Ueber die Hauptrichtungen in der heutigen Musik

Textdaten
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Autor: Richard Falckenberg
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Titel: Ueber die Hauptrichtungen in der heutigen Musik
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aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 190–192
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ueber die Hauptrichtungen in der heutigen Musik.
Von Dr. Richard Falckenberg.

Es hat ohne Zweifel etwas Seltsames, wenn der Laie, wie es thatsächlich häufig geschieht, einem neuen Werke gegenüber nicht eher meint zu einem Urtheil oder auch nur zu einem Eindruck kommen zu können, als bis er darüber belehrt worden, welches Meisters Spuren der betreffende Künstler folgt; geradezu lächerlich aber ist es, wenn er mit der bloßen Rubricirung das Urtheil nicht nur vorbereitet, sondern schon selbst angesprochen zu haben glaubt. Wer gefunden oder erfahren hat, daß ein Lied Schumannisch, eine Symphonie Haydnisch, eine Oper Wagnerisch sei, der weiß höchstens, an welchem Ort ungefähr er das Werk zu setzen, aber durchaus nicht, wie hoch er es zu schätzen habe. Mozart hat bekanntlich einige Arien und Ouverturen „im Händelischen Stil“ geschrieben. Damit ist nur gesagt, daß eine fremde Form benutzt, aber noch gar nichts darüber, mit welchem Inhalt sie erfüllt, ob mit originellen oder nachempfundenem, ob und wieweit dabei die eigene Individualität verleugnet, ob mit diesem Stücke die musikalische Literatur wirklich bereichert oder nur um eine Nummer vermehrt worden sei. Bis zu einem gewissen Grade also sind diejenigen, welche sich die Ohren zuhalten, sobald sie von „Richtungen“ in einer Kunst reden hören, vollkommen im Rechte. Aber der mögliche Mißbrauch jenes Eintheilungsverfahrens schließt keineswegs seine relative Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit, wenigstens als eines vorbereitenden Momentes, aus. Der erste Schritt, den man thun muß, um über irgend eine Art von Gegenständen klar zu werden, ist der, daß man die vorliegende Fülle übersichtlich gruppirt, das Verwandte zusammenstellt, das Verschiedene trennt, selbst wenn es zunächst nur nach oberflächlichen und unzulänglichen Gesichtspunkten geschehen sollte. So gut die Geschichtsschreibung nie aufhören wird, den ununterbrochenen Gang der Ereignisse in Epochen zu zerlegen und in Perioden zu gliedern, so gut dürfen wir, zum Zweck der Uebersicht, gleichzeitige Bestrebungen auf dem Felde einer Kunst oder Wissenschaft in Gruppen ordnen. Eines nur darf nicht vergessen werden: daß durch ein bloses Unterbringen in Fächer die Leistungen eines Gelehrten oder Künstlers werder erklärt noch abgeschätzt sind.

Dieses allgemeine Bedürfniß nach Orientirung durch Zerlegen in Gruppen haben wir im Auge, wenn wir uns anschicken, über die Hauptrichtungen zu sprechen, welche die Musik der Gegenwart beherrschen. Der Streit der Parteien soll uns heute nicht beschäftigen; nur den charakteristischen Eigenschaften, durch die sich die künstlerischen Leistungen der Schulen unterscheiden, sei unsere Aufmerksamkeit zugewandt. Wir wollen nicht richten, sondern nur zu verstehen suchen.

Im Großen und Ganzen haben wir in der heutigen Musik drei Richtungen zu unterscheiden: die antikisirende, die romantische, die neudeutsche. Die erste pflegt auf die Classiker bis Beethoven zurückzugreifen; auf die zweite hat am stärksten Schubert’s Vorbild eingewirkt, während die dritte sich an die späteren Werke Beethoven’s anlehnt. Natürlich fehlt es nicht an zahlreichen Misch- und Uebergangsformen, die zwischen den Hauptrichtungen vermitteln.

