Textdaten
Autor: Johann Classen-Kappelmann
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Titel: Harkorten und die alte Eiche
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 113–114
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Harkort’s Geburtshaus auf Gut Harkorten in Westphalen.
Nach einer Photographie.


Harkorten und die alte Eiche.

In der westfälischen Grafschaft Mark bei Haspe führt von der Ennepe eine schattige Straße an industriellen Anlagen vorbei durch eine Thalsenkung hinauf zur Höhe, auf der das Haus und Gut Harkorten liegt. Das Haus ist merkwürdig durch sein Alterthum und durch seine gesunde herrliche Lage mit überraschender Aussicht. Aber nicht diese Lockungen für einen Touristen führten mich hinauf, sondern ein tieferes innigeres Interesse; die Pietät und Verehrung für einen der verdienstvollsten Männer Westphalens leiteten meine Schritte. Ich wollte die Stätte sehen, aus der Friedrich Wilhelm Harkort, Hauptmann außer Diensten, am 22. Februar 1793 als einer der sechs wackren Söhne Johann Caspar Harkort’s das Licht der Welt erblickte. Die Nr. 2 der „Gartenlaube“ von 1870 brachte das gelungene Portrait dieses „alten Fritz in Westphalen“ mit dem trefflichen Charakterbilde aus der schwungvollen Feder des Dichters Emil Rittershaus.

Harkorten, seit etwa drei Jahrhunderten die Wiege und der Sitz der Familie Harkort, liegt prächtig da oben; der Blick beherrscht die Höhen diesseits und jenseits des Ennepethales und ruht auf den abwechselnden Bildern von Tannenwald, Buchen und Eichen, Feldern und Wiesengrün. Quellwässer rieseln von verschiedenen Seiten durch Wiesen und Gärten und bilden Fischteiche in mehreren Etagen das waldige Thal hinunter bis zur Ennepe. Dort rechts vom Stammhause, an einem Fischteiche und Obstgarten staunt der Wandrer über die ehrwürdige Eiche, deren Stamm sechsundzwanzig Fuß im Umfange hat und die, knorrig, fest und zäh, wohl über fünfhundert Jahre den Stürmen der Zeit getrotzt hat.

Es ist ein ausgedehnter Besitz, den die Meisterhand der Natur so mannigfaltig gestaltet hat. Alles erscheint hier so ursprünglich, so naturwüchsig. – Die Gebäude der Familie bilden ein Conglomerat aus den letzten Jahrhunderten. Da steht eine Scheune aus dem sechszehnten Jahrhundert mit dem Namen des Erbauers, Heinrich Harkort, ein Haus vom Jahre 1686 und ein anderes großes Haus von 1705, in dem Joh. Casp. Harkort, der älteste zweiundneunzigjährige Bruder von Fritz Harkort, lebt.

Das Stammhaus, welches obiges Bild darstellt, wurde 1756 erbaut. Eine breite steinerne Treppe führt zur Hausthür und in einem großen Hausflur, an den sich rechts und links die geräumigen Zimmer anschließen. Bemerkenswerth ist die kräftige, schöne Arbeit in Eichenholz an den großen Flügelthüren, Wandbekleidungen, zahlreichen Schränken und Treppen. Um den breiten Kamin im oberen Stocke sind die Geschäftsbücher von circa zweihundert Jahren aufgestellt. In einem der Wohnzimmer sah ich die Oelgemälde von Fr. Harkort’s Mutter geb. Elbers, von seinem ältesten Bruder und dessen Frau, deren Sohn, auch Joh. Caspar genannt, mit seiner Familie dieses Haus bewohnt. Derselbe [114] ist in der industriellen Welt besonders durch seine Brückenbauten und durch die riesige eiserne Rotunde der Wiener Weltausstellung berühmt; er hatte den Schmerz, seinen einzigen Sohn als ein Opfer des letzten französischen Krieges, in welchem derselbe als Officier mitkämpfte, zu verlieren.

