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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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No. 14.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.
Der Weg zum Herzen.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Er sei schon im Begriffe gestanden, aufzubrechen, und nur um der Bekanntschaft des Hausherrn willen noch geblieben, sagte Steinweg wie entschuldigend zu Letzterem, was ihm jedoch außer einem wiederholten steifen Kopfneigen auch nicht die kleinste Gegenhöflichkeit eintrug. Diesmal wagte selbst Lora, die sich von dem seltsamen Wesen ihres Schwagers mitbedrückt fühlte, den Wunsch, daß der Gast länger verweilen möchte, nicht zu erneuern. Wohl aber glaubte sie sich befugt, mitten in allerlei anderem Geplauder, die freundliche Hoffnung auszusprechen, daß Steinweg bis zu seinem nächsten Besuche ihr Generalpardon ausgewirkt habe werde.

„Sie erinnern mich zu rechter Zeit noch, mein Fräulein,“ gab er in geräuschvoll heiterer Weise zur Antwort. „Der Proceß ist erst noch durchzuführen, und zum Präses des Kriegsgerichts wollen wir die Frau Baronin ernennen.“

Nach allen Seiten grüßend, unter Gelächter und schallendem Protest der mit feierlicher Anklage Bedrohten nahm er einen leidlich gewandten und gedeckten Rückzug.

Als er schon die Thür hinter sich hatte, hörte Lora noch immer nicht zu kichern auf.

„Ist er nicht eine zu komische Erscheinung?“ fragte sie, Steinweg's Verbeugungen und das Ausstreichen des Schnurrbarts nachahmend. „Es ist nur ein Glück, daß er gegangen ist; am Ende hätte ich ihm noch offen in's Gesicht gelacht.“

„Und doch hast Du ihn eingeladen, wiederzukommen. In wessen Auftrag?“ warf Witold in einem so gereizten Tone hin, wie er ihn sonst nie, am wenigsten gegen Lora, anschlug.

Diese wurde denn auch mit einem Male ernst und verlegen. Sie warf dem Schwager wie ihrer Schwester fragende Blicke zu.

„Mein Gott – bedarf es dazu eines Auftrags? Ich meinte – ich glaubte – wir hatten es in der Anstandsstunde so gelernt –“ stammelte sie.

„Du hättest es der Hausfrau selbst überlassen können,“ fiel er in gleicher Schärfe ein.

„Aber wenn Ihr Beide nicht daran denkt! Es schickt sich doch einmal, daß man den Besuch wiederzukommen auffordert.“

„Lag Dir so viel daran, daß es nicht vergessen werde? Dann muß er Dir doch nicht gar zu sehr mißfallen haben.“

„O, Du bist heute gar nicht lieb!“ erklärte Lora über und über roth, indem sie sich schmollend und Hülfe suchend zu der Schwester wandte.

Doch Lisa hatte kein unterstützendes Wort für sie. Bei ihres Mannes Reden hatte sie hoch aufgehorcht. Was bedeuteten diese Vorwürfe? Selbst wenn Lora in kindlicher Harmlosigkeit ein lebhafteres Interesse für den jungen Officier verrieth, kam es Witold doch nicht zu, sie dafür so scharf anzulassen. Wenn er es dennoch that, so konnte es nur sein, weil er ihr die Regung selbst übelnahm. Ein solches Mißgönnen war ja wohl –

Sie erschrak, als wenn sie im Begriff gestanden, das Wort laut auszusprechen. Ein leises Zittern überfiel sie, und unwillkürlich rief sie Gretchen zu sich.

Bevor die Kleine jedoch dem Rufe der Mama gehorcht hatte, fuhr Witold mit dem barschen Befehle dazwischen, sie solle zu Manon gehen.

„Es ist für Dich Zeit zur Suppe und zum Schlafen,“ lenkte er mit milderer Stimme ein, als er sah, wie sehr er das Kind erschreckt. Er hatte nur dem ersten auflodernden Widerwillen, es jetzt bei jener Frau zu sehen, Ausdruck gegeben. Es war sein Kind, und die Berührung von Lisa's Lippen befleckte es. „Geh!“ wiederholte er, und die verschüchterte Kleine schlich sich gehorsam fort, ohne, wie sonst um diese Stunde, Gute Nacht geboten zu haben.

Der unmittelbar darauf folgende Eintritt der Gräfin verhinderte, daß die eingetretene Pause noch peinlicher wurde. Lisa legte die kleine Näharbeit, mit der sie sich so eifrig beschäftigt hatte, als ob sie jeden Stich zu zählen hätte, auf das Tischchen und erhob sich, um in das Nebenzimmer, an den dort bereits gedeckten und von einer Lampe traulich erhellten Theetisch zu treten; Lora, welche befangene, ja beinahe furchtsame Blicke auf den heute so ganz veränderten Schwager warf, schloß sich ihr an. Erst später folgte Witold mit der Tante; sie hatte begonnen, ihm einen kleinen Vortrag über die nöthigen Veränderungen in der Kühlkammer zu halten, von dem er kein Wort faßte.

Doch auch als sie nun beim Abendimbiß beisammen saßen, wollte sich die gemüthliche Stimmung nicht, wie gewöhnlich, einstellen. Hätte Lora, die sich bei solcher Einsilbigkeit immer unbehaglich fühlte, nicht ihre Laune und Gesprächigkeit schon nach kurzem Ausbleiben glücklich wiedergefunden, es wäre zuletzt wohl jedes Wort versickert, und der bekannte „Engel“ – diesmal kein Engel des Friedens – würde seinen Flug unfehlbar durch das Zimmer genommen haben.

Als die Speisen abgetragen waren und nur noch die Tassen auf dem Tische standen, erhob sich Lora und kam im nächsten Augenblick wieder mit einem Buche aus dem Salon, das sie dort vom Notenständer genommen hatte. Indem sie sachte hinter ihren Schwager trat, legte sie es vor diesen auf den Tisch.

[218] „Was ist das?“ fragte Witold mit einem Tone, der keineswegs willfährig klang.

„Die Maria Stuart. Du hast uns versprochen, sie nächstens vorzulesen. Nun, heute ist nächstens.“

„Und Du hast das Buch selbst geholt?“ fragte er betreten.

Lora deutete sein Stirnrunzeln auf ein neues über ihrem Haupte sich sammelndes Unwetter. Flehend faltete sie die Hände.

„Erbarmen, allmächtiger Dalai Lama!“ bat sie mit komischer Zerknirschung, der sich doch auch ein wenig wirkliche Befürchtung beimischte. „Ich habe zwar Dein Gebot übertreten und bin in der Bibliothek gewesen, aber ich habe es auch sofort bereut und Staub auf mein Haupt gestreut, indem ich nämlich das Buch hier hervorzog. Weiter aber habe ich mich wahrlich nicht gewagt. Ueber der Thür zu Deinem Zimmer stand ja in leuchtender Geisterschrift ein dräuendes 'Tabu!' Ich neigte mich nur tief in den Staub und floh die heiligen Räume, die kein Frauenfuß betreten darf.“

„Es ist eben nicht jedes Buch vor einem neugierigen Frauenauge sicher und für ein reines, keusches Frauengemüth geeignet,“ setzte er auseinander, doch war es, als ob noch eine andere Befürchtung von ihm genommen wäre. Sichtlich erleichtert athmete er auf, wenn es auch der Scherzrede nicht gelungen, diesmal ein Lächeln auf seine ernsten Lippen zu locken.

Die Schäkerin merkte wohl den gewonnenen Vortheil und suchte ihn auszunützen.

„Nun aber liest Du uns vor, nicht wahr?“ bat sie.

„Ist Dir denn so sehr darum zu thun, Quälgeist?“ fragte er zaudernd.

„Verse höre ich für mein Leben gern, und besonders wenn Du sie vorträgst.“

„Du bist sehr freundlich,“ sagte er nickend, doch ohne sich von der Schmeichelei bestechen zu lassen, und seine Worte erhielten sogar einen herben Nachdruck, als er hinzusetzte: „Es empfindet aber vielleicht nicht Jedes das gleiche Interesse an einer Vorlesung solchen Dichterwerkes, das nur das Fortspinnen des modernen Romans in der eigenen Traum- und Gedankenwelt stört.“

Lisa merkte wohl, daß dies auf sie gemünzt sei, obgleich sie nicht den vollen Sinn der Anspielung ahnte. Erst das zurückgezogene, gemeinsame Leben in Riefling hatte dazu geführt, daß Witold, nachdem er im Gespräch hin und wieder ein Citat gebraucht, hauptsächlich auf Lora’s Andrängen, dasselbe durch ein Vorlesen der ganzen Stelle und wohl auch längerer Abschnitte aus den berührten Dichtungen vervollständigte. Seine Zuhörerinnen hatten Geschmack daran gefunden, und auch für seine Frau, die ehedem nie ein Verlangen darnach getragen oder selbst für ernste, erhebende Lectüre Zeit gefunden hatte, wurden diese Lese-Abende ein Bedürfniß, wenngleich sie noch niemals sich über den Genuß geäußert hatte.

Jetzt aber glaubte sie, den deutlich gegen sie ausgesprochenen Zweifel beheben zu müssen.

„Auch ich bitte Dich darum,“ sagte sie sanft, indem sie ihr Auge freundlich zu dem seinen erhob.

Auf Witold aber hatte das gerade die entgegengesetzte Wirkung. Er stieß das Buch weit von sich weg.

„Ja, ja,“ stimmte nun auch die Tante zu. „Es ist so angenehm zu arbeiten dabei. Du hast eine so schöne, ausdrucksvolle Stimme –“

„Sie ist heute rauh,“ unterbrach er sie.

Daß sie es war, hörte man, dennoch aber war es nicht der Schonung wegen, daß er sich zu lesen weigerte; denn er nahm eine Cigarre aus dem Täschchen und hüllte sich in eine dichte Rauchwolke, daß die Tante zu hüsteln begann und, von Lora unterstützt, ihm Vorstellungen machte, er möge bei seiner Heiserkeit nicht so schonungslos gegen sich selbst wüthen.

Lisa schwieg. Sie leerte ihre Tasse und ging dann still aus dem Zimmer. Bald hörte Witold den Flügel im Salon unter ihren Fingern ertönen.

Was sie spielte, war einer seiner Lieblinge aus den Müllerliedern, und sie hatte das Stück mit Absicht gewählt. Noch von der Zeit ihres Brautstandes her war ihr seine Vorliebe für dasselbe in der Erinnerung, und vielleicht eben darum hatte sie es jahrelang nicht gespielt. Ueberhaupt hatte sie sich die Musik, so lange sie in der Stadt wohnte, immer versagt, wenn sie glaubte, daß auch er zu Hause sei – heute sollten ihm dieselben Klänge sagen, daß sie ihm eine Freundlichkeit zu erweisen und ihn in eine wohlthuende Stimmung zu versetzen wünsche. Aber die Wahl war keine glückliche. Was ihn begütigen sollte, erbittert ihn; gerade heute schien er Musik gar nicht ertragen zu können, und er, der ruhig gleichmäßige, fast pedantisch ernste Mann, den man keiner Laune eines gereizten Nervensystems zugänglich wähnen mußte, sprang mit finster gerunzelter Stirn schon bei den ersten Tönen auf.

„Ich habe noch zu arbeiten – gute Nacht!“ sagte er kurz und verließ das Gemach.

Lora und die Tante sahen ihm verwundert nach.

„Er muß heute einen recht argen Verdruß mit dem Ortsvorstande gehabt haben,“ suchte ihn die Letztere zu entschuldigen.

„Ach, diese Bauerndickköpfe!“ schalt Lora, indem sie die kleine geballte Faust erhob und in der Richtung gegen das Dorf hin schüttelte, als hätten sich die Bedrohten weislich vor derselben in Acht zu nehmen. Dann aber erzählte sie leise, um die Musik nicht zu stören, von dem Besuche, und ihr Geplauder schien kein Ende nehmen zu wollen; es ging wie ein Mühlrad im rauschenden Wasser als Grundbegleitung zu der schwermüthigen, sanft ausklingenden Weise.

Der, für den sie tönte, war ihrer aber doch nicht verlustig geworden. Er ging im Garten draußen auf und ab und horchte auf sie. Jeder Ton schnitt ihm in’s Herz. So dringend die vorgeschützte Arbeit gewesen, sie hatte ihn nicht auf sein Zimmer genöthigt. Nach Luft und Kühlung begehrte sein heißer hämmernder Kopf, und unbedeckt setzte er ihn dem durch die Baumwipfel säuselnden Nachtwinde aus.

„Nun also ist’s da,“ murmelte er zwischen den Zähnen, die das Cigarren-Ende schon ganz zerbissen hatten.

Wochen waren in der Erwartung des Momentes vergangen, der die Entscheidung bringen mußte, eine Entscheidung, die er voraussah, auf die er sich gerüstet glaubte und an der er dennoch, wenn er sich’s auch nicht gestand, schon zu zweifeln begonnen hatte. So ganz unmöglich war es ja nicht, daß sie dem Drängen jenes Mannes nicht nachzugeben willens war, daß sie –

Ach, wozu war es gut, jetzt noch all die Möglichkeiten zu erwägen! Aus der Ruhe, in die er sich einzuwiegen begonnen, war er ja nun gewaltsam herausgerissen. Er wollte sie nicht hassen dafür, aber er zürnte ihr, und mit Schreck empfand er dieses Gefühl. Wo war die stolze Gleichgültigkeit, mit der er sich gepanzert glaubte? Kam’s, so sollte es ihn kalt finden – unempfindlich wie einen Stein. Nun war’s da – und – –?




8.

Es war ein Tag zu Ende des Aprils, aber die Sonne schien so sommerlich warm, daß sich die Schwestern in den kurzen Mittagsschatten des Hauses geflüchtet hatten. Sie saßen an einem Tischchen fast unmittelbar neben den aus dem Speisesaale in den Garten herabführenden Stufen. Lora band Flieder und Pyrusblüthen zu einem Strauße für den Mittagstisch, während Lisa an einem kleinen Aquarell arbeitete, das, schon beinahe vollendet, eine Ansicht des Hauses von der Parkseite darstellte. Es waren nur noch einzelne Schatten zu vertiefen, und hier und da eine Farbe dem Gesammtton unterzuordnen. Ihnen zu Füßen spielte Gretchen im Kiese, wobei ihr Frip und Harro Gesellschaft leisteten; zuweilen ging’s auch zu Dreien im Haschen und Jagen hinaus auf den Rasen. „Mama und Tantchen“ achteten nicht immer darauf. Sie wußten sich allein und besprachen allerlei; von Seiten der Gräfin hatten sie keine Störung zu befürchten, denn diese widmete ihren Sonntagsmorgen, wenn, wie jetzt in der Zeit strenger Feldarbeit, die Fahrt nach der ziemlich entfernten Stadt unterblieb und sie somit den Gottesdienst – die Dörfer um Riefling waren katholisch – entbehren mußte, ganz der Postille.

Zum Glück für ihr religiöses Bedürfniß besaß die gute Dame aber ihren Lieblingsprediger sogar in mehreren Exemplaren gedruckt.

Auch Lora hatte sich eines davon aufnöthigen lassen; sie wußte wohl warum; Tante mußte bei ihrer guten willfährigen Laune erhalten werden – dann that sie ihrem Lieblinge auch gern einen Gefallen. Dafür konnte man schon ein Bischen fromm sein. Das that auch der Heiterkeit keinen Abbruch, welche jetzt, nach der Pflichterfüllung, wieder in ihr volles Recht eingesetzt [219] war. Und wer sollte denn an einem so schönen Tage nicht fröhlich sein? Schien doch die Sonne so hell, war doch der Himmel so blau und der Frühling so grün, die Luft so duftig und der Fluß so eilig. Man bekam selber Lust zu singen und zu hüpfen.

„So mach doch kein so fürchterlich ernstes Gesicht und höre einmal mit dem langweiligen Haus auf! Du wohnst ja drin, kannst es Dir alle Tage ansehen – was brauchst Du's denn noch gemalt?“ rief Lora ungeduldig der Schwester zu.

„Was man liebt, besitzt man nie genug,“ entgegnete Lisa, ohne sich stören zu lassen.

„Liebst Du denn etwas? Ich meine so recht von Herzen.“

Da hierauf keine Antwort erfolgte, lag mit einem Male der Strauß auf dem Blatte.

Aengstlich, ob die Farben auch nicht verwischt seien, hob Lisa die Blumen hinweg. Sie hatte einen kleinen Ausruf des Unwillens ausgestoßen. Nun aber schüttelte sie lächelnd den Kopf, da sie sah, daß ihre Arbeit unversehrt geblieben, und halb wieder versöhnt, sagte sie:

„Du bist ja heute ganz übermüthig. Was freut Dich denn so sehr?“

„Alles! Das Leben.“

In einem so vollen Jubeltone aus tiefer Brust kam das über die frischen Lippen, daß es Lisa mächtig ergriff.

„Du Glückliche!“ sagte sie seufzend.

„So glücklich kannst Du auch sein. Grund genug zur Freude giebt es ja, wo man hinsieht.“

„Mit jungen frohen Augen.“

„Ah, die Deinen sind schon furchtbar alt. Arme Alte!“ Sie lachte hell auf, um dann mit der Miene einer Protectorin fortzufahren: „Den Frohsinn aber verscheuchst Du selbst. Ist das eine Miene für einen Tag wie der heutige? Singe, lache, tanze! Kommt nicht Witold heim? Ist das nicht schon Grund, sich zu freuen? da, da – das zum Schmuck! Ah, wie prächtig es Dir zu Deinem Haare und Teint steht!“

Der kleine Zweig mit hellrothen Pyrusblüthen, den sie ihrer Schwester in's aufgenommene dunkle Haar gesteckt, bildete in der That einen hübschen Gegensatz zu dem matten Weiß des feinen Gesichtchens, das ein leises Lächeln jetzt noch mit anmuthsvoller Wärme beleble. Dabei glitt aber doch ein forschender Blick zu Lora hinüber.

„Blumen und Freude kommen zu früh für solchen Zweck. Lomeda kommt ja, wie er der Tante schrieb, frühestens heute Abend, wahrscheinlich aber erst morgen zurück.“

„Nun, so freue Dich über etwas Anderes. 'Immer alerte!' wie Steinweg sagt.“

„Vielleicht soll ich mich mit Dir über – oder vielmehr auf Steinweg freuen?“ suchte Lisa die Schwester zu necken. Diese aber lachte so laut und anhaltend, als ob etwas ungeheuer Drolliges gesagt worden wäre.

„Da bist Du wirklich auf dem – 'Steinweg'!“ rief sie, den Strauß, dessen Symmetrie durch die Entfernung des Pyruszweiges etwas gestört war, mit großem Eifer auf's Neue ordnend. „Wie Du nur darauf kommen magst?“

„Nun, Du beschäftigst Dich doch häufig mit ihm.“

„Ich glaube es schon, wenn Ihr ihn mir auf dem Halse laßt,“ fiel Lora verdrießlich die Achseln zuckend ein.

Ihre Schwester mußte schweigen, denn sie konnte ihr nicht Unrecht geben. Jedesmal, so oft Rittmeister Steinweg seinen Besuch erneuerte – und es war noch keine Woche vergangen, ohne daß er einmal nach Riefling getrabt kam – war Lisa für ihn unsichtbar geblieben. Das eine Mal hieß es, sie sei bei der alten kranken Rasenbäuerin im Dorfe, das andere Mal war sie selber unwohl – ein Vorwand hatte nie gefehlt. Ein einziges Mal nur war sie ihm aus der Rückkehr von einem größeren Spaziergange mit Gretchen in dem Augenblicke begegnet, wo er eben wieder fortritt. Da aber auch andere Leute des Weges kamen, so war es bei wenigen Worten geblieben.

