Last eines Motors befreit ist, somit ein viel wirksameres Bremsen gestattet, daß die Verwendung von stationären Dampfmaschinen für den Eisenbahnbetrieb den Vortheil bietet, nicht nur eine günstigere Kesselheizung zu ermöglichen, sondern auch die Dampfkraft für einen anderen Betrieb abzweigen zu können, daß man endlich dort, wo genügende Wasserkraft vorhanden ist, die elektrische Bahn ohne Aufwand von Brennmaterial betreiben kann, wenn man alle diese Punkte zusammenfaßt und schließlich noch erwägt, welcher Verbesserungen die neue Schöpfung noch fähig ist: so kann man nicht anders, als derselben eine bedeutende Zukunft in Aussicht stellen, um so mehr, als Werner Siemens, der geistvolle Schöpfer dieses Werkes, nicht der Mann ist auf den wohlverdienten Lorbeeren auszuruhen.
Schon jetzt ist er wieder mit einem neuen, nicht minder genialen Project aufgetreten. Er beabsichtigt nämlich den elektrischen Betrieb auch für den Verkehr auf Straßen und Chausseen einzurichten und hat bereits vollständig ausgearbeitete Pläne den maßgebenden Behörden eingereicht. Da die Anlegung von erhöhten Schienengeleisen auf einer Straße den Verkehr zu sehr belästigen würde, so hat er die Schienen in Gestalt von zwei neben einander laufenden Telegraphendrähten nach oben verlegt. Auf diesen Drähten bewegt sich ein kleiner Contactwagen, der vermittelst eines elastischen Seiles mit einem entsprechenden, auf der Straße stehenden Gefährte in Verbindung gesetzt ist. Wird nun aus einer dynamo-elektrischen Maschine ein Strom in die bewußten Drähte geleitet, so theilt er sich dem Contactwägelchen mit, wird aus ihm durch das Seil in die elektrische Maschine des Gefährtes auf die Straße geführt, setzt diese in rotirende Bewegung und bringt dadurch den Wagen in Gang, der gleichzeitig vermittelst des Seiles von dem Contactwagen stetig begleitet wird. Da das Seil in sich die beiden Leitungsdrähte birgt, so ist auch der elektrische Kreislauf vollständig hergestellt. Das Unternehmen dürfte wohl dem Ruhmeskranze seines Schöpfers neue Blüthen hinzufügen.
Mit gerechtem Stolz müssen wir auf unser deutsches Vaterland blicken, das der Welt hier wieder den vollgültigen Beweis liefert, daß es seine Lorbeeren nicht nur auf dem blutigen Felde der Ehre, sondern auch auf der goldenen Bahn des Friedens zu erringen vermag, und welches jetzt dazu berufen ist, der Welt das nahende Zeitalter der Elektricität zu verkünden.
Dynamit.
War das ein Schrecken im preußischen Abgeordnetenhause, als dort vor einigen Jahren die Gefährlichkeit des Dynamits auf’s Tapet kam und ein Abgeordneter, dieselbe bestreitend, den gemüthlichen Vorschlag machte: er persönlich wolle auf der Rednertribüne eine Dynamitpatrone in der Hand halten, dieselbe anzünden und sie aufbrennen lassen! Die Nachbarn des guten Herrn wichen entsetzt von ihm zurück, in der Meinung, er könne unversehens eine Quantität des „höllischen Materials“ aus der Tasche ziehen und sofort seine Beweisführung beginnen.
Der Schreiber dieser Zeilen ist kein Mann der blassen Furcht, gesteht aber offen, daß ihm etwas unheimlich zu Muthe wurde, als einstmals in seiner nächsten Nähe ein Dynamitfabrikant ganz in der oben erwähnten Weise experimentirte, indem er eine aus jenem Sprengstoffe fabricirte Patrone frei in der Hand hielt, sie anzündete und abbrennen ließ, als wär’s ein Fidibus. Wenige Minuten später wurde eine zweite Patrone gleicher Größe auf einen Granitstein von 1 Meter Länge, 0,8 Meter Breite, 0,5 Meter Dicke frei aufgelegt und mittelst elektrischen Drahtes und Zündhütchens entzündet – das gab freilich eine andere Wirkung: sie zerschlug das Felsstück in unzählige Trümmer.
Es ist eben etwas Wunderbares um die Doppelnatur dieser merkwürdigen Masse: sie kann harmlos bleiben, und sie kann mit furchtbar zerstörender Kraft wirken, je nachdem man mit ihr umgeht. Jene letztere Eigenschaft ist allgemein bekannt, die erstere nicht, und daher darf es dem nicht technologisch veranlagten Menschenkinde wohl kaum verdacht werden, wenn es vor dieser Substanz ein gelindes Grauen hegt und sie mit injuriösen Bezeichnungen belegt, welche entschieden dem Verdachte Raum geben, als sei Urian oder Beelzebub der Vater dieser Erfindung der Neuzeit.
Sie ist indessen à la Maria Stuart besser als ihr Ruf. Daß derselbe ein so arger wurde, verursachten wesentlich zwei schlimme Affairen, deren eine indessen vielleicht mit Unrecht auf Rechnung des Dynamits gebracht wird. Daß die Höllenmaschine des Amerikaners Thomas, richtiger Thompson, welche am 11. December 1875 in Bremerhaven fast 200 Menschen tödtete oder verstümmelte (vergl. „Gartenlaube“ 1876, Nr. 2), mit Dynamit geladen war, ist nie erwiesen worden, ja es ist nach allen vorliegenden Daten sehr unwahrscheinlich. Daß dagegen die Nihilisten sich zur Ermordung des Czaren Alexander des Zweiten des Dynamits bedienten, unterliegt keinem Zweifel.
Letzteres sensationelles Ereigniß hat denn auch alle die Stimmen wachgerufen, welche schon bei der Thomas-Affaire nach strengster Polizei-Ueberwachung oder gar Verbot der Dynamitfabrikation schrieen. Dazu wird es selbstverständlich nie kommen; denn abgesehen davon, daß ein solches Verbot nicht durchführbar wäre, hat doch das vielgeschmähte Dynamit neben jener Sündenlast auch ein ansehnliches Conto von Wohlthaten aufzuweisen, durch die es sich jahraus jahrein um die Menschheit so sehr verdient gemacht, daß die Wagschale der Gerechtigkeit tief zu seinen Gunsten sinken muß. Das wird Manchem überraschend klingen, ergiebt sich aber mit unzweifelhafter Gewißheit schon bei einem Blicke auf die Bedeutung, welche das Dynamit für die Bergindustrie und den Wegebau gewonnen hat. Bei allen Gesteinsprengungen hat es seiner größeren Energie halber den Vorrang vor dem früher verwendeten Schießpulver erhalten. Die zu diesem Zwecke jährlich verbrauchten mindestens 100,000 Centner Dynamit entsprechen an Kraft etwa 250,000 Centnern des alten Schwarzpulvers. Vergleicht man nun die Wirkung dieser beiden Sprengstoffe hinsichtlich ihrer Preise, so ergiebt sich, wiewohl das Pulver billiger ist, daß das Dynamit der Menschheit jährlich rund 15 Millionen Reichsmark erspart, um welche Summe sie Erze und Kohlen billiger erhält, Tunnels und Einschnitte wohlfeiler herstellt als früher.
Schon das darf eine respectable Leistung genannt werden. Jedoch diese Geldersparniß ist nur der geringere Theil des Nutzens, den das Dynamit schafft. Viel wichtiger ist der Gewinn an Zeit, die Beschleunigung der bergmännischen Arbeit, die geringere Anforderung an der zu der gefährlichen Bohr- und Sprengarbeit erforderlichen Menschenkraft und damit endlich die Verminderung des Verlustes an Leben und Gesundheit zahlreicher Arbeiter. Drücken wir auch dieses Verhältniß in Zahlen aus, so ergiebt sich nach mäßiger Berechnung, daß gegenwärtig etwa 70,000 Menschen weniger der in so hohem Grade gefährlichen bergmännischen Sprengarbeit ausgesetzt sind, als wenn man das gleiche Quantum Gestein mit Schwarzpulver sprengen wollte.
[396] Rechnet man hierzu noch die durch das Dynamit herbeigeführte enorme Förderung von Sprengarbeiten unter Wasser, die geringere Gefährlichkeit der Sprenggase desselben bei unterirdischen bergmännischen Arbeiten, die durch diesen Explosionsstoff vermittelte leichte Bewältigung von Eisstauungen in großen Strömen, endlich eine Reihe von Culturzwecken im eigentlichen Sinne des Wortes, welchen das Dynamit dient, nämlich Rodungsarbeiten und Tiefbodencultur von Ackerland, so rechtfertigt sich die vorhin aufgestellte Behauptung von den höchst anständigen Charakterseiten dieses Vielgefürchteten. Daß übrigens sowohl das Militär wie die Herren von der Marine in dem Dynamit ein sehr schätzbares Material beim Miniren wie auch beim Torpedowesen entdeckt haben, ist bereits genügend bekannt. Erwähnenswerth mag der Umstand sein, daß der französische Cavallerist zu seiner neuesten Ausrüstung auch ein Täschchen zur Aufnahme von zwei Dynamitpatronen erhalten hat, sodaß künftighin schon ein starkes Reiterdetachement Viaducte, Eisenbahnen, Brücken etc. wird zerstören können.
Sehen wir uns den Stoff, der so mannigfaltige Verwendung findet, einmal etwas näher an!
Lobrero, 1846 als junger italienischer Chemiker in dem Laboratorium von Pelouze in Paris thätig, entdeckte einen öligen, gelbbräunlichen und sehr giftigen Stoff, der durch verschiedene zufällige Explosionen seine ungeheure Kraft zeigte. Man nannte das Präparat Nitroglycerin, und es blieb praktisch unverwerthet, da es unmöglich schien, die Explosion mit einfachen Mitteln zu erzielen. Erst 1867 fand der schwedische Chemiker Alfred Nobel eine Methode, jene Kraft in einer Form zu verwerthen, welche die gefährlichen Eigenschaften beseitigte; ihm verdankt man das Dynamit.