Aus Harkorten, diesem sozusagen patriarchalisch verehrungswerthen Familiensitze, ist unser Fritz Harkort hervorgegangen; hier verlebte er seine Jugend, der Veteran der Befreiungskriege, welcher 1815 in der Schlacht von Ligny von zwei Kugeln verwundet wurde, ein ganzer echter Volksmann, dem das Land eine rastlose Thätigkeit von sechszig bis siebenzig Jahren für das Volkswohl verdankt. Eine lebendige Ehrensäule Westphalens! Er hat vielseitig in das industrielle Leben eingegriffen und dem Gewerbefleiße, dem Handel und Verkehre die Wege gezeigt und gebahnt. Er reiste nach England und schaffte Maschinen in Stücken über See, weil engherzige Handelspolitik zu der Zeit die Ausfuhr der Maschinen verbot; die einzelnen Stücke wurden dann in seiner Heimath zusammengefügt. Er errichtete um’s Jahr 1822 eine Maschinenwerkstatt in Wetter, aus welcher im folgenden Jahre die erste Dampfmaschine hervorging; er errichtete das erste Puddlings- und Walzwerk im Jahre 1826 und um’s Jahr 1830 legte er die Schlebusch-Harkorter Industriebahn, eine Pferdebahn, an, die heute noch besteht und in der Folge mit Locomotiven befahren wird. Für Förderung der Bergwerke machte er die ersten Tiefbau-Anlagen in Zechen. So war er auf verschiedenen Gebieten für Industrie und Handel, Schifffahrt und Verkehr thätig. Reich an Ideen, seiner Zeit vorauseilend, machte er Pläne und Entwürfe, immer bedacht, seine Kenntnisse und Erfahrungen dem Wohlstande des Landes zu widmen. Sein Wirken und seine Anregungen haben sichtbare, großartige Früchte gezeitigt. Wie er im öffentlichen Leben, in den Landtagen, in Versammlungen, durch Wort und Schrift für Freiheit und Recht, für Wahrheit, Bildung und Gesittung, für die Schulen und für die Verbesserung der Lage der Lehrer unermüdlich gewirkt, ist allgemein bekannt und wird dankbar anerkannt.

Als nach dem letzten Kriege die traurigen Symptome der Verwilderung besonders unter der Arbeiter-Bevölkerung hervortraten, veröffentlichte Harkort in den Blättern eine Brutalitäts-Statistik, sodaß die Aufsichtsbehörden und Gesetzgeber auf Abhülfe hingewiesen wurden.

Vortrefflich ist der Arbeiter-Katechismus, welchen Harkort vor zwei Jahren herausgab. Das sind goldene Lehren. In dem kleinen Buche ist nichts zu viel und nichts zu wenig, keine leere Phrase, Alles aus dem Leben, aus der Erfahrung gegriffen, Alles so wahr und klar und so volksthümlich geschrieben. Wenn die Arbeiter, statt den Lockungen und Hirngespinnsten der Socialdemokraten zu folgen, die Lehren und Wahrheiten dieser Schrift beherzigten, so würde es besser um sie, um ihre Familien und um das Gemeinwohl bestellt sein. Die schwere industrielle Krisis, welche jetzt auf dem Volke lastet, würde leichter überwunden und eine bessere Zukunft angebahnt werden.

Als nach den ruhmreichen Siegen des deutschen Heeres das langersehnte deutsche Reich erstanden war, ging aus dem deutschen Volksgewissen der Protest gegen die vaticanische Unfehlbarkeits-Erklärung hervor. Seit Hermannn’s Zeiten war es ja die Mission Deutschlands, gegen die römische Universalherrschaft der Cäsaren und der Hierarchie, für die nationale Unabhängigkeit und für geistige Freiheit zu kämpfen. War auf den Schlachtfeldern die äußere Freiheit errungen, so mußte eine Bewegung, welche die innere geistige Befreiung vom Romanismus erstrebte, die deutschen Patrioten begeistern, und so kam auch Harkort im Jahre 1872 auf den Altkatholiken-Congreß nach Köln. Damals sagte er mir: „Ich kann nicht von dannen gehen, ohne Ihnen zu versichern, daß das, was ich auf dem Congreß und in der Predigt des Herrn Pfarrers Tangermann vernommen habe, mich mit großen Hoffnungen erfüllt. Ich nehme freudige Zuversicht für unsere deutsche Zukunft mit. Die Bewegung für die Reform der katholischen Kirche wird ihr Ziel erreichen, und ich werde in meiner Gegend dafür wirken.“

Zu Pfingsten vorigen Jahres erschien Harkort auf dem Hanseatischen Geschichtscongreß zu Köln und wohnte von Morgens bis Abends den interessanten Verhandlungen und der Besichtigung der vielen alten Baudenkmale bei. Abends veranstaltete die Lesegesellschaft ein Fest zu Ehren des Congresses. Welche Freude, als man die hochgewachsene Gestalt Harkort’s mit den Silberhaaren im Saale erblickte! Frau Lina Schneider begrüßte die Versammlung mit einem schwungvollen Prolog, in welchem sie eine Strophe für Harkort improvisirte, die mit rauschendem Beifalle erwidert wurde. Gegen Mitternacht erhob sich Harkort und richtete eine gediegene Ansprache an die zahlreiche Versammlung.