Um einen Begriff von den Unterschieden dieser drei Hauptrichtungen zu geben, muß zuerst eine allgemeine Bemerkung vorangestellt werden. Die Denker der Alten bezeichnen mit Recht das künstlerische Darstellen als ein „Nachahmen“ – der Natur nämlich. Nun ist aber weder Alles, worauf unser Blick fällt, der künstlerischen Wiedergabe fähig und würdig, noch darf das, was sich als fähig und würdig erweist, genau so, wie es da vor uns steht, in das Kunstwerk herübergenommen werden. Nur Weniges bietet sich von selber in der Stellung oder Gruppirung dar, wie es der Maler gebrauchen kann; selbst ein guter Photograph pflegt lange an Haltung und Kleidung zu corrigiren. Ebenso steht es um den Musiker, dessen Aufgabe es ist, Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften in Tönen zu schildern. Sind nun Alle darüber einig, daß die Wirklichkeit, um für die künstlerische Darstellung tauglich zu sein, verändert werden müsse, so sind die Meinungen darüber um so verschiedener, was ausgeschieden oder vermindert, was beibehalten und gesteigert, mit einem Worte, wie idealisirt werden solle.

Die Einen – die Vertreter der antikisierenden Richtung – tadeln am Leben, daß es formlos und unregelmäßig sei, daß es die Menschen hastig, unharmonisch und maßlos mache. Seine Kümmernisse graben Runzeln in die klarsten Stirnen; seine kleinen Sorgen lassen keine Empfindung ruhig und breit ausströmen; Allen giebt das Jagen nach Erwerb und Ehre etwas Ruheloses; ja das Handeln an und für sich schon hat etwas Schroffes und Eckiges. Im Reiche des Schönen aber walten Maß und Gesetz, Begrenzung und Harmonie. Wohlklang und strenge Form ist das Erste, was die Conservativen unter den Musikern von sich und Anderen fordern.

Sie bevorzugen deshalb auch die großen Allgemeingefühle, welche jenen Alltagsstörungen ausgesetzt sind: die Familienempfindungen, die Begeisterung für’s Vaterland, vor allem die religiöse Andacht, und auch bei den Empfindungen der Einzelnen, der Liebe zum Beispiel, lassen sie die für Jedermann leicht nachfühlbare allgemeine Seite hervortreten. Unter den Charakteren üben die gerundeten, allseitig ausgebildeten, harmonisch ausgeglichenen eine stärkere Anziehungskraft auf sie, als die scharf ausgeprägten, nach einer Seite energisch entwickelten. Die Kunst soll, so sagen sie, mäßigen, formen und glätten, das Maßlose bändigen, das Aufgeregte beruhigen, das Einzelne zum Allgemeinen erweitern. Ihr Schönheitsbegriff des Maßes darf sich auf das hohe Vorbild der Griechen und Goethe’s, in seiner mittleren Periode, berufen.

Die musikalische Fortschrittspartei, die neudeutsche Richtung, hält sich an das leuchtende Beispiel Shakespeare’s. Das Leben ist weit entfernt, die Charaktere eckig zu machen; es schleift ihre Ecken leider allzusehr ab. Nicht das Allgemeine, sondern das Besondere ist das Werthvolle. Das Leben macht stumpf und schlaff und läßt verkümmern, was etwa als kraftvoll Ursprüngliches geboren wird. Zeigt uns doch irgendwo in der Wirklichkeit jene energischen Personen, jene großen Leidenschaften und gewaltigen Schicksale, die von der Bühne des britischen Dichters herab die Herzen erschüttern und erheben! Klein ist, was uns umgiebt, klein und schwächlich. Der bürgerliche Mensch, noch mehr der Mensch des Salons, ist unoriginell. Die Gesellschaft nivellirt, die Convention erstickt das Urwüchsige; die Cultur macht Jeden dem Andern ähnlich.

Wenn so das Leben zur Mittelmäßigkeit und zur Unwahrheit erzieht, soll uns die Kunst das Außerordentliche zeigen und Wahrheit lehren. Sie soll nicht beruhigen, sondern aufrütteln, indem sie das Große, Kraftvolle und Eigenartige darstellt; sie soll nicht abschleifen und runden, sondern in’s Individuelle zuspitzen. Statt Wohlklang, formeller Glätte und Regelmäßigkeit ist ihr oberstes Gesetz natürlicher, wahrer und kräftiger Ausdruck. Nach dem Gesagten kann es nicht befremden, daß bei den Neudeutschen an die Stelle der den Conservativen heiligen strengen Formen deren freiere treten. Der neue Inhalt verlangt eine neue Form. Die Fuge macht einer beweglichen Vielstimmigkeit Platz; die herkömmlichen drei oder vier Sätze der Symphonie weichen der einsätzigen „symphonischen Dichtung“; die dort gesonderten Gegensätze treten hier nahe zusammen. Wo bei jenen breite Chöre und lange Arien, jede die anfänglich angeschlagene Stimmung bis zu Ende festhaltend, einander ablösen, finden wir bei diesen nach Art des Finale durchcomponirte wechselvolle Scenen. Bei den ersteren hat der Contrapunkt die Aufgabe, die Empfindung zu regeln und zu zügeln, bei letzteren, das lebendige Durcheinander widerstreitender Gefühle auszudrücken. Bei jenen tönt die Empfindung in breiter achttactiger Melodie aus, bei Richard Wagner verdichtet sich eine ganze Stimmungswelt zu einem schlagkräftigen knappen Leitmotiv.