Die Fabrikation des Nitroglycerins ist verhältnißmäßig einfach zu nennen. Die dazu erforderlichen Materialien sind: Glycerin, concentrirte englische Schwefelsäure und stärkste Salpetersäure von 45 bis 48 Grad Beaumé. Da die Salpetersäurefabriken diese Stärke gewöhnlich nicht herstellen, auch die Eisenbahnen dieselbe in dem angegebenen Stärkegrade nicht zur Beförderung annehmen, bereiten sich die größeren Nitroglycerinfabriken diese Ingredienz gewöhnlich selbst – und zwar in eisernen Retorten – aus gleichen Gewichtstheilen Chilisalpeter und Schwefelsäure. Einige Fabriken leiten die Dämpfe der Salpetersäure gleich in die Schwefelsäure; wo dies nicht der Fall, mischt man zwei Gewichtstheile Schwefelsäure zu einem Gewichtstheil Salpetersäure und läßt die Mischung vollständig erkalten. Dann setzt man das Glycerin hinzu. Bei diesem Zusatz muß jede zu starke Erhitzung vermieden werden, und die Temperatur darf beim Zusetzen höchstens 18 Grad Celsius betragen; bei einer zu niedrigen Temperatur wird indessen die Ausbeute zu gering. Behufs der Kühlung werden entweder die Mischgefäße mit Wasser und Eis umgeben, oder man läßt beständig kaltes Wasser durch zwei Kühlschlangen längs der inneren Wandung des mit Bleiblech ausgekleideten Mischbottichs gehen. Ist alles Glycerin von der Säure aufgenommen, so leitet man die Mischung mittelst einer Bleirinne in einen zur Hälfte mit Wasser gefüllten Bottich; das Nitroglycerin setzt sich dann am Boden an und wird von der darüber stehenden verdünnten Säure durch Ablassen getrennt. Sorgfältiges Waschen mit Wasser, mit Sodalösung und abermals mit Wasser entfernt jede Spur noch anhängender Säure. Aus erklärlichen Gründen werden die Operationen des Mischens, Waschens etc. in getrennten, möglichst weit aus einander gelegenen leichten Bretterschuppen vorgenommen.
Von der Verwendung des Nitroglycerins in unvermischtem Zustande ist man vollständig abgekommen; man läßt es vielmehr von festen pulverförmigen Körpern aufsaugen und fertigt aus dieser Masse Patronen, meist cylindrische, von zwei bis fünf Centimeter Durchmesser und drei bis zwanzig Centimeter Länge; die Umhüllung besteht aus Pergamentpapier. Die erwähnten pulverförmigen Körper sind entweder indifferenter Natur, wie z. B. Kieselguhr (Infusorienerde), Cellulose (gedörrtes Holzmehl), Tripel, Asche von Bogheadkohle, gebrannter Thon, oder sie sind selbst activ, indem sie die Wirkung des Nitroglycerins verstärken, wie z. B. gepulverte Steinkohle, Harz, Kali, Natronsalpeter etc. Die mit jenen indifferenten Substanzen hergestellten Sprengmittel heißen Dynamite; die andere Kategorie führt besondere Namen, wie Lithofracteur, Dualin etc.; auf diesem Gebiete ist kürzlich eine neue Mischung, die Sprenggelatine, aufgetaucht, welcher viel Rühmendes nachgesagt wird. Sechszig Gramm Gelatine haben die Wirkung von etwa hundert Gramm Dynamit, und namentlich sehr festem Gestein gegenüber dürfte die Sprenggelatine das Dynamit bald verdrängen.
Von diesen Dynamitsorten kommen vorzugsweise in den Handel: das Kieselguhr-Dynamit, mit respective 35, 45 und 75 Procent Nitroglycerin, und das Cellulose-Dynamit, nur in einer Sorte mit etwa 75 Procent Nitroglycerin. Letztere nimmt bis zu 40 Procent Wasser auf, ohne die Sprengwirkung zu verlieren, und findet bei bergmännischen Arbeiten fast ausschließlich Verwendung.
Um die Explosion zu bewirken, wird der Dynamitpatrone eine Sprengkapsel, das heißt ein Zündhütchen, Knallquecksilber enthaltend, aufgesetzt und mit einer eigens hierzu construirten Zange festgekniffen; eine galvanische Batterie oder ein elektrischer Zündapparat beschafft sodann die Zündung.
Tritt dieser Apparat nicht in Thätigkeit, so ist das Dynamit äußerst schwer zur Explosion zu bringen. Die in dieser Hinsicht öffentlich angestellten Versuche haben zu Resultaten geführt, welche das lebhaftere Staunen der Zuschauer erregten. Hier einige Proben! Unter ein Gewicht von 42 Pfund wurde eine mit Dynamit gefüllte Patrone gebunden. Das Gewicht mit der Patrone fiel aus einer Höhe von 19 Fuß auf eine festgelegte Granitplatte. Die Patrone wurde vollständig breit und platt gequetscht, die Granitplatte sogar zertrümmert, ohne daß das Dynamit explodirte. – Ferner wurde ein hölzernes Faß mit 15 Pfund Dynamit auf einen Holzstoß gelegt und letzterer angezündet. Einer der Fabrikanten und der Fabrikmeister traten später, als das Faß herunter zu gleiten drohte, mit größter Ruhe an das Feuer heran, um ersteres wieder zurecht zu legen. Sobald das Faß an einer Stelle durchgebrannt war, entzündete sich das Dynamit, zersprengte durch die sich bildenden Gase die Reifen des Fasses und verbrannte rasch und ohne jeden Knall oder jede Explosion in ähnlicher Weise wie angefeuchtetes Schießpulver. Daß die Hantirung mit Dynamit weniger gefährlich ist, als diejenige mit Schießpulver, hat die Erfahrung längst gelehrt.
Wesentlich verschieden von der Art, wie Schießpulver explodirt, ist die Explosionsart des Dynamits. Das Pulver erfordert bekanntlich allseitige Umschließung, wenn die volle Wirkung erzielt werden soll, und lose hingelegtes Pulver verpufft fast wirkungslos in der Luft. Das Dynamit dagegen äußert auch ohne Umschließung seine zerstörende Wirkung nach allen Seiten hin; offen auf einen massiven Eisenblock gelegt und elektrisch entzündet, zersprengt es denselben in Atome. Bei Sprengungen von Felsen unter Wasser genügt es, die Patrone hart an das Gestein zu legen und sie elektrisch zu entladen; bei Berg- und Tunnelarbeiten ist um mehr als ein Drittel weniger Handarbeit beim Bohren der Sprenglöcher nothwendig, als früher.
Woher entstehen nun, im Gegensatz zu den oben geschilderten Experimenten, die durch Dynamit verursachten Unglücksfälle, von denen man von Zeit zu Zeit hört? Zunächst gewiß durch die an das Unglaubliche streifende Unvorsichtigkeit einzelner Arbeiter, die durch stetes Umgehen mit diesem Sprengstoffe alle Furcht vor demselben verloren haben. Die Dynamitpatrone muß vor starkem Druck bewahrt werden, da sonst das Nitroglycerin austritt und schon ein geringer Stoß oder Schlag auf letzteres die Explosion hervorrufen kann. Im Uebrigen ist die Praxis der Bergarbeiter, von der manchmal Unkundige mit Schaudern erzählen, die Patronen in der Westen- oder Hosentasche zu tragen, völlig ungefährlich. Dies geschieht, um das Dynamit „aufzuthauen“, das heißt: es knetbar zu machen, da dasselbe schon bei 8 Grad Wärme nach Celsius „gefriert“, das heißt: erstarrt und eine hellere, schmutziggelbe Farbe annimmt; in diesem Zustande ist seine Wirkung bei der Explosion wesentlich geringer. Zur vollen Explosionsfähigkeit bedarf es etwa 11 Grad Wärme, und in geschlossenen Gefäßen erhitzt, explodirt es bei 150 Grad Celsius. Werden größere und namentlich eingeschlossene Mengen entzündet, so bringt die sich entwickelnde sehr hohe Wärme eine Explosion des noch unverbrannten Restes hervor. Mehr als ein schrecklicher Unglücksfall ist durch das entsetzlich leichtsinnige Erwärmen der bereits mit Zündschnur, ja selbst mit Zündhütchen versehenen Patronen auf heißen Oefen entstanden. Endlich sei noch erwähnt, daß in der Zeitung „Der Berggeist“ vom 21. December 1877 die Bergleute davor gewarnt werden, statt der sicher fungirenden Zange zum Festkneifen des Zündhütchens an der Zündschnur – die Zähne zu gebrauchen, da schon mehrfach hierdurch Unglücksfälle entstanden seien. Sollte man eine derartige Sorglosigkeit für möglich halten?!
Die Vorsichtsmaßregel, daß Dynamit nur unter besonderen Vorkehrungen auf Eisenbahnen wie auf Land- und Wasserstraßen transportirt werden darf, muß gebilligt werden; das absolute Verbot [397] des Eisenbahn-Transports dieses der Montan-Industrie längst unentbehrlich gewordenen Materials dagegen, wie solches von mehreren Regierungen beliebt worden ist, sollte aufhören, da sich die Sendung unter falscher Declaration kaum verhüten läßt, wie frevelhaft auch ein ähnliches Verfahren erscheinen muß. In Rußland, wo für jede entdeckte Verletzung des Pulvermonopols die Transportation der Schuldigen nach Sibirien angedroht ist, wurde vor circa fünf Jahren Nitroglycerin in einer Seifenfabrik zu Moskau erzeugt und als – Schuhwichse im Lande versandt. Erst eine furchtbare Explosion führte zur Entdeckung.
Soviel zur Charakterisirung der Doppelnatur des heute so vielfach besprochenen Dynamits, eines Explosionsstoffes, von dem man sagen kann, daß bei ihm alles auf seine Behandlung und Verwendung ankommt und daß er daher für die Menschheit beides in seinem Schooße birgt, Heil und Verderben.
Albertus Magnus.
Unter den Geistesmännern des Mittelalters, welche wie Könige im Reiche der Gedanken hervorragen, ist es außer dem Geschichtsschreiber Otto von Freising, dem Oheime Kaiser Barbarossa’s, einzig Albert Graf von Bollstädt bei Lauingen, welcher den Ehrennamen der Große führt.
Albertus Magnus heiß’ ich,
Und Sanctus nennt die Kirche
mich.
Er war das Universalgenie, das zuerst alle Wissenschaften umfaßte und in erstaunlichem Umkreis beherrschte, sodaß man ihn eine Leuchte der Welt nannte: Mundo luxisti, quia totum scibile scisti – der Welt hast Du geleuchtet, weil Du alles Wißbare gewußt hast. Er war als der christliche Aristoteles um so mehr gefeiert, als er auch zuerst den schärfsten Denker des Alterthums und Lehrmeister Alexander’s des Großen wie einen Kirchenvater an den Universitäten einführte.
Das Jahr seiner Geburt ist nicht bestimmt bekannt; es schwanken die Angaben zwischen 1193 und 1206, doch verdient ersteres Jahr den Vorzug. Wenn aber der heiligmäßige Fiesole das Bildniß unseres weltberühmten schwäbischen Landsmannes naturgetreu gemalt hat, muß Graf Albert ein stattlicher Mann gewesen sein.