„Warum weichen Sie mir aus, Elise?“ hatte er, sein Pferd anhaltend, gefragt, indem er Miene machte, abzusteigen, was er aber auf ihren abwehrenden Wink dann unterließ.

„Weil ich kein Mittel habe, Sie zum Wegbleiben zu zwingen, da mein deutlich ausgesprochener Wunsch Sie nicht dazu bewegt.“

„Ach, Sie fürchten sich.“

„Nein,“ hatte sie fest und ruhig geantwortet.

„Nun denn, auch ich fürchte mich nicht, und ich werde es darauf ankommen lassen, daß mir Herr von Lomeda selbst das Haus verbietet, das viel zu viel Angenehmes hat, um es freiwillig zu meiden.“

Mit diesen trotzigen Worten war er höflich grüßend davongeritten, indem er sie in dem peinlichen Gefühle zurückgelassen, daß sie thatsächlich kein Mittel besaß, ihm das Wiederkommen zu verwehren. Eines hätte es allerdings gegeben, das nämlich: sich an ihren Gatten zu wenden, dann aber mußte sie ihm die Gründe angeben, welche ihr die Ausweisung des aufdringlichen Gastes wünschenswerth machten, und welchen Ausgang ein Zusammentreffen der beiden Männer dann hatte, war kaum zweifelhaft. Einen solchen aber konnte sie doch unmöglich herbeiführen wollen. Ergriff sie jedoch ein anderes Auskunftsmittel und machte sie ihren Mann auf den bedenklichen Verkehr des jungen Officiers mit ihrer Schwester aufmerksam, so leitete sie nur eine Erklärung ein, die Steinweg gewissenlos dazu mißbrauchen konnte, sich erst recht für die nächste Zeit den Zutritt zu sichern. Hatte er ja eben jetzt erst eine Anspielung fallen lassen, die wohl darauf berechnet gewesen war, ihre Eifersucht zu erregen – wie wenig kannte er ihre Empfindungen! Ebenso konnte er ihrem Manne gegenüber eine Zeit lang die Rolle eines Werbers oder Bräutigams spielen – um unter diesem Deckmantel seine Pläne weiter zu verfolgen.

„Aber warum nur spielen? fuhr es ihr plötzlich durch den Kopf, und von da ab wandte sie den Gedanken um und um und beobachtete Lora schärfer.

Eigenthümlich war es, daß der beinahe mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehrende Besucher auch dem Herrn des Hauses fast nie oder nur flüchtig begegnete. Witold war seit jenem ersten Zusammentreffen, das eine schwere Wolke auf seiner Stirn zurückließ, überhaupt viel abwesend, in Feld und Wald, in eigenen und bald auch, als die innere Unruhe bei ihm zunahm und ihn rastlos umhertrieb, in fremden Angelegenheiten, die er sich halb erbeten, halb freiwillig aufgeladen. Glücklicher Weise hatte der alte Verwalter seine Stelle noch nicht geräumt, und so litt wenigstens die Bewirthschaftung des Gutes nicht unter den gerade in einer Jahreszeit, wo es für den Landmann so viel zu thun giebt, wiederholt unternommenen Reisen nach der Hauptstadt und, wie es eben jetzt wieder der Fall war, nach Sternberg.

War Steinweg vermieden von den Einen, so war er nur um so lieber gesehen von den Anderen im Hause. Besonders die Tante hatte an seinem gewandten und liebenswürdigen Benehmen, wie an seiner ehrfurchtsvollen Galanterie, welche er der älteren Dame widmete, großen Gefallen gefunden und den jungen, hübschen, eleganten und – was bei ihr nicht Nebensache war – auch wohlhabenden Reiterofficier in's Herz geschlossen. Ein solch frohmüthiger Husar war auch ihr jüngster Bruder gewesen.

Sie selbst war es, die ihn zur Wiederkehr aufmunterte, und auf Lora's harmlosen Vorschlag, der sich nur so beiläufig einmal im Gespräche ergab, hatte sie es sogar für passend gefunden, den immer nur auf ein, zwei Nachmittagsstunden einkehrenden Gast für nächsten Sonntag auch einmal zum Mittagstische einzuladen.

Auf diesen gehörte nun freilich selbstverständlich der Schmuck der ersten Frühlingsblumen, und daß Lora es sich so lebhaft angelegen sein ließ, ihn zu beschaffen, hatte ihrer Schwester Anlaß zu der Neckerei gegeben, welcher – auch wenn Lisa es sich nicht eingestand – die Absicht zu Grunde lag, die Andere auszuhorchen, und welche nun jene ernstlich aussehende Kundgebung abwehrenden Verdrusses hervorrief.

Lora sprach sogar recht abfällig über Steinweg, indem sie ihn zwar nicht, wie nach seinem ersten Auftreten, verspottete, doch aber seine Eigenschaften in ziemlich unparteiischer Weise Revue passiren ließ und sie dabei eher unter als über dem Werthe anschrieb. Einige Male hatte Lisa selbst ernste Einwendungen gegen solche Geringschätzung und gab sich Mühe, ihre Schwester zu einer gerechtern Würdigung zu bekehren, vielleicht sogar gegen ihre eigene Ueberzeugung.

„Ei!“ sagte Lora, nach einer Weile listig lächelnd, „so ist es denn wahr: 'alte Liebe rostet nicht'. Du hast ja noch recht viel Interesse für Deinen einstigen Verehrer.“

„Was sprichst Du da?“ fuhr Lisa betreten auf.

„Nur nicht geleugnet, Schwesterchen! Unter uns, so ganz [220] unter uns hat es doch keinen Zweck. Glaubst Du, Kinder seien blind? Ich habe recht gut gesehen, wie die Dinge standen, und daß Papa Dich Knall und Fall davon schickte, das hat seine guten Gründe gehabt, über die nicht einmal unsere Dienstleute im Unklaren blieben. O Thekla, o Thekla!

‚Laßt ihren Kummer reden! Laßt sie klagen!
Mischt Eure Thränen mit den ihrigen,
Denn einen großen Schmerz hat sie erfahren;
Doch wird sie's überstehn; denn meine Thekla
Hat ihres‘ – –

Nein,“ unterbrach sie sich, „ihrer Schwester 'unbezwungnes Herz'. Schade, daß ich dazu nicht Witold's schöne tiefe Baritonstimme habe. Da klänge es viel ausdrucksvoller.“

Eine nicht mehr zu verbergende Verwirrung hatte sich Lisa's bemächtigt; in der Verlegenheit hatte sie wieder nach dem Pinsel gegriffen und lackirte ganz unnöthiger Weise den Himmel nach.

„Das ist so lange her – was einst war –“ stammelte sie unsicher.

„Ist es denn so ganz vorüber?“ sondirte nun Lora ihrerseits mit scharfer Nachsichtslosigkeit. „Dieses absichtliche Ausweichen verräth, daß Du Dir selbst nicht ganz trauest.“

Auf diesen Vorwurf hob jedoch die Angeschuldigte stolz den Kopf, ihr Auge suchte mit festem offenem Blicke das unter Lächeln lauernde Auge ihrer Schwester.

„Du irrst, mein Kind,“ sagte sie nachdrücklich, den Mund zu einem wehmüthigen Lächeln verziehend. „Das ist vorbei, wenn es je mehr war als ein Phantasiespiel. Wenn ich zur Seite trete, geschieht es wohl nur, um – nicht immer wieder daran erinnert zu werden.“

Lora schwieg einen Moment, lachte dann auf und deutete auf Gretchen, die sich alle Mühe gab, Frip eine sehr unbehagliche Reitlection auf Harro's Rücken zu geben. Dann nickte sie der Schwester zu.

„Nun wohl,“ citirte sie abermals mit einigem Pathos:

„'Nein, Thekla! Dieser Unglücksbote soll
Nie wieder unter Deine Augen treten.'

Lassen wir Herrn Rittmeister Max begraben sein. Es ist ja am Ende auch natürlich, daß das kleinere Licht vor dem größeren verblaßt. Wer neben Witold einherwandelt, kann kein Auge mehr für Steinweg haben.“

„Ich möchte das nicht so hinstellen,“ entgegnete Lisa vorsichtig. „Wo es sich um zwei verschiedene Typen, zweierlei Geschmacksrichtungen handelt, kann immer nur von einer relativen Abschätzung die Rede sein. Man kann sich das Ideal eines leichten Reiterofficiers nicht anders denken.“

„Eines leichten Reiterofficiers!“ versetzte Lora, das Näschen rümpfend. „Was ist ein Husarenofficier? Ein tanzendes, reitendes, plauderndes, allerliebstes Spielzeug, das man um den Finger wickelt, wenn man es nur bei der Meinung seiner furchtbaren Gefährlichkeit läßt. Da ist doch ein thätiger arbeitsamer Landwirth ganz etwas anderes. Witold aber ist nicht allein Landwirth, er ist auch Politiker; seine Thätigkeit war eine segensreiche; seine Fähigkeiten sind allgemein anerkannt; täglich hat man Gelegenheit sein Wissen zu bewundern, und dabei steht er da, nicht leichtsinnig, beweglich, tändelnd, sondern fest wie eine Eiche, den unerschütterlichen Willen auf der schönen Stirn, die Gluth des Gemüths in den dunklen melancholischen Augen, in jedem Zuge ein Urbild stolzer Kraft.“

Lisa fuhr es wie ein Stich schmerzhaft durch's Herz.

Ei ja, das Schwesterchen hatte wirklich sehr scharfe, klare Aeuglein im Kopfe und sah damit gar wunderbar genau. Das war ja nicht mehr der Ton ruhiger Anerkennung, gerechter Würdigung; so sprach sich nur die Begeisterung aus, eine Begeisterung, die schon so sehr das ganze Wesen erfüllt, daß sie sich gar nicht mehr zu verbergen vermag und die züchtige Verschämtheit des jungfräulichen Herzens in ihrer Gluth verzehrt.

Ach ja, sie hatte nur zu Recht: ob es sich um äußerliche oder innere Eigenschaften handelte, ob es die edlen Züge des Antlitzes oder die Zuverlässigkeit des Charakters galt, in jeder Hinsicht überragte Witold die meisten anderen Männer. Es war ja nur die Bestätigung dessen, was in allmählich gewonnener Ueberzeugung Lisa's Seele bereits erfüllte. Sie empfand eine unaussprechliche Wonne, diesen Mann preisen zu hören, wie er es verdiente, und doch zuckte sie dabei wie unter der Berührung glühenden Eisens zusammen. Ein Ideal hatte Lora ihn genannt. Ja, es war so, aber warum mußte gerade Lora es sein, die all das sah und erkannte, und schon in den wenigen Wochen ihres Zusammenlebens, während sie, die ihm näher stand, jahrelang in starrem Eigensinn die Augen trotzig verschlossen? Was war er der Schwester, daß sie ihn so mit all der hell aus ihren Augen leuchtenden Bewunderung umfassen durfte? Das Gefühl auf einen Anderen ablenken zu wollen, war wohl vergeblich. Hoffnungslos stellte Lisa ihre Bemühungen ein. Die Schlange der Eifersucht ringelte sich in ihrer Brust.

(Fortsetzung folgt.)




Johannes Brahms.
Eine Charakterstudie aus der Componistenwelt der Gegenwart.
Von Hermann Kretzschmar.

Es liegt außer dem Bereiche der Möglichkeit, daß alle hervorragenden Tondichter von Jedermann mit gleicher Pietät verehrt und verstanden werden. Naturanlage und Bildung ziehen uns zu dem einen Künstler hin und lassen uns einen andern fremd oder schwierig erscheinen. Es wird wenig Clavierspieler geben, die nicht Mozart oder Franz Schubert geliebt haben vom ersten Tacte ab, aber es giebt sehr Viele, welche das „wohltemperirte Clavier“ Sebastian Bach's sehr bald wieder zugeschlagen haben auf Nimmerwiederansehen, und es giebt viele gebildete Deutsche, welchen dieser, einer ihrer größten Landsleute, bis auf den Namen unbekannt geblieben ist.

So würde man auch noch vor zwölf Jahren unter zehn singenden oder spielenden Musikliebhabern immer etliche vergeblich nach Johannes Brahms gefragt haben. Es gab damals zwar schon viele Musiker von Fach, welche die Werke dieses Componisten liebten und mit Erwartung jeder neuen Aeußerung seines Genius entgegensahen, aber sie bildeten doch nur eine Art Secte, eine kleine Gemeinde, welche die Verbindung mit dem großen Publicum noch nicht gefunden hatte. Heute ist das anders, und der Glaube an Johannes Brahms allgemein und mächtig geworden. Sein Aufenthalt in einer unserer Concertstädte wird dieser zu einem Musikfest, und die vornehmsten Orchester- und Chorinstitute erblicken eine besondere Auszeichnung darin, wenn er unter ihnen weilt, um persönlich eines seiner Werke zu dirigiren. Englische Universitäten haben ihm Ehrengrade verliehen, und noch unlängst promovirte ihn die Universität Breslau als den ersten Meister der ernsten Musik im heutigen Deutschland.

Die Zusammenstellung „Bach - Beethoven - Brahms“, welche von einem der schärfsten Köpfe unter den lebenden Musikern herrührt, nämlich von Hans von Bülow, weist unserm Meister einen ersten Platz in der Musikgeschichte aller Zeiten, nicht blos derjenigen der Gegenwart, an. Der und Jener freilich schätzt ihn weniger hoch, rechnet ihn wohl gar mit zu den „Epigonen“. Das sind Schulstreitereien, wie alles Numeriren, Rangiren und Censurengeben für die Kunstbildung wenig förderlich ist. Die Hauptsache bleibt, die Meister und ihre Werke zu kennen; mit der Kritik darüber halte es Jeder nach seinem Geschmack!

Es war im Jahre 1853, als die „Neue Zeitschrift für Musik“ einen „Neue Bahnen“ betitelten Aufsatz brachte, in welchem Robert Schumann den jungen, zwanzigjährigen Brahms als den Meister vorstellte, „in dessen Namen einst der gesammte musikalische Gehalt der Zeit zusammengefaßt sein würde“. Zwar galt Schumann damals in Wort und Werk noch als Mann einer bestimmten Partei, als Führer der Linken jener Zeit – aber was er sagte, wurde auf keiner Seite überhört. Deshalb war die Aufmerksamkeit der gesammten musikalischen Welt dem jungen Brahms in ungewöhnlicher Weise zugewendet und die Begierde, ihn kennen zu lernen, auf Seiten der Gläubigen wie der Mißtrauischen eine gleich starke, vielleicht auch die Enttäuschung: den Akademikern, war er für ihre gewohnten Vorwürfe zu tüchtig

[221]

Johannes Brahms.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

musikalisch, und den Fortschrittlern zu eigenartig musikalisch für ihre billige Begeisterung. So leuchtete der Name Brahms nur eine kurze Kometenzeit; dann war das Verheißungswort Schumann’s vergessen, und der junge Küstler trat für die Menge wieder in die „glückliche Verborgenheit“ zurück. Es war von nun ab für viele Jahre nur eine kleine Schaar sinnesverwandter Musikernaturen, deren Liebling er blieb und die an seine weitere Entwickelung die größten Hoffnungen knüpften. Wenn aber Einer aus dem Kreise dieser Schwärmer ein Heft neuer Lieder von Brahms in die Hände eines singenden Dilettanten zur gefälligen Ansicht gab, so bekam er es in der Regel am achten Tage wieder zurück mit einem verbindlichen Lächeln, aber ohne eigentlichen Dank. Und fragte man einen Dirigenten, dessen künstlerische Ansichten man nicht genau kannte, um die baldige Aufführung eines größeren Instrumentalwerkes von J. Brahms, so that man gut, auf ein Achselzucken und eine ablehnende Bemerkung gefaßt zu sein.

So war für lange Zeit die Durchschnittsmeinung dem Componisten nicht hold, und es muß deshalb mit besonderem Danke Derer gedacht werden, welche sich in jener Periode seiner „undankbaren“ Werke annahmen. Es waren allerdings die Besten aus der musikalischen Künstlerreihe dabei, wie Joachim, Kirchner, Clara Schumann, und nicht zu vergessen Julius Stockhausen, dessen Name mit den Magelonen-Romanzen verflochten bleiben wird. Literarisch suchte der Dessauer Dr. Schubring ihm die Wege zu bahnen. Aber erst, als das erste große Tonwerk von Brahms, das „Deutsche Requiem“ aufgeführt war – das geschah vollständig im Jahre 1868 im Bremer Dome – trat der große Tondichter in den Genuß der allgemeinen „Berühmtheit“ [222] und der Vortheile, welche mit dieser Eigenschaft für die Künstler und ihre Werke verbunden sind. Für das Verständniß und die Würdigung der Werke von Brahms ist von seiner Gründung ab das „Musikalische Wochenblatt“ von E. W. Fritzsch in Leipzig unausgesetzt und energisch eingetreten.

Johannes Brahms wurde am 7. Mai 1833 zu Hamburg geboren. Im Hause des Vaters, welcher in verschiedenen Orchestern thätig war, frühzeitig zur Musik angehalten, hatte er, als er in den eigentlichen Unterricht kam, das große Glück, in Eduard Marxsen einen Lehrer zu finden, welcher schon aus den Schularbeiten des Knaben dessen eigenartiges, tiefes Talent erkannte und dasselbe zu wecken und zu fördern wußte. Vierzehn Jahre alt, zeigte sich Brahms zum ersten Male den Hamburgern in einem eigenen Concerte als Pianist und auch als Componist.

Von da ab nahm er an dem Musikleben seiner Vaterstadt hin und wieder Antheil, nicht mit dem Nimbus eines Wunderkindes, sondern bescheiden und gelegentlich.

In seinem zwanzigsten Jahre fand Brahms durch die Bekanntschaft mit dem ungarischen Violinspieler Remenyi Veranlassung zu einer Kunstreise, auf welcher verschiedene mittel- und norddeutsche Städte besucht wurden. Einzelne unbeabsichtigte Bravourstückchen, daß er z. B. ohne Noten spiele, ganze Sonaten und große Musikstücke ohne Weiteres transponirte, wurden ihm dabei hoch angerechnet. Das beste Erträgniß der Reise waren für Brahms aber wohl die Freundschaftsbande, welche er während derselben geknüpft hatte. In Hannover lernte er Joseph Joachim kennen, in Weimar Franz Liszt und in Düsseldorf Robert Schumann.

„Das muß Clara hören,“ rief dieser, als Brahms zu spielen angefangen.

Auf der Stelle wurde Frau Clara herbeigeholt, eine Musik zu hören, „wie sie noch keine gehört hatte“. Schumann's Enthusiasmus hielt auch nach und drückte ihm die Feder zu dem bereits erwähnten Aufsatze in die Hand, welcher der musikalischen Welt in dem jungen Brahms den Erwarteten vorstellte, der nicht wie die Andern „die Meisterschaft in stufenweiser Entfaltung bringt, sondern, der Minerva gleich, vollkommen gepanzert dem Haupte des Kronion entsprang“. – „Und er ist gekommen,“ schreibt Schumann, „an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms; kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet ... in den schwierigsten Satzungen der Kunst; mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. – Er trug auch im Aeußeren alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener. Am Clavier sitzend, fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kunst hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und laut jubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten – mehr verschleierte Symphonien – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangsmelodie sich durch alle hindurchzieht; einzelne Clavierstücke, theilweise dämonischer Natur, von der anmuthigsten Form; dann Sonaten für Violine und Clavier, Quartette für Saiteninstrumente, und jedes so abweichend vom andern, daß sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen. Und dann schien es, als vereinigte er, als Strom dahinbrausend, alle wie zu einem Wasserfalle, über die hinunterstürzenden Wogen den friedlichen Regenbogen tragend und am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet. Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen im Chor und Orchester ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbare Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möchte ihn der höchste Genius dazu stärken, wozu die Voraussicht da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt! Seine Mitgenossen begrüßen ihn bei seinem ersten Gange durch die Welt, wo seiner Wunder warten werden, aber auch Lorbeeren und Palmen; wir heißen ihn willkommen als starken Streiter.“

Vom Jahre 1854 ab lebte Brahms längere Zeit in Hannover, eine Weile auch in Detmold, wo er die Hofconcerte und den Gesangverein (unter dessen active Mitglieder der Fürst selbst gehörte) dirigirte. Im Uebrigen führte er in den schönen zwanziger Lebensjahren ein herrliches künstlerisches Wanderleben. Seit dem Jahre 1862 hat er Wien zu seiner Heimath gemacht und daselbst auch in einflußreichen Directionsstellungen sich um das Musikleben der österreichischen Hauptstadt große Verdienste erworben.