Die Mittelpartei – die romantische Richtung – nimmt in der That eine vermittelnde Stellung ein. Sie hat mit der antikisierenden Richtung den Sinn für das Geordnete, Abgeklärte, Maßvolle gemeinsam, und sie ist zugleich individualistisch und charakteristisch wie die Neudeutschen, nur daß sie die Stoffe, welche sie darstellt, nicht der Welt draußen entnimmt, sondern der innern Welt des Künstlers, der Phantasie und der Gefühlsstimmungen. Einige von den Romantikern meinten geradezu [191] die Wirklichkeit gänzlich hinter sich lassen und auf den Flügeln der Phantasie in ein erdichtetes besseres Reich flüchten zu sollen. Das Wirkliche, sagten sie, ist gewöhnlich und unpoetisch; nur das Ungewöhnliche, Unwirkliche und Erdichtete ist poetisch. So flog man entweder zu einer erfundenen Märchenwelt empor, oder man träumte sich aus dem Jetzt und Hier in entlegene Zeiten und Oerter, in die Fernen des Mittelalters und des Orients, die man leicht zu einem Paradiese gestalten mochte. Doch auch das Schaurige und Gespenstige war willkommen. Wer Witz hatte, gefiel sich in ironischer Hervorkehrung des Gegensatzes von Ideal und Wirklichkeit; die Thatkräftigeren ermahnten zu fröhlichem Kriege gegen die Philister. Denn auf die Dauer konnte man sich doch nicht in jenen luftigen Höhen erhalten; da geschah’s wohl, daß einer beim Herabsteigen einen der goldenen Strahlen der Phantasie gerettet hatte und nun die feingeputzten Damen und Herren des Salons damit beleuchtete. Das Feierliche und Elegante, gemischt mit dem Reize des Romantischen, das war freilich unwiderstehlich.

Doch hat von dieser Romantik nicht blos die Welt der Nixen und der Gespenster profitirt. Die andere Seite der Romantik pflegte alle die feinen Schattirungen des subjectiven Empfindens. Mit oder ohne jene ätherische Welt voll schimmernder Einbildungen brachten die Romantiker zu reizvollsten Ausdruck die ganze Stufenleiter der lyrischen Stimmung, welche der geniale Poet vor allen anderen Menschenkindern reich und lebendig empfindet, besonders gern die zarten, duftigen, traumhaften. Nirgends auch sehen wir die Poesie des Kinderherzens so zart nachempfunden, wie bei den Romantikern, und ihre Neigung für volksthümlichen Gesang hat ihnen oft Töne voll herrlicher Innigkeit eingegeben. An musikalischen Formen hat die romantische Schule nicht eigentlich Neues erfunden, sondern nur vorhandene mit eigenthümlichem Inhalt erfüllt und unwillkürlich erweitert. Sie benutzt außer der Sonate mit Vorliebe die kleinen Formen des Tanzes und des Liedes.

So stehen sich – kann man zusammenfassend sagen – dem Schönheitsideale nach die drei Hauptrichtungen gegenüber als Formschule, Kraftschule und Stimmungsschule. Angesichts dieser Merkmale für die drei Richtungen in unserer gegenwärtigen Musik liegt eine Zusammenstellung derselben mit den Hauptgattungen der Poesie nahe, welche Künste ja ohnehin beide so vielfach einander die Hand reichen. Mit dem epischen Dichter hat der conservative Musiker die objective Ruhe und behagliche Breite gemein, mit dem lyrischen der Romantiker die Phantasie- und Stimmungsseligkeit des genialen Subjects, mit dem Dramatiker der neudeutsch gesinnte Tonkünstler die feurige Energie der Leidenschaft und die kernige Gewalt des Ausdrucks. Damit steht im Zusammenhang, daß jeder der Drei ein bestimmtes Publicum im Auge hat. Während die antikisirende Partei, in ihrer entschiedenen Neigung zur Kirchenmusik, sich an die Gemeinde wendet, und die neudeutsche, die gern zu großen Mitteln greift, vom Podium des Concertsaales oder von der Bühne herab zum Volke spricht, bewegt sich die romantische am liebsten und sichersten auf dem Feld der Kammermusik, die ihre Gaben einem kleinen Kreise Auserwählter zu bieten pflegt. So könnte man die drei Richtungen auch als Schulen der Chor-, Orchester- und Kammermusik bezeichnen.