Als Jüngling zum höheren Studium an die Hochschule von Padua gesendet, erwählte er dort Jordanus von Sachsen, den gefeierten Dominikanergeneral, zum Lehrer, welcher den Ordensstifter noch persönlich gekannt hatte. Er wurde von ihm 1223 um so leichter zum Eintritt in diesen Orden veranlaßt, als dieser damals die ganze kirchliche Diplomatie leitete. Albertus Ratisbonensis nennen ihn die Urkunden, da er als Magister zuerst an der Ordensschule zu Regensburg auftrat, wo sie noch seine Lehrkanzel zeigen (der Stuhl ist aber bereits aus der gothischen Zeit). Nach Köln übergesiedelt trägt er den Ruhm des Beinamens Albertus de Colonia. Dahin folgt ihm als Schüler Thomas von Aquin, „der große Schweiger“, der, bald selber als Doctor angelicus gepriesen, heute als neuer Kirchenlehrer eingeführt werden soll. Wie hätte aber ein Mann von Albert’s wachsendem Rufe der berühmtesten theologischen Lehranstalt zu Paris fern bleiben und nicht auch dort seine Stimme vernehmen lassen sollen! Und er eiferte hier zuerst gegen das kirchliche Verbot des Aristoteles. Er selbst kannte den griechischen Weltweisen nur aus lateinischer Uebersetzung, und es ist sein und anderer zeitgenössischer Bischöfe Verdienst, daß sie eigene Uebersetzer nach Cordova und den höchsten Lehranstalten der Araber in Spanien sandten, um, wenngleich nach zweimaliger Seelenwanderung des Originals bei der linguistischen Uebersetzung, den Gedankeninhalt des hellenischen Philosophen auszuschöpfen. Alexander der Vierte berief ihn nach Rom, wo er als Magister sancti palatii amtirte und ebenfalls das Lehramt übte, dessen Monopol in der Theologie sich die Italiener damals noch nicht angeeignet hatten.
Albertus’ Werke sind sehr schwer zu zählen, weil viele Spätere ihre Schriften unter seinem Namen herausgaben, um die Welt der Gebildeten anzuziehen. Umfaßte er doch das gesammte philosophisch-theologische, naturwissenschaftliche und medicinische Wissen seiner Zeit. Die unbestreitbar echten Schriften allein füllen einundzwanzig Folianten und bieten nicht etwa einen Leichenhügel unfruchtbarer Lehren, todter Fragen und begrabener Meinungen, sondern Albertus ist der Riese, auf dessen Schultern sich alle Nachfolgenden stellen und der den Uebergang aus den eisernen Jahrhunderten durch den Strom der Zeit zur Reform der Wissenschaften bildet.
Wie Karl Martell bei Tours die Saracenen bekämpfte, so eröffnet unser Heros, zu dessen Füßen gelehrig Deutsche, Italiener und Franzosen saßen, mit dem Aquinaten den geistigen Kreuzzug für die christliche Civilisation Europas und schlägt die Geisterschlacht gegen Averroes und seine Schule, „die mit dem Körper läßt die Seele sterben“, wie Dante eifert. Um so höher preist der Sänger der „Göttlichen Komödie“ unsern Geisteshelden, welcher, erst Lesemeister und Provinzial, nach dem Sturze des lateinischen Kaiserthrons in Constantinopel 1261, wie vordem der heilige Bernhard, von Urban dem Vierten noch zuletzt zum wirklichen Kreuzprediger in Deutschland auserlesen worden – doch die Zeit dafür war vorüber.
Ein Jahr vorher hatte der Papst ihm das Bisthum Regensburg übertragen, ihm jedoch das hohe Amt wieder abgenommen mit der Erklärung: zum Bischof könne er Jeden machen, aber die Kirche habe einen einzigen Albertus. Wie ein Salomo seiner Zeit [398] hat der Stern des dreizehnten Jahrhunderts Licht in die Naturwissenschaften getragen, und von der Ceder bis zum Ysop die Pflanzen- wie die Thierwelt aufgehellt, obwohl er den Theophrast noch nicht kannte. Der Verfasser des „Kosmos“, Alexander von Humboldt, der seine Schriften nur dürftig kennen lernte, hat ihn so gewürdigt. In der Chemie zieht Albertus den Paracelsus nach sich, was er aber in Botanik und Physiologie geleistet, namentlich die Theorie vom Pflanzenschlafe, wird in den fünf Jahrhunderten bis Linné nicht überboten. Die außerordentlichsten Leistungen erzählte man sich von ihm in der Mechanik. Sein Jünger Thomas soll den ersten Automaten, eine wandelnde Bildsäule mit Sprechapparat, zertrümmert haben, weil er dieses Werk für Teufelsspuk hielt, da aber der Meister hinzukam, jammerte er. „Wehe mir! Du hast mich um die Arbeit meines halben Lebens gebracht.“
Wir befassen uns hier mit keiner Literaturgeschichte, sondern stellen tatsächlich die Geistesgröße des Mannes dar, welcher, nicht zufrieden, wie Augustinus, die Tiefen der Gottesweisheit zu ergründen, auch die weltliche Wissenschaft erweiterte. Mit überwältigender Kraft hat er auf allen Gebieten seine Zeit beeinflußt, sodaß die Spuren seines Daseins sich durch Jahrhunderte verfolgen lassen. Wir sind heute weiter gekommen, aber wenn die Sonne den Himmelsraum durchmißt und sich zur Abendröthe neigt, denken wir preisend an den Schimmer des Morgenrothes. Und war Albertus denn nur Gelehrter? Regensburg rühmt, daß er die dortige Dominikanerkirche erbaute, nicht minder Köln. Doch was sagen wir? Der Plan zum Kölner Dom, diesem Wunderwerk christlicher Architektur, im Vergleich mit welchem St. Peter in Rom ein kolossaler Mauerkasten ist, soll durch eine Vision ihm offenbart worden sein. In der That stellt der Chor der Barfüßerkirche in Köln den entsprechenden Grundriß der Kathedrale fest.
Achtzigjährig, wohnte er noch dem Unionsconcil zu Lyon 1274 bei. Zuletzt erging es ihm wie Newton, daß er, der in der Jugend anfänglich hart lernte, drei Jahre vor seinem Tode sein Gedächtniß einbüßte und nun um seine eigenen Schriften nicht mehr wußte. Der Kreislauf des Lebens schloß sich für den wieder zum Kinde Gewordenen am 15. November 1280; vielmehr soll er, im Starrkrampfe liegend, lebendig begraben und bei der Beisetzung in dem später erst fertig gestellten Dominikanerchor in veränderter Lage betend gefunden worden sein.
Den Zeitgenossen war bei seinem grenzenlosen Wissen fast unheimlich zu Muthe, und es fehlte wenig daran, daß sie ihm sogar ein Bündniß mit dem Bösen zuschrieben, wie Salomo dem weisen König, dem die Geister unterthänig. Er kommt darin Gerbert gleich, dem ersten Franzosen, der als Sylvester der Zweite den römischen Stuhl einnahm.
Gleich Virgil wird er der persönliche Träger der Zaubersage: nicht nur, daß er König Wilhelm von Holland zu Köln im Winter in den blühendsten Garten einführte und die Tafel mit den frischen Früchten aus allen Jahreszeiten besetzte (vergl. „Gartenlaube“ 1881, Nr. 9), er soll sogar Sturm erregt und die feindlichen Schiffe vertrieben haben, um den Papst vor seinem Gegner Manfred zu erretten, wofür ihm zum Danke Rom die Ausübung der Schwarzkunst freistellte. Der Mann der Geschichte wird, wie später Faust, als Repräsentant der wissenschaftlichen Reformbewegung mit dämonischem Nimbus umgeben, ja der Gottseibeiuns soll ihm, wie dem Dr. Luther auf der Wartburg, erschienen sein.
Er verstand als Alchymist die Kunst, Gold zu machen, und man dichtete ihm den Stein der Weisen an: das Museum zu Köln bewahrt noch seinen Zauberbecher. In Hildesheim hat er die Fliegen vom Kloster für ewige Zeiten verbannt, an verschiedenen Orten sich gleichzeitig sehen lassen und Messe gelesen – und die Scene in Auerbach's Keller in Leipzig geht auf ihn zurück. Selbst Wodan's Roß stand ihm zu Gebote: auf dem riesigen Lauinger Schimmel, dessen Abbild am Stadtthurme das Wahrzeichen bildet, soll er über die Mauern und die Donau durch die Luft gesetzt sein.
Lauingen hat den Mohr im Wappen – dieser Mohr hat seine Schuldigkeit gethan. Dem Manne, der den Stolz des Schwabenlandes ausmacht, wurde zum sechsten Säcularfest seines Todes in der reizenden Donaustadt, welche noch sein Geburtshaus weist, der Grundstein zum Monumente von Erz gelegt, wobei das Standbild von acht Fuß mit dem Postament von Syenit auf dreifache Höhe zu stehen kommt. Die Albertus-Statue ist soeben vollendet worden und kommt in diesem Sommer zur Aufstellung.
Der Gedächtnißtag des verwichenen Jahres gestaltete sich zu einem Feste der ganzen Christenheit. Rom beging es mit, indem der deutsche Cardinal Hergenröther die Festpredigt hielt. Köln restaurirte nicht blos die Grabcapelle in der Dominikanerkirche, sondern beging dazu auch noch eine achttägige Festfeier. Beiträge zum Monument wurden aber bis aus Tokio in Japan eingesandt. Das Erzdenkmal ist nach Modell und Guß aus der berühmtesten Erzgießerei der Gegenwart Ferdinand von Miller's, hervorgegangen. Der Meister pflegt das letzte Geheimniß seiner Kunst bei sich zu behalten, hier aber hat er, bevor er seinen Lebenslauf vollendet, es in Anwendung gebracht, und einen Zauber mit der Statue dessen verbunden, welcher dem Mittelalter selber als Magier erschienen. Es gilt unsern Albertus Magnus und Magus würdig zu ehren und in der Volkssage zu verklären. Ein Buch hält er in der Rechten, das die Fülle seines Wissens enthält; sein Blick ist aber zur Beobachtung in die weite Welt gerichtet. Merke man wohl: so oft ein Jahrhundert abläuft, wird ein Blatt in diesem Buche sich umwenden. Geht es mit uns vorwärts, so wird ein neues Blatt aufgeschlagen und mit dem Griffel der Klio die Geschichte der deutschen Nation in großem Stile eintragen. Kommen wir aber – was Gott verhüte! – wieder rückwärts und auf die früheren Zustände der Zerrissenheit, dann schlägt ein Blatt oder es schlagen mehrere verkehrt um, und der alte Text erscheint. Wer Mittags um 12 Uhr am 1. Januar 1901, wenn das zwanzigste Jahrhundert anbricht, auf dem Albertus-Platze vor dem Schlosse in Lauingen steht, kann zum ersten Male diesen Vorgang beobachten.
Der Culturkampf in der protestantischen Kirche.