Da kam ein Herr an unsern Tisch, an dem Harkort saß; er betrachtete ihn und sagte mir dann: „Also das ist Harkort, der Mann, welcher das erste Puddlings- und Walzwerk in unserer Provinz errichtet, welcher die erste Dampfmaschine daselbst gebaut hat, welcher das erste Dampfschiff auf den Rhein und das erste Dampfschiff auf die Weser gebracht hat!“

Ich antwortetet „Ja, das ist derselbe Mann, und ich erinnere mich der Zeit des ersten Dampfschiffes; es war um’s Jahr 1825, als wir Jungen von der Schule zum Rheine liefen und das Wunder der Zeit, den Dampfer, die Wellen durchschneiden sahen. Das war der Anfang, welcher so riesige Folgen für den rheinischen Verkehr hatte; eine mächtige und prächtige Dampferflotte fuhr bald auf- und abwärts den deutschen Strom, und immer größer, schöner und schneller wurden die Dampfboote, bis zu den schwimmenden Palästen der neuern Zeit: ‚Humboldt‘, ‚Friede‘, ‚Deutscher Kaiser‘ etc.“

Etwa zehn Jahre später (gegen 1835) war Harkort beschäftigt, das Dampfroß für den Landverkehr in die Provinz einzuführen. Er machte das Project einer Eisenbahn von Köln nach Minden, welche von Köln nach Elberfeld in das industriereiche Wupperthal und über Hagen, Hamm nach Minden führte. Sein damaliger junger Lehrling Tangermann, im Zeichnen sehr geschickt, machte nach seiner Anleitung Karte und Plan. (Jener Lehrling ist der jetzige altkatholische Pfarrer und Schriftsteller Dr. Tangermann in Köln, dessen Charakterfestigkeit seines frühern Principals Harkort würdig ist; denn als Pfarrer von Unkel hatte er den sittlichen Muth, zuerst gegen das neue vaticanische Dogma öffentlich zu protestiren und eine schöne Pfarrstelle seiner Ueberzeugung zu opfern.) Die jetzige Köln-Mindener-Bahn wurde etwa zehn Jahre später ausgeführt.

Als wir am 24. November vorigen Jahres den rheinischen Volksmann, „den alten Fuhrmann“ Justizrath von Zuccalmaglio in Grevenbroich, einen alten Freund und Gesinnungsgenossen Harkort’s, zur Erde bestatteten, verbreitete sich die Kunde, daß Harkort erkrankt sei. Ich eilte den folgenden Sonntag zur Bahn; der Zug sauste an Harkorten, an Herdecke, wo Harkort den hohen Thurm auf dem Berge zu Ehren des berühmten Staatsmannes Freiherrn von Stein erbaut, und an Wetter, dessen Wohlstand durch Harkort’s industrielle Schöpfungen erblühte, vorbei; so näherten wir uns Barop, und aus dem Wagen blickten die Leute sympathisch hinunter auf das alte Haus mit den Worten: „da wohnt unser Harkort.“ Ich eilte hin. Das Haus liegt in der Nähe verschiedener industrieller Anlagen Harkort’s isolirt, umgeben von Wiesen, Obstgärten und schattigen Baumgruppen. Da stand auf grünen Rasen Tisch und Bank, wo eine seiner Enkeltöchter ihn im Sommer vorliest. Ich trat besorgt über die Schwelle, eine Dame begrüßte mich huldreich; es war seine jüngste Tochter Anna, jetzige Frau Generalin M. Sie sagte mir, ihr Vater befinde sich Gottlob besser und sie wolle mich anmelden. Sie kam zurück und bemerkte, er habe verlangt, daß sie ihm zuerst das sonntägliche Evangelium vorlese. Sie nahm die Bibel und erfüllte den frommen väterlichen Wunsch. Dann führte sie mich in sein Zimmer, und ich war erfreut, ihn auf dem Sopha sitzend wohl und munter zu finden. Mit vielem und lebhaftestem Interesse sprach er vom Geschichts-Congreß zu Köln und daß er nächstes Jahr mit dem Congreß auf Rügen tagen wolle; er sprach von Fortbildungsschulen für Mädchen, da die Bildung der Frauen für die National-Wohlfahrt von der größten Wichtigkeit sei. Wir gingen zu Tisch; die Unterhaltung war lebhaft, und die Krankheit schien überwunden. Beruhigt konnte ich mich verabschieden von den verehrten Freunde und von dem Hause Hombruch bei Barop, in welchem die musterhafte Einfachheit, der liebenswürdige Verkehr der Familie und die herzlich biedre Gastlichkeit den wohltuendsten Eindruck auf mich gemacht hatten. Ich versprach seinen fünfundachtzigsten Geburtstag am 22. Februar mit Freund Emil Rittershaus bei ihm zu feiern und ein Glas Rheinwein auf sein Wohl zu trinken.

Classen-Kappelmann.