Wer die innere Biographie des Künstlers kennen lernen will, der suche sie in seinen Werken! Sie erzählen die höchst erfreuliche Geschichte von einer großen Begabung und einem großen Charakter. Ich weiß nicht, wie weit der Sturm, welcher durch die ersten Werke von Brahms dahinbraust, einen Bezug auf des Componisten eigenes Leben hat. Aber gewaltig hat sein Herz in der Lenzeszeit zu pochen gehabt. Wie heftig geht es in jener Fis-moll Sonate zu, welche als Op. 2 Frau Clara Schumann gewidmet ist! Wie ist das riesig und furchtbar im Wüthen und Klagen, wie kindlich rührend, wie unwiderstehlich innig im Bitten und im Sehnen! Ein kühner, kraftvoller Recke, stellte sich der Brahms von zwanzig Jahren sogleich in die Nähe des alten Beethoven, bei dem die Sturm- und Drangperiode gegen das Ende des Lebens sich am stärksten äußerte. Es gehen in diesen Erstlingswerken Gestalten von wundersamer Originalität umher. Manches ist so titanisch, daß eine Zeit, welche noch vollständig von dem freundlichen und humanen Genius Mendelssohn's beherrscht wurde, davon befremdet sein mußte. Vieles ist darin nächtig und schaurig. Dann hat er aber auch wieder Weisen so freundlich ansprechend, als hätten wir sie von der Mutter gehört oder selbst als Kinder gesungen. Wie träumt er sich in seinen väterlichen Freund Schumann hinein, wenn er ein Thema desselben variirt! Man könnte glauben, dieser spräche selbst, wenn nicht da und dort ein schmerzlicher Ausruf erklänge, der dem elenden Schicksale des großen Meisters gilt. Es ist ganz die Weise, wie Schumann selbst Grabreden auf Vater Sebastian Bach in Orgelfugenform gehalten hat.

Dann scheint er wieder einmal musikalische Photographie zu treiben; denn diese absonderlichen Themen, dieses Kreuz und Quer, Hin und Her muß einer Figur gelten, die wirklich gelebt hat; für die reine Erfindung ist es zu regellos. Wie aber seine Phantasie mit allen diesen Gebilden der Leidenschaft, des Humors, der Grazie und der weichsten Empfindung spielt – so frei, so sicher und so groß: das haben, so lange es eine Kunst giebt, gewiß nur wenige Jünglinge gekonnt, und Schumann war ganz in seinem Rechte, wenn er in einem Componisten solcher Jugendarbeiten ein Meistergenie allererster Art ersah. Diese Compositionen taugen freilich nicht als Vorbereitung zum Schlafengehen, überhaupt nicht in den Salon, eigentlich auch nicht in den Concertsaal. Aber gekannt zu werden verdienen sie, und nicht blos von denen, die sich für Brahms speciell interessiren. Ihm ist es jedenfalls nicht leicht geworden, sich aus der Sphäre dieser Werke zu befreien. Denn der Zug zum Maßlosen, welcher in ihnen hervortritt, war nicht blos in der überreichen Natur des Künstlers begründet, sondern er war und ist noch heute das Zeichen der Zeit. Darauf aber beruht zum großen Theil die Größe der wahren Meister, daß sie die Gefahren ihrer Zeit erkennen und überwinden.

Wie Brahms diesen Künstlerkampf geführt hat, das ist für Jünger der Kunst sehr lehrreich zu studiren. Ob das äußere Schicksal ihm hierbei hülfreiche Hand geboten? Es kann sein. Wenn die Serenade in D-dur, welche als Op. 11 nach jahrelangem Zwischenraum den Clavierballaden folgte, mehr ist als eine frei poetische Schöpfung, so deutet sie auf äußerst glückliche Tage. Sie schildert Jugend und Liebe, schöne Abendstunden in mondbeleuchtetem Garten, und auch die drolligen Musikantenstreiche fehlen nicht. Wie die Form an eine Sitte jener guten alten Zeit anlehnt, in welcher noch der manierliche Liebhaber vor das Haus der Angebeteten eine musikalische Ovation zu bestellen für gut fand, so schlägt Brahms in dem Werke auch den Ton jener Periode sehr ergötzlich an. Die G-dur-Menuett, in der Fagotte und Clarinetten eine Hauptrolle haben, klingt in ihrer Gutmüthigkeit und Schwärmerei doch auch ein wenig spießbürgerlicher, als wir dies heute gewöhnt sind, und hat in dieser Mischung von Treuherzigkeit und Spaßhaftigkeit in der neueren Instrumentalliteratur kaum ein anderes Seitenstück, als die Scene der Pifferari in der Harold-Symphonie von Hector Berlioz. Als Op. 16 folgte später noch eine zweite Serenade (A-dur), welche, ähnlich wie Méhul's Oper „Uthal“, die Bratsche zur

[223] führenden Geigenstimme hat und auf die Mitwirkung der eigentlichen Violinen verzichtet. Größere Instrumentalwerke verwandten Inhalts sind noch die beiden Septette für Streichinstrumente in B-dur und G-dur. Auch die unlängst veröffentlichte zweite Symphonie in D-dur tritt dem Stimmungskreise dieser frohbeglückten, freundlich milden, zuweilen übermüthig heiteren Compositionen nahe.

Zeitweilig hat er das Elegische und Weiche seiner Natur so vorwalten lassen, daß vielen seiner Verehrer das Bild des Componisten nur in der Gestalt eines zarten Jünglings in der Seele lebt. So zeigt ihn namentlich ein großer Theil seiner Lieder. „Wie bist Du meine Königin“ und „Die Mainacht“ sind vielleicht die bekanntesten Repräsentanten dieser Gattung Brahms'scher Gesänge, deren Empfindungsweise einst irgend Jemand mit dem Schlagwort „schön und schüchtern“ zu bezeichnen versuchte. Ein Silberglanz liegt über ihnen; sie scheinen unter einer Sonne gesungen, die immer wärmt und niemals brennt. In der neueren Liederliteratur haben sie wenig Verwandtes, vielleicht nur einige der kleinen Lieder von Robert Franz, beispielsweise dessen „Stille Sicherheit“. Man muß direct auf Beethoven's „Adelaide“ zurückgehen, um an den Quell zu kommen, aus dem diese Weisen flossen. Ein musikalischer Milchbruder des edlen Hölty erscheint Brahms in diesen so weitschauenden und doch so decenten Liedern mit der großen Sehnsucht, der großen Anlage zu Glück und Freude und dem kleinen Schleier von Melancholie. Auch quantitativ hat Brahms in seinen Liedern die Dichtungen Hölty's sehr bevorzugt. Dadurch, daß das tiefe, feine Gefühl, welches sich in ihnen ausspricht, doch gleich beim ersten Blick von der sonst gebräuchlichen Musiksentimentalität zu unterscheiden war, haben diese elegischen Lieder sehr auffallen und in der Zeit einen großen Eindruck hervorrufen müssen. Keineswegs aber ist mit ihnen das Wesen von Brahms auch nur als Liedersänger erschöpft.

Die ganze Scala menschlicher Empfindungen hat er durchgenommen und auch (in den neuesten Gesängen bei dem Goethe'schen Walpurgislied und der Herder'schen Edward-Ballade) die schauerlichen Saiten wieder sehr unbarmherzig gerührt. Hervortretend wird man namentlich seinen Humor finden und besonders eine ganz schelmische Spielart desselben, die Ernst und Spaß unbestimmt in einander fließen läßt. Die lamentirende Stelle in der „Botschaft“ von Daumer und die in dem Gedicht von Kopisch (op. 58,2), wo der Geliebte daran denkt, daß er nach Hause muß, sobald es zu regnen aufhört, sind sehr frappante Beispiele hierfür. Wenn die Damen unsern Brahms schon wegen seiner Stimmungen wie einen zweiten Heinrich Frauenlob verehren sollten, so hat er sich ihren Dank noch ganz besonders durch seine Schilderungen und Verherrlichungen liebender Mädchen verdient. Sollte einmal ein Musikgelehrter eine Abhandlung über „das Weib in der Tonkunst“ abfassen, so wird darin gewiß von Beethoven's „Leonore“ und Schumann's „Peri“ sehr viel die Rede sein müssen. Mögen dann aber auch ja nicht die beiden einzig lieben Kinder in den Brahms'schen Gesängen „Von ewiger Liebe“ und vom „Herrn von Falkenstein“ vergessen werden!

Von ihrem Gehalte abgesehen, bieten die Lieder von Brahms Denjenigen, welche sie studiren, noch einen großen formellen Nutzen, nämlich die beste Gelegenheit sich mit dem Stile des Componisten vertraut zu machen und eine Hauptschwierigkeit desselben unvermerkt zu überwinden. Wenn Musikfreunde vor manchen instrumentalen Sätzen des Componisten zurückschrecken, so liegt das weniger daran, daß seine Phantasie zuweilen sich in Gebiete begiebt, die von fern nur grau aussehen, und daß ihre Wege nur strapaziös und schwierig zu übersehen sind, als vielmehr an der Knappheit und Kürze des Ausdrucks, mit der er bedeutungsvolle Stellen erledigt: zwei sehr bekannte Uebergangsstellen im Requiem und im Schicksalsliede sind durch nichts weiter markirt als durch zwei oder drei Hornnoten; die freundlichen Wendungen im zweiten Theile der „Harzreise“ sind immer nur in wenige Tacte zusammengedrängt. Wer nicht in Brahms eingelebt ist, läuft deshalb Gefahr, wichtige Partien zu überhören. Feines und hingebendes Hören verlangt Johannes Brahms, aber man lernt dies auch an seinen Werken und am bequemsten an seinen Liedern, wo der Text vieles aufklärt und an die Hand giebt.

Obwohl Brahms Eigenthümlichkeiten des Stiles besitzt, welche beachtet sein wollen, obwohl manche seiner intimsten und schönsten Sätze für Hörer verloren gehen, die nur bei al fresco-Musik erzogen sind, und obwohl viele seiner Motive und Melodien sich an Menschen wenden, welche innere Musik besitzen und einem Componisten ernstlich nachgehen und nachsingen, so steht er doch weit über dem Verdacht eines „gelehrten“ Tonsetzers, mit welchem Titel ja der Volksmund in seiner Höflichkeit die ungenießbaren Producte scholastischer Seelen abzulehnen pflegt. Manche seiner heiteren und lebenslustigen Compositionen – nebenbei bemerkt, schreiben sich die Wiener an diesen ein Verdienst zu – sind in Räume gedrungen, wo sonst die Claviere fast ausschließlich mit „Klosterglocken“, „Papillons“, Potpourris und ähnlichen Aufgaben beschäftigt sind. So die vierhändigen Walzer. Am häufigsten gespielt werden wohl die „Ungarischen Tänze“ von Brahms. Von Brahms? Nein: Gesetzt von Brahms. So ist genau auf dem Titel zu lesen und damit ist eigentlich ein Mißverständniß ausgeschlossen, welches vor etlichen Monaten viel Staub aufgewirbelt hat. Die ungarischen Tänze hat Brahms nur bearbeitet und nur als Bearbeitungen veröffentlicht, obwohl sie in der That von ihm sehr wohl componirt sein könnten, namentlich von dem Brahms der frühesten Periode, der das Contrastirende liebte. Von den verschiedenen Nationalmusiken, welche in der neueren Zeit an die Stelle der ehemals internationalen und ungetheilten Tonkunst zu treten versuchen, ist die ungarische am frühesten als kunstfähig behandelt worden. Haydn und Schubert bedienten sich gern der unbändigen Rhythmen, die jenseits der Leitha zu Hause sind, wenn sie etwas recht Wild-Keckes mitzutheilen hatten. In der A-dur Symphonie klirren selbst bei Beethoven ungarische Sporen. Heute finden wir Namen deutscher Componisten auf den Titelblättern ganzer „Ungarischer Suiten“. Auch Brahms musicirt gelegentlich eine Strecke als lustiger Magyar. So im Schlußsatze seines G-moll Quartetts und noch neuerdings im Allegretto seiner zweiten Symphonie. Die Stile der Länder, der Meister und der Schulen stehen ihm überhaupt zu Gebote, wie er sie haben will, und in diesem Bewußtsein mag es ihn wohl an passendem Orte einmal gereizt haben, hier einen kleinen jubilus à la Händel zu versuchen, dort – wie in dem neuesten Violinconcert – eine Bach'sche Figur erklingen zu lassen. Ganz in derselben Weise hat Bach zuweilen den Geist des großen Buxtehude vor sich treten lassen; so versetzte sich Beethoven in die fromme Zeit, da noch die lydische Tonart gebräuchlich war. Namentlich die Weisen der Altdeutschen, der Eccard und Prätorius, hat Brahms oftmals und sehr wirksam erneuert in einstimmigen und mehrstimmigen Gesängen. Von den letzteren seien besonders die „Marienlieder“ namhaft gemacht, die zweite Nummer derselben „Mariä Kirchgang“ mit apartem Nachdruck. Sie hat an der Stelle, wo Maria in's Wasser tritt und die Glocken zu läuten anfangen, eine malerische Kraft, welche in der a capella-Literatur nicht überboten werden kann.

Es hätte sich wohl ereignen können, daß Brahms sein Leben als künstlerischer Klausner fortgesetzt und beschlossen hätte, unbekümmert um die große Welt, wie sie um ihn. Da erschien ein Zeitpunkt, an welchem er mit allem Glanze seiner Schätze an's Licht trat. Das war, als er sein „Deutsches Requiem“ schrieb.

Das Werk ist ein Gelegenheitsgedicht im Goethe'schen Sinne. Nach dem Tode der Mutter sang der Sohn dieses hohe Lied vom himmlischen Leben und irdischer Vergänglichkeit, welches seinen Namen unsterblich machen wird. Wenn die katholische Todtenmesse einem Gebete gleicht, einer Bitte zum Herrn, mit den armen Seelen der Entschlafenen am jüngsten Tage gnädig in's Gericht zu gehen, so ist das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms mehr eine Predigt, eine Mahnung an die Trauernden, den Tod als Hingang zur ewigen und wahren Heimath zu feiern. Die starre und seufzervolle Grabesmusik, die verzweifelten Ausbrüche der Todesangst, die bitteren und schneidenden Klagen über die Hinfälligkeit des Menschlichen – Alles das soll nur den Blick nach oben lenken, nach den ewigen Freuden am Throne Gottes, den die ekstatischen Lobgesänge der Seligen umschallen. Das „Requiem“ ist eine Art Doppelgemälde von dem Paradiese und einem andern Orte, den man nicht gerade Hölle nennen kann; denn der Tondichter schildert ihn mit unendlichem Mitleid und mit einem engelmilden Trostbemühen: nämlich unsere Erde, den großen Friedhof, und uns, die zum Tode bestimmten Menschen. Wir besitzen dadurch in dem „Requiem“ eines der allerchristlichsten und schönmenschlichsten Werke, welche die Kunst [224] je hervorgebracht hat, eine Schöpfung, vor deren wohlthuender Seelenwirkung zunächst sogar die Bewunderung schweigt, welche ihrem Urheber gezollt werden muß. Der Tiefe des Fühlens, der visionären Macht der Phantasie, der Unmittelbarkeit und Gluth des Ausdrucks und der universellen Herrschaft über die Tonmittel, durch welche dieses „Requiem“ überhaupt möglich wurde, wird man sich erst nachträglich bewußt. In einer Zeit, welche den Anspruch dramatischer Entwickelung auch auf alle größeren musikalischen Kunstwerke zu übertragen geneigt ist, war es ein Wagniß, mit einer Composition hervorzutreten, die dem scheinbar keine Rechnung trägt. Der Glaube an sein eigenes und das Herz der Menschheit hat aber den Componisten nicht betrogen.

Die schöne Gabe, aus dem Herben Erhebung zu bereiten, hat Brahms noch in manchem anderen Werke bewiesen. So in der „Rhapsodie“, die ein Fragment aus Goethe’s „Harzreise“ musikalisch behandelt. Vorzüglich auch im „Schicksalsliede“, einer Art Duodez-Ausgabe des „Requiem“. Gleich diesem eine Chorcomposition, ist es als solche dadurch besonders interessant, daß sein letzter und entscheidender Theil den Instrumenten allein überlassen bleibt. Eine seiner größeren und anspruchvollsten Chorcompositionen, das „Triumphlied“, hat einen Bezug auf die deutschen Siege im letzten Kriege. Daß Brahms mit seinen Chorwerken unter den lebenden Tondichtern ohne Concurrenten dasteht, wird auch von Denen anerkannt, welche im Allgemeinen sich ein Wenn und Aber reserviren wollen. Aus der Menge seiner großen Instrumentalcompositionen können das Clavierconcert in D-moll, welches Ende der fünfziger Jahre in die Oeffentlichkeit trat, und die noch junge C-moll Symphonie als Werke bezeichnet werden, die in ihrer Gattung dem „Deutschen Requiem“ an Bedeutung gleichkommen.

Um die Stellung des Componisten zur Mit- und Nachwelt zu charakterisiren, wird das Vorstehende genügen. Möge der Himmel, der ihm auch einen starken Körper gab, den Meister Brahms der Kunst noch lange erhalten!

Noch habe ich eine stille Frage zu beantworten. „Nein, verehrte Leserinnen, verheirathet ist er nicht.“





Strahlende Materie.

Es liegt im Charakter der in vieler Beziehung einer Bergersteigung gleichenden Naturforschung, daß sich unterwegs beständig die Aussicht erweitert und an den fernsten Grenzen des Horizonts immer neue Gesichtspunkte auftauchen, aber es haben sich kaum jemals vorher den Naturforschern so kühne Perspectiven eröffnet, wie in unseren Tagen. Die Vertreter der älteren, nunmehr solide gewordenen, aber in ihrer Jugend auch einmal unsolide genug gewesenen Forschungsstufen betrachten es kopfschüttelnd als ein Zeichen des Verfalls der Wissenschaft, daß nicht nur die Zoologen und Botaniker, sondern auch die sogenannten „Exacten“ heutzutage unerhörte Folgerungen ziehen, daß die modernen Mathematiker – sie betonen das allerdings nicht gut klingende Beiwort sehr höhnisch – nicht mehr an Länge, Breite und Tiefe der Dinge genug haben, sondern von einer vierten Dimension zu sprechen beginnen, und daß einige moderne Physiker außer dem festen, flüssigen und gasförmigen Zustande der Stoffe noch einen vierten, den sie den strahlenden Zustand nennen, anzuerkennen geneigt sind.