Es ist das Kennzeichen jedes echten geistigen Strebens, daß es nicht mehr unterdrückt werden kann, sobald es sich einmal aus der Tiefe des Geistes hervorgerungen hat und als wirksamer Factor in das Leben der Geschichte eingetreten ist. Alle geistlichen und weltlichen Gewalten sind gegen den Protestantismus in’s Feld gerufen worden. Aber weder die Heere Alba’s und Tilly’s, noch die Grausamkeit der Inquisition, noch die Verschlagenheit des Jesuitenordens vermochten die Geister wieder zu bannen, die durch die Reformation wachgerufen worden waren. Und was der brutalen Gewalt oder der listigen Schlauheit der Gegner nicht gelang, das wurde ebenso wenig bewirkt durch den Unverstand und die Thorheit der eigenen Freunde des Protestantismus. Wohl haben die falschen kirchenpolitischen Maßnahmen protestantischer Fürsten, die Engherzigkeit und der Fanatismus protestantischer Theologen dem Protestantismus tiefere Wunden geschlagen als alle Angriffe seiner Gegner zusammen. Doch der Protestantismus ist auch an diesen Wunden nicht verblutet. In neuer Waffenrüstung steht er heute seinen Gegnern von jenseits oder diesseits der Berge gegenüber, um sie in die Schranken zu rufen zum großen Kampfe der Geister.
Fast alle Lebensgebiete sind gegenwärtig in diesen Kampf mit hineingezogen. Der moderne Staat, der sich als Rechtsstaat seiner eigenen Selbstständigkeit bewußt geworden ist, sucht sich loszuringen von der erdrückenden Umklammerung der Kirche. Die moderne, auf dem Recht und der Freiheit des Einzelnen beruhende Gesellschaftsordnung liegt im Kampfe gegen erneuerte Versuche, die ständische Gliederung der Gesellschaft, wie sie sich im Mittelalter im engsten Anschluß an die hierarchischen Tendenzen der Kirche gebildet hatte, wieder in’s Leben zu rufen.
Für unsere Aufgabe kommt es indeß hauptsächlich darauf an, [399] zu sehen, welche Stellung der Protestantismus in der protestantischen Kirche selbst einnimmt.
Die erste Veranlassung zu der Reformation ist bekanntlich in der Erkenntniß zu suchen, daß sich in die Kirche bestimmte Mißbräuche eingeschlichen hatten, deren Beseitigung gebieterisch gefordert wurde. Uns ist der Gedanke an kirchliche Mißbräuche jetzt so geläufig, ja fast selbstverständlich, daß wir die volle Tragweite desselben nur selten übersehen. Und doch war dieser einfache Gedanke ein so großer, daß er im Grunde schon der ganzen mittelalterlichen Denkweise den Todesstoß versetzte. Können sich in die Kirche Mißbräuche einschleichen, so kann die Kirche irren. Und kann die Kirche irren, so ist sie nicht das, wofür sie sich ausgab und wofür sie gehalten wurde, eine unantastbare göttliche Institution. Sie unterliegt als menschliche Einrichtung der Kritik. Der denkende, kritisch prüfende Mensch steht über jeder kirchlichen Autorität.
Luther selbst erschrak, als er sich in der Disputation mit Dr. Eck zuerst zu der Behauptung fortreißen ließ, daß auch ein kirchliches Concil irren könne, und doch war er erst mit dieser Behauptung wirklich Protestant und Reformator.
Der moderne Protestantismus thut nun zunächst nichts Anderes, als daß er dieses ursprünglichste Recht des Protestantismus, an der Kirche Kritik üben zu dürfen, consequent und allseitig durchzuführen sucht. Der alte Protestantismus hatte die Möglichkeit, daß die Kirche irren könne, nur auf die spätere Zeit bezogen aber insbesondere die vier ersten Jahrhunderte der kirchlicher Entwickelung von dieser Möglichkeit ausgenommen. So verwarfen die officiellen Bekenntnißschriften der älteren Protestanten, namentlich die Augsburger Confession, viele Concilienbeschlüsse und päpstliche Decrete späterer Jahrhunderte, nahmen aber die Beschlüsse der ältesten allgemeinen Concilien und die Glaubensregel der ersten Jahrhunderte ohne Weiteres an. Diese Inconsequenz war zu einer Zeit, in der eine wissenschaftliche Theologie noch kaum sich zu bilden anfing, begreiflich. Je mehr der ganze kirchliche Nimbus auf den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche lag und je ferner dieselben der Zeit nach dem Bewußtsein der Reformatoren gerückt waren, desto schwieriger mußte ein unbefangenes critisches Urtheil über dieselben werden. Erst der neueren Theologie ist es vorbehalten geblieben, auch in das Dunkel dieser Jahrhunderte Licht zu bringen.
Die neuere Theologie betrachtet mit Recht die Entwickelung der Kirche als ein organisches Ganzes. Der imposante Bau der mittelalterlichen Kirche ist von einer einheitlichen Grundidee getragen. Alle Lehren, Cultusformen und Verfassungseinrichtungen derselben haben sich organisch aus dieser Grundidee entwickelt. Deshalb muß auch der Keim zu allen späteren Verirrungen der Kirche schon in der Grundidee selber liegen. Der immense Aufwand von Scharfsinn und Gelehrsamkeit, mit dem seit etwa fünfzig Jahren die Quellen aus jener ältesten Zeit der Kirche durchforscht, die scheinbar geringfügigsten Notizen für das Gesammtbild der Zeit verwertet worden sind, hat deshalb unvermeidlich dahin führen müssen, den Glauben an die Unfehlbarkeit, welche die Kirche den ersten Jahrhunderten beilegte, zu zerstören. Nach den dogmengeschichtlichen Untersuchungen der neueren protestantischen Theologie gehört heute eine wenig beneidenswerte Dreistigkeit, die Dreistigkeit der Ignoranz, dazu, um an die protestantische Kirche noch die Zumutung zu stellen, sie solle sich auch fernerhin an die kirchliche Glaubensregel der drei ersten Jahrhunderte gebunden erachten. Es sind besonders die Lehrbestimmungen über die göttliche Dreieinigkeit und die Gottheit Jesu, die in jener Zeit durch das Nicänische Concil ihre amtlichen Festsetzungen erhalten haben. Die Kirche behauptet, in dem Dogma des Nicänischen Concils, daß der Sohn „wesensgleich“ sei mit dem Vater, das eigentliche Fundamentaldogma des Christenthums zu besitzen. Sie behauptet, dieses Dogma sei unter der Leitung des „heiligen Geistes“ entstanden. Die Wissenschaft dagegen zeigt, wie dieses Dogma wesentlich einer außerhalb des Christentums stehenden Gedankenwelt, nämlich derjenigen der alexandrinischen Religionsphilosophie und des Platonismus, seine Entstehung verdankt, und daß recht unheilige Factoren, das Bündniß der Politik und der Hierarchie, Palastintriguen der byzantinischen Hof-Theologen und die Charakterlosigkeit der Mehrzahl der Bischöfe, mitwirken mußten, um schließlich dem orthodoxen Dogma zum Siege zu verhelfen.
Doch die Theologie des modernen Protestantismus geht noch einen Schritt weiter. Sie verfolgt den Faden der Kritik aus der Zeit der ältesten Kirche bis in die Tage der Apostel. Auch die kirchliche Entwickelung der drei ersten Jahrhunderte ruht ja wieder auf den Schultern des sogenannten apostolischen Zeitalters, welches bei dem älteren Protestantismus in ganz besonderem Sinne eine Ausnahmestellung eingenommen hatte und gewissermaßen als das paradiesische Zeitalter der Kirche erschien. Hier sollte Alles urbildlich und vollkommen, Alles ein Herz und eine Seele sein. Da entdeckte die Kritik unter Führung des großen Tübinger Theologen F. Chr. Baur, daß die Gegensätze, welche in der späteren Kirche ihre Vermittlung suchen bis in diese Zeit der Apostel hineinreichen und in dem deutlich hervortretenden Gegensatz zwischen Paulus und Petrus, zwischen dem freieren Hellenismus und dem conservativen Judaismus, ihren Ausgangspunkt haben. Die Schriften des Neuen Testaments, in welchen die Orthodoxie nur den einheitlichen und widerspruchslosen Ausdruck göttlicher Offenbarung erblickte, sind alle mehr oder weniger von diesem Gegensatz einer freieren und einer conservativen Auffassung des Christenthums mitberührt worden. Sie vertreten also eine jede nur einen bis zu einem gewissen Grade einseitigen Standpunkt. Damit wird aber die behauptete Urbildlichkeit des apostolischen Zeitalters und die Autorität der neutestamentlichen Schriften von selbst hinfällig. Wenn der Jacobus-Brief mit bewußter Polemik an der paulinischen Rechtfertigungslehre Kritik übt, wenn Paulus selber es verweigert, sich unter die Autorität der Apostel, welche in Jerusalem das Ansehen hatten, zu stecken, so haben die Protestanten wahrlich keine Veranlassung, die Denkweise der Apostel als Norm und Schranke für ihre eigene religiöse Denkweise anzunehmen.
Aber ist denn die critische Geschichte der Kirche mit dem Zeitalter der Apostel an ihrem letzten Punkte angekommen? Keineswegs. Die Apostel sind ja nur die Vertreter einer religiösen Bewegung, die ein Anderer erzeugt hatte, und in die sie fast unwillkürlich mit hineingezogen waren. Hat der moderne Protestantismus den Muth, auch an den geistigen Urheber des Christenthums, an Jesum von Nazareth selber, den Maßstab seiner Kritik anzulegen? Die Theologie wäre sich selber untreu, wenn ihr dieser Muth fehlte.
Für unsere deutsche Theologie war es Dav. Friedr. Strauß, der zuerst klar und deutlich die Nothwendigkeit erkannte, die Arbeit der protestantischen Kritik bis in das Leben Jesu hinein fortzuführen. Gewiß gilt von Strauß dasselbe, was in Beziehung auf Ferd. Baur in den „Worten der Erinnerung“ gesagt ist:
„Es gehört viel Muth und ein klares, festes Gewissen dazu, um das, was dem christlichen Volke heilig ist, nach der Weise menschlicher Dinge zu prüfen und darüber zu urtheilen; es gehört ein reiner Geist und ein männliches Herz dazu, nur auch bei solcher Arbeit und unter allen Kämpfen, die sie hervorruft, bezeugen zu können: Ich bin mir nichts bewußt, nichts - als in meinem Theile der Wahrheit zu dienen.“ (Karl Schwarz, „Zur Geschichte der neuesten Theologie“, S. 169.)