Es soll natürlich nur behauptet sein, daß jede Partei eine gewisse Tendenz zu diesem bestimmten Gebiete habe und auf ihm ihre größten Triumphe feiere, nicht, daß sie sich völlig auf dasselbe beschränke. Wir besitzen von Brahms herrliche Kirchencompositionen, von Liszt großartige Oratorien und Messen, von Brahms und Rubinstein bedeutende, von Volkmann tüchtige, von Gade ansprechende Symphonien, von Kiel werthvolle Kammermusikwerke, aber man kann nicht sagen, daß der Schwerpunkt ihres Schaffens in diesen Werken liege. In der Gattung des Liedes, das von allen Richtungen gepflegt wird, verräth die jeweilige Behandlung deutlich die Eigenthümlichkeit der Schule: den Liedern der Conservativen haftet etwas von der beruhigten und gehaltenen Art der Oratorienarie an; dem Schmerz ist nur ein sanfter, gleichsam der Tröstung gewärtiger Ausdruck gestattet, und über der Freude, die sie singen, schwebt ein elegischer Hauch; die Gesänge der neudeutschen Schule nähern sich der Beweglichkeit und Schlagkraft der dramatischen Scene und die Clavierbegleitung möchte es dem Orchester gleichthun; das eigentliche Stimmungslied bleibt die Domäne der Romantiker. Bemerkenswerth ist, daß Brahms keine Oper geschrieben hat, Schumann’s „Genoveva“ nicht recht durchgedrungen ist und die Opern von Rubinstein und Holstein, so schätzbar sie sein mögen, zugestandenermaßen des dramatischen Zuges entbehren.

Aus der vorstehend gegebenen Charakteristik der drei Richtungen in unserer modernen Musik ergiebt sich unmittelbar, daß jede dieser drei Richtungen eine mehr oder minder bedeutsame Seite des Schönheitsideals zu verwirklichen strebt, sodaß keiner von ihnen eine relative Berechtigung abgesprochen werden darf. Die Berechtigung würde erst dort in Frage gestellt sein, wo eine Partei ihr eigenes Kunstideal für das absolut höchste und einzige, den von ihr mit besonderer Liebe ergriffenen Theil der Schönheit für das Ganze erklärt. Mag man es dem schaffenenden Künstler zu Gute halten, wenn er den Standpunkt der andern Richtung ablehnt – Publicum und Kritik dürfen diese Einseitigkeit nicht theilen. Wir Empfänger des Kunstwerks, selbst wenn wir einer bestimmten Richtung uns innerlich verwandt fühlen und sie im Herzen begünstigen, haben die Pflicht, uns den Blick frei zu halten für alles Schöne, in welcher Gestalt es immer erscheine. Richard Wagner und Johannes Brahms verstehen einander nicht, und begehen kein Unrecht, wenn sie einander nicht verstehen. Franz Liszt aber versteht beide. Dieser Lisztische Standpunkt sei unser Muster! Oder kann nicht ein und derselbe Mensch Shakespeare und Calderon und die Griechen bewundern? Kann er nicht Goethe verehren, gleichzeitig Paul Heyse lieben und Bret Harte gern lesen?