Bei Gelegenheit der im Winter von 1877 auf 1878 den Physikern Pictet und Cailletet gelungenen Verdichtung der drei bis dahin unbezwungen gebliebenen Gase Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff zu flüssigen und festen Körpern, habe ich den Lesern den „Gartenlaube“ (Jahrgang 1878, Nr. 5) kurz darzulegen gesucht, wie die Stoffe durch Wärme-Erhöhung und Druckverminderung allmählich aus dem festen in den flüssigen, und dann in den gasförmigen Zustand übergeführt werden (und umgekehrt durch Wärme-Entziehung und Druckerhöhung aus dem gasförmigen in den flüssigen und festen Zustand), und wie man sich das verschiedene Verhalten der Stoffe in diesen drei Aggregatzuständen dadurch erklärt, daß die kleinsten Theile der Stoffe, die sogenannten Atome, oder besser Molekeln, dabei mehr oder weniger von einander entfernt werden und demgemäß ungleich beweglich sind. Schon im Jahre 1816 hatte sich der nachmals berühmte, damals noch jugendliche Physiker Faraday gefragt, ob denn nun der gasförmige Zustand das letzte erreichbare Ziel des Auseinanderrückens der Molekeln sei, oder ob es jenseits des gasförmigen noch einen ferneren Zustand der Materie geben könnte, der wieder ebenso weit von ihm entfernt sei, wie er selbst von dem tropfbar flüssigen, und der deshalb auch seinen besondern Namen verdienen würde, nämlich den der „strahlenden Materie“.

Um diesen neuen Ausdruck und Begriff in seiner ganzen und bedeutenden Tragweite zu verstehen, müssen wir uns vorher einen Augenblick mit der modernen Gastheorie beschäftigen, welche namentlich durch die deutschen Physiker Clausius in Bonn, Loschmidt in Wien und Kundt in Straßburg, sowie durch den englischen Physiker Clerk Maxwell trotz ihrer verhältnißmäßig späten Inangriffnahme zu einem der abgerundetsten Gebiete der physikalischen Chemie erhoben worden ist. Wir haben uns nach ihren Forschungen in jedem gasförmigen Stoffe die kleinsten Theilchen desselben, die Molekeln, als frei durch einander wirbelnd vorzustellen, etwa wie die einzelnen Thierchen eines Mückenschwarms, der trotz der heftigen Bewegung in seinem Innern seinen Platz über dem Sumpfe kaum verändert und sich deshalb einer in einem Behälter eingeschlossen Gasmasse vergleichen läßt. Aus dieser freien Beweglichkeit und Entfernung der Molekeln von einander erklären sich nun leicht die beiden hervorstechendsten Eigenschaften der Gase, ihre Neigung, sich in anderen Gasen auszubreiten, und ferner ihre Zusammendrückbarkeit, die indessen bekanntlich nicht ohne Widerstand vor sich geht, wie wir an jeder luftgefüllten Blase mit widerstandsfähiger Membran direct mit der Hand fühlen können.

Wenn nämlich ein Gas in irgend einem Behälter eingeschlossen ist, so werden die Molekeln desselben in ihrem Umherschwärmen beständig gegen die Wandungen stoßen und dort wie höchst elastische Billardbälle zurückprallen. Diese einem Bombardement vergleichbaren, immerfort wiederholten Stöße der kleinsten Theile sind es also, welche uns eine sehr greifbare Erklärung geben von dem, was wir die Elasticität oder Spannkraft der Gase nennen, und womit wir – durch das Zusammenwirken von Trillionen solcher kleinen Stöße – unsere Gas- und Dampfmaschinen treiben. Da nun diese Spannkraft bei gleicher Temperatur für die verschiedensten Gase genau dieselbe ist, so müssen gleiche Raumtheile (Volumina) der verschiedensten Gase eine gleiche Menge von Molekeln enthalten. Man rechnet, nebenbei bemerkt, auf einen Fingerhut voll Gas sechs Trillionen Molekeln, eine Zahl, deren Bedeutung Professor Kundt gelegentlich dadurch begreiflich zu machen suchte, daß er sagte, wenn eine Buchdruckerei im Stande wäre, alle Tage einen Lexikonband von drei Millionen Buchstaben zu drucken, sie dennoch 64,000 Jahre hindurch ihre Arbeit fortsetzen müßte, um soviel Buchstaben zu drucken als Molekeln in einem Fingerhut voll Luft vorhanden sein müssen.

Aus diesen kleinen Stößen erklärt sich nun ferner leicht das von dem französischen Physiker Mariotte (gest. 1684) aufgestellte und nach ihm benannte Gesetz, nach welchem die Spannkraft der Gase im umgekehrten Verhältniß zu ihrem Volumen steht. Denn wenn wir eine Gasmasse so zusammenpressen, daß sie nur noch die Hälfte des früheren Raumes einnimmt, so wird die Anzahl der Stöße gegen die Wandungen doppelt so groß sein müssen, wie vorher. Die Molekeln jedes einzelnen Gases haben nun ein anderes Gewicht, wie sich schon daraus ergiebt, daß gleich große Volumina verschiedener Gase ein sehr verschiedenes Gewicht besitzen, obwohl sie, wie wir eben erfahren haben, eine gleiche Anzahl von Molekeln enthalten. Da sie nun trotzdem, wie wir ebenfalls erfuhren, durch ihre Stöße denselben Effect ausüben, so müssen diejenigen eines jeden Gases eine verschiedene Geschwindigkeit besitzen, und zwar müssen sich die schwereren um so viel langsamer bewegen, als die leichteren, wie sie schwerer sind als diese, damit immer der gleiche Spannungseffect heraus kommt. Man kann also aus diesen Spannungsverhältnissen und den Atomgewichten die mittleren Geschwindigkeiten der verschiedenen Gasmolekeln berechnen, und man hat sie für den leichtesten der bekannten Stoffe, für das Wasserstoffgas, auf 1698 Meter in der Secunde gefunden, während sie für [225] Sauerstoff und Stickstoff nur etwas über den vierten Theil dieser Zahl, für Quecksilbergas nur den zehnten Theil derselben beträgt.

Da ferner die Spannkraft eines eingeschlossenen Gases mit der Temperatur zunimmt, so müssen, da hierbei doch keine Vermehrung der Molekeln stattfindet, die Geschwindigkeiten derselben entsprechend zunehmen, und in der That sieht die neuere Physik diese beinahe nie ruhenden Molecularbewegungen geradezu als das Wesen der Wärme an, und man hat daher auch einen Zustand berechnet, in welchem alle diese Bewegungen aufgehört haben und die kleinsten Theile der Stoffe zur Ruhe gekommen sind; es ist dies der sogenannte „absolute Nullpunkt“, welcher 273 Centesimalgrade unter dem Gefrierpunkte des Wassers liegt.

Diese Betrachtungen über die Bewegung der Gasmolekeln gewinnen nun eine noch weit größere Wichtigkeit, wenn wir das Verhältniß derselben zu einander in’s Auge fassen: die sogenannte Diffusion oder gegenseitige Durchdringung der Gase. Da die Gasmolekeln in gerader Richtung mit der ihnen eigenen Geschwindigkeit aus einander gehen, so werden sich unter gleichen Verhältnissen natürlich die leichtesten und geschwindesten Molekeln, z. B. die des Wasserstoffgases, am schnellsten ausbreiten. Natürlich könnte das nur in einem vollständig leeren Raume mit der berechneten und oben angegebenen Geschwindigkeit vor sich gehen, denn im gaserfüllten Raume, wie er auf der Erde beinahe überall vorhanden ist, hindern die Molekeln sich fortwährend gegenseitig im geradlinigen Fortfliegen, indem sie auf einander prallen und sich zurückwerfen, sodaß ihr Weg stets nur ein zickzackförmiger sein kann. Die für den Naturhaushalt so wichtige Geschwindigkeit der Ausbreitung eines Gases in dem andern (z. B. der frischen Luft in der verdorbenen, der warmen in der kalten, der tödlichen Gase in geschlossenen Räumen etc.) wird sich also wesentlich nach dem mittleren Weg richten, den die Molekeln, ohne auf einander zu stoßen, zurücklegen können. Es ist dies die von Clausius so genannte freie Weglänge, die sich ebenfalls für jedes Gas als eine unter bestimmten Verhältnissen sich gleichbleibende Zahl berechnen läßt. Diese mittlere freie Weglänge ist unter den gewöhnlichen Druckverhältnissen außerordentlich klein, wegen der ungeheuren Zahl von Molekeln, die jeden Winkel erfüllen, und wie der Mensch in einem ungeheuren Gedränge, so kann auch das einzelne Molekel im Verhältniß zu der ihm innewohnenden Geschwindigkeit nur äußerst langsam vorwärts kommen.

Allein die Physik hat uns mit Mitteln versehen, den Molekeln freiere Bahn zu schaffen. Wir können mit der Luftpumpe die Molekelzahl in einem Glasgefäße sehr vermindern, obwohl von der Erreichung eines wirklichen „Vacuums“ dabei keine Rede sein kann. Durch chemische Mittel, indem man nämlich einen mit Wasserdampf oder Kohlensäure gefüllten Raum erst auspumpt und dann einen weiteren Theil dieser Stoffe durch Chemikalien auffangen läßt, kann man diese Verdünnung noch viel weiter treiben, und so hat z. B. der englische Chemiker Crookes die hohe Verdünnungsziffer von 1/20000000 erreicht. In einer Glaskugel von 13,5 Centimeter Durchmesser, die vorher ungefähr eine Quadrillion Molekeln enthalten haben mag, wären bei einer Verdünnung auf ein Millionstel immer noch eine Trillion Molekeln, also eine sehr beträchtliche Zahl vorhanden, immerhin muß dadurch die „mittlere freie Weglänge“ so vergrößert werden, daß sie, sichtbar gemacht, ohne Vergrößerungsgläser erkennbar ist; die Molekeln befinden sich also in einer merklichen Annäherung an jenen freien Zustand, den man als den strahlenden bezeichnet hat, weil sich in ihm jedes Molekel geradlinig mit der ihm eigenen großen Geschwindigkeit ungehindert fortbewegen würde.

Die Molekeln selbst sind so klein, daß wir niemals hoffen können, sie zu sehen, aber ihr Verhalten in dem stark verdünnten Raume ist so verschieden von alledem, was wir in unseren lufterfüllten Experimentirzimmern sehen, daß wir, ihre Wirkungen beobachtend, in eine neue Welt zu blicken glauben und ihnen gegenüber nicht ohne Grund von einem vierten Zustande der Materie sprechen. Die sehr stark vergrößerte Weglänge der Molekel erzeugt in stark luftverdünnten Kugeln, Cylindern und Röhren sichtbare Wirkungen. Wir sind nämlich durch verschiedene Mittel im Stande, in solchen Gefäßen Molekelströme zu erzeugen, die dann sehr merkwürdige mechanische, thermische und optische Erscheinungen hervorbringen, welche wohl größtentheils davon abhängen, daß die Molekeln mit einer sonst nicht vorkommenden Heftigkeit gegen die Wandungen der Gefäße und gegen einander anprallen. Solche Mittel, Molekelströmungen von außen her in luftverdünnten Behältern anzuregen, bieten namentlich die Wärmestrahlung und elektrische Entladungen von größerer Intensität. Jeder meiner Leser kennt wahrscheinlich die von William Crookes erfundene sogenannte Lichtmühle, von welcher die „Gartenlaube“, Jahrgang 1876, Nr. 13 (Blätter und Blüthen) eine ausführlichere Beschreibung gebracht hat. Die strahlende Wärme des Sonnenlichtes oder andere Wärmequellen setzen hierbei vermöge der von ihnen erzeugten Molekelströme, je nach ihrer Stärke, ein kleines Schaufelrad in langsamere oder schnellere Bewegung, sodaß durch die Schnelligkeit der Bewegung die Stärke der Strahlung gemessen wird, weshalb man den Apparat auch Radiometer oder Strahlungsmesser nennt.

Wenn man an einem solchen stark luftverdünnten Glascylinder zwei Metallpole angebracht hat, durch die man die Entladungen eines Inductionsapparates in demselben hindurchleiten kann, so erzeugt man einen ähnlichen vom negativen zum positiven Pole gehenden Molekelstrom, der ein kleines Schaufelrad, welches in der Mitte des Behälters angebracht ist, treibt. Crookes hat bei diesem Versuche die hübsche Veränderung angebracht, daß er in der Richtung des Stromes ein Scheibchen gestellt hat, welches wie die Schütze einer Wassermühle den Molekelstrom abhält, die Schaufeln des Rades zu treffen. Nun haben aber schon früher deutsche Physiker gezeigt, daß man durch einen starken, dem Cylinder genäherten Elektromagneten den geradlinigen Strom der Molekeln ablenken und zu sich herüberziehen kann, sodaß er einen dem Magneten zugekehrten Bogen macht und dadurch oberhalb oder unterhalb des Mühlenwehrs dennoch auf das Rad geleitet werden kann, welches dabei bald wie ein ober- und bald wie ein unterschlächtiges Wasserrad in Bewegung gesetzt wird.

In seinem kürzlich erschienenen Vortrage: „Strahlende Materie oder der vierte Aggregatzustand“ (Leipzig, 1979) hat William Crookes noch eine fernere Anzahl sehr hübscher Experimente beschrieben und durch Abbildungen verdeutlicht, welche aber nicht wie die soeben beschriebenen auf Erfahrungen beruhen, die von ihm zuerst gemacht worden sind, sondern vielmehr schon viel früher durch Experimente der deutschen Naturforscher Kundt, Hittorf, Eugen Goldstein, Reitlinger, Kuhn und Anderer bekannt waren. Sie betreffen namentlich die optischen, thermischen und magnetischen Erscheinungen, welche die elektrischen Entladungen in diesen luftverdünnten Röhren hervorbringen. Wir können hier nur die merkwürdigsten derselben kurz erwähnen.

Zunächst wurde festgestellt, daß alle diese Erscheinungen sehr von dem Grade der Verdünnung abhängen. Indem man in solche evacuirte Behälter Stoffe bringt, die durch Erhitzung Gas entwickeln, welches sie beim Erkalten wieder aufsaugen, kann man alle Grade von Verdünnung in demselben Apparate hervorbringen. Im Dunkeln sieht man nun, wie sich um den als „Kathode“ bezeichneten negativen Pol eine dunkle Zone bildet, die sich mit zunehmender Verdünnung verbreitert, während der übrige Theil des Rohres in hellem elektrischem Lichte erstrahlt. Verschiedene Physiker nehmen an, daß die Ausdehnung dieses dunklen Streifens die bei der betreffenden Verdünnung statthabende freie Weglänge bezeichnet, sofern an ihrer Grenze die fortströmenden Molekeln in größerer Menge mit den zurückkehrenden zusammentreffen. Das theoretisch Vorausgesetzte wird hier mit leiblichen Augen gesehen und auf ähnliche Weise erklärt man sich auch die eigenthümliche Schichtung des elektrischen Lichtes in solchen Röhren, die namentlich in der Nähe des positiven Poles statt hat.

Dieses Strömen der Molekeln ist nun von einer sehr starken Phosphorescenzerregung begleitet, die sich an den Innenwänden des Glases markirt. Wie es scheint, erregt das Bombardement der in gerader Linie von dem negativen Pole ausstrahlenden Molekeln auf der gegenüberliegenden Glaswand durch sein heftiges Aufprallen, wahrscheinlich auch durch die zugleich entwickelten chemischen Strahlen („Gartenlaube“ 1880, Seite 11), ein starkes Phosphoresciren, und zwar phosphorescirt Uranglas schön laubgrün, weiches deutsches Glas in einem hellen Apfelgrün, hartes englisches Glas blau.

Durch dieses Phosphorescenzlicht bildet sich der negative Pol auf der ihm gegenüberstehenden Glaswand nach seiner Gestalt leuchtend ab, gleichviel an welcher Stelle der positive Pol [226] in den Behälter eintreten mag. Es findet also ein geradliniges Abschleudern der Molekeln von dem negativen Pole senkrecht zu dessen Oberfläche statt. Ja noch mehr, dieser gerade ausgehende Strom projicirt die gesammte Oberflächenbeschaffenheit der Kathode auf die gegenüberliegende Wand. Eugen Goldstein in Berlin hat dies in einem sehr schönen, durch Crookes nicht erwähnten Versuche dargethan, indem er als Kathode eine scharf geprägte Münze anwendete. Diese Münze erschien alsbald durch Phosphorescenzlicht leuchtend auf der gegenüberliegenden Glaswand und konnte daselbst photographirt werden, zum Beweise, daß die chemischen Strahlen eine große Rolle dabei spielen.

Ein diesem Strom entgegengestelltes, niederlegbares Kreuzchen erschien in dem an der gegenüberliegenden Glaswand auftretenden Lichtschein als Schatten, wie Hittorf und Goldstein beobachtet haben, und wenn man nun das Kreuzchen niederlegte, so erschien die Stelle des Schattenkreuzes heller leuchtend als die Umgebung und verhielt sich also ähnlich wie die menschliche Netzhaut im Auge, die uns ein helles Kreuz zeugt, wenn wir von dem dunklen Kreuze im Fenster nach längerem Anschauen das Auge in einen dunklen Winkel richten, welches Experiment einige fromme Patres im siebenzehnten Jahrhundert zu den christlichen Wundern gerechnet haben. Es findet also eine Art Ermüdung der Glasfläche, ähnlich derjenigen der thierischen Netzhaut, an den länger vom Lichte beschienenen Stellen statt, und die vorher beschatteten Stellen zeigen sich geneigter, vom Lichte erregt zu werden.

Wie Hittorf und andere deutsche Forscher lange vor Crookes beobachtet haben, zeigen verschiedene mineralische Substanzen, von dem Kathodenlichte bestrahlt, ein viel stärkeres Leuchten als das Glas, allein Crookes scheint zuerst beobachtet zu haben, daß manche Diamanten hierbei mit der Helligkeit einer brennenden Kerze strahlen („Gartenlaube“ 1880, Seite 12).

Sehr merkwürdig sind ferner die Beobachtungen, welche Hittorf über die hohen Temperaturen gemacht hat, welche durch die von der Kathode ausgehenden Strahlen erzeugt werden können. Indem Crookes dem negativen Pole die Gestalt eines kleinen Hohlspiegels gab, kreuzten sich die von allen Punkten desselben senkrecht ausgehenden Strahlen in einem Brennpunkte, in welchem ein daselbst befinnliches Stückchen Iridium, eines der am schwersten schmelzbaren Metalle, schmolz.

Wir müssen bei dieser Gelegenheit auf einen unliebsamen Nebenumstand die Aufmerksamkeit der deutschen Leser richten, aber wir wünschen, daß ihn auch die ausländischen beherzigen möchten. Crookes hat in seinem oben erwähnten, aus der vorjährigen Jahresversammlung der britischen Naturforschergesellschaft gehaltenen Vortrage alle diese Experimente so dargestellt, als ob dieses ganze Gebiet höchst merkwürdiger physikalischer Erscheinungen zuerst von ihm eröffnet und entdeckt worden wäre. Und was noch schlimmer ist, er hat auch in seinen den wissenschaftlichen Gesellschaften Englands vorgelegten Originalabhandlungen das gleiche Verfahren eingeschlagen. Nun gehören ihm aber von allen hier im Fluge skizzirten Experimenten höchstes die, bei denen es sich um die mechanische Wirkung in Bewegung gesetzter Molekeln handelt, als erstem Entdecker erb- und eigenthümlich zu; die erwähnten optischen, thermischen und magnetischen Erscheinungen sind lange vorher ausführlich von deutschen Forschern, nämlich von Hittorf (seit 1869), E. Goldstein, Reitlinger und Anderen in den Schriften der Berliner und Wiener Akademie der Wissenschaften, in Poggendorff’s Annalen der Physik etc. ausführlich beschrieben worden. Es ist möglich, daß Crookes diese in Deutschland längst bekannten Entdeckungen, ohne sie zu kennen, noch einmal gemacht hat, aber auch jetzt, nachdem er über diesen Sachverhalt genau unterrichtet worden ist, hält er es für unnöthig, die Priorität der deutschen Forschung auf diesem Gebiete zu erwähnen.