Auf keinem Gebiete hat die neuere Theologie wohl glänzendere Resultate aufzuweisen, als gerade in ihren Arbeiten über das Leben Jesu. Da galt es, um überhaupt nur den Boden für eine geschichtliche Behandlung des Lebens Jesu zu gewinnen, zuerst das Quellenmaterial zu sichten. Hatte Baur durch seine epochemachenden Untersuchungen über die vierte der uns überlieferten Evangelienschriften wenigstens das Eine festgesteckt. daß die Schrift, das sogenannte Evangelium nach Johannes, als Quelle für die Geschichte des Lebens Jesu nicht verwendet werden könne, so that Strauß den weiteren Schritt, daß er in sämmtlichen Evangelien bedeutende mythische Bestandteile nachwies und wenigstens den Versuch machte, das Mythische von dem Geschichtlichen zu sondern. War auf diese Weise der Boden für eine geschichtliche Betrachtung des Lebens Jesu einigermaßen geebnet, so galt es weiter, den geschichtlichen Rahmen festzustellen, innerhalb dessen sich dieses Leben bewegt hatte. Die religiösen, politischen und geographischen Verhältnisse Palästinas mußten neuen Untersuchungen unterworfen werden, um durch die Verbindung des Lebens Jesu mit der gesammten Geschichte seiner Zeit neue Gesichtspunkte für die kritische Betrachtung zu gewinnen. Erst im Zusammenhange mit allen diesen wissenschaftlichen Vorarbeiten konnte die Cardinalfrage des modernen Protestantismus gestellt und beantwortet werden: Was ist Jesus an sich gewesen? Was ist er für die Entwickelung der protestantischen Kirche?
Die Beantwortung dieser Frage besteht darin, daß die neuere [400] Kritik auch im Bewußtsein Jesu den Gegensatz einer universellen Idee und einer nationalen, beschränkten Form, an welche diese Idee gebunden ist, entdeckt hat. Der religiöse Genius Jesu, kraft dessen er den kommenden Jahrtausenden neue Bahnen für ihre sittliche und religiöse Entwickelung erschlossen hat, erscheint im Gewande einer jüdisch-pharisäischen Zeitvorstellung, der Vorstellung eines erwarteten Messias. Dadurch liegen in dem religiösen Bewußtsein Jesu die Keime zu zwei grundverschiedenen, in ihrer weiteren Entwickelung immer mehr aus einander gehenden Anpassungen des Christenthums und damit der Kirche.
Die eine hält sich an die Person Jesu und seine messianische Würde; die Amtswürde Jesu ist ihr der letzte Grund für die Bedeutung der christlichen Religion. Die andere hält sich an die Religion Jesu und findet die Bedeutung seiner Person lediglich darin, daß sie Trägerin der religiösen Idee gewesen ist. Die eine Auffassung ist die der katholischen Kirche. Ihr ist Jesus kraft seines göttlichen, messianischen Amtes absolute Autorität, und es ist nur folgerichtig, wenn das jüdische Dogma vom Messias zum kirchlichen Dogma von der Gottheit Christi ausgebildet worden ist. Hier steht die Person über der Sache, und die Sache erhält erst Bedeutung durch die Person. Die andere ist die des consequent entwickelten Protestantismus, der hier dem kirchlichen Autoritätsglaube die letzte Wurzel abschneidet, indem er auch der Person Jesu gegenüber eine freie Stellung einnimmt und, statt auf die Worte Jesu als auf eine dogmatische Autorität zu schwören vielmehr das Wesen des Christenthums in dem Bewußtsein des geistigen Zusammenhangs mit dem sittlich-religiösen Princip, das Jesus vertreten hat, findet. Hier steht die Sache über der Person; weil Jesus eine große Sache vertreten hat, steht er selber groß da.
Der Protestant der Gegenwart nennt sich nicht mehr deshalb einen Christen, weil er eine bestimmte metaphysische Ansicht über die Person Jesu vertritt, auch nicht deshalb, weil er in dem Urheber der christlichen Religion eine unbedingte Autorität erblickt, der er sein eigenes Denken und Urtheilen gefangen geben müßte, sondern weil er in dem sittlich-religiösen Bewußtsein Jesu die Grundzüge seines eigenen Bewußtseins wiederfindet. Der Protestant kennt überhaupt keine sclavische Abhängigkeit des Geistes von irgend einer, wenn auch noch so hoch stehenden menschlichen Größe; er kennt nur – und das ist unendlich viel mehr – sittliche und geistige Gemeinschaft. Diese geistige Gemeinschaft aber findet keineswegs ihre Grenze an einer einzelnen historischen Persönlichkeit.
„So hoch immer Jesus,“ sagt Strauß in seinen Schlußbetrachtungen zum „Leben Jesu“, „unter denjenigen steht, welche der Menschheit das, was sie sein soll, reiner und deutlicher vorgebildet haben, so war er doch hierin weder der Erste noch der Letzte, sondern wie er in Israel und Hellas, am Ganges und Oxus Vorgänger gehabt hat, so ist er auch nicht ohne Nachfolger geblieben, vielmehr ist auch nach ihm jenes Vorbild noch weiter entwickelt, abseitiger ausgebildet, und sind seine verschiedenen Züge mehr ins Gleichgewicht gebracht worden.“
So hatte auch schon Zwingli erklärt, der göttliche Geist sei nicht auf Palästina beschränkt gewesen, auch Plato habe aus dem göttlichen Born getrunken, und Seneca sei ein heiliger Mann gewesen. Deshalb unterscheidet die neuere Theologie zwischen dem Princip der christlichen Religion und der Person Jesu. Daß der Werth des Menschen in seiner Gesinnung besteht und also das „Reich Gottes“ nicht mit äußerer Gebärde kommt, sondern inwendig im Menschen ist, daß in dem Sehnen, in dem Suchen nach Wahrheit und Gerechtigkeit für den Menschen schon die Seligkeit des Findens verborgen liegt, diese Grundsätze der christlichen Religion sind nicht zufällige, von außen kommende Geschichts-, sondern nothwendige Vernunfterkenntnisse, die jeder in sich selbst verbürgt finden kann. Sie werden weder richtiger noch unrichtiger, je nachdem die Forschungen über das Leben Jesu ausfallen.
Die neuere Theologie „sucht die Religion zu befreien von der Historie, ihr ewiges Wesen loszulösen von dem nur einmal Geschehenen;“ sie sucht, „das, was jetzt und immer im Wesen des menschlichen Geistes liegt, unabhängig zu machen von allen nur geschichtlichen Fragen“. Deshalb liegt ihr „die Bedeutung nicht in der Frage: woher nehmen religiöse Wahrheiten ihren Beweis für den Verstand? sondern bei der Frage: woher nehmen sie Kraft für das Herz und den Willen? auf welchem Wege geht eine Idee, die in die Geschichte eingetreten ist, über in Fleisch und Blut der nachfolgenden Geschlechter?“ -
Es leuchtet ein, daß der moderne Protestantismus erst mit dieser Position wirklich den Ehrennamen des freien Protestantismus verdient. Aber in dieser Stellung ist nun der Protestantismus auch wirklich frei, ja die Freiheit ist das unveräußerliche Gut der protestantischen Kirche, sofern sie wirklich ihren Namen verdient. Weil sie eine geistige Gemeinschaft sein will, bedarf sie keiner Einförmigkeit der Meinungen, keiner Uebereinstimmung im Buchstaben eines theologisch fixirten Glaubensbekenntnis; sie hat vielmehr den ganzen Reichthum individuell ausgebildeter Persönlichkeiten zu ihrer Voraussetzung. Deshalb kann und muß die protestantische Kirche zu allen ihren Gliedern sagen. „Denkt über die Probleme der Religion, wie ihr als gewissenhafte Menschen nach dem Grade eurer Einsicht und nach dem Stande eurer Bildung zu denken vermögt! Aber bleibt dabei eingedenk, daß über der Verschiedenheit der religiösen Ueberzeugungen das Ewig-Menschliche, das Göttliche steht, das euch unter einander und mit den Geistern der Vergangenheit verbindet!“
Diese Kirche des freien Protestantismus sieht in jedem Versuche, menschlichen Meinungen den Stempel unfehlbarer Wahrheiten aufzudrücken, ein unfrommes, die geistige Gemeinschaft zerreißendes Beginnen. Sie erwägt die Freiheit des Denkens nicht nur, wie man ein notwendiges Uebel erträgt, sondern sie fordert dieselbe als wesentlichste Bedingung reiner Religiosität. Sie ist recht eigentlich die eifersüchtige Hüterin aller geistigen Freiheit, indem sie unaufhörlich in das Gewissen ihrer Glieder hineinruft: „Werdet nicht der Menschen Knechte!“
Wie sollte diese Kirche dazu kommen, von der Wissenschaft Umkehr zu verlangen oder nur zu irgend einer Errungenschaft der Wissenschaft scheel zu sehen? Wird auch durch die fortschreitende Welterkenntniß die alte Weltanschauung mit ihrem Himmel über der Erde und ihrer Hölle unter derselben zerstört und fällt damit zugleich auch die Erwartung eines ewigen Lohnes im Jenseits oder das grenzenlose Bangen vor der ewigen Höllenpein – der Protestant sieht Beides ohne Wehmuth dahinfallen. Die Wissenschaft hat ja nur gethan, was der Protestantismus ebenfalls zu thun sucht: sie hat ein paar Ketten zerrissen, mit denen die Menschheit Jahrhunderte lang an das Joch der Hierarchie gefesselt gewesen, und hat die Grundlage für eine reinere, weil freiere Sittlichkeit geschaffen. Hat die Wissenschaft festgestellt, daß die Weltgesetze unverbrüchliche Geltung haben, daß es keinerlei Dispensationen von denselben giebt, und daß keine wunderthätige Hand in dieselben eingreift, warum soll der Protestant diese Einsicht nicht freudig begrüßen, die im Stande ist, seinem Geiste festeren Halt im Weltleben zu geben? Die protestantische Kirche ist ja nicht auf Zeichen und Wunder gebaut, sondern auf die ewig sich gleichbleibende Kräfte des menschlichen Gemüths. Die Wissenschaft mag den Zusammenhang zwischen dem bewußten Leben des Geistes und den Organen des Körpers immer genauer erforschen und damit neue Begriffe über das Wesen des Geistes zu Tage fördern. Sobald diese Begriffe den Forderungen der Wissenschaft und den Thatsache der Erfahrung entsprechen, hat der Protestant keinen Grund, gegen dieselben Einsprache zu erheben; denn die protestantische Kirche ist nicht auf einen bestimmten Begriff des Geistes gegründet, sondern auf die Kraft des Geistes, Wahrheit zu erkenne, Ordnung in das Chaos des Menschenlebens zu bringen und alles unbewußte Leben den Interessen des geistige Lebens dienstbar zu machen.
Was hat in dieser protestantischen Kirche eine Hierarchie zu suchen, dieser traurigste, mit den geistigen Fortschritten des Menschengeschlechts in beständigem Kampfe liegende Ueberrest der mittelalterlichen Autoritätskirche! Hier hat keine Kirchenbehörde, keine Synode das Recht, dem Einzelnen vorzuschreiben, was er glauben, wie er denken und empfinden soll. Auch der sogenannte geistliche Stand hat den letzten Rest übernatürlichen Amtsansehens verloren, das nur zu oft einen Deckmantel der Charakterlosigkeit und einen Freibrief für Unwissenheit und Fanatismus abgegeben hat. Der Prediger gilt so viel, wie seine Persönlichkeit und sein Charakter werth ist, nicht mehr und nicht weniger. Er ist Beamter der Gemeinde, und als solcher ist er nur der Gemeinde willen da, nicht aber die Gemeinde um seinetwillen. Er trat nicht mit dem Anspruche auf, im Besitze besonderer göttlicher Geheimnisse zu sein. Er ruht nicht aus auf den bequemen Polstern des kirchlichen Bekenntnisses und des Katechismus, sondern ist unermüdlich beschäftigt, seine eigenen religiöse Begriffe zu reinigen, neue Ansichten zu [401]
gewinnen ünd das Gewonnene zur Aufklärung und sittlichen
Läuterung der Gemeinde zu verwenden.