Um das volle Verständniß für unser Thema zu gewinnen, erübrigt es, einen Blick auf das Werden, auf den historischen Zusammenhang jener drei Richtungen zu werfen. Die jüngste unter den drei Parteien ist die neudeutsche; sie zählt heute, rund gerechnet, dreißig Jahre; die romantische ist über zwanzig Jahre älter. Nach Beethoven’s Tode (1827) sehen wir die Pfleger deutscher Tonkunst sich in zwei Lager spalten, ein conservatives und ein fortschrittliches; jenes auf die Classiker bis Beethoven zurückgreifend, dieses das Banner Schubert’s schwenkend. Die erstere Gruppe, ohne Verständniß und Sympathie für den aus der Poesie in die Musik hineinwehenden neuen Geist, verlangte, daß man in aller Form den alten Inhalt, denen beiden sie ewige Gültigkeit beilegte, wiederhole. Das empörte die junge Welt, welche das Bedürfniß empfand und sich berechtigt fühlte, Neues auszusprechen. Tieck, Fouqué, E. T. A. Hoffmann, Chamisso, die schwäbischen Dichter, Wilhelm Müller, Rückert, Lenau, vor Allen aber Eichendorff und Heinrich Heine hatten die Blicke der Welt auf Dinge gelenkt, die bis dahin wohl bemerkt, aber nicht hinreichend gewürdigt worden waren. Das verstohlene Murmeln des Baches, das geheimnißvolle Flüstern des Waldes, den magischen Zauber des Mondlichts hatte man früher zwar empfunden und benutzt, aber nie so schwelgend genossen wie jetzt. Man hatte ihnen nur die Begleitung anvertraut; nun ließ man sie die Hauptstimme singen. Der Zauberstab der Romantik weckte Mönche und blinkende Ritter aus mittelalterlichem Schlafe, rief die bunten Farben und klingenden Reime des Morgenlandes zu ihrem Dienste herbei und ließ dem Wasser schöne blasse Weiber entsteigen, gutartige, um mit dem Dichter zu kosen, böswillige, um den Ritter seiner Dame zu entführen. Man lauschte sehnsuchtsvoll den Klängen des Waldhorns und des Mühlrads, blickte mit wehmüthiger Andacht zur Burgruine empor und meinte hinter jeder Klostermauer die Seufzer verrathener Liebe zu vernehmen. Nie hatte man so unglücklich geliebt und nie sich so berauscht an diesem Unglück. Mit den Schmerzen der ganzen Welt belud der Dichter seine bange Seele: jeder Vers war von Herzweh durchbebt und von Mondschein übergossen. Das alles wollte nun componirt werden und wurde componirt. Kein Wunder, daß denen, die in dieser schimmernden und bangen Welt heimisch waren, die Kunst des gewaltigen Beethoven fast ebenso unverständlich blieb, wie den Herren mit Zopf und Perrücke. Diesen war er zu leidenschaftlich, jenen zu groß und gerade. So wählte man einen Anderen zum Führer, der Beethoven ähnelt, wie die Schwester dem Bruder. Schubert hatte sechs Gedichte von Heine in Musik gesetzt, und bald war das „Buch der Lieder“ auf jedem Clavierpult zu finden; und wie Schubert das Lied aus den Banden des Bänkelgesangs befreite, so führte er den Tanz, den er zierlichere Schritte lehrte, aus der Schänke in’s Familienzimmer. Mendelssohn benutzte den gemüthlichen Tanz des Wiener [192] Meisters, um den Elfen aufzuspielen; Chopin machte ihn salonfähig und ließ ihn von Patriotismus und Liebe erzählen; bei Schumann verwandelte er sich in einen geharnischten Tanz mit den Philistern.

Die weitere Spaltung innerhalb der Inhaltschule trat etwa um die Mitte unseres Jahrhunderts ein. Man begann der Lücken des romantischen Ideals gewahr zu werden. Man sah wohl Weltschmerz, aber keine Tragik; man sah Uebermuth, aber keine Kraft, Unruhe, aber keine Thätigkeit. Statt die umgebende Wirklichkeit künstlerisch zu verarbeiten, statt die reale Welt zur idealen zu verklären, hatte die Romantik eine weite Kluft befestigt zwischen Leben und Kunst. Man vermißte Größe, man sehnte sich nach starker Leidenschaft. In der Literatur traten dramatische Talente hervor: Karl Gutzkow, Gustav Freytag, Friedrich Hebbel und Otto Ludwig, die beiden Letzteren Altersgenossen von Richard Wagner, und man erinnerte sich des lange wenig beachteten Heinrich von Kleist. Gleichzeitig fing man an, sich mit Beethoven’s Riesengeiste vertraut zu machen und das Vorurtheil abzulegen, das dessen späteste Werke für Ausgeburten eines durch Krankheit verstörten und in grüblerischen Seltsamkeiten sich gefallenden Gemüthes erklärt hatte. An diesem Umschwunge der Meinung gebührt Wagner und Liszt ein Hauptverdienst; daß Wagner der größte Beethoven-Dirigent sei, ist ja so ziemlich der einzige Ruhm, den seine Gegner unangetastet gelassen.