Wir würden eine solche betrübende Thatsache nicht vor ein so großes Publicum, wie das der „Gartenlaube“, bringen, wenn sie vereinzelt dastände, aber leider ist sie nur ein Glied in einer großen Reihe ähnlicher Erscheinungen, in welcher englische Forscher sich wissentlich und geflissentlich die Priorität von Entdeckungen zuschreiben, die Jahre lang vorher in Deutschland gemacht worden sind. Schreiber dieses könnte dafür persönliche Erfahrungen beibringen, wenn es ihm nicht widerstrebte, in eigener Sache zu plaidiren. Und oft mag eben eine mildere Auffassung dieser Vorkommnisse am Platze sein. Während der deutsche Gelehrte, so viel es ihm möglich ist, die wissenschaftlichen Journale seines Faches aus allen Culturstaaten verfolgt, kümmert sich der englische Gelehrte wenig um dieselben. Die Wissenschaft isolirt sich auf dem Insellande ebenso wie die Politik. Daher kommt es, daß der englische Gelehrte, unbekannt mit den Fortschritten der Wissenschaft auf dem Continente, oft auf mühevollen Wegen Entdeckungen macht, die hier seit Jahrzehnten bekannt sind. Im vollen Bewußtsein der selbstgemachten Entdeckung ignorirt er dann die von fremder Seite erhobenen Prioritätsansprüche völlig und scheint es nicht zu empfinden, daß er wider Willen den Eindruck eines Usurpators und Plagiators macht. Abgesehen von allen nationalen und persönlichen Empfindlichkeiten muß es aber auf jeden Freund des Fortschritts einen höchst betrübenden Eindruck machen, zu sehen, wie oft unzweifelhaft bedeutende Kräfte jenseits des Canals sich in einer für die Wissenschaft beinahe völlig unfruchtbaren Arbeit erschöpfen, indem sie längst entdeckte und bekannte Dinge noch einmal und immer wieder von Neuem entdecken, statt daß sich die Forscher der verschiedenen Nationen in dieser großen Culturarbeit gegenseitig stützen und ergänzen sollten zu einem schnelleren Fortschreiten vermittelst einer möglichst weitgetriebenen Arbeitstheilung.

Die „Gartenlaube“ hat ihre Stimme oft – zuletzt in dem Artikel über Gay-Lussac – in diesem Sinne erhoben, und man kann diese Mahnung nicht oft genug wiederholen. Denn noch immer ist die Summe unseres Wissens gering gegen die Masse dessen, was wir nicht wissen, und darum keine Arbeitskraft auf dem unendlichen Gebiete der Forschung entbehrlich.

Doch kehren wir von dieser Abschweifung zurück zu der strahlenden Materie! Welche Hoffnungen muß nicht ein Forschungsgebiet erwecken, in welchem wir jene kleinsten Theile, von denen schon die alten Philosophen träumten, daß sie die Welt aufbauen, von den Hemmnissen des Atmosphärendruckes befreit, alle ihre Kräfte entfalten sehen! „Wir haben thatsächlich,“ sagt Crookes, „das Grenzgebiet berührt, wo Materie und Kraft in einander überzugehen scheinen, das Schattenreich zwischen dem Bekannten und Unbekannten, welches für mich immer besondere Reize gehabt hat. Ich denke, daß die größten wissenschaftlichen Probleme der Zukunft in diesem Grenzlande ihre Lösung finden werden und selbst noch darüber hinaus; hier, so scheint mir’s, liegen letzte Realitäten.“

In der That dürfte dies nicht zu viel gesagt sein; denn an den Grenzen des geballten Stoffes der Weltkörper, jenseits ihrer Atmosphären, muß ja eine große Wirksamkeit der strahlenden Materie beginnen, und wir können noch nicht einmal ahnen, welche Rolle ihr spätere Forscher in der Weltentstehung und in der Wechselwirkung der Himmelskörper zuerkennen werden.

Carus Sterne.



Das Frühlingsblümchen.
Erzählung von A. Godin.
Fortsetzung.

Isen hielt inne und blickte träumerisch in’s Weite.

„Verzeihen Sie,“ sagte er nach einer Weile, „verklungene Jahre zogen an mir vorüber, wie eine Wolke um Sonnenuntergang – erst farblos, dann von Purpur und Gold umsäumt, endlich zerfließend. „Es war doch eine schöne Zeit!“ Er strich sich das dunkle Haar zurück. „Sie kennen den Ort nicht? Nur ungenügend läßt er sich beschreiben, und doch gehört die Scenerie zu Allem, was Sie hören sollen. Wie ein Kindlein in der Wiege liegt das grüne Kleinod dem schwimmenden Wasser im Schooße, von Binsen umsäumt, in leiser Hebung aufsteigend – nichts als ein rings von Wellen umspülter Garten, in dessen Mitte ein lichtes Haus steht, gleich Dornröschens Schloß von Rosenhecken bewacht. Farbige Beete blicken aus grünem Rasen und unter prächtigen Baumgruppen hervor, verstohlene, schattige [227] Lauben, in denen man träumen könnte bis zum jüngsten Tage, bieten Ausblick auf den See.

Unter alten Bäumen halb versteckt, tief am flachsten Ufersaum, steht das Gärtnerhaus, kaum hundert Schritte vom Schlößchen entfernt. Der Gärtner, ein rüstiger, kurz angebundener Mann, war bei meinem Auslanden behülflich; seine zur Castellanin bestellte Frau empfing mich auf der Schwelle des mir angewiesenen Asyls, in das ich einzog wie ein Kind, das zur Taufe getragen wird. Nie hatte ich mich hülfloser, trostloser gefühlt. Auch hier, in dieser Einsamkeit, war der erste Blick, der mich traf, ein Blick des Erbarmens. So weit mein Gedanke drang, sah er nichts als ein uferloses Meer von Traurigkeit.

Nachdem ich im Gartensaale untergebracht war, rief ich Frau Brunner heran, um einige Fragen an sie zu richten. Die schlichte, verständige Weise, mit der sie Auskunft gab, berührte mich angenehm. Die Frau war noch ziemlich jung, aber längst verblüht, oder verhärmt, ein müdes, abgearbeitetes Gesicht. Offenbar freute sie sich über den Einzug eines Gastes, nachdem die Insel länger als ein Jahr verödet geblieben.

‚Im Winter sieht man hier ohnedies keine Menschenseele,‘ sagte sie, ‚und der Winter dauert lange genug. Wenn es friert, sind wir wie am Ende der Welt; selten ist das Eis so fest, daß man sich je trauen könnte, darüber zu Lande zu gehen. Dann können die Kinder nicht zur Schule; der Doctor ist schwer zu bekommen, und doch wird alle Augenblicke Eines krank. Unser Haus drunten liegt feucht; da husten und fiebern die Kinder, ehe man sich’s versieht. Der Sommer macht freilich Vieles wieder gut, wenigstens war es früher so. Wer an den See kommt, fährt gern einmal zu uns herüber, aber das hat aufgehört, seit Prinzessin Theodora‘ – ihre Augen flossen über. ‚O, die war gut,‘ sagte sie klagend.

‚Der Fürst hat mir einen Auftrag mitgegeben,‘ erinnerte ich mich, ‚ich soll das Frühlingsblümchen von ihm grüßen. Wer ist das Frühlingsblümchen?‘

‚Ach, den Namen hat die Prinzessin unserem Mädle aufgebracht. Aber ich bitt’ schön, sagen Sie nicht so zu ihr! Der Beiname hat sich herumgeredet; anfangs hießen sie nur die Herrschaften so; später meinte jeder Bursch, er dürfte das Kind so rufen; da hab’ ich mir’s verbeten. Wie’s aufkam, war die Anna ein kleines Ding; jetzt ist sie gefirmelt und bald dreizehn – da schickt sich’s nicht mehr, daß ihr was Apartes anhängt.‘

Ich hörte kaum mehr zu.

‚Meinen Auftrag will ich aber selbst ausrichten,‘ sagte ich, um dem Bericht ein Ende zu machen, der mich wenig interessirte. Die Frau mochte das herausgehört haben.

‚Die Anna wird nachher das Essen bringen,‘ sagte sie verschüchtert. ‚Ich hab’ nur Sorge, ob es dem Herrn auch schmeckt.‘

Als sie gegangen war, schloß ich die Augen. Der Transport hatte mich ermüdet – Alles ermüdete mich in dieser Zeit. Der helle Tag, die Fahrt über den See, die ganze Frühlingsphysiognomie der Welt verstimmten mich; ich selbst kam mir dazwischen vor wie eine unauflösliche Dissonanz.

Glockenhelles Lachen weckte mich nach geraumer Zeit aus dem Halbschlummer. Fast zugleich hörte ich Joseph’s verweisendes: ‚Pscht! Pscht!‘ Er streckte sorglich den Kopf durch die Thür.

‚Ist das Essen gebracht worden?‘ fragte ich. ‚Laß das Kind herein!‘

Gleich darauf trug Joseph den gedeckten Tisch neben mein Sopha; ihm auf dem Fuße – ich sehe sie noch – ein kleines, feines Ding, schmächtige Glieder, ein zartes helles Gesichtchen. Lichtbraune Flechten hingen ihr schwer über den Rücken nieder; die Füße berührten nur leicht den Boden; um so fester hielten ihre Hände eine Schale voll purpurrother Erdbeeren, auf welche sie die Augen so unverwandt heftete, als könnten sie ihr verschwinden.

Sowie ich sie sah, entschlüpfte mir, was ich ungesagt lassen sollte:

‚Das Frühlingsblümchen!‘

Große heitere Augen, klar wie Quellwasser, trafen mich mit plötzlichem Aufschlag, und mir ward dabei wie Einem, der friert und ganz unerwartet in die Sonne tritt. Zum ersten Male wieder begegnete ich einem Blick, der nicht Mitleid sprach, sondern Freude. Die Kleine stellte mit leichtem Knix ihre Früchte auf den Tisch; ihr Finger preßte sich eine Secunde lang auf den lächelnden Mund.

‚Verbotenes Blümchen,‘ sagte sie mit reizender Schelmerei.

Mir geschah, was mir seit vielen Tagen nicht geschehen: ich lachte.

‚Darf man es nicht einmal bei seinem Namen grüßen?‘ sagte ich in so gutem Humor, daß meines alten Joseph’s runzliges Gesicht sich plötzlich erhellte, ‚der Fürst hat es mir ja höchst eigenhändig aufgetragen.‘

‚Dank schön! Hier bei uns giebt’s aber gar keine andern Blumen als lauter, lauter Rosen. Sie werden sehen. Die schlüpfen überall heraus; sie gucken sogar vom Birnbaum herunter. Dann wird’s schön. O, es soll Ihnen schon hier gefallen; es ist so prächtig, daß wieder einmal Einer bei uns ist. Ich war so froh, wie die Mutter mir das sagte, als ich heim kam.‘

‚Warst Du denn fort?‘

‚Freilich, bei den Nönnchen drüben, den ganzen Winter lang, da hab’ ich noch Handarbeit gelernt, ehe ich mit der Klosterschule fertig war. Sie hätten mich gern noch länger da behalten, im Sommer brauchen mich aber die Eltern daheim; da giebt’s im Garten zu thun, und ich muß die Buben warten und der Mutter sonst allerlei helfen; das ist lustig. Ihnen will ich auch helfen, wenn Sie’s erlauben, Herr.‘

Das Alles klang wie Quellengeriesel und wehte mich so frisch an, als wüßte ich schon in diesem ersten Augenblicke, daß mir dieses Kind in der That helfen sollte aus dem fremden Mißmuth in die heimathliche Freude; denn Freude war meine Lebenslust gewesen, lange, schöne Jahre hindurch. Wer könnte auf die Dauer des Sonnenscheins entbehren? Die kleine Anna ward mir zum Sonnenstrahl. Mochte die Stimmung, mit der ich den Tag begann, auch noch so grämlich sein, sie wich, sobald das offene Gesichtchen mich anlächelte. Man schämte sich fast, mürrisch zu bleiben dieser frohherzigen Unschuld gegenüber, die auf jedem ihrer grünen Pfade das ganze Weltall zu besitzen schien und in Wahrheit nichts besaß als ihre eigenen Flügel. Woher auch diese? Vater und Mutter hatten sie ihr wahrlich nicht mitgegeben. Ein Duft und Schimmer umgab die Kleine, als gehörte sie zur Familie der Blumen, mit denen sie als Gärtnerkind umging, seit sie die Augen aufgeschlagen. Nie ist wohl ein Kind zwischen so viel Rosen gewandelt.

Was bereits in Knospe stand, als ich eintraf, wachte bald zu überströmender Schönheitsfülle auf. Rosen überall! Sie wiegten sich hoch auf schlanken Stämmen, schmiegten ihre duftschweren Häupter dicht an die Erde, hingen dort in graziösen Guirlanden über Hecken nieder, rankten sich hier aufkletternd um alte Baumriesen; es war eine Schwelgerei von Duft und Farben. Jeder leiseste Windhauch trug berauschendes Aroma nach dem See; jede dieser köstlichen Rosen schien zu winken, zu grüßen: Schau mich an! Ich bin die Schönste. Vom zartschimmernden Weiß bis zum glühendsten Purpur waren sie alle da; man wandelte wie in König Laurin’s Zaubergarten.

Als ich die kleine Anna zwischen dieser Pracht sah, begriff ich erst den Namen recht, welchen ihr die Prinzessin gegeben. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, sie mit einer dieser Rosen zu vergleichen; denn sie war noch zarter als die zarteste derselben. Es war lieblich, das feingliedrige, graziöse Kind als Gärtnerin zu sehen; sie duldete kein dürres Aestchen, das den Blick kränken konnte; behutsam streifte sie mit den kleinen Fingern hinweg, was nicht mehr von schimmernder Frische war. Ihr zuzuschauen war überhaupt meine Freude. Die Füßchen waren immer beflügelt, als wollten sie sich in die Luft erheben. Stets mit irgend einer Last beladen, flog sie bald hier bald dorthin, gleich einer Biene; jedes lebende Wesen schien ihrer zu bedürfen; Jeder rief nach ihr. Obgleich sie aussah wie ein Heimchen, erwiesen sich die jungen, biegsamen Glieder gewandt, sogar kräftig. Zuweilen schiffte Joseph mich nach dem See hinaus; dann führte Anna das zweite Ruder, und wir plauderten. Wenn das Wasser plätscherte und der Abendwind durch das Schilf strich, klang das wie Begleitung zu der hellen Kinderstimme, die immer etwas zu sagen oder zu singen hatte. Es ergötzte mich, ihr zuzuhören; sie hatte eigene Gedanken, die in frischester Naivetät zum Ausdruck kamen, und erfand sich die originellsten Bilder und Vergleiche. Auch eine Menge der schönen Volkslieder wußte sie, die wie sommeriges Gespinnst von Ort zu Ort fliegen, sich bald hier, bald da festhäkeln. Sonntags fuhr sie mit der Mutter und

[228]

Einzug des Siegers vom Wagenrennen. Von A. de Courten. Nach einer Photographie aus dem Verlage der „Photographischen Gesellschaft in Berlin“ auf Holz übertragen.

[229] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [230] dem ältesten Buben ganz früh hinüber zur Klosterkirche; nach der Messe kamen die Anderen allein zurück, Anna blieb bei ihren geliebten Nönnchen, durfte im Hochamt singen und lernte Nachmittags in der Klosterschule Gott weiß welche Gelehrsamkeit. Dann war es bei uns still, wie ausgestorben, und kam das Kind gegen Abend herangefahren, dann liefen nicht nur die kleinen Brüder – nein, alles Lebendige, Hund und Seidenhase, Hühner und Tauben liefen dem Ufer zu.

Der Sommer verstrich, und es ward endlich Winter. Ich hatte mir zu den mitgebrachten Büchern noch allerlei andere nachkommen lassen, sann und spann mir eine Arbeit aus, schrieb Reminiscenzen nieder und fand schließlich die Tage kurz für Alles, was ich darin zu vollbringen hatte. Nie vergeht die Zeit rascher als dann, wenn nichts von außen hinzutritt, das gleiche Programm seinen Kreislauf einhält, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Meine Zimmer waren wohnlich und warm; nach Menschen sehnte ich mich nicht. Als Schnee und Eis kam, ward es märchenhaft bei uns; die Tage spannen sich gleichsam in Heimlichkeit hin. Auf dem halb zugefrorenen See, der uns von der Welt abtrennte, regten und bewegten sich klirrende Schollen; zuweilen zehrten wir lange von aufgespeichertem Proviant, bis neue Verbindung mit der Welt möglich ward.

Die kleine Anna mußte ihre Sonntagsfahrten einstellen. Da schlug ich ihr vor, bei mir zu singen und zu lernen. Im Gartensaale stand ein Flügel. Noch hatte ich mich nicht entschließen mögen, ihn zu öffnen. Dem Frühlingsblümchen zu Liebe geschah es nun, und einmal, als sie mich bat, sang ich ihr. Im ersten Augenblick wollte mir die Stimme brechen; der eigene volle Ton that so weh – als ich aber die seligen Augen des kleinen Mädchens sah, sang ich ihr das Lied zu Ende. Es war das erste, nicht das letzte. Wohl gab es dabei viel zu überwinden; denn ich mußte mich bald überzeugen, daß auch von diesem Gute, meiner Stimme, nur ein armer Rest geblieben war. Bisher hatte ich gescheut, dies auch nur zu prüfen; ich besaß ja vielleicht noch einen Reichthum, den ich hüten wollte für künftige Zeit. Letzte Illusion! Der Ton versagte mir, sobald ich ihn länger als auf Minuten zu fesseln suchte. Es galt auch hierin zu verzichten und sich mit dem zu begnügen, was geblieben war: dem Entzücken eines Kindes. Regelmäßige Musikstunden wurden eingerichtet, und ich ließ Noten kommen. Anna war durch und durch musikalisch, erwies sich überhaupt als so intelligent, daß ich darauf kam, auch allerlei Andres noch mit ihr durchzunehmen, etwas Französisch, und womit sonst in der Klosterschule ein Anfang gemacht worden. Den Eltern war es recht; im Winter gab es nicht viel zu thun; die Mutter meinte, es wäre gar gut, wenn die Anna noch zulernte; in ein paar Jahren, wenn die kleinen Buben kein Warten mehr brauchten, müsse sie doch in die Stadt und sich etwas verdienen. Da sie nicht die Stärkste sei, könnte sie dann als Bonne in ein gutes Haus kommen, wenn ich mich wirklich mit ihr plagen und ihr etwas beibringen wollte. Ich hatte nie zuvor Anlaß gefunden, den Lehrer zu spielen; nun fand ich, daß es nichts Erfrischenderes giebt, als einem jungen, wachen Geiste neue Regionen aufzuthun. Wenn die großen, klaren Augen so aufmerksam horchten, ein Blitz raschen Verständnisses sie durchleuchtete, oder Unverstandenes ihnen plötzlich einen so geheimnißvollen, nach innen gerichteten Blick gab, interessirte mich das, wie eine ganz neue Welt.

Während dieser Stunden kam die schelmische Anmuth des Mädchens selten zu Tage; sie nahm die Sache gewaltig ernsthaft und wurde roth und bestürzt, wenn ihr das gefesselte Lachen doch einmal entwischte.