Diese protestantische Kirche endlich kennt keinen Unterschied mehr zwischen heiligen und profanen Dingen; denn alles ist ihr heilig, was echt und wahr, rein und edel ist. Die protestantische Kirche thut nicht Andacht ab wie ein Geschäft, zu bestimmten Stunden, an bestimmten Orten. Andacht ist ihr jeder stille Strom erhabener Gedanken und reiner Gefühle, der durch die Seele zieht. Gottesdienst ist ihr jedes ehrliche Tagewerk, jede That, im treuen Dienst der Menschheit verrichtet. Wo diese Kirche besondere Versammlungen veranstaltet, da geschieht’s nicht aus Observanz oder um dem Menschen einen Prämienschein auf den Himmel auszustellen, sondern um von Neuem die Blicke auf die großen Ziele der Menschheit hinzulenken und den Geist einmal wieder wie durch ein Bad vom Stande der Alltäglichkeit zu reinigen. „Doch“ – so schließt einer der genialsten Vorkämpfer für den freien Protestantismus, dessen Name durch die in der „Gartenlaube“ erschienenen ersten Capitel seiner Selbstbiographie noch im [402] Andenken vieler Leser sein wird, der nur zu früh verstorbene Züricher Pfarrer Heinrich Lang, eine seiner kleineren Abhandlungen – „vielleicht sagt Jemand: ,das ist Alles schön und gut, aber dazu braucht es eine neue Kirche, eine Kirche, die den Menschen der Gegenwart nicht mehr ärgert durch Wundergeschichten, für welche sie Glauben verlangt, eine Kirche, die nicht einen Menschen zum Gegenstand eines Cultus macht, der nur dem ewigen Gott gebührt.‘“ Und derselbe Lang beantwortet diesen Einwand: „Eben diese Kirche wollen wir, eine Kirche mit neuen Pfarrern, welche ohne Halbheit und Bemäntelungen aus dem Geist unserer Zeit denken, fühlen und sprechen bei aller Pietät gegen dasjenige, was die Vergangenheit Großes und Herrliches erzeugt hat; eine Kirche mit neuen ,Laien’, die es wissen, daß es kein gesundes Volksleben giebt ohne eine gesunde Religion, die daher ihre bisherige Kälte und Gleichgültigkeit gegen alles Religiöse und Kirchliche ablegen, die wieder für sich selbst das Bedürfniß fühlen, sich zu erbauen in dem, was ewig bleibt; eine Kirche endlich mit einer neuen Verfassung, die keiner Kirchenbehörde, wie sie heißen möge, gestattet, in Sachen des Gewissens Und der Ueberzeugung Mit Gewalt und Zwang zu handeln, in welcher vielmehr die Gemeinde allein das Recht hat zu sagen, was sie singen, was sie beten, was sie hören wolle. Und diese Kirche ist nicht blos ein fernes Ideal, sie steht schon an vielen Orten aufgerichtet, und sie sind schon jetzt nicht zu zählen die Prediger, welche ,es nicht nur sich sagen und etwa den Verständigen unter ihren Zuhörern andeuten’, wie es mit den biblischen Wundergeschichten wirklich steht, die das vielmehr laut und unzweideutig längst allem Volke verkündigt haben. Wenn diese Kirche einmal die allgemeine christliche Kirche geworden ist, so werden die Worte der Erbitterung, die jetzt noch – so oft mit Recht – gegen die Kirche und ihre Einrichtungen gesprochen werden, verstummen.“
Unter der schwülen Luft der kirchlichen Reaction, die wir gegenwärtig in Deutschland, besonders in Preußen, athmen, scheinen freilich diese Worte Lang’s allzu optimistisch zu klingen. Werden wir wirklich eine protestantische Kirche bekommen? Wird es dem Protestantismus gelingen, die schwarzen Gestalten, die in geschlossenen Colonnen gegen ihn anrücken, aus dem Felde zu schlagen und als Sieger aus dem großen Culturkampfe hervorzugehen?
Die Antwort auf diese Frage kann für uns nicht schwer sein. Der Protestantismus ist verloren, sobald er im Geringsten zurückweicht und mit der Unfreiheit, der Unwahrheit gemeinsame Sache macht. Er wird siegen, sobald er sich rückhaltlos hingiebt an die Sache der Freiheit, der Wahrheit, der Menschlichkeit. Er wird siegen, nicht durch Polizeischutz und hohe Gönnerschaft, sondern durch das schlichte, unverdorbene Gewissen des deutschen Volkes.
Die Sachsen in Siebenbürgen.
Der Leib des Sachsenvolkes ist erschlagen, aber der Geist lebt noch, und nun wenden sich die feindlichen Waffen gegen diesen. Sein stärkster Hort war das sächsische Universitätsvermögen. Sogar das Gesetz von 1876, welches die Zerreißung des Königsbodens verordnete, enthält noch im zwölften Artikel vier Paragraphen, nach deren Wortlaut der Wirkungskreis der sächsischen Universität, als einer ausschließlichen Culturbehörde, hinsichtlich der Verfügung über das Universitätsvermögen auch weiter aufrecht erhalten und das bezüglich des Vermögens der sächsischen Universität bestehende Eigenthumsrecht durch das neue Gesetz unberührt gelassen wird. Ueber das Vermögen der sächsischen Universität soll im Sinne und innerhalb der Schranken der Stiftungen und mit Aufrechthaltung des Aufsichtsrechts der Regierung die Generalversammlung der sächsischen Universität verfügen; diese Generalversammlung soll aus zwanzig Vertretern der Stühle, Districte und Städte des früheren Königsbodens bestehen und den Vorsitz der Obergespan des Hermannstädter Comitats führen.
Die Stelle dieses Obergespans ertheilte Minister Tisza dem schon genannten Friedrich Wächter und gestattete ihm auch, „aus Pietät“ den Titel „Comes“ zu führen. Schon diese Wahl gab zu denken. Noch deutlicher trat die Absicht des Ministers an das Licht, als er die Genehmigung des in der ersten Generalversammlung festgesetzten Statutenentwurfs über Rechte, Pflichten und Geschäftsordnung des Centralamts der Universität abhängig machte von der Hinzufügung von zwei Forderungen. Er verlangte, daß von der Universitätsgeneralversammlung in die Statuten ausgenommen werde: 1) daß dem Obergespan als Universitätsvorsitzer aus dem sächsischen Nationsvermögen ein Gehalt von 2000 Gulden ausgezahlt werden, – und 2) daß dem Obergespan des Hermannstädter Comitates das Recht zustehen solle, außerhalb des von der Nationsuniversität festgestellten Budgets, Anweisungen an die sächsische Nationscasse zu machen. –
Es wiederholten sich nun die Kämpfe der Märztage von 1876, nur auf viel niedrigerem Boden, auf welchen die Persönlichkeit des „Pietätscomes“ sie hinabzuziehen verstand. Es ist uns nicht möglich, die Eingaben an den Minister und die Verhandlungen in den Generalversammlungen hier mitzutheilen, durch welche die treuen sächsischen Männer ihr offenbares und durch Gesetz zugesichertes Recht gegen das ebenso offenbare, unerhörteste Unrecht vertheidigten. Wir müssen Alle, welche unseren Sachsen ihre Theilnahme schenken, auf zwei Schriftchen verweisen: „Zur Lage der Siebenbürger Sachsen. Flugblatt des deutschen Vereins in Wien. München, Th. Ackermann“ und: „Ein Beitrag zur orientalischen Frage. Der Proßproceß gegen das ,Siebenbürgisch-deutsche Tageblatt’ in Hermannstadt. Ebendaselbst.“ Beachtenswerth ist endlich die betreffende Nummer des Tageblattes selbst, das wegen der Schilderung jener Sitzungsvorgänge in Anklagestand versetzt, von den Geschworenen aber freigesprochen worden ist. Hier stehe nur das Resultat des Kampfes: Der Obergespan Wächter erklärte der Generalversammlung, daß er der klaren Weisung des Ministers einfach nachzukommen habe, daß die Forderungen desselben in die Universitätsstatuten durch Abstimmung ausgenommen werden müßten und daß er sich selbst durch eine Minorität dazu für berechtigt halte.
Und so geschah denn wirklich das Ungeheuerlichste, selbst auf ungarischem Rechtsboden: Von den zwanzig Abgeordneten verweigerten die achtzehn Sachsen die Abstimmung; zwei Rumänen jedoch erzeigten sich Seiner Excellenz dienstgefällig, und da auch der protokollirende Universitätsnotar eine Stimme erhielt, so verkündete „Comes“ Wächter, daß die Anträge des Ministers kraft eines auf dreistimmiger Minorität beruhenden Beschlusses der Universität rechtsgültig in das Universitätsstatut aufgenommen worden wären.
Und der Herr Minister? Der Herr Minister Coloman von Tisza ertheilte dem Verfahren seines Obergespan volle Genehmigung und erhob somit den Minoritätsbeschluß für die Verwaltungsweise des Sachsenvermögens zum Gesetz. So ist es geschehen am 19. November 1877, nicht in China oder Persien, auch nicht in der Türkei, sondern zu Budapest in der „österreichisch-ungarischen Monarchie“, die bekanntlich gleich neben Deutschland liegt.
„Daß,“ nach dem Zeugniß eines Correspondenten der „Kölner Zeitung“, welcher der letzten Universitätssitzung beigewohnt, „brutaler wohl selten ein altpreußischer Sergeant gegen Rekruten auftrat, als hier der Präsident gegen die Generalversammlung als Verwalterin ihres privaten Vermögens“ – wollen wir nur nebenbei bemerken; wahrscheinlich gab dies dem Herrn Minister Veranlassung, „das ungesetzliche und unschickliche Verhalten der Majorität der Generalversammlung“ ganz besonders zu rügen.
Durch dieses neue Meisterstück der „freien Hand“: durch die Minorität nach ministeriellem Befehle Beschlüsse fassen zu lassen und gegen den Willen der Majorität in Wirksamkeit zu setzen – ist es dem Minister Tisza gelungen, im Handumdrehen das „Oberaufsichtsrecht des Staats“ in ein „freies Verfügungsrecht der ungarischen Regierung über das Privatvermögen der Sachsen“ zu verwandeln. Man sieht: von Rechtsbegriffen, wie sie in allen Culturstaaten herrschen, ist vor dem Magyarismus keine Rede mehr.