Die eigenen Werke beider Meister befestigten dann vollends den Bestand der neudeutschen Schule. Sie zerstörten die trotz Gluck und Mozart noch immer verbreitete Ansicht, daß die Musik nur für den Ausdruck des Lyrischen, nicht auch des Dramatischen befähigt sei. Jenes Verständniß Beethoven’s aber wirkte nun auch auf Die zurück, welche, ferneren Erweiterungen des musikalischen Inhalts über das von der Romantik Geleistete hinaus nicht geneigt, dem von Schumann vorgeschlagenen Tone treu blieben, und selbst die Strengconservativen vermochten sich nicht auf die Dauer dem Einflusse des mächtigen Geistes zu entziehen, sodaß es heutzutage kaum einen Musiker giebt, von dem nicht irgendwie eine Brücke zu Beethoven zurück führte. Nicht nur Wagner und Brahms, auch Rubinstein, Kiel und viele minder Namhafte haben Beethoven’sche Elemente in sich aufgenommen. Man kann fast behaupten: je größer ein Componist, um so enger seine Verbindung mit Beethoven. Diese Einwirkung nach den verschiedensten Seiten hin wurde freilich erleichtert durch die unvergleichliche Vielseitigkeit und den langen Entwickelungsgang des Tonheros. Welch ein ungeheurer Weg von den Trios Op. 1 bis zu den letzten Quartetten, von der ersten bis zur neunten Symphonie, von den Gellert-Liedern bis zur Missa solemnis! Aus der reichen Fülle mochte sich dann jeder aneignen, was seiner Natur am meisten entsprach. Beethoven nimmt in der Musik des neunzehnten Jahrhunderts eine ähnliche beherrschende Stellung ein, wie in der Philosophie der Gegenwart Immanuel Kant: von ihnen ist Alles ausgegangen; zu ihnen strebt Alles zurück. Und wenn man die ganze Entwickelung Beethoven’s als bis zu Ende in durchweg aufsteigender Linie verlaufen anzusehen ein Recht hat, so darf man den Neudeutschen ihren Anspruch auf den Namen der eigentlichen und strengen Beethovenianer nicht verkümmern. Dabei verzichten sie aber keineswegs auf den mannigfachen Gewinn, welcher der Musik aus ihrer Berührung mit den romantischen Stimmungen und Idealen erwachsen war. Auf Wagner hat neben Beethoven und Gluck am stärksten Weber eingewirkt, und den Stoff seiner Dichtungen hat er den Sagenkreisen des Mittelalters und der Urzeit des deutschen Volkes entnommen, während Liszt nicht nur Schubert – an der Popularität der Schubert’schen Lieder haben seine Transscriptionen einen nicht zu unterschätzenden Antheil – sondern auch dem ihm befreundeten Chopin Vieles verdankt.

Wir haben die musikalischen Richtungen der Gegenwart gefragt: wo kommt ihr her, wo wollt ihr hin, was treibt ihr? und sie haben uns Rede und Antwort gestanden. Die letzte noch übrige Frage: wer sind eure Vertreter, und in welche kleineren Gruppen schaaren sie sich zusammen? fällt außerhalb der Aufgabe, welche dieser Aufsatz sich gestellt hat. Zum Theil ist sie durch vereinzelte biographische Artikel, welche die „Gartenlaube“ ihren Lesern seither geboten, bereits erledigt, und was an der Antwort noch fehlt, werden jedenfalls spätere Beiträge allmählich ergänzen. (Gewiß! D. Red.) Die Musik und die Streitfragen auf diesem Gebiete bewegen ja das Publicum in unserer Zeit so lebhaft, wie die Dinge auf keinem anderen Kunstgebiete.[1] Unerläßlich aber ist, wenn das Publicum zu einiger Selbstständigkeit des Urtheils in musikalischen Fragen und zum unbefangenen, nicht durch die verwirrenden Schlagwörter einseitiger Kritiker getrübten Genusse alles wahrhaft Bedeutenden und Guten auf diesem Gebiete gelangen soll, daß ihm die sachliche wie historische Berechtigung der verschiedenen Richtungen einmal klargelegt werde, und wenn der vorstehende Artikel dies erreicht hat, so hat er seine Aufgabe erfüllt.

  1. Konnte doch in den letzten Jahren ein vielbändiges musikalisches Nachschlagewerk seinen Weg in der Oeffentlichkeit machen: das treffliche, von Hermann Mendel begründete, jetzt von August Reißmann herausgegebene „Musikalische Conversationslexicon“ (Berlin, Oppenheim), welches soeben in neuer Lieferungsausgabe erscheint.