So vergingen mehrere Jahre; Schülerin und Lehrer waren sehr gute Freunde mit einander geworden. Die Zeit war hingeglitten, ohne daß ich’s merkte; nichts hatte sich äußerlich verändert, meine Gesundheit und Stimmung sich aber wesentlich gebessert. In Folge dessen stellte sich nach und nach manche Beziehung zur Welt draußen her. Seit sich das innere Gleichgewicht wieder eingefunden, hatte ich dann und wann ein Lebenszeichen an Befreundete ausgehen lassen, und während der Sommerzeit traf zuweilen Besuch ein. Zum Glück zog die noch bestehende Regel, einer besonderen Erlaubnißkarte zu bedürfen, durch ihre Umständlichkeit allzuhäufigem Ueberfall und langem Verweilen eine Grenze. Nur einer der Gäste erschien öfters und fand sich selbst während der rauheren Jahreszeit mitunter ein. Dies war ein dem Hofhalte zugehöriger Beamter, dem es oblag, einzelne Privatdomänen des Fürsten ab und an zu revidiren. Wir fanden Gefallen an einander, und es freute mich, als im Laufe der Zeit seine Besuche sich wiederholten. Berthold Klein war etwa zehn Jahre jünger als ich, ein Abstand, der sich aber durch den gehaltenen Ernst seines Naturells ausglich. Bei sehr verschiedenem Temperament und auseinandergehenden Lebensrichtungen stimmten wir in allen wesentlichen Fragen überein; ich erfand ihn als zuverlässigen Charakter und lernte ihn schätzen.

Einmal, im Hochsommer, hatte ein dienstlicher Auftrag Klein wieder nach der Insel geführt; durch ein starkes Gewitter waren nämlich Beschädigungen an der Böschung entstanden, welche Nachhülfe erforderten. Sein Morgenbesuch bei mir war nur flüchtig; er schien zerstreut und verstimmt, und gegen seine Gewohnheit sah ich ihn schon vor Mittag wieder abfahren. Als Anna bald nachher das Essen zur Villa brachte, kam sie nicht, wie sonst, herein, mir guten Tag zu sagen. Ich hörte, wie sie im Begriff war, fortzugehen, und rief sie. Sie kehrte sogleich um, und als sie eintrat, sah ich, daß sie ganz verweinte Augen hatte.

‚Was fehlt dem Blümchen?‘ fragte ich erstaunt.

Sie wendete den Kopf ab und antwortete nicht sogleich. Erst als ich sie bei der Hand nahm, sagte sie mit unterdrückter Heftigkeit: ‚Der Vater –‘ und stockte dann. Ich sah, wie nahe ihr das Weinen war, und that keine weitere Frage. ‚Der Vater!‘ Ja, Meister Brunner faßte die Seinigen nicht immer mit Handschuhen an, wenn er gleich mit Anna sanfter zu verfahren pflegte, als mit seiner Frau und den Buben.

‚Halt!‘ rief ich, als sie schon im Begriff war, davon zu schlüpfen. ‚Willst Du mich gegen Abend hinausrudern?‘

Sie nickte nur. Das zarte Gesichtchen war schon wieder sonnenhell. ‚Der Joseph soll mich rufen, wenn’s Zeit ist,‘ sagte sie.

‚Schön; den Joseph lassen wir aber daheim; wir wollen nur ein wenig spazieren schaukeln; das bringst Du allein fertig.‘

Ich wollte dem guten Kinde Gelegenheit geben, frei herauszusprechen; wenn Anna weinte, galt es kein eingebildetes Leid; in ihr war keine Sentimentalität.

Gegen vier Uhr ward schüchtern an meine Thür geklopft, und Frau Brunner trat ein. Sie ließ sich um diese Zeit selten sehen; ich dachte also gleich, daß irgend ein Anliegen sie herführe, und bat sie, niederzusitzen. Doch dauerte es lange, ehe eine Antwort auf meine Frage zum Vorschein kam. Sie strich sich die Schürze glatt und schaute standhaft in eine Ecke. Erst auf meine zweite Mahnung, zu sprechen, kam es heraus:

‚Ja, es ist schon wahr, ich hab’ ein Anliegen, Herr Isen. Die Anna sagt mir, daß sie nachher mit Ihnen hinausfahren wird; da möcht’ ich Sie bitten, daß Sie ihr den Kopf zurechtsetzen.‘

‚Der Anna? Was ist denn mit ihr? Sie hatte rothe Augen.‘

‚Ja, sehen Sie, Herr Isen, der Vater ist bös über ihren Eigensinn, und ich kann dem Mädle auch nicht Recht geben. Sie werden’s ja wissen, daß der Herr Klein sie heut’ früh vom Vater zur Frau verlangt hat; das ist ein solches Glück –‘

‚Die Anna?‘ rief ich, wie aus den Wolken gefallen. ‚Welcher Unsinn! Sie ist ja noch ein pures Kind.‘

‚Sie wird zu Michaeli siebenzehn Jahr,‘ sagte die Frau; ‚in dem Alter hab’ ich auch geheirathet. Es ist wahr, sie ist noch kindisch, dem Aussehen nach, aber das macht nichts; sie ist gesund, wie eine Otter, und kann mehr vor sich bringen, als Manche, die groß und breit ist. Bedenken Sie nur das Glück! So ein braver Herr, der sein gutes Brod hat, und sie wär’ versorgt ihr Leben lang, und den Buben käm’s später auch zu gute. Da ist’s dem Vater nicht zu verdenken, daß er zornig wird, weil die Anna nicht will.‘

‚Sie will nicht? und was hat sie dagegen?‘

‚Das ist’s ja! Sie weiß selber keinen Grund. Sie will nicht fort, und damit basta! Das ist aber doch die reine Narrheit, und deswegen komm’ ich her und bitt’ schön, daß Sie mit ihr reden, Herr Isen. Auf Sie giebt das Kind ja Alles. Wenn Sie ihr sagen, daß sie ihr Glück nicht verspielen soll, besinnt sie sich gewiß. Nicht fort mögen! Was denkt sie denn? Ewig kann sie nicht daheim sitzen, und bei fremden Leuten Kinder warten, ist auch nichts so Schönes. Gelt, Sie machen’s ihr begreiflich?‘

[231] ‚Ich will mit ihr sprechen,‘ sagte ich; ‚lassen Sie ihr aber nicht merken, daß Sie zuvor mit ihr geredet haben!‘

Kaum konnte ich mich von meinem Erstaunen erholen, als ich dem eben Gehörten nachsann. Ich hatte wirklich bisher nie etwas Anderes als ein Kind in Anna gesehen; ihr gegenüber einen Freier zu denken, nun gar den gesetzten, etwas nüchternen Klein, erschien mir ganz abenteuerlich. Während ich aber dem Gedanken nachhing, konnte ich mich der Richtigkeit alles dessen, was Frau Brunner vorgebracht, nicht verschließen. Sie war ein Glück für die kleine Gärtnerstochter, diese Werbung des braven, gutgestellten und liebenswerthen Mannes, ein großes, unverhofftes Glück.

Später, als ich im Sinne gehabt, ließ ich mich von Joseph nach dem Boote bringen und meine junge Schifferin rufen; ich wollte mir zuvor genau zurechtlegen, was ich ihr zu sagen dachte.

Als wir vom Lande stießen, neigte sich schon die Sonne, und während Anna das Boot mit ein paar kräftigen Ruderschlägen flott werden ließ, betrachtete ich sie, als hätte ich eine neue Bekanntschaft zu machen, und sah, was nur dem täglichen Gewöhnen hatte entgehen können: die kleine zarte Gestalt war schwank wie ein biegsamer Halm, aber es war nicht mehr die Gestalt eines Kindes. Wo hatte ich die Augen gehabt, oder war die süße Jungfräulichkeit, welche mich in jeder ihrer Bewegungen ansprach, über Nacht aus der Knospe gesprungen? Das reine, von mir abgewendete Profil zeigte einen sinnenden Zug, der sich besonders um die festgeschlossenen Lippen zeichnete. Nun wendete sie den Kopf und sah mich an; plötzlich war alles Befremdende verschwunden, mich traf der alte, offene, herzwarme Blick meines Frühlingsblümchens.

‚Ist Ihnen nicht wohl, Herr Isen?‘ fragte Anna bestürzt, als sie meinem nachdenklichen Auge begegnete. ‚Sie sprechen kein Wort und sehen gar nicht vergnügt aus. Vielleicht ist Ihnen noch zu warm auf dem Wasser – soll ich wieder umkehren?‘

Ich schüttelte den Kopf. Wir waren, von günstigem Winde getrieben, eine gute Strecke in den See hinausgekommen. Die Sonne sank. Ich machte Anna ein Zeichen, die Ruder einzuziehen; sie wußte, daß ich gern dem Sonnenuntergange in voller Ruhe zuschaute, und verhielt sich ganz still. Die Luft war wie mit Gold durchflossen, während das Tagesgestirn feurig niederstieg. Das Wasser lag rings in seiner freien Fülle und begann in zartem Perlmutterglanze zu schimmern. Ich sah auf Anna; sie saß im rosigen Licht und lächelte mich glücklich an. Diese klaren Augen wußten so wenig mehr von vergossenen Thränen, wie die Primel vom Thau weiß, den die Sonne aufgesogen.

‚Anna,‘ sagte ich gegen meinen Vorsatz ohne Umschweife, ‚weshalb hast Du meinen Freund Klein abgewiesen?‘

Sie wurde röther als die Wolken über uns. ‚Er hat es Ihnen gesagt?‘ stammelte sie erschrocken.

‚Einerlei, woher ich es weiß! Du hättest es mir auch selbst sagen können. Dein alter, guter Freund wird wohl fragen dürfen, weshalb Du Nein sprichst?‘

Ihre Hände falteten sich über dem Ruder; sie wurde blaß und sagte in angstvollem Tone: ‚Ich kann nicht.‘

Ein Gedanke durchblitzte mich, ein fremder, neuer Gedanke, der mich störte und deshalb etwas hastig zu Tage kam. ‚Du kannst nicht, Anna? Hast Du etwa einen Andern lieb?‘

Der feine Kopf neigte sich so tief, daß ihre langen Flechten nach vorwärts über die zarte Brust glitten. Plötzlich richtete sie sich auf. ‚Ja,‘ sagte sie leise, indem sie mich voll ansah; ‚ich habe einen Andern lieb.‘

Nur eine Secunde lang traf mich ein Blick, der aus dem Grunde der jungen Seele drang; dann verhüllten ihn die breiten Lider. Ich saß betroffen und blickte stumm in das Wasser hinab, das sich im Widerscheine der Wolken weithin färbte. Die Gipfel des Gebirges entzündeten sich; röthliche Flöckchen flatterten um alle Höhen. Anna wendete mit ein paar Ruderschlägen das Boot, um mich den Bergen gegenüber zu bringen.“

(Schluß folgt.)


Album der Poesien.
Hellas.
(Mit Abbildung.)

Schön und farbenreich vor meiner Seele
Steigt die Griechenwelt empor,
Wo mit sanfter, liederreicher Kehle
In Cypressenhainen Philomele
Wundersüß berauscht des Lauschers Ohr.
Dort durch’s Laubenthor
Leitet des Ilissos Schattenwellen
Kühl und ölbewaldet der Hymett,
Bis sie unter reizenden Gefällen
Thalwärts rauschen in ein sonnig Bett
Und auf düftereichen Blumenstrecken
Gleiten durch die Marmorbecken.

Auf den Lorbeerhöhen welch ein Wallen,
Welch ein Pilgern thalentlang!
Zu des Isthmos heil’gen Tempelhallen
Ziehn die Völker – horch! die Haine schallen
Rings von dithyrambischem Gesang:
Evoëenklang
Taumelt, halb gejubelt, halb gesungen,
In die lauen Lüfte, immerdar
Wie ein Echo der Begeisterungen
Folgend der bekränzten Griechenschaar,
Bis die Stämme sich am Wanderziele
Mischen in die Völkerspiele.

Herrlich durch die isthmischen Gefilde
Stäubt der stolze Wagenstreit,
Und die Schwerter schlagen an die Schilde,
Doch der Stärke einigt sich die Milde,
Holde Schönheit sich der Tapferkeit:
Herzen werden weit,
Da für menschlich edele Gedanken,
Für die Freiheit, göttergleich und rein,
Da ein hoher Dichter in die Schranken
Tritt für seines Herzens Meinung ein,
Da dem Sophokles die Völker lauschen
Und des Pindar Hymnen rauschen.

Heimwärts zieht auf des Triumphes Pfaden
Lorbeerfroh der Sieger dann,
Bis wo ihn in schattige Arcaden
Glanzdurchwobne Ehrenfeste laden,
Welche zarte Liebe ihm ersann.
Hoch im Viergespann
Rauscht er durch die laubgeschmückten Thore
In des Ruhmes Morgenlicht daher
Und das Volk grüßt ihn im Jubelchore,
Und die Freude wogt, ein brausend Meer,
Und es reichen ihm des Kranzes Spende
Schlanke, weiße Jungfraunhände.

– Ach! und diese lichte Völkerblüthe
Welkte hin im Sturm der Zeit;
Schon vom Hämos drohete der Scythe –
Hellas’ letzte Abendröthe glühte;
Hellas hüllte sich in’s Sterbekleid;
Denn im Bruderstreit
Tobten schrecklich seines Leibes Glieder,
Noch im Wahnsinn groß und heldenstark;
Wilder Zwietracht heiß gehetzte Hyder
Mästete sich am Heroenmark,
Und die Völker drängten auf einander –:
Philipp zeugte Alexander.

Weithin dampfend färbt die Griechenerde
Sich vom Blut der Söhne roth;
Vor dem Sieger, eine Söldnerheerde,
Liegen sie mit sclavischer Geberde:
Griechenruhm, der edle Held, ist todt.
Ach, kein Opfer loht,
Keine Hekatombe an der Bahre,
Die verlassen auf Ruinen steht,
Und kein Priester spricht im Festtalare
Für den hehren Todten ein Gebet:
Ueppig thronen, wo sonst Dichter sannen,
Macedonische Tyrannen.

Ernst Ziel.
[232]
Thier-Charaktere.
Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
Der Maulwurf.

Welchen Titel soll ich dem vielfach Verkannten geben, um ihm den gebührenden Platz anzuweisen in der Reihe der Insectenfresser, denen als auserlesene Waffenrüstung ein Gebiß verliehen ist, welches ich gelegentlich der Schilderung des Igels (vergl. 1878, Nr. 2) bereits zur Genüge gewürdigt habe? Der Maulwurf (Mull-, d. h. Erdaufwerfer) ist ein Riese an Kraft und Muth in Zwerggestalt, ein Hercules der Arbeit in niederster Erscheinung, ein Nimmersatt in der Begierde der Selbstbefriedigung durch Raub, Mord und Gefräßigkeit, eine lebendige Wühllocomotive, die sich nach allen Richtungen hin unter der Erde den Weg bahnt und die täglichen Züge ordnungsmäßig innehält, Morgens, Nachmittags und Abends, abgerechnet die Extrazüge, welche je nach Umständen und Bedürfniß abgehen und die zahlreichen Nachtzüge. Die Hauptanhaltestellen sind da, wo das kriechende Vegetariergeschlecht unterirdischen Gewürms sich um Wurzeln sammelt, und die Orte, wo Wasser eingenommen wird, selbstgefertigte Erdtrichter, in denen sich das unentbehrliche Naß durch Zufluß ansammelt.

Den Ein- und Ausgangspunkt der vielfach verzweigten Erdfahrten bildet der Kessel, in welchem der Raubritter zu bestimmten Tageszeiten der Ruhe pflegt. In Rainen unter Mauern oder in sonstigen trockenen höheren Lagen errichtet, hat diese unterirdische Burg als Mittelpunkt eine kegelförmige, acht bis zehn Centimeter weite Kammer, die Stätte des aus Moos oder sonstigen Pflanzenstoffen bereiteten Lagers. Rund um den Kessel führt erstens in gleich hoher Lage ein Gang in einem Umkreise von zwanzig bis fünfundzwanzig Centimeter, und über diesem wieder ein kleinerer Gang. Der Bewohner kann vom Kessel aus durch drei verschiedene Röhren in den oberen Kreisgang, von da aus durch fünf bis sieben Röhren in den unteren Kreisgang, von diesem aus endlich durch acht bis zehn strahlenförmig in wagerechter Richtung ausgehende Röhren in den eigentlichen Laufgraben von acht Centimeter weitesten Durchmessers gelangen, in welchen die zuletzt genannten Röhren einbiegen und welcher sich dann eine geraume Strecke von der Burg in die flacheren Gänge des Jagdgebietes verzweigt. Der Kessel hat aber auch noch einen Hülfsausgang nach unten: eine besondere, auf dem Boden der Kammer angebrachte Oeffnung fördert den schwarzen Kumpan bei Gefahr rasch in eine in die Tiefe gehende Röhre, welche allmählich bogenförmig wieder nach oben und schließlich ebenfalls in den breiten Laufgraben einlenkt.

Ein solcher Minirer und Wühler muß ungewöhnliche Grabwerkzeuge und zweckentsprechende Körperbildung haben. Der plattkegelförmige Gesammtgestalt schließt sich insbesondere der zur Rüsselschnauze verlängerte gespitzte Kopf an. Unterstützt durch ein sogenanntes Vornasenbein, eine Knochenverlängerung des Nasenbeins, wird sie zum festen, kraftvollen Bohrer. Breit und stark ausgebildet erscheint das Schlüsselbein. Das derb angelegte Brustbein zeigt den sogenannten Kamm, den merkwürdigen kantigen Ansatz, an dessen Seitenflächen sich die stark entwickelten Muskeln des mächtig aufgebauten Vordertheils anschließen. Von besonderer Kraft und Ausbildung sind die Schulterblätter, dabei von unverhältnißmäßiger Länge im Vergleich zu den kurzen Obergliedern der im Leibe versteckte Beine, deren schaufelförmige Riesenpfoten, mit den nach außen gerichteten Innenflächen, seitwärts vom Leibe abstehen.

Das Hintertheil des Thieres kann im Verhältniß zum Vorderteil fast verkümmert genannt werden und läßt in Ansehung seiner Schmächtigkeit eine Erinnerung an die Körperbildung des Löwe zu. Unter den fünf nagelbewehrten Zehen der handähnlichen Pfoten steht nur die mittlere, längste frei, während das rechte wie das linke Paar durch Spannhaut mit einander verbunden ist. Die wie winzige Perlen erscheinenden Augen stecken tief im Pelze, können jedoch vermöge eines Muskels hervorgeschoben werden. Ebenfalls im Pelze verborgene Ohrenränder ersetzen die fehlenden Ohrmuscheln und können den Gehörgang verschließen. Auge wie Ohr ist somit vor dem Einbringen des Staubes und Sandes geschützt. Unter dem Mikroskop wird uns die Bildung des einzelnen Haares klar. Der untere Theil, von der Wurzel an, ist dünn, der mittlere dicker, der obere bis zur Spitze verjüngt sich wieder. Dadurch giebt das Haar jedem Drucke nach, legt sich nach allen Richtungen hin geschmeidig und ermangelt eines eigentlichen Strichs, durch welchen Umstand das Festsetzen der Erde im Pelze und auf der Haut verhütet wird.

Der Maulwurf stemmt sich beim Wühlen mit den Händen gegen die Erdwände seines Ganges, bohrt vor sich den Rüssel in die Erde und schaufelt nun mit den Grabwerkzeugen die Erde nach hinten, den Hinterleib nachschiebend. Beim Entfernen der Erde aus den Gängen leisten der Rüssel sowohl wie die Schulter treffliche Dienste, und die aufgeworfenen Haufen bezeichnen die mannigfaltigen Richtungen und Verzweigungen der Röhren. In leichtem Boden fördert natürlich die Wühlarbeit weit mehr, als in schwerem, gleichwohl ist ihr rascher Fortgang auch in letzterem staunenswerth. Die Bildung der Füße läßt auf den ersten Blick schon vermuthen, daß die Fortbewegung des Maulwurfs über der Erde eine schwerfälligere sein müsse, und so ist es in der That, wenngleich dieselbe immer noch eine ganz erheblich schnelle genannt werden muß. In den Gängen aber ist nach Lecourt sein Lauf ein fabelhaft rascher. Strohhalme mit Papierfähnchen an der Spitze, welche in mäßigen Abständen von einander in die Gänge gesteckt und von dem zur Flucht getriebenen Maulwurf durch Berührung erschüttert wurden, gaben die Maßstäbe für die Berechnung der Geschwindigkeit des unsichtbaren Schnellläufers.

Auf seinen Unternehmungszügen im Erdinnern und auf der Erde bietet der unbedeutende Gesichtssinn dem Maulwurf gewiß nur äußerst geringe Unterstützung, sobald aber das Thier Flüsse, Teiche, Seen, ja selbst, wie beobachtet worden, Meeresarme durchschwimmt, tritt dieser Sinn zur Mithülfe der Orientirung auf. Das Gehör scheint über der Erde bei Weitem nicht so scharf und fein zu sein, wie unter der Erde, denn ich habe mich in vielen Fällen davon überzeugt, daß im Juli und August der Maulwurf im Freien meinen Tritt erst in unmittelbarer Nähe vernahm. Im Erdinnern werden durch entstehendes Geräusch die Gehörnerven des Thieres durch Erschütterung jedenfalls stärker berührt, und Wahrnehmung und Unterscheidung sind da viel feiner. Unstreitig ist der in bewunderungswürdigem Grade ausgebildete Geruch- und Tastsinn des Maulwurfs der vornehmste Führer und Lenker desselben.

Sehr wenig Erfreuliches ist von den inneren Eigenschaften des Maulwurfs zu berichten.

Es treten in den Charakterzügen desselben hauptsächlich zwei Hauptkennzeichen auf, einmal die mit der Raubsucht und außerordentlichen Nahrungsbedürftigkeit verbundene Neid- und Bosheitswuth gegen Alles, was ihm das Jagdgebiet zu beeinträchtigen versucht, und dann die Eifersucht bei Liebeshändeln, die in dem kurzen Zeitabschnitt des Minnerausches zu blutigen Raufereien mit Nebenbuhlern führt. Kein Auge hat zwar bis jetzt die auf Leben und Tod unternommenen Zweikämpfe wuthentbrannter Maulwurfsmännchen in den unterirdischen Gängen beobachten können, wohl aber konnte das Ohr des Horchers das Gepolter und das quiekende Klagen der Verwundeten vernehmen, und die Schippe oder Hacke legte den erweiterten und verstampften inneren Kampfplatz frei und verhalf zu der Wahrnehmung, daß eine förmliche Abschließung oder Einsperrung des Weibchens durch Verrammelung mit Erde stattgefunden hatte. Schade, daß sich nicht hier oben wiederspiegeln läßt, was da drunten Kabale und Liebe unter den Maulwürfen anstiftet! Denn daß die Minnezeit reich ist an unsichtbaren dramatische Scenen, dafür bürgt die Ueberzahl der Männchen im Verhältniß zu den Weibchen sowohl, wie auch der allzeit bereite Hang zur Gewaltthätigkeit auf Seiten der selbstsüchtigen Erdgnome. Einen Zweikampf über der Erde vermag ich übrigens aus eigener Anschauung zu schildern, zu welchem freilich nicht Eifersucht, sondern Neid aus Raub- und Mordgier Veranlassung war (vergl. die Illustration).

Es mochte um den 18. oder 20. Juli des Jahres 1865 sein, als ich mich dem Neste eines Fitispaares (großer Weidenlaubsänger) näherte, in welchem ich Tags zuvor vier nackte Junge als das Ergebniß einer unternommenen zweiten Brut entdeckt

[233]

Maulwürfe im Kampfe.
Originalzeichnung von F. Specht.

[234] hatte. Das Nest war unter einem Rosenstrauch unmittelbar an dem Stämmchen im etwas abschüssigen Boden des Rasens angelegt. Das Geschrei und Umherflattern der alten Vögel veranlaßte mich, behutsam näher zu schleichen. Zu meiner Ueberraschung erblickte ich ziemlich dicht neben dem Neste zwei erbost mit einander kämpfende Maulwürfe und vernahm gleichzeitig den quiekenden Schmerzensschrei des einen Duellanten.

In vorgebeugter Haltung beobachtete ich in unmittelbarer Nähe, wie der Kampf hin und her schwankte; beide Maulwürfe schienen mir gleich stark zu sein, da bald der eine, bald der andere im Vortheil war. Ich konnte mich deutlich von der hervorragenden Rolle überzeugen, welche der Rüssel als Heber und Dränger übernahm, und mit welcher gewandten Beweglichkeit er dem Gebiß den Weg bahnte zum erfolgreichen Angriff. War es das Aufflattern des Fitisweibchens, war es Ermüdung der vielleicht schon eine Weile Kämpfenden, was Ursache war – kurz, plötzlich gab es Waffenstillstand, und nun sah ich, wie einer der Maulwürfe ungefähr einen Viertelmeter vom Neste ein junges Vögelchen von dem Boden aufnahm und, dasselbe fortschleifend, im Rasen verschwand. Der andere Maulwurf dagegen hob schnüffelnd den Rüssel in die Höhe, verfolgte noch eine Strecke die Spur des Gegners und verlor sich dann seitwärts in die Tiefe des unterirdischen Reiches. Bei näherer Untersuchung fand ich im Neste nur noch zwei Junge.

Die Veranlassung zu dem häufigen Erscheinen über der Erde im Hochsommer giebt dem Maulwurf der Umstand, daß das Gewürm sich nach der Oberfläche des Bodens zieht. Wenn auch vorzugsweise Würmer und Engerlinge die Nahrung des Maulwurfs bilden und seine Raubzüge den Aufenthaltsorten derselben mit möglichst gründlicher Ausbeutung sich zuwenden, so fallen ihm doch auch so viele andere Thiere zur Beute, daß ihm eine die feinere Ausbildung des Geschmacks bekundende Näschigkeit und wählerische Eigensinnigkeit nicht nachzurühmen ist.

Folgt das Auge dem schwarzen Mörder in einem Gebüsch auf dem Laubboden, so verräth sich uns schon die Lüsternheit in dem emsigen Bestreben, die Blätter mit dem Rüssel zu wenden, die Moosbüschel, Wurzelverzweigungen und locker sitzenden Steine zu untersuchen. Hier wird ein Wurm, dort eine Insectenpuppe, anderswo ein ausgebildetes Kerbthier, ein Käfer, ein Abend- oder Nachtfalter hervorgezogen; wieder anderswo dienen Schnecken und Kellerasseln, Spinnen, Frösche, Eidechsen und junge Vögel als Nahrung. Wo ihm das sofortige Erwürgen nicht gelingt, schneidet er bei lebendigem Leibe die Thiere an. Einen Frosch, den ein Maulwurf angefressen hatte und der jämmerlich schrie, ließ derselbe fahren, als ich mich zum Griff niederbeugte. Kaum aber war ich ein wenig vom Platze gewichen, als der Flüchtling wieder aus seiner Höhle hervorkam und die grausame Zerfleischung fortsetzte.

Man kann sich hiernach einen Begriff machen, wie raubmörderisch der Maulwurf drunten im Schattenreich des Erddunkels, auf dem Hauptschauplatz seiner Thaten, vorgeht. Da schont er der wirklichen Mäuse ebenso wenig wie der Spitz- und Wühlmäuse, wenn sie ihm begegnen. Arbeit, Mord und Fraß reichen sich fortwährend die Hand, unterbrochen nur von den beliebten Verdauungsstündchen in der Einsiedlerzelle, welche selbst keiner von Seinesgleichen betreten darf.

Um das volle Bild von der Gefräßigkeit des Maulwurfs zu geben, weise ich auf folgendes Erlebniß hin, welches mir bereits von Oken, Lenz und Flourens Beobachtetes bestätigte: Sechs Maulwürfe, welche in einer zur Hälfte mit Erde gefüllten Kiste vereinigt worden waren und mehrere Pfund Regenwürmer und Engerlinge vorgeworfen erhalten hatten, waren andern Tages nicht nur damit fertig geworden, sondern hatten sich bereits unter einander vertilgt, worauf der selbstverständliche Letzte an erhaltenen Wunden und in Folge von Entkräftung starb. Diese Rücksichtslosigkeit gegen Ihresgleichen schließt nicht aus, daß die Maulwürfe ihre Jungen äußerst zärtlich behandeln, was von Seiten des Weibchens weniger auffallend erscheint, als hinsichtlich des Männchens, welches in der That den Kleinen abwechselnd mit der Mutter Nahrung zuträgt. Von der tiefgehenden Pflugschar zu Tage geworfene junge Maulwürfe sind, wie man beobachtet hat, von der Mutter wieder unter die Erde in Sicherheit gebracht worden.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier eine erschöpfende naturgeschichtliche Darstellung dieses interessanten Erdthieres zu geben. Aber den zahlreichen Landwirthen, welche die „Gartenlaube“ lesen, soll unsere Ansicht über den Nutzen und Schaden des Maulwurfs nicht vorenthalten werden.

Schon in der Wahl des Aufenthaltes zeigt der Maulwurf seine entschiedene Vorliebe für die Jagd auf Würmer und Engerlinge, indem er die öden Steppen und Striche meidet und den fruchtbaren Boden der Weiden, Gärten, Baumpflanzungen und Wiesen aufsucht. Der Winter unterbricht seine Thätigkeit nicht, in dieser Jahreszeit ist dieselbe aber der Erdtiefe mehr zugekehrt, wohin sich der Kälte wegen Gewürm und Larven zurückgezogen haben, wenn nicht eine wärmende Schneedecke den Aufenthalt in höherer Erdschicht ermöglicht, unter welchen Umständen auch der Maulwurf häufiger seine Erdhaufen unter dem Schnee aufwirft.

Nach den neuesten Untersuchungen und Berechnungen verzehrt ein Maulwurf innerhalb 24 Stunden durchschnittlich 60 bis 70 Engerlinge. Nun ist diese Beobachtung allerdings an gefangenen Maulwürfen gemacht worden, und es mag immerhin der Fall sein, daß ihm im Freien der Tisch nicht so reichlich gedeckt ist, wie in der Gefangenschaft. Aber das Wühlen und Schaffen im Erdreich steigert auch anderntheils wieder den Stoffwechsel und den davon abhängigen Nahrungsbedarf, daher angenommen werden kann, daß der freilebende Maulwurf eine größere Menge der Beute, wenn er ihrer habhaft werden kann, vertilgt, als der eingesperrte.

Nach unseren Erfahrungen säubert ein Maulwurf innerhalb fünf bis sieben Tagen ein Achtel Hectar Wiesen- oder Ackerfläche vollständig von Kerfen und Würmern im Innern, um sich sodann mit scharfem Witterungssinn schleunigst ein neues ergiebiges Revier zu suchen. Wohl befinden sich im Gefolge seiner heilbringenden Thätigkeit auch zerstörende Eingriffe in die Werke der Bodencultur, und nicht überall kann ihm darum das Wort der Pflege und Schonung geredet werden, wie man ihn denn in Kunst- und Gemüsegarten und im Grablande zu vertilgen berechtigt ist; wo aber seine Wühlereien das Wachsthum weniger beeinträchtigen und wo der Ackerbauer Hügel und Gänge an der Bodenfläche leicht wieder verebnen kann, gebe man ihm getrost Spielraum auf Wiesen-, Feld- und Waldboden! Die überall ausgleichende Natur wird bei allzusehr steigender Vermehrung des Maulwurfes ihre Wasserfluthen senden, und lebendige Feinde in Gestalt der Tag- und Nachtraubvogel, des Storchs, des Fuchses, Marders, Wiesels und Iltisses werden immer seine Reihen lichten.

Karl Müller.




Blätter und Blüthen.

Zum ersten April. Es ist eine uralte, weitverbreitete Sitte, einander am ersten April, wie es heißt, „in den April zu schicken“. In Deutschland erschallt am ersten April der Ruf:

„April, April, April!
Heut’ kann man den Narren schicken,
Wohin man will.“

In Frankreich heißt es: „Donner un poisson d’avril“ („einen Aprilfisch geben“), und in England sagt man:

„On the first day of April
Hunt the gawk another mile.“

was zu deutsch etwa heißt:

„Im Monat April, am ersten Tage,
Den Geck eine Meile weiter jage!“

Natürlich ist es vorzüglich die Jugend, die sich diesem Genusse des „In den April Schickens“ hingiebt, aber auch die Erwachsenen verschmähen wohl einen kleinen Scherz am ersten April nicht.

„Der Brauch wird auf die verschiedenste Art und Weise in Ausführung gebracht. In Deutschland, Holland und England schickt man am ersten April Kinder und Dienstboten in die Apotheken, um Mückenfett, Krebsblut und andere Ungeheuerlichkeiten zu holen, und bindet den auf diese Weise „in den April Geschickten“ Zöpfe mit Papier etc. zur Erhöhung des Gaudiums an. Vornehmlich in England sind diese Aprilscherze noch recht im Brauch, ja, sie sind dort heutzutage noch am meisten beliebt. Heißt doch der erste April in England geradezu „all fools day“, aller Narren Tag. Das in dem englischen Vers enthaltene Wort „gawk“ – sagt man gewöhnlich – bedeutet ursprünglich „Kukuk“, der in der Regel in den ersten Tagen des April erscheint und auf den dann von Baum zu Baum eine Meile weit Jagd gemacht zu werden pflegt. Später jedoch [235] nahm der Ausdruck „gawk“ auch die Bedeutung „Geck“ an. In Schottland hat sich dieses Kukuksjagen bis auf den heutigen Tag erhalten; nur wird öfters – nach der üblichen Auffassung „in Ermangelung eines wirklichen Kukuks“ – ein Mann dazu erkoren und gejagt.

In Frankreich schickt man gleichfalls noch heute den Narren in den April, was der Franzose, wie bemerkt, „donner un poisson d’avril“ nennt. Dieser Aprilfisch ist freilich kein anderer als der im Canal so häufig vorkommende Maifisch. Bekanntlich aber waren die Fische der Liebesgöttin Venus geweiht, die zugleich auch Göttin des Monats April war, in welchem ja Alles in der Natur zu neuem Leben keimt und sprießt.

Ueber den Ursprung dieser Sitte ist viel gestritten worden. Unzulässig ist ihre späte Ableitung aus der kirchlichen Ueberlieferung der Leidensgeschichte Christi, wonach sie das Herumschicken des Letzteren „von Pontius zu Pilatus“ abbilden solle, unwahrscheinlich der Einfall, daß sie der Unbeständigkeit des sprüchwörtlichen „Aprilwetters“ ihren Ursprung verdanke. Nach Jacob Grimm kennt das germanische Alterthum die Sitte gar nicht; dieselbe wäre vielmehr aus Frankreich in Deutschland eingewandert, und es steht zu vermuthen, daß sie keltischen Ursprungs, wohl der Rest einer keltischen Frühlingsfeier ist, welche, wie alle heidnischen Frühlingsfeste, der Ausdruck überschäumender Lustigkeit war. Vielleicht kommt man der Sache noch genauer auf den Grund, wenn man einen Zug in Erwägung zieht, der für alle Frühlingsfeste vorzugsweise charakteristisch ist: die Symbolisirung des Winters durch irgend eine bestimmte Figur, welcher sehr übel mitgespielt, welche im Kampfe besiegt, verspottet, vernichtet, oder aber verstoßen und verjagt wird. Es liegt nahe zu vermuthen, daß jener verjagte „Geck“, welchen man am ersten April „schicken kann wohin man will“, mit dem Winter zusammenhängt. Nebenbei bemerkt, dürfte auch unserer Redensart „Jemanden zum (das heißt als) Kukuk schicken“ die oben von Schottland berichtete Form des Wintervertreibens zu Grunde liegen und das Wort „gawk“ in Bezug auf seine Herkunft noch genauerer Erwägung werth sein.




Friedrich Harkort. Seit längerer Zeit schon mußten wir, dem Laufe der Natur gemäß, auf den Verlust des Hochbetagten gefaßt sein. Als aber am 7. März der Telegraph die Kunde brachte, daß er am vorhergehenden Tage für immer entschlafen sei, da haben doch unzählige Häupter sich trauernd geneigt, und es ist ein Gefühl ehrfurchtsvoller Ergriffenheit durch Tausende von Herzen gegangen Weit und breit in Deutschland kannte man den Werth des seltenen Mannes und die Art seines Verdienstes und seiner Bedeutung. Lag sie doch in Charakterzügen, die Jedermann verständlich sind, in der Schlichtheit und makellosen Reinheit seines Sinnes und Wandels, in der stolzen Festigkeit seines Bürgersinnes und seiner Vaterlandsliebe, in seinem unerschütterlichen Glauben an die Erlösungsaufgaben des Jahrhunderts, an den Segen der Freiheit, der Humanität und des Volksrechts, besonders aber in der muthvollen und unentwegten Hingebung, mit der er fort und fort für diesen Glauben gekämpft und ihn nach allen Seiten hin durch Wort und Werk bethätigt hat.

Und mit diesen Eigenschaften ist er in einem Moment dahin gegangen, wo nach einer kurzen Zeit volksthümlichen Aufschwunges der Schwarm wohlbekannter Rückwärtsdränger wiederum zur Macht gekommen, wo sie mit stark vordringender Kraftanstrengung ihre unterbrochene Hemmungsarbeit von Neuem begonnen haben und ein erheblicher Theil des zeitweilig kampfesmüde gewordenen Bürgerthums noch verblüfft, verwirrt und unschlüssig dieser verhängnißvollen Wendung gegenübersteht. In einem solchen Zeitpunkte bedrohlicher Vorgänge und dumpfer Stimmungen ist es ein doppelt harter Schlag für den liberalen Kern der Nation, wenn ihm freisinnige Führer von so eindrucksvoller Macht und Wärme der politischen und sittlichen Ueberzeugung abhanden kommen, wie sie Harkort und einige seiner im Tode ihm vorausgegangenen Kampfgenossen in früheren ähnlichen Perioden reactionärer Verdüsterung bewahrt haben.

Die „Gartenlaube“ kann es sich als ein Verdienst anrechnen, daß sie stets beflissen gewesen ist, das Andenken großer Helden und Märtyrer des Befreiungsringens durch zusammenfassende Schilderungen ihres Lebens und Charakters im Gedächtniß der Zeitgenossen lebendig zu erhalten. Auch von dem alten Harkort oder dem „alten Fritz Westfalens“, wie der Volksmund ihn nannte, hat sie ihren Lesern wiederholt erzählt, auch sein Bildniß ihnen vorgeführt, da er noch lebte und sein Tag sich zum Abend neigte (Jahrgang 1870, Nr. 2 und 1877, Nr. 7). Aus diesen Artikeln werden Viele sich noch erinnern, daß der jetzt Verstorbene schon unter Blücher in den Schlachten des Befreiungskrieges gefochten und mit dem Schmuck des Eisernen Kreuzes aus demselben zurückgekehrt ist, erfüllt aber mit dem Geiste Arndt’s und Körner’s, das heißt nicht als ein Duckmäuser und liebedienerischer Parteigänger der Gewaltigen, wie viele seiner Kriegscameraden.

Alsbald begann er sodann im Frieden auch die Arbeit des Friedens, seine großartige und geniale Industriethätigkeit, immer seiner Zeit voraus, wo es sich um sichere Erkenntniß, um rechtzeitige Benutzung und Einführung von großen Fortschritten des Erfindungsgeistes, z. B. des Dampfes, für Verkehr und Gewerbe handelte. Was Westfalen und die Rheinprovinz und von hier aus ganz Deutschland ihm in dieser Hinsicht zu danken haben, ist anerkannt. Zugleich richtete sich seine Fürsorge auch auf die Lage seiner Arbeiter, schon lange vor dem Heraufsteigen der „socialen Frage“ am politischen Horizont. Wunderbar ist es zu sehen, mit welcher Sicherheit der einzelne Mann schon damals die kranken Punkte in dem Leben der noch ganz passiv sich verhaltenden Fabrikarbeiter erkannte und in seinem Bereiche der Entwickelung schlimmer Verhältnisse durch Förderung von Unterricht und Bildung, durch wirksame Anregung der Association und besonders durch das Bemühen vorzubeugen suchte, jeden Arbeiter möglichst zum unabhängigen Besitzer eines Fleckchens Erde zu machen, in dessen Mitte sein Häuschen stand. Wären nach dieser Seite hin nicht bis heute die meisten Fabrikherren hinter ihm zurückgeblieben so hätte die social-demokratische Unterwühlung niemals eine so furchtbare Macht und Ausdehnung gewinnen können.

Harkort liebte das Volk und hatte auch in den Tagen des vormärzlichen absolutistischen Polizeistaats schon erkannt, daß aus diesem herrischen, alles freie Regen und Bewegen niederhaltenden Zwangs- und Bevormundungsregiment ein wahres Glück der Gesammtheit nicht erblühen könne. Darum sehen wir ihn sofort nach dem Ausbruche der Revolution von 1848 hervorragend in den öffentlichen Bewegungen stehen. Aber der Gang der Dinge sagte ihm zunächst nicht zu. Sein nüchterner Sinn verstand das rasche Ueberschäumen des jungen Freiheitsrausches nicht, und sein energischer Widerspruch dagegen ließ ihn als einen grämlichen Reactionär erscheinen. Wenn aber die Reaction ihn deshalb zu den Ihrigen zählte und auf die weitere Unterstützung dieser gewichtigen Persönlichkeit hoffte, so befand sie sich in einem starken Irrthum. Sein Streben hatte nichts gemein mit den Sonderinteressen und Absichten geistlicher und weltlicher Vorrechtskasten. So wie sie die erlangte Niederwerfung der Volksbewegung zur Durchsetzung ihrer Ansprüche, zur Herabdrückung des öffentlichen Geistes und seiner freien Entwickelung benutzten, finden wir auch Harkort inner- und außerhalb der Volksvertretung in den vordersten Reihen ihrer entschiedensten und erbittertsten Feinde. Für all sein Wirken kam ihm ein besonderes Talent zu Statten: er war ein Volksschriftsteller von Gottes Gnaden, und Unerreichtes hat er namentlich im Genre der kleinen Flugschrift geleistet durch die Klarheit seiner Urtheile, durch die Schärfe seiner Gründe, die geist- und herzbewegende Gewalt seiner Gedanken, für die er stets das gemeinverständliche Wort, den natürlichen Ton, den kernigsten und treffendsten Ausdruck fand.

Von dieser fast dämonischen und von ihm nur sparsam angewendeten Gabe machte er in der Schreckenszeit der fünfziger Jahre den vollsten Gebrauch. Als das Ministerium Manteuffel-Raumer-Westphalen in innigem Bunde mit der undeutschen junkerlich-clericalen Partei allgewaltig das Ruder des Staates führte und unaufhaltsam von Sieg zu Sieg schritt, da sandte Harkort 1851 wider dieses Beginnen seinen denkwürdigen „Bürger- und Bauernbrief“ in das Volk, der in jenen Tagen der Herabdrückung und Einschüchterung einen geradezu aufrüttelnden Eindruck machte, gegen welchen die angegriffenen Gewalten keinen andern Rath wußten, als daß sie den hochangesehenen Abgeordneten und Ritter des Eisernen Kreuzes auf die Bank der Angeklagten brachten. Mit solchen Mitteln aber war ein Harkort eben so wenig abzuschrecken, wie seine tapferen Mitstreiter. Wußte er doch, daß er nur zu hellem und offenem Ausdruck gebracht hatte, was dunkel und unausgesprochen Hunderttausende von Gemüthern bewegte.

Es erschien von ihm also 1852 ein zweiter, nicht minder eindringlicher „Bürger- und Bauernbrief“, sowie der gleichfalls berühmt gewordene „Wahlkatechismus“, und alle diese kleinen Manifeste haben in nachdrücklichster Weise dazu beigetragen, den Volkssinn vor Versumpfung zu bewahren und ihn frisch und wachsam zu erhalten für den Tag, wo mit Eintritt einer neuen Aera jene Herrschaft engherziger Finsterlinge ihr Ende fand. Harkort, der von 1848 bis 1872 der preußischen Volksvertretung angehörte, ging in mancher einzelnen Frage seine eigenen Wege. Ueberblickt man aber seine gesammte öffentliche Laufbahn, so weiß man, daß er bis zu seinem letzten Augenblicke als einer der unbeugsamsten Kämpfer auf der Seite des Fortschritts und der Freiheit, des Lichtes und der Menschlichkeit gestanden hat. Unvergeßlich wird namentlich für alle Zeiten sein niemals ermüdendes Wirken für den Unterricht und die Bildung der Jugend, für die Hebung der Schule und des Lehrerstandes bleiben, doppelt erinnerungswürdig im Angesichte der heutigen Umstände, wo die herrschgierigen Dunkelmänner wieder hoffnungsfreudig ihre Hände ausstrecken nach der Unterjochung der Schule und uns soeben von hoher Stelle aus ein Programm erneuerter Angriffe auf die Würde und Selbstständigkeit unseres ehrbaren und pflichtgetreuen Lehrerstandes verkündet wurde.

Gewiß, es ist kein erfreulicher Augenblick deutscher Geschicke, in welchem der liberale Patriarch von Barop als ein Siebenundachtzigjähriger seine Augen geschlossen hat. Gewiß aber ist auch die allenthalben seinem Andenken gewidmete Trauer eine Gewähr, daß die Aussaat seines Lebens nicht verloren gegangen ist. Außerordentlich großartig durch die nach Tausenden zählende Menge der Theilnehmenden, wahrhaft imposant durch die ergriffene Stimmung und Haltung derselben war sein Leichenbegängniß. Aus allen Gegenden Deutschlands waren die Blumen und Lorbeerkränze gekommen, die bergeshoch auf seinem frischen Grabe lagen. Reden wurden, seinem Wunsche gemäß, an demselben nicht gehalten. Aber bezeichnend für die Art des Mannes waren folgende seiner Bestimmungen. Aus einem Baume, den er selber (wohl für den Zweck) in seinem Garten gezogen, wurde sein Sarg gezimmert, mit dem Mantel, den er in den Befreiungskriegen getragen, ward sein Leichnam zugedeckt, auf dem Brautkleid seiner verstorbenen Gattin ruht sein Haupt. So schläft der volksfreundliche Fabrikherr, der wirkungsreiche Volksmann, Volksvertreter und Volksschriftsteller im Erdbegräbniß zu Haus Schede bei Wetter a. d. Ruhr den ewigen Schlaf, im Tode noch ein lebendiges Zeugniß wider jene kleinen und engen Geister, die jetzt den Schwachmüthigen und Gedankenlosen gern das seichte Märchen aufbinden möchten, daß die liberalen Gesinnungen und Einrichtungen ein Quell der Sünde, des wirthschaftlichen und sittlichen Verderbens der Völker seien. Als ein solches Zeugniß sollte das Leben Harkort’s von einem Kundigen ausführlich geschildert werden.

A. Fr.




Beiträge zur Erklärung des Wetterauer Frühlingsliedes. Wir theilten unter „Blätter und Blüthen“ in Nr. 7 dieses Jahrgangs den großentheils unverständlichen Text eines volksthümlichen Tanzliedes mit, welches zu einem österlichen Reigentanz in Langsdorf in der Wetterau bis vor Kurzem noch gesungen wurde, und wir gaben gleich dem Einsender der Vermuthung Raum, damit einen uralten Rest vorchristlichen Volksthums zu den Acten nehmen zu können.

[236] Daß ein verständlicher, jenem Frühlingsliede verwandt klingender Kindertext in unserer Kinderwelt umläuft, war uns nicht unbekannt; derselbe ist auch bereits hier und da in Kinder- und Volksliedersammlungen aufgenommen. Da indeß Manches dafür zu sprechen schien, daß in dem Wetterauer Text Originaleres vorliege, so entschlossen wir uns, denselben abzudrucken und Weiteres abzuwarten.

Das Aufsätzchen hat nun in den weitesten Kreisen unserer Leser die Aufmerksamkeit erregt und dem Verfasser wie auch uns zahlreiche Briefe eingetragen, welche, neben einigen mythologischen Erklärungsversuchen die wir übergehen müssen, genügendes Material zum Verständniß jenes Stückchens urväterlicher Festfreude liefern, und zwar knüpft sich die Aufklärung an nähere Mittheilungen über die bereits erwähnte anderwärts umlaufende, verständliche Form der Textüberlieferung.

Es ergiebt sich, daß ein mit dem Wetterauer identisches Spiel, und zwar ein Oster-, beziehungsweise Frühlingsspiel volkstümlicher Natur in Ost- und Westpreußen, in Pommern, Schleswig-Holstein, in der Mark, ja unter den Siebenbürger Sachsen und auch wohl anderwärts üblich war. Dasselbe wurde ursprünglich von Erwachsenen auf grünem Rasen, also im Freien, gespielt, ist aber jetzt zumeist nur noch als Gesellschafts- oder Kinderspiel üblich, in welchem Falle es in Ausführung wie Text stark abgeschwächt und nicht mehr an eine bestimmte Jahreszeit gebunden erscheint. Dem Kundigen kann schon nach dem bisher Gesagten kein Zweifel übrig bleiben, daß wir es hier tatsächlich mit einem uralten Rest Volkstums, und zwar einem heidnischen Frühlingsfeste zu thun haben, wie denn auch der Wetterauer Text von dem verstorbenen hessischen Geschichtsschreiber Professor L. Dieffenbach, freilich nicht ganz zutreffend, als Lobgesang auf die Ostara gedeutet worden ist.

Was die Form des Festes betrifft, so geht aus den Mittheilungen übereinstimmend hervor, daß die Theilnehmer – jedenfalls die Jugend – einen Kreis um eine in der Mitte stehende Person schlossen, welche letztere ursprünglich immer ein Mädchen gewesen zu sein scheint, das seinen verlorenen Schatz sucht. Diese Thatsache erklärt die Suchende selbst in den ersten Strophen des Gesanges, wohl während die ganze Gesellschaft unter Reigensprüngen um die Suchende kreiste und mitsang. Alsdann steht Alles still, und die Suchende geräth zuerst an einen falschen Schatz, den sie abweist, und dann an den richtigen, mit dem sie in der Mitte des Kreises tanzt, während die Kette der Umstehenden wieder im Reihentanze das Paar umspringt. Nunmehr nimmt ein anderes Mädchen die Mitte ein, und das ganze Spiel fängt von vorn an.

Der Text des Gesanges, welcher diesen Vorgang begleitet, zeigt keine bedeutenden Varianten. Er beginnt in Schleswig-Holstein.

„Grünes Gras, grünes Gras
Unter meinen Füßen,
Hab’ verloren meinen Schatz,
Werd’ ihn suchen müssen.

Hier und dort, hier und dort,
Unter diesen Allen
Wird doch wohl auch Einer sein
Der mir könnt gefallen.“

Darauf die Frage an eine Person.

„Willst Du mein Schatz sein?“

Auf die Antwort „Ja“ heißt es.

„Sagst wohl aber ja ja
Meinst wohl aber nein nein –“

und auf die Antwort „Nein“ umgekehrt; in jedem Falle aber wird der Betreffende stehen gelassen, ein Anderer als Tänzer gewählt und während des Tanzes mit demselben gesungen.

„Dich, mein Schätzchen, will ich lieben;
Du bist mir in’s Herz geschrieben;
Du gefällst mir wohl –
Ja Du gefällst mir wohl.“

Die beiden Anfangsstrophen finden sich fast in allen uns mitgetheilten Formen des Textes, in der ersten Zeile steht bald „Grün, grün, Alles grün“, bald „Hier ist grün und da ist grün“ oder „Schönes Gras, grünes Gras“, und statt „meinen Schatz“ findet sich „der schönste Schatz“; in der zweiten Strophe, die übrigens vereinzelt ganz fehlt, heißt es auch „Hier und da, hier und da“, in Westpreußen „Hier und dort, fremden Ort“; in Pommern lautet diese Strophe.

„Hier und dort und überall.
Unter diesen Allen –
Dieser mit dem bunten Rock
Thut mir sehr gefallen –“

Eingreifender sind die Varianten in dem folgenden Theile des Gesanges wie auch in der weiteren Ausführung des Spieles. Am engsten schließt sich eine westpreußische Fassung an; nur heißt die erste Frage. „Liebes Kind, liebst Du mich?“ und die Schlußstrophe.

„Schönes Kind, ich will Dich lieben;
Du bist mir in’s Herz geschrieben
Ja nur Du allein,
Ja nur Du allein.“

Auch in der Form: „Willst Du sein mein lieber Schatz?“ findet sich die erste Frage, und die beiden gleichlautenden Schlußzeilen heißen anderwärts. „Du gefällst mir gut“. Bei dieser Fassung wird nur in einem Bericht der wählenden Person freigestellt, gleich mit der erstgefragten Person zu tanzen, während dieselbe sonst durchgehends als abgewiesen stehen bleibt.

Vielfach findet sich folgende Variante des zweiten Theils. Nach den beiden Eingangsstrophen tritt die suchende Person zu einer im Kreise stehenden und singt.

„Dreh dich um! Ich kenn’ dich nicht;
Bist du's oder bist du’s nicht?“

Die Person wendet sich um – aus den Berichten ist nicht ersichtlich, ob der Kreis etwa zuvor im Stehenbleiben die Gesichter abgewendet hatte und die Suchende singt weiter.

„Ach nein, ach nein du bist es nicht,
Drum geh von mir! Ich mag dich nicht“

oder, wie es im Samlande drastischer schließt.

„Scher dich raus! Ich kenn' dich nicht“

wogegen einer zweiten Person der Bescheid wird.

„Ach ja, ach ja, du bist es wohl;
Drum nimm die Hand von mir zum Lohn!“

Bei Kindern heißt es hier: „Die mir’n Tänzchen (Küßchen) schuldig war (geben soll).“ Uebrigens findet sich auch der Fall, daß auf die Frage. „Bist du’s oder bist du’s nicht?“ die Antwort erfolgt: „Nein, nein, ich bin es nicht,“ worauf die Suchende singt. „So will ich dich denn lassen stehn und zu einem Andern gehn.“ Endlich ist bemerkenswert eine aus Charlottenburg gemeldete Textfassung, welche nach Abweisen der ersten Person sagt:

„Der da mit dem braunen Roch
Der könnte mir gefallen.
Ich bitte ihn, ich bitte ihn,
Er soll mich erlösen.“ – –

Zur Erklärung dieses Spiels nun genügt die bekannte Grundlage so vieler Frühlingsmythen: die Vorstellung, daß die Erde, welche von ihrem Geliebten dem Frühlings- oder Sommergott, durch den Winter getrennt war, jetzt dem Winter absagt und von dem „im bunten Rock“, dem Frühling, erlöst, wieder mit ihm vereinigt wird. Das Bunte spielt bei allen Völkern in der Frühlingsfeier eine Hauptrolle.

Es bleibt nur noch zu erörtern übrig, wie sich die Wetterauer Textform zu den übrigen mitgeteilten verhält, und dabei liegt allerdings der Verdacht nahe, daß die sinnlosen Wörter nur Verstümmelungen sind, daß in „Herisolls“ der Anfang „Hier ist“ (?), in „Kapp verloren“ (oder, wie es auch heißt, Kopp verloren) etwa „Ich hab’ verloren“ steckt, daß sich „Heridot, antimot“ vielleicht als „Hier und dort, am andern Ort“ und „Sax’m Krämer, ja, ja“ als „Sagst mir immer ja, ja“ entpuppt.

Ob es sich hiernach lohnt, eine Fortsetzung des Liedes, welches der Berichterstatter aus der Wetterau nachträglich uns mittheilt, hier anzumerken, mag zweifelhaft erscheinen. Das Stück beginnt. „Haule geh, Haule geh! Saxm hieß mein Vater, hat Dich denn der Paff gebracht unter die Soldaten“ und charakterisirt sich in vier weiteren Zeilen als aufmunternder Begleitgesang zum Tanz der beiden Hauptpersonen.

Die Melodie – dies nebenbei gesagt – ist überall entweder die mitgeteilte, oder sie erinnert an eine moderne Tanzmelodie.

Wir möchten an die ganze Angelegenheit einen Wunsch anknüpfen. Die Wissenschaft der vergleichenden Mythologie liegt noch vollständig in den Windeln; sie wird einst eine bedeutsame Stelle im Kreise der Wissenschaften einnehmen und würde es dann mit reichem Danke lohnen wenn in unserer Zeit, wo so rapid das alte Volksthum mit seinen unersetzlichen Fingerzeigen verschwindet, von den Resten gesammelt worden wäre, was irgend übrig war. Dazu wären am ehesten unsere wackeren Lehrer, jeder an seinem Ort, befähigt; so gut sie über Haar und Augen ihrer Schulkinder Bericht abstatten, so gut sie Zeugniß für den Volksdialekt ihres Wirkungskreises abzulegen veranlaßt werden, so gern würden sie jene andere Aufgabe im Dienste der nationalen Wissenschaft über sich nehmen, wenn sie van maßgebender Stelle her dazu aufgefordert würden. Denn viel ist wohl hie und da von dem und jenem Forscher gesammelt, aber das würde verschwinden gegen den Werth eines vollständigen Materials, wie wir es in der Bibliothek der Reichshauptstadt niedergelegt wünschten.






Anfrage. Wo bestehen in Deutschland, speciell im Staate Preußen, Schulen oder Lehranstalten für blinde oder halb erblindete Kinder vermögensloser Eltern?





Berichtigung. In dem Artikel „Ueber die Hauptrichtungen in der heutigen Musik“ von R. Falckenberg (Nr. 12) ist Seite 191, erste Spalte, Zeilen 16 v. o. statt. „Feierliche“ zu lesen. „Zierliche“.




Kleiner Briefkasten.



R. K. in V. Sie haben Recht – aber der Verfasser auch. Kreyssig hat sich thatsächlich mit dem Plane getragen, eine Geschichte der französischen Literatur im großen Stile zu schreiben ist aber an der Ausführung dieses Planes leider durch den Tod gehindert worden. Andrerseits druckt die Nicolai’sche Buchhandlung in Berlin, welche die meisten Werke Kreyssig’s verlegte, allerdings bereits in fünfter Auflage eine kleine, vorzugsweise für den Unterricht und das Selbststudium berechnete französische Literaturgeschichte aus der Feder des Heimgegangenen, die in ihrer Art ein Meisterstück präciser und dabei erschöpfender Darstellung ist, und diese hat der Verfasser des Artikels neben manchem Anderen unerwähnt gelassen.

Emma L. in Steinensee in Kurland. Wir können Ihnen leider nicht die gewünschte Auskunft erteilen. Lassen Sie doch in dem Adreßbuche der Stadt Halle nachschlagen!

Dr. B. in Lübeck. Wir haben uns im Interesse Ihres Freundes genau über die Angelegenheit informirt, können Ihnen aber nur brieflich antworten. Geben Sie also Ihre volle Adresse an! Wir haben oft genug erklärt, daß wir den Weg der Correspondenz durch die Post stets vorziehen.

Abonnentin in St. Wiederholen Sie Ihre Anfrage unter Angabe Ihrer vollen Adresse!

P. G. in Sch. Arge Curpfuscherei, wie Alles, was von der bewußten Leipziger Firma ausgeht!