[403] Wir müssen mit Oscar von Meltzl,[2] um zu Ende zu gelangen, hinweggehen über viele unglaubliche Dinge, die jetzt im Sachsenlande geschehen, namentlich „über jene plumpen Bauernfängerkunststückchen, mit denen der eine Obergespan ‚regiert‘ und das Ansehen der Regierung und des Staates zum Kindergespötte herabwürdigt, sowie über die Faustschläge, die ein anderer der gesunden Menschenvernunft und aller Logik in’s Antlitz versetzt“. Damals kannte er das härteste dieser „Mittel“ noch nicht, das der Magyarismus zur Beschleunigung seines Triumphes erfand. Mit der Darlegung desselben beschließen wir die Aufzählung der magyarischen Erdrückungsmaßregeln gegen die Sachsen.
Wir haben bereits erwähnt, daß das sächsische Nationalvermögen ausschließlich bestimmt war zur Erhaltung nicht nur einer Anzahl deutscher Volksschulen (seine gute Gemeindeschule hat selbst das kleinste sächsische Dorf), sondern namentlich auch der höchstwichtigen sogenannten Mittelschulen, das heißt der fünf achtclassigen deutschen Gymnasien und vierclassigen Volksschullehrer-Seminarien, eines deutschen Untergymnasiums, mehrerer Real-, Ackerbau- und Gewerbeschulen, aber auch eines rumänischen und eines magyarischen Gymnasiums. Es war eine Herzenssache der Sachsen, diese Anstalten möglichst auf gleicher Höhe mit denen in Deutschland zu erhalten. Die Zöglinge derselben suchten auch, nachdem sie den heimischen Gesetzen genügt, die Vollendung ihrer Ausbildung in Deutschland und brachten damit immer frische deutsche Geistesnahrung in das alte Sachsenland mit heim.
Der Amtsvorgänger des jetzigen Ministers für Cultus und Unterricht, Freiherr Josef von Eötvös, stellte in Hermannstadt am 30. September 1869 vor Magistrat und Gemeinde freudig den Sachsen das Zeugniß aus: „daß sie innerhalb des ihnen vom Gesetz zugestandenen Wirkungskreises verstanden hätten, ihren Lehranstalten eine Einrichtung zu geben, welche die trefflichsten Resultate liefere. Die Professoren deutscher Universitäten, mit welchen er in brieflichem Verkehr stehe, hätten ihm durchgängig versichert, daß die sächsischen Studirenden im Durchschnitt die Erwartungen, die man von ihnen hege, nicht nur überträfen, sondern auch auf die Hochschulen besser vorbereitet kämen, als die Schüler mancher Gymnasien in Deutschland.“
„Vielleicht“ – sagt eine Schrift, die wir sofort nennen werden – „liegt in diesen Lehr-Erfolgen und nicht allein in der deutschen Unterrichtssprache der Grund jener Erscheinung, daß die deutsch-evangelischen Mittelschulen gern von Schülern aller inländischen Nationen und Confessionen, und nicht am wenigsten von magyarischen Jünglingen zu ihrer wissenschaftlichen Vorbildung benutzt werden. Waren doch im Schuljahre 1879 bis 1880 unter 1496 Schülern, welche die evangelisch-deutschen Mittelschulen Siebenbürgens zählten, nicht weniger als 514 Nichtevangelische und darunter 114 Magyaren.“
Trotz alledem – oder eben deswegen – mußte diesen von dem Vorgänger des jetzigen Ministers als musterhaft hingestellten sächsischen Unterrichtsanstalten – bei total veränderter Grundanschauung des magyarischen Staatszwecks – die beste Kraft gebrochen werden. Nachdem „die freie Hand“ den Schlüssel zur Nationalcasse der Sachsen gefunden, mußte sie nun auch denjenigen finden, der das Thor zu den Hochschulen Deutschlands den Sachsen, und zwar ohne gehässiges Verbot, für immer verschloß.
Im vorigen Jahre erschien bei O. Wigand in Leipzig eine Schrift: „Die deutsch-evangelischen Mittelschulen in Siebenbürgen und die denselben drohende Gefahr. Eine Rechts- und Culturfrage“. Die in dieser Schrift gekennzeichnete damals noch „drohende“ Gefahr ist seitdem zur wirklichen geworden. Wir theilen aus der sehr beachtenswerthen Broschüre nur das Wesentlichste in wenigen Worten hier mit.
Am 12. März 1879 wurde im Unterhause unter dem Jubel aller magyarischen Abgeordneten eine Regierungsvorlage eingebracht, welche schon am 22. Mai alle Stadien der Berathung in beiden Häusern des Reichsrathes durchlaufen und durch die königliche Unterschrift Gesetzeskraft erlangt hatte. Dieselbe enthält folgende Bestimmungen:
„In sämmtlichen Volksschulen der magyarischen Länder wird der Unterricht der magyarischen Sprache als eines für alle Schulen verbindlichen Lehrgegenstandes eingeführt. Lehrziel und wöchentliche Stundenzahl, letztere auch für die confessionellen Schulen maßgebend, setzt der Unterrichtsminister im Verordnungswege fest. Vom Jahre 1882 ab kann kein Schulamtscandidat ein Lehrbefähigungszeugniß erhalten, welcher nicht der magyarischen Sprache in Wort und Schrift so weit mächtig ist, um sie in der Volksschule lehren zu können.“
In welchem Grade durch dieses Gesetz, „der Wahnidee des magyarischen Einheitsstaats zu Liebe, die Volksbildung von zehn Millionen Nichtmagyaren geschädigt wird“, ist gar nicht abzuschätzen.
Dennoch bot selbst dieses, wiederum von der Parlamentsallgewalt und der „freien Hand“ geschaffene Gesetz der Magyarisirungshetze noch nicht Sicherheit und raschen Erfolg genug; es mußte der größte Trumpf ausgespielt werden mit dem sogenannten „Mittelschulgesetz“. Mehrmals zurückgezogen, wurde es von dem Magyaren-Minister immer wieder vor den Reichstag gebracht, der ihm schließlich seine freudigste Weihe ertheilte. Das Gesetz greift so störend namentlich in die musterhafte Einrichtung der sächsischen Mittelschulen (Gymnasien, Real-, Gewerb- etc. Schulen) ein und ist so paragraphenreich, daß wir unsere Leser dringend auf die obige Schrift hinweisen müssen. Die einschneidendste Maßregel desselben aber ist: daß alle Mittelschullehrer ohne Ausnahme ihre Befähigungsprüfung nur in magyarischer Sprache abzulegen haben. Für die Lehrer an den deutschen Schulen der evangelischen Landeskirche Siebenbürgens hat dies die Folge, daß sie ihre höhere Ausbildung nicht mehr an den deutschen Hochschulen Oesterreichs oder Deutschlands suchen können, denn nur um in der befohlenen Sprache die verlangte Fertigkeit zu erwerben, sind sie gezwungen, sämmtliche vier Studienjahre an einer magyarischen Universität zu verbringen, und dieser Zwang führt von selbst den andern herbei, die magyarische Unterrichtssprache auch an den deutschen Mittelschulen einzuführen: dies Alles ist erreicht, ohne das bestehende Gesetz, welches den freien Besuch ausländischer Universitäten den Sachsen „für ewige Zeiten“ gewährleistet, ausdrücklich umzustoßen. Der chauvinistische Siegesjubel vergleicht diese Mittelschulen mit einer Zaubermühle: vorne steckt man die nichtmagyarischen Jünglinge Hundertweise hinein, und hinten fallen sie als fertige Magyaren heraus. Einen weitern Zweck hat auch dieses Gesetz nicht.
Was ist unter diesem unaufhörlich gesteigerten Druck aus dem Leben des deutschen Volkes im Sachsenlande geworden? Wer jetzt dort durch die Städte und Dörfer wandelt, begegnet überall den gleich traurigen und empörenden Bildern. Die Kinder gehen verdrossen in die Schule; wird der Mann vor eine Behörde geladen, so geschieht’s in magyarischer Sprache, die straßenweit kein Mensch versteht; vor Gericht muß er, der Deutsche auf seinem deutschen Heimathboden, einen magyarischen Dolmetscher zu Hülfe nehmen; denn in seiner Sprache darf selbst in den schwersten Fällen kein Wort gesprochen werden. Willkür überall! Die Kronstädter Handelskammer fügt sich einem ungerechten Ansinnen nicht: sofort wird sie aufgelöst und die Geschäfte und die Casse derselben einem magyarischen Ministerialconcipisten übergeben. Selbst für die Volksbibliotheken sind nur magyarische Bücher vorgeschrieben, die Niemand lesen kann, und die Auswahl dieser bedarf der Genehmigung des betreffenden königlichen Schulinspectors, als welcher z. B. in dem evangelisch-deutschen Deutsch-Kreuz ein katholischer Armenier bestellt ist! Deutsche Bücher sollen nicht angeschafft werden. Dazu die fast unerträgliche Steuerlast bei dem überhand nehmenden wirthschaftlichen Rückgang in dem einst unter eigener Verwaltung so blühenden Lande! „Der Steuerexecutor war bisher in den sächsischen Gemeinden eine nie gesehene Erscheinung“ (wurde doch selbst die Pünktlichkeit im Entrichten aller Abgaben den Sachsen von den Magyaren zum Vorwurf gemacht: weil sie dadurch die andern siebenbürgischen Nationalitäten nur in übeln Geruch bringen wollten!); „heute kennt man den Klang der Trommel des Executors auch in den sächsischen Orten nur allzugut. Dazu die wohlgeschützte Selbstüberhebung der „magyarischen Herrscher“ im öffentlichen Leben – es ist das Schwerste, was einem braven und edeln Volke zu tragen auferlegt werden kann[3].
[404] Und trotzalledem wollen diese Sachsen ihr Deutschthum nicht aufgeben, wollen sie ihr höchstes Glück, das Glück deutscher Bildung, deutschen Geistes, deutscher Sprache sich und ihren Kindern erhalten, wollen sie sich nicht in geistige Leibeigenschaft zwingen lassen.
Auch Oscar von Meltzl erklärt, daß die Erhaltung der Nationalität den einzigen Zielpunkt der sächsischen Politik bildet und die Sachsen, wenn es gilt die Nationalität zu retten, lieber gewillt sind die Freiheit zu opfern. „Die verlorene Freiheit,“ sagt er, „kann wieder erlangt oder zurück erobert werden, die verlorene Nationalität nie.“
Können und dürfen wir Deutschen im Reich einem solchen Heldenkampf von 200,000 Deutschen um ihr Deutschthum theilnahmlos zusehen? Darf sich der bequeme Einwurf breit machen: „Sie sind doch unrettbar verloren!“? Wer wollte behaupten, daß sie verloren sind? Hat Jemand in Deutschland geglaubt, daß die Lothringer zwischen Metz und Luxemburg je wieder deutsch würden? Sie waren in Deutschland längst vergessen und aufgegeben – und doch haben sie, ohne die Hülfe deutschen Unterrichts in der Schule, am Deutschen in der Familie festgehalten, wenn auch nur in ihrer Mundart. Ja, in jenen Bauerköpfen hielt man fester daran, als im Reich selbst, denn während unsere Landkarten längst nur ein „Thionville“ und „Nancy“ kannten, hörte der Verfasser dort aus dem Munde des Volks noch das alte „Diedenhofen“ und „Nanzig“ nennen. Die Nachkommen der Cimbern (Sette communi) bei Verona sprechen noch heute deutsch und die Sprachinsel von Gottschee, so getrennt von Deutschland, wie das Sachsenland, hat sich sein Deutsch erhalten. Wer deutsch bleiben will, der bleibt es! Und unsere Sachsen wollen deutsch bleiben.
Und thun sie etwa nicht recht daran? Sind wir nicht selbst überzeugt, daß unsere Nationalität es Werth ist, für sie das Aergste zu leiden und das Schwerste zu opfern?
Und wenn unsere Sachsen ihr deutsches Volksthum, deutsche Sprache und deutsche Bildung nur für ihr Haus, für die Familie retten, ist es nicht ein deutscher Gewinn, daß dort die Väter ihre Söhne zu braven deutschen Männern, daß die Mütter ihre Töchter zu guten deutschen Frauen erziehen? Das wollen sie, und unsere Pflicht ist es, ihnen dazu alle Hülfe zu bieten, die uns möglich ist. Deutsche Waffen braucht das Volk, deutsche Geisteswaffen – und daran ist in Deutschland Vorrath, ja Ueberfluß genug, um nicht damit kargen zu müssen.
Es gilt vielleicht nur, die Bitte öffentlich auszusprechen – und die Hülfe ist da. Darum sei hiermit gebeten: Erstens um Unterstützung der siebenbürgisch-sächsischen Presse. Die entschiedenste Kampfzeitung: „Das siebenbürgisch-sächsische Tageblatt“, das in Hermannstadt erscheint, sollte in keinem Lesecirkel, in keinem Zeitungszimmer des deutschen Reiches fehlen. Unsere guten politischen Blätter sollten in Tauschverhältniß mit siebenbürgischen treten, schon um die Nachrichten von dort für uns immer so frisch und vollständig wie möglich zu erhalten. Auch würde die Sendung von Freiexemplaren guter, auch illustrirter Zeitschriften aller Art für die dortigen Volksbibliotheken hoch willkommen sein.
Die zweite Bitte wendet sich an den deutschen Buchhandel, namentlich an die Herren Verleger. Wenn sie einen prüfenden Blick auf ihre Vorräthe werfen, so finden sie gewiß Bücher und Schriften belehrenden und erhebenden Inhalts, die sie ohne schweren Verlust entbehren und welche zu Quellen der Bildung und nationalen Ermuthigung für das vom deutschen Geisteswaffenplatze so hart geschiedene Völkchen werden können. Aber auch Private, die im Besitze bedeutender Bibliotheken sind, sichten nicht selten ihre Vorräthe: sollte sich dabei nicht manches Geeignete für den Bildungsstand unserer Sachsen finden, den man bei den trefflichen ehemaligen Schulen in der gegenwärtigen Generation ja nicht zu tief stellen darf?
Endlich richtet sich die dritte Bitte an die deutschen Kinder. Was sie zu leisten vermögen, haben sie vor elf Jahren gezeigt, als sie mir so freudig, so vaterlandsbegeistert halfen, den armen Kindern in Elsaß und Lothringen den deutschen Weihnachtsbaum als Versöhnungsgruß in’s wiedergewonnene Land zu bringen. Viele von denen, die damals Kinder waren, sind jetzt junge Männer Und Frauen, aber um so wärmer können sie die glücklichen Kleinen des Hauses ermahnen, ihren Vorrath von reizenden Bilder- und Märchenbüchern mit den armen sächsischen Kindern zu theilen. Wie dankbar würde Alt und Jung für solche Gaben der Liebe und der Freude dem alten großen Vaterlande sein! Nur um so treuer würde es sich an seinem Geiste erheben! Wer weiß – wenn einst auch diese Kinder der Gegenwart zu deutschen Männern und Frauen erwachsen sind – wie viel Uebermuth dann schon zu Schanden geworden ist!
Zum Schluß noch einen geschäftlichen Wink: Wer nicht einen Freund oder Bekannten im Sachsenlande hat, an den er seine Gaben richten kann, der benutze als Adresse die Firma der Buchhandlung von F. Michaelis in Hermannstadt! Seine Sendung kommt dann immer in die rechte Hand.
Möchten Alle, die nicht zu den Vaterlandslosen gehören, sondern für alles Deutsche ein treues Herz haben, diese Bitten nicht blos lesen – sondern sofort zur That schreiten! Es thut dringend noth, daß unsere jetzt von aller Welt verlassenen Sachsen recht bald erfahren, daß die Nation des deutschen Reiches bereit ist, ihnen in ihrem schweren Kampfe wenigstens mit ihren geistigen Waffen beizustehen.
Vom Lande der Glaubenseinheit. Aus Südtirol, von den rebenbekränzten Abhängen der Etsch und Eisack und allen darein mündenden kaum weniger romantischen Seitenthälern, dringen heute wiederholte Klagen über die stetig wachsende Armuth der ländlichen Bevölkerung, insbesondere der Weinbauern, häufiger denn je in die Oeffentlichkeit. Sämmtliche Berichte stimmen darin überein, daß die wachsende Armuth des Kleingrundbesitzes hauptsächlich auf das stramme Kirchenregiment zurückzuführen ist, welches durch starre Festhaltung der vielzähligen Feiertage die sonst betriebsamen Bewohner vom Landbau weit mehr zurückhält, als mit dem materiellen Wohle des Volkes sich verträgt.
Wer da weiß, daß in diesem glaubensfesten Berglande jeder Kirchentag nach gottesdienstlicher Feier auch dazu benutzt wird, leiblichen Genüssen zu fröhnen, den darf es nicht Wunder nehmen, wenn der verarmte Bauer behauptet, durch solche Gebote seiner heiligen Kirche vom eigenen Dienstgesinde allmählich aufgezehrt zu werden. Ein seit urdenklichen Zeiten überkommener Gebrauch bestimmt, daß den Dienstleuten an jedem Sonn- und Feiertage ein mehr als zuträgliches Maß Wein vom Dienstgeber verabreicht wird.
Nun werden auf den sonnigen Südabhängen der Tiroler Alpen außer den zweiundfünfzig Sonntagen auch noch die zweiundfünfzig Freitage des Kalenderjahres als kirchliche Bußtage und überdies sechszehn hohe Feiertage der Kirchenpatrone, Landespatrone, Kirchweihen etc., im Ganzen hundertzwanzig Tage, oder mit anderen Worten: der dritte Theil des Jahres, gottesdienstlich gefeiert.
Sehen wir uns ein wenig genauer an, was eine so fromme Sitte, die an den Feiertagen in unmäßigem Beten, Essen und Trinken gipfelt, für das Volkswohl bedeutet! Der Mai ist in diesen Gebirgsgegenden ein besonders günstiger Arbeitsmonat für Weingärten, Wiesen und Felder, der in Folge der Vegetationsentwickelung naturgemäß die angespannteste Thätigkeit erfordert. In den genannten Monat des vergangenen Jahres fielen fünf Sonntage, und zwar am 2., 9., 16., 23. und 30., vier Feier- und Freitage den 7., 14., 21. und 28., drei hohe Kirchenfesttage, die Himmelfahrt am 6., der Pfingstmontag am 17., das Frohnleichnamsfest den 27., drei Bitttage am 3., 4, und 5. Mai und endlich zuguterletzt ein Kirchenpatronfest, St. Bonifaz, am 14. Mai. – Demnach bestanden einunddreißig Maitage in Welsch-Tirol: aus sechszehn Feier- und fünfzehn Arbeitstagen.
Solchen mittelalterlichen Gebräuchen folgt der volkswirthschaftliche Verfall freilich auf dem Fuße; es ist nicht abzusehen, daß für die nächste Zukunft von dem tiroler Volke selbst eine Besserung dieser Verhältnisse werde angestrebt werden, und das zeither geübte geistliche Regiment hütet sich wohl, das Gemeinwohl durch eine Neuerung im Sinne ökonomischer Thätigkeit zu heben. Der von amtswegen privilegirte Müßiggang, der ohnedies die Trägheit der dienenden Classen begünstigt, überhand nehmende Trunksucht und andere gesellschaftliche Mißstände haben sich dort nachgerade zur Unerträglichkeit gestaltet. Alle öffentlichen Schmerzensschreie über dieses Uebel verhallten aber leider bisher völlig. Um so mehr hat die Presse die Pflicht auf diese Zustände hinzuweisen.- ↑ Vergleiche Nr. 17 und Nr. 20.
- ↑ Man lese dessen sehr beachtenswerthe Schrift: „Die Stellung der Siebenbürger Sachsen in Ungarn“. Hermannstadt, Verlag von A. Schmindicke, 1878.
- ↑ Eben, vor der Absendung des Mannscripts dieses Artikels in die Druckerei geht uns noch folgendes Neueste aus Siebenbürgen zu: Die magyarische Corruption in Siebenbürgen nimmt einen wahrhaft entsetzlichen Fortgang. Da die Bevölkerung dort zu Straßen- und anderer öffentlichen Arbeit verpflichtet worden ist, die sie entweder selbst verrichten oder mit Geld vergüten muß, so hat ein Stuhlrichter sich das einträgliche Recht angemaßt, zur Straßenarbeit commandirte Bauern ohne Weiteres sich von „regierungsfreundlichen“ (das heißt magyarischen) Privaten zu Arbeiten in deren Weingärten, Maisfeldern etc. abkaufen zu lassen. Da man dies meist gegen Sachsen übt, so giebt’s für diese kein Recht, sondern für jede Weigerung Arrest oder Geldstrafen. Wie weit ist von da noch zur Sclaverei? In Marktschelken ließ der (natürlich magyarische) Straßenbau-Commissär durch den Ortsdiener öffentlich ausrufen, daß er denjenigen Bauern, welche ihm nicht ein bestimmtes Quantum Getreide in’s Haus lieferten, keine Scheine für geleistete Schotterfuhren ausstellen werde. Der Obergespan kennt den Frevel, aber er wehrt ihm nicht, da er ja nur gegen Sachsen geübt wird. – Ein neues Consumgesetz, das auf Kaffee, Bier und Zucker eine Verzehrungssteuer legt, giebt der Regierung so viel Chicanen in die Hand, daß sie alle nicht magyarisch gesinnten Orte damit zu Grunde richten kann. Berechnet man dazu die allgemein bekannte magyarische Verwaltungswirthschaft, so ist’s offenbar, daß unter dieser verwüstenden Rassenherrschaft im ganzen Bereich der Stephanskrone, vor Allem aber im deutschen Siebenbürgen türkisch-bosnische Zustände unausbleiblich